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Die Zahlen dieser Erde warten darauf von der kleinen Sarah entdeckt zu werden. Das Mädchen zieht mit ihren Eltern mit einer Handelskarawane durch die Wüste. Unterwegs lernt sie dabei einen alten Mann, den alle den alten Juden nennen, und einen Dichter kennen. Es entstehen aus dieser Begegnung wundervolle Gespräche über die Bedeutung der Zahlen und den Sinn unseres Lebens. Die Männer erwecken alte Symbole und Weisheiten zu neuem Leben und zeigen dem Mädchen, dass die Schöpfung das Spiegelbild eines gewaltigen, allumfassenden Geheimnisses ist, welches erfahren werden möchte. Oder ist dies alles für das Mädchen nur ein Traum? Finden wir etwa in den Träumen die Wahrheit? Meint die Wahrheit das Bewahren des Geheimnisses? Lassen wir uns überraschen.
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Seitenzahl: 115
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Wenn am Morgen die Löwen brüllen, die Kinder den Hund verjagen, die Menschen sich nicht mehr verhüllen - und ihr Kreuz ertragen, dann, ja dann, wird die Liebe regieren.
Michael Warmuth
Das Fundament
Die Wüste
Der Sonnenaufgang
Der Sandsturm
Das Gerippe
Der Brunnen
Die Oase
Die Pyramiden
Das Haus
Der Regenbogen
Der Untergang
Die Mühle
Das Zelt
Die Geburt
Das Geschwisterchen
Der Weg
Der Berg
Das Ende
Im hellen Mondenlicht blickt das kleine Mädchen mit den schwarzen, lockigen Haaren auf dem Rücken liegend staunend in den wolkenlosen Nachthimmel. Die Sterne leuchten hell und der Mond zeigt sich in voller Pracht. Einige der Himmelslichter leuchten heller als andere und wieder andere scheinen auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden zu sein - als wären es kleine Familien inmitten der gewaltigen Sternenherde. So, wie in der Handelskarawane, mit der sie durch die Wüste zieht. Verstreut stehen die Zelte, in denen die einzelnen Familien leben, darum herum ruhen sich die Tiere von den Strapazen des Tages aus und darunter ist der dunkle, kalte Sandboden, der scheinbar kein Ende kennt. Doch immer wieder erreichen sie auf ihrem Weg tiefe Brunnen, gleich den hellen Wandelsternen, und kleine Oasen gleich dem Sonnenaufgang am Ende einer kalten Nacht. Wie schön wäre es einmal durch den nächtlichen Himmel zu reisen – losgelöst von der Erde. Das kleine Mädchen zieht ihre Decke höher, denn hier draußen ist es jetzt mitten in dieser glasklaren Nacht eiskalt. Die dicke Decke, gewebt von ihrer Mutter aus feiner Wolle, hält sie warm und gibt ihr das Gefühl sicher und beschützt zu sein. Sanft gleitet sie in das Reich ihrer Träume.
Im gleißenden Sonnenlicht erwacht das Mädchen. Die Erwachsenen haben bereits die Zelte, Decken, Töpfe und das Geschirr auf die Kamele verladen. Ihr Vater kommt zu ihr und hebt sie auf eines der anmutigen Tiere. Ein Becher dickgelegter Stutenmilch, gereicht von ihrer Mutter, füllt ihren knurrenden Magen und die Karawane setzt sich in Bewegung. Das Mädchen kennt die Landschaft von klein auf und doch wird es ihr niemals langweilig, denn immer wieder wechseln die Schatten und die Formen der Dünen oder es zeigt sich vereinzelt spärlicher Bewuchs. Es kommen auch immer wieder ihre Eltern, Verwandte oder Freunde zu ihr, um sich mit ihr zu unterhalten oder sie steigt ab und läuft selbst einige Schritte. Nach Stunden unter sengender Sonne, unterbrochen nur von einer kurzen Rast während des höchsten Sonnenstandes, hält der Führer an und befiehlt das Nachtlager aufzubauen.
Die Männer verbinden die Zeltstangen mit Seilen, richten diese auf und kümmern sich dann außerhalb des Lagers um die Tiere. Die Frauen legen die Zeltplanen über die Holzgerippe und breiten Decken auf dem Sandboden aus. Anschließend kümmern sie sich um das Abendessen, für das sie ein Feuer aus dem getrockneten Dung der Kamele entfachen. Das Mädchen stiehlt sich derweil davon, um mit ihren Verwandten und Freunden zu spielen. Es ist eine große Karawane mit vielen Tieren und Zelten und so bildet sich schon bald eine lärmende Spielgruppe aus kleinen und größeren Jungen und Mädchen. Sie kennen sich alle schon ihr ganzes Leben. Doch diesmal ist etwas anders als die vielen Male, die sie diesen Weg schon mitgegangen ist. Eine Gruppe seltsam aussehender Männer mit ihren Frauen und Kindern hat sich ihnen angeschlossen, doch bleiben diese meist unter sich und so weiß das Mädchen nicht viel über die Fremden.
Nach dem Abendessen sitzt das Mädchen in ihre dicke Decke gehüllt vor dem Zelt ihrer Eltern und blickt staunend in den Sternenhimmel. Die meisten ihrer Begleiter schlafen schon, denn es war ein anstrengender Tag und so ist es sehr ruhig. Ab und zu hört sie ihre Eltern neben ihr leise miteinander sprechen oder ein Kamel blöken. Das kleine Mädchen kann sich nicht an den Sternen satt sehen und so bleibt sie jede Nacht viel länger wach, als es ihren Eltern lieb ist. Sie staunt über die gewaltige Schönheit des nächtlichen Himmels.
Es herrscht das Schweigen.
Nach einer Weile stößt ein alter Mann aus der Gruppe der Fremden zu dem kleinen Mädchen. Er sieht so ganz anders aus als Vater und Mutter in ihren bunten Gewändern und den Turbanen auf dem Kopf. Dieser Mann trägt einen schwarzen Hut wie sie ihn noch nie gesehen hat, einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und einen vollen, weißen Bart im Gesicht. Neugierig mustert sie ihn.
„Hallo, kleines Mädchen, darf ich mich zu dir setzen? Ich habe dich in den letzten Tagen beobachtet, du bleibst immer lange wach und siehst in den Sternenhimmel. Daher würde ich mich gerne ein wenig mit dir unterhalten, wenn du nichts dagegen hast. Ich bin alt und brauche nicht viel Schlaf.“
„Wer bist du?“, fragt sie ihn und blickt fragend zu ihren Eltern, doch diese nicken gutmütig, es scheint ihnen nichts auszumachen.
„Die Erwachsenen hier nennen mich einfach den alten Juden. Du darfst dir aber auch gerne einen Namen für mich aussuchen“, antwortet er, begrüßt die Eltern des Kindes und setzt sich auf den Boden.
Das Mädchen überlegt, doch wie soll sie ihn nennen?
„Sieh` dich um, kleines Mädchen. Du nennst diese Landschaft hier eine Wüste. Du kannst sie aber nur so nennen, weil du weißt, was eine Wüste ist. Wenn du das Wort Wüste noch nie gehört hättest, würdest du auch nicht wissen, was es ist. Du und deine Begleiter kennen mich nicht, alles, was sie von mir wissen, das ist mein äußerliches Erscheinungsbild. Daher nennen sie mich den alten Juden, obwohl sie doch gar nicht wissen, wer ich eigentlich bin und an welchen Gott ich glaube. Wir neigen dazu, die Dinge nach ihrem Äußeren zu bewerten. Das ist aber sehr schade, weil uns dadurch verborgen bleibt, dass es in dieser Welt noch etwas anders, etwas Unsichtbares gibt. Ich nenne es das Geheimnis.“
„Ein unsichtbares Geheimnis?“, fragt das Mädchen erstaunt.
„Ja, genau. Sieh´ dich doch einmal um. Hier gibt es nichts außer Sand, doch schon wenige Regentropfen reichen aus und die Wüste ist voller Blumen. Wo kommen diese her? Wer bestimmt welche Farben und Formen sie haben? Wer schickt den Regen? Und überhaupt, wie ist diese Welt entstanden? Die Schöpfung ist für mich ein gewaltiges Geheimnis.“
„Warum ist es ein Geheimnis?“, fragt das Mädchen.
„Es ist wie mit den Pflanzen. Ziehen wir ihre Wurzeln aus dem Erdboden, dann gehen sie ein. So ist es auch mit dem Geheimnis, zerren wir es aus dem Verborgenen in das Licht, dann zerstören wir es.“
„Du hast gesagt, dass das Geheimnis unsichtbar ist, wie kannst du dann darüber sprechen? Wenn meine Freundin zu mir sagt sie hätte heimlich einige Murmeln in ihrem Spielbeutel versteckt, dann ist das unser Geheimnis. Wenn sie mir die Murmeln dann zeigt, weiß ich, dass es stimmt. Doch, wie soll ich ihr glauben, wenn die Murmeln unsichtbar sind?“
„Das ist eine sehr gute Frage. Doch ist diese Welt nicht Beweis genug, dass es dieses Geheimnis gibt?“
Das Mädchen denkt darüber nach und sagt schließlich: „Die Sterne bleiben immer am selben Fleck, sie stürzen nie ab, sie stoßen nie zusammen, als würde sie jemand, den wir nicht sehen können, festhalten.“
„Es ist das Geheimnis, das sie an ihren Plätzen hält“, sagt der alte Mann.
Das Mädchen versteht nun, was der Mann ihr sagen möchte. Eine Weile schweigen sie.
Sarahs Mutter, die den Beiden zuhört, fragt sich, ob nicht schon mit dem Schweigen alles gesagt ist, was man über das Geheimnis wissen muss. Oder ist das Schweigen das Geheimnis? Sie stellt die Frage dem alten Mann.
„Im Schweigen können wir das Geheimnis erfahren“, antwortet der alte Jude und lässt den Blick schweifen.
Sarahs Mutter denkt schweigend über die Antwort des älteren Herren nach.
„Sieh´ nur, kleines Mädchen, eine Sternschnuppe!“, sagt der alte Mann wenig später und zeigt in den nächtlichen Himmel.
Das Mädchen blickt nach oben zu der Sternschnuppe. Wie schön sie ist!
Voller Inbrunst hebt der alte Jude die Stimme und sagt: „So, wie diese Sternschnuppe hier auftaucht und wieder verschwindet, so erscheinen von Zeit zu Zeit Menschen, die dazu in der Lage sind, die Welt aus ihren Angeln zu heben!“
Das Mädchen erschrickt von dem Tonfall des alten Mannes, so gleich fängt sie sich wieder und findet Gefallen daran. Das Gespräch beginnt ihr Freude zu bereiten.
„Sind diese Menschen die Erschaffer der klassischen Werke, von denen Fremde aus der alten Welt berichten?“, fragt Sarahs Mutter den alten Mann. Sie reist schon ihr ganze Leben durch die Wüste und lernt immer wieder Fremde kennen. Dadurch erfährt sie etwas über deren Heimatländer.
„Ja, das ist es, es ist das ewig Wahre. Ich durfte manches davon sehen und hören. Ein wahrlich erhabenes Gefühl!“, sagt er tief berührt. Dann fragt er das Mädchen: „Wie heißt du, mein liebes Kind?“
„Sarah.“
„Sarah, ein schöner Name. In meiner Sprache bedeutet der Name: Die Fürstin.“
„Wo kommt denn deine Sprache her?“
„Aus dem Jenseits.“
Das Mädchen überlegt, wo dieser Ort sein könnte.
„Weißt du denn, was eine Fürstin ist?“
„Nein.“
„Das ist eine vornehme Frau mit einem besonderen Rang in der Gesellschaft. Sie steht der Gesellschaft vor, sozusagen an erster Stelle. Der First bei einem Gebäude ist der oberste, hervorstehende Dachbalken. Dessen Tragfähigkeit ist besonders wichtig für die Stabilität des Daches und wir müssen nach oben in den Himmel blicken, um ihn zu sehen. Eine Fürstin ist besonders wichtig für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, ihre Rolle ist tragend, könnte man sagen.“
„Dann ist sie immer die Erste in der Reihe, wenn das Essen ausgeteilt wird?“
„Genau, liebe Sarah, sie verzichtet aber meist darauf unter Menschen zu essen. Viel lieber teilt sie die Speisen aus und isst selbst im Verborgenen.“
Sarah stellt sich vor, wie sie das Essen, welches ihre Mutter über dem Feuer gekocht hat, austeilt. Es ist eine schöne Vorstellung.
Der alte Jude gibt ihr einen Moment, um das Gesagte zu verdauen. Dann fährt er fort: „Du hast gesagt, dass sie die erste in der Reihe ist, weißt du denn schon, welche Zahl vor der Eins in der Reihe kommt?
„Natürlich! Ich kenne alle Zahlen!“
„Dann kennst du auch die Null, habe ich recht? Du kennst doch die Null, oder?“
„Ja! Man schreibt sie wie ein Ei“, sagt das Mädchen, froh die Antwort zu kennen.
„Na dann bist du eine fleißige Schülerin, das freut mich. Weißt du auch, warum es mich freut?“
„Nein?“
„Weil eine fleißige Schülerin immer weiter Fragen stellt, sie hört nie auf immer neue Fragen zu stellen. Alte Menschen neigen dazu keine Fragen mehr zu stellen. Sie glauben dann schon alles zu wissen und wollen den lieben Kindern alles, was sie wissen, auch noch beibringen. Das ist furchtbar, denn fertige Antworten sind wie schimmeliges Brot, es war einmal gut, doch sein Verzehr macht dich krank. Das Geheimnis ist für uns wie ein Wunder und um ihm näher zu kommen, müssen wir uns wundernd und staunend dieser Welt gegenüberstellen. Dann kann es passieren, dass wir einen kurzen, blitzartigen Moment, einen Blick darauf werfen dürfen.“
„Du hast gesagt, dass wir das Wunder nicht sehen können, doch jetzt sagt du, wir können es doch sehen.“
„Es ist wie bei einer Wunde auf der Haut, bei der das Innere des Körpers sichtbar wird, ab und zu tritt es zum Vorschein und wird dann wieder verdeckt.“
„Aber wo finden wir das Geheimnis?“
„Das Geheimnis ist überall, es wirkt in allem und herrscht über allem.“
Das kleine Mädchen ist begeistert von diesem Mann, der ihr Opa sein könnte. Doch es kommen Zweifel in ihr auf: „Wer sagt, dass ich dir glauben kann?“
„Mein Kind, nicht so voreilig. Die Zweifel kommen erst in der Zwei. Noch aber sind wir bei der Null. Und die Null ist eine spannende Zahl, auch wenn sie doch eigentlich für das Nichts steht.“
„Warum ist das so?“, fragt das Mädchen gespannt.
„Na weil sie für sich allein gar nichts ist. Sie wird als Kreis geschrieben, das heißt sie umschließt das Nichts. Null plus null, oder mal null oder geteilt durch null ist immer null. Doch kann die Null den Wert aller Zahlen verändern, denn sie kann jede Zahl bis ins Unendliche vergrößern - 1, 10, 100, 1000 und so weiter - und sie kann jede Zahl zerstören, denn beispielsweise fünf mal null ist null. Somit können wir sagen, dass sich in der Null der Anfang und das Ende begegnen, genau wie der Kreis keinen Anfangs- und keinen Endpunkt hat. Wenn also Anfang und Ende zusammenfallen, dann kann es auch keinen Mittelpunkt geben und die fleißigen Diener der Wissenschaft sind nicht in der Lage den Mittelpunkt eines Kreises zu errechnen. Somit haben wir hier einen blinden Fleck und genau hier können wir das Geheimnis vermuten. Und dass es dieses Geheimnis gibt, wissen wir, weil es den Kreis gibt, der es uns zeigt - wie der Wüstenboden, der die Blumen hervorbringen kann. Über dieses Geheimnis weiß ich dir etwas zu erzählen, wenn du magst.“
Das Mädchen denkt über diese W0rte nach und lässt dabei den Blick durch das Himmelszelt schweifen.
Das Schweigen herrscht erneut.
Sarahs Mutter sieht ihren Mann an, es ist Zeit für das Bett, doch sie möchte den alten Juden nicht unterbrechen, daher übt sie sich in Geduld.
Nach einer Weile fährt der alte Mann fort: „Die Null ist das Nichts, der Urgrund, das Nirvana, aus dem alles entsteht und worin sich alles wieder auflöst. Es ist das ewige Sein, welches sich niemals im Werden befindet und somit – wie ich es dir später erklären möchte - niemals für uns mit unseren Sinnen zu erfahren ist. Hier gehen die Dinge vollständig zu Ende und fangen wieder vollständig von vorne an.“
Das Mädchen gähnt nun und formt so mit ihren Lippen eine Null.