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Nizar Benali hat es geschafft. Er hat Westmarkt verlassen, wo er unter "Schwarzköpfen" aufgewachsen ist und wo Drogenhandel und Schutzgelderpressung florieren. Er arbeitet als Privatermittler für Cyberverbrechen und wird beauftragt, den Darknet-Dealer Toni_meow ausfindig zu machen, an dessen Stoff ein Teenager gestorben ist. Das scheint zunächst ein gut bezahlter, wenn auch aussichtsloser Job. Doch dann präsentiert ihm eine alte Liebschaft ihren siebzehnjährigen Sohn Lesane – ihren gemeinsamen Sohn. Lesane treibt sich in Westmarkt herum, er dealt und hat Schulden. Nizar ahnt, dass Toni_meow zu finden die einzige Möglichkeit sein könnte, Lesane vor dem endgültigen Absturz zu retten. Ein Roman über sozialen Aufstieg und was man dabei verliert. Über den tristen Glamour der Straße. Über Drogenhandel 2.0, der auch auf den vermeintlich cleanen Plattformen des Darknets ein schmutziges Geschäft bleibt – und über verlorene Söhne, die es einmal besser haben sollten.
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SELIM ÖZDOGAN
KRIMINALROMAN
Die Arbeit an diesem Roman wurde
gefördert durch ein Stipendium der
Kunststiftung NRW.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2019
Originalveröffentlichung · Erstausgabe September 2019
Umschlaggestaltung · Maja Bechert, Hamburg
Autorenportrait Seite 2: Philipp Hönig
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
1. Auflage · eISBN 978-3-96054-203-2
Sie sind Geschöpfe aus Dunst und Regen und Einsamkeit. Sie spielen Wasser und Traurigkeit in unsere Welt hinein. Sie sind Leute voller List und Bosheit und Sonnenschein und Musik und Stille.
Keri Hulme
a prisoner to these words, every sentence is life
Belly
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil II
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Danksagung
Abstand zu Menschen. Ich dachte, es würde helfen. Es hat geholfen, jahrelang hat es geholfen.
Und jetzt … Ich dachte, sie lügt. Was sollte das auch für eine Geschichte sein? Du hättest sie auch nicht geglaubt.
Ich erinnerte mich an die Nacht. Ich war bereits weggezogen aus Westmarkt, da war auch kein Blut an meinen Händen, aber niemand kam da sauber raus.
Ich saß in der Straßenbahn und Kamber stieg ein. Ich freute mich so, als ich ihn erkannte. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Es war so unwahrscheinlich, ihm so über den Weg zu laufen, es sah ihm nicht ähnlich, dass er Straßenbahn fuhr. Wir umarmten uns lange und als wir uns lösten, glänzten meine Augen wahrscheinlich, seine aber auch. Er war unterwegs zu Kerim und wir haben noch Paster abgeholt und sind dann zu viert losgezogen, ins Chronic, wo Dre lief, Gang Starr, Snoop, Geto Boys, R. Kelly, Wu-Tang, das Slim-Shady-Album war vor ein paar Monaten erschienen.
Ich war raus, ich war getrennt von Rahel, aber ich war raus. Und ich freute mich so, wieder drin zu sein und dabei. Hier war ich nicht der, der immer das beste Gras am Start hatte, hier war ich nicht der, der nicht studierte, hier war ich nicht der, der nur Hip-Hop hörte und sich mit den anderen Sachen nicht auskannte. Hier war ich einfach Nizar, zusammen mit Jungs, die meinen Rücken hatten, wenn es Schwierigkeiten gab. Und es gab früher oder später immer Schwierigkeiten, wenn man mit diesen Jungs zusammen war.
Ein paar Drinks, ein paar Joints, ein paar kleine Nasen und diese Musik, es ging mir gut. Irgendwann nach Mitternacht standen Kamber und ich vor den Toiletten, als sein Motorola klingelte, er ging ran, sagte einige Male Ja und dann: Bin gleich da.
– Geschäfte, sagte er zu mir. Ich muss los, wir sehen uns.
Wir umarmten uns, und erst nachdem er gegangen war, bändelte ich mit Ayleen an, Ayleen mit ihrer piepsigen Stimme und dem großen Hintern, den sie zur Musik bewegte. Am Ende der Nacht haben wir uns auf meinem Bett ausgezogen.
Ich kann mich an keine Abschiedsszene erinnern oder daran, dass wir Telefonnummern ausgetauscht hätten. Siebzehn Jahre lang habe ich nicht mit ihr geredet, nur hin und wieder etwas über sie gehört. Ich war weg. Weit, weit weg in derselben Stadt.
Und dann rief sie mich an und erzählte, dass wir einen gemeinsamen Sohn haben. Dass er bis vor kurzem geglaubt habe, ihr Mann sei sein Vater. Dass er die Schule schwänze, dass er nichts mehr erzähle, dass sie nicht wisse, mit wem er sich rumtrieb, dass er ständig Streit suche, vor allem mit seinem Stiefvater, dass sie Angst habe, dass einer von beiden gewalttätig werden würde, dass sie weder ein noch aus wisse und ihm deshalb die Wahrheit erzählt habe. Der Junge wisse nicht, wer er sei. Jemand müsse ihm helfen.
Natürlich habe ich das nicht geglaubt. Das hättest du auch nicht. Ich habe geglaubt, sie denkt, ich sei reich geworden. Ich habe gedacht, sie sieht irgendeinen Vorteil für sich. Ich weiß, wo sie herkommt, natürlich habe ich ihr nicht geglaubt.
Ich habe gedacht, ich hätte das irgendwie fühlen müssen, wenn ich einen Sohn habe. Ich war mir sicher, dass er nicht von mir ist. Erst das Testergebnis konnte mich überzeugen.
Abstand zu Menschen. Aber näher dran, als einen Sohn zu haben, kann man kaum sein. Einen Sohn. Da stand er mir gegenüber. Schwarze Jeans, eng an den Waden, Nike-T-Shirt, die Jordan 33 an den Füßen, Irie-daily-Kappe. Er konnte seine Unsicherheit überspielen, besser als ich.
– Sprich mit ihm, hatte Ayleen gesagt, es ist egal, was du sagst, wozu du ihm rätst. Ich will nur, dass er sich nicht mit Sami prügelt, dass es keine Gewalt gibt. Ich fand immer noch, dass er mir nicht ähnlich sah. Kein bisschen. Aber die Testergebnisse waren nicht gefälscht, so was hätte sie nicht hinbekommen. Er schien auch nicht so sehr nach Ayleen zu kommen, hatte nicht ihr rundes Gesicht, sondern ein hageres mit einem kantigen Kinn. Er sah gut aus, ich war mir sicher, dass jede Menge Mädchen und junge Frauen auf sein Aussehen reagierten.
Als wir uns die Hand gaben, machte er eine lockere, ausholende Bewegung aus der Schulter heraus, als seien wir Freunde, die sich schon lange kennen.
– Lesane, sagte er.
– Nizar, sagte ich.
– Warum treffen wir uns hier?
– Ich wollte dort rein.
Ich machte eine Kopfbewegung.
– Da? Wieso?
– Keine Ahnung. Neutraler Boden, dachte ich.
– Ein Café für Blondie-Omas? Die sind ja alle fast tot.
– Eben. Wir beide aber nicht. Lass uns reingehen.
Er ist unpünktlich, hatte Ayleen gesagt, aber ich hatte nur zehn Minuten auf ihn gewartet. Und ich hatte nicht geraucht, obwohl ich das erste Mal seit Jahren wieder daran gedacht hatte.
Als ich mich setzte, legte ich die Hände vor mir auf den Tisch. Verdammt, wie lange war das her, dass ich so nervös gewesen war? Wie schon oft in den letzten Tagen überlegte ich, wie ich in seinem Alter gewesen war. Wer war ich gewesen, als Regulate… G Funk Era erschien? Illmatic, Tical, Direkt aus Rödelheim, Murder Was the Case, Southernplayalisticadillacmuzik. Ich erinnerte mich an die Alben, ich erinnerte mich an die Freude, an die Stunden auf dem Platz, an die Möglichkeiten, die ich vor mir sah. Ich erinnerte mich, wie groß die Welt war und wie groß meine Träume. Aber ich erinnerte mich auch, wie ich mich in traurigen Zeilen wiedergefunden hatte, You don’t see what I see, every day as Warren G, you don’t hear what I hear but it’s so hard to live through these years. Wie viel Schmerz in der Freude und in den Möglichkeiten gewesen war. Ich erinnerte mich, wie ich mit Kamber Scheine gemacht hatte, um mir die neuen Jordans kaufen zu können, einen Spalding, eine PlayStation und was sonst nicht noch alles wichtig gewesen war.
– Komische Nummer von deiner Mutter, das so lange zu verschweigen, sagte ich.
– Und die versucht mir beizubringen, nicht zu lügen, sagte er. Die Bedienung kam, ich bestellte einen Kaffee und Lesane eine Cola, nachdem er zunächst nach einem Energydrink gefragt hatte.
Ich wusste nicht, was ich als Nächstes sagen sollte. Vielleicht weiß man das nie. So lange hatte ich es geschafft, nicht verwickelt zu werden, und jetzt war ich mittendrin.
– Was machst du eigentlich so? Ayleen hat gesagt, ich soll selber fragen.
– Ich bin Detektiv.
– Detektiv?
Ich sah, wie ich in seiner Achtung sank.
– Ja.
– So Ladendetektiv?
Ich schüttelte den Kopf. Seine Hände sahen meinen ähnlich, doch. Und an den Knöcheln keine Zeichen von Prügeleien. Seine Körperhaltung und seine Bewegungen verrieten, dass er sich viel bewegte.
– Privatdetektiv.
Er sah mich ungläubig an.
– So hollywoodmäßig, oder was?
– Leute kommen zu mir, wenn die Bullen ihnen nicht weiterhelfen können.
– Du bist also so me…
Er schluckte das Wort runter, was immer es gewesen war, das er hatte sagen wollen. Ich sah ihn an. Siebzehn. Ich atmete ein. Ich atmete aus. Es musste einen Weg zu ihm geben. Einen direkten, kurzen, ehrlichen. Ich sah seine Ablehnung.
– Schau, Lesane, ich bin etwas nervös. Das passiert nicht alle Tage, dass man seinen fast erwachsenen Sohn kennenlernt. Und wenn ich du wäre, würde ich es auch scheiße finden, dass mein Vater so etwas Ähnliches ist wie ein Mietbulle. Auf jeden Fall.
Keine Regung.
– Ich bin noch nicht so lange in diesem Job. Ich habe viele verschiedene Sachen gemacht. Eine Zeit lang war ich Personal Trainer, für so reiche Leute, die es nicht schaffen, sich selbst zum Training zu motivieren. Die kein Buch in die Hand nehmen, nicht selber lesen wollen, die gelobt und gehätschelt werden wollen und die dich dafür bezahlen, dir auf den Sack zu gehen. Ich habe gut Geld damit verdient. Achtzig Euro die Stunde.
Ich erkannte die Andeutung eines geringschätzigen Lächelns.
– Irgendwann habe ich diese Leute nicht mehr ertragen, redete ich weiter. Eine Zeit lang habe ich dann einen Kiosk betrieben. Da haben die Kunden nicht das Gefühl, sie könnten dich kaufen für ihr Geld. Ich dachte, mit der Verkaufstheke als Abstandhalter würde es für mich leichter werden, freundlich zu sein zu den Leuten. Aber das stimmte leider nicht. Nach fünf Jahren auf vierzehn Quadratmetern habe ich als Detektiv angefangen. Detektiv ist kein geschützter Beruf, das kann jeder werden, du bist einfach nur ein Gewerbetreibender. Und ich bin Internetdetektiv, das heißt, ich brauche mich nicht direkt mit den Menschen auseinanderzusetzen.
– Internetdetektiv?, fragte er.
– Menschen wollen wissen, ob ihre neue Facebookbekanntschaft vielleicht ein Scammer ist.
Er sah mich fragend an.
– Romance Scammer zum Beispiel. Schreiben jemanden an. Geben sich als junge Frau aus. Schicken Fotos. Machen den Klienten verliebt in sich, wollen zu einem Treffen kommen und bitten dann um Geld für den Flug. Oder erzählen von einer Not-situation. Jemand in der Familie ist gestorben oder so.
– Richtig Steine kann man damit nicht verdienen, oder?
– Wer? Ich oder die Scammer?
– Die Scammer.
– Wenig Aufwand. Ein wenig chatten, flirten, Verständnis vorspielen und schauen, ob nicht einer von den Fischen, die man da fängt, doch eine fette Kuh ist, die man melken kann.
– Das ist alles, was du machst?
– Cybermobbing, Eltern, die ihr Kind schützen möchten, Scam-Mails, Überprüfung von Webseiten, Leute, die in Shops bestellt haben, die nicht liefern, Fake-Wohnungsangebote, Fake-Jobangebote, Betrug eben, manchmal Urheberrechtssachen oder Erpressungen, wenn der Rechner infiziert ist. Es gibt viele Leute, die sich im Stich gelassen fühlen und jemanden brauchen, dem sie vertrauen können, wenn es ums Internet geht.
– Du arbeitest für Opfer.
– Ja, sagte ich. Aber du arbeitest immer für Opfer. Egal wie du es drehst und wendest.
Er hatte offensichtlich eine andere Meinung, hielt aber seinen Mund.
Savaş starb, als Phantom of the Rapra erschien, da war ich ein Jahr älter als Lesane jetzt. Hirntumor. Er mochte mich, er mochte mich gerne, auch wenn wir nie viel miteinander gesprochen haben. In der Anfangszeit des Tumors war er häufiger redselig, aber auch sprunghaft, erst in den letzten Wochen wurde er so aggressiv. Einmal saßen wir zusammen im Wohnzimmer. Kamber war nicht da.
– Mein Sohn, hatte er gesagt, die Deutschen sind stolz auf ihre Arbeit, die gehen unter Tage und sind stolz darauf. Die schippen Kohle und sind stolz drauf. Ich war nie stolz auf meine Arbeit. Ich war stolz, dass ich meinen Eltern Geld schicken konnte, weil sie zu alt zum Arbeiten sind, ich war stolz, dass ich meinem Bruder helfen konnte, nachdem er den Arm verloren hatte, aber ich war nie stolz auf die Arbeit hier. Ich habe nur geschwitzt und geschuftet, zu jeder Zeit, die sie mich an diesem Hochofen haben wollten, war ich da. Mein ganzes Leben habe ich da ausgeschwitzt. Ein Vater möchte seinen Söhnen etwas beibringen. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre Arzt geworden oder Anwalt oder auch nur Übersetzer. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre etwas geworden, von dem ich meinen Söhnen sagen kann: Das ist gut. Ihr könnt so werden wie ich. Aber ich habe nur versucht euch beizubringen, wie man nicht so wird wie ich. Und wie soll man seinen Söhnen so etwas beibringen? Aber wir sind immer aufrecht gestanden. Ganz vorne. Wir haben uns nie versteckt und wir haben immer versucht, euch zu beschützen. Aber ich weiß nicht, ob das etwas zählt. Wo sind sie, die Helden, die starken Männer, die, die sich für groß gehalten haben? Sie sind tot, wie alle anderen. Es ist eine vergängliche Welt, am Ende des Weges hörst du auf zu atmen. Wenn ich tot bin, ist die Reihe an dir.
Ich habe nicht verstanden, was er sagen wollte.
– Die Reihe?
– Nach mir bist du dann dran mit Sterben. Du musst nach vorne.
Ich war gerührt, habe aber versucht, mir nichts anmerken zu lassen.
– Und Kamber?
– Aus dem wird nichts Gescheites mehr.
– Aber …
Er hat die Hand auf meine Schulter gelegt und den Kopf geschüttelt. Ich sollte still sein.
– Kamber, fing ich trotzdem noch mal an.
– Ich will den Namen nicht mehr hören.
In die Rührung mischte sich der Schmerz, meine Augen wurden feucht und ich sah weg. Ich wusste nicht, ob ich jetzt einfach aufstehen konnte oder nicht, und so saßen wir schweigend nebeneinander.
– Die Reihe ist an dir, sagte er nach einer Weile, bald stehst du an vorderster Front. Und du wirst gefickt werden, auf die eine oder andere Art wirst du gefickt werden. Es gibt kein Entkommen.
Er sah mich an, ich wusste nicht genau, was er mir sagen wollte, aber ich verstand, dass er auf irgendeine Art an mich glaubte.
– Jeder Mensch weint, murmelte er. Und jeder Mensch stirbt. Drei Monate später war er tot. Er wurde in der Türkei beerdigt und ich bin nicht hingeflogen. Kamber auch nicht.
Ich dachte an dieses Gespräch und wie nah wir uns gewesen waren. Es musste eine Möglichkeit geben, Lesane und mich zu verbinden.
– Was ist das mit Sami und dir?, fragte ich ihn.
– Was soll da sein?
– Ayleen sagt, ihr prügelt euch fast.
– Ja.
– Warum?
– Weil er einfach nicht peilt, dass er kurz davor ist, eine Schelle zu kassieren. Der hat mir gar nichts zu sagen. Ich bin kein Kind mehr.
– Ayleen muss verdammt verzweifelt sein, wenn sie glaubt, es könnte etwas nützen, dass wir uns treffen. Wir kennen uns nicht. Sie möchte dir irgendwie helfen. Und sie vertraut dir. Sie vertraut dir, dass du nicht zu Sami gehst und ihm die Wahrheit sagst. Egal, was sonst auch immer passiert. Das heißt, sie glaubt, du bist ein Ehrenmann, der nie seine Mutter verraten würde. Vielleicht möchte sie, dass du ein wenig Abstand gewinnst.
Abstand halten. Wie lange hatte ich das versucht?
– Was soll das bringen, wenn er es nicht auch versucht?
Ich sah ihn an und blieb ihm eine Antwort schuldig. Ich suchte nach dem Satz, dem Satz, in dem er sich selbst sehen konnte.
– Bist du sauer auf Ayleen?
– Warum?
– Weil sie dir erst jetzt die Wahrheit gesagt hat?
– Das sind alles Lügen, jeder lügt dich an, sagte er.
Er hatte es nicht gerappt, aber ich erkannte den Tonfall.
– Azad, sagte ich.
Da war immerhin ein Moment der Überraschung in seinen Augen.
Hip-Hop. Er musste acht gewesen sein, als das Album erschien. Mit Hip-Hop hat es angefangen, in der Nacht, in der wir diesen Jungen gezeugt haben. Diese Nacht. Ayleen hat mir erzählt, wie sich ihre Eltern getrennt haben, als sie sechs war. Wie sie ihren Vater vermisst hat. Wie ihre Mutter einen neuen Mann gefunden hat, der zu ihnen zog, und wie sie dann immer wieder zu Ayleen gesagt hat: Wenn das mit dem Thorsten auch nicht klappt, ist das deine Schuld. Wie sie Thorsten gehasst hat und wie schuldig sie sich deswegen gefühlt hat.
Die Nacht, in der Lesane empfangen wurde, Hip-Hop, Gras, Pep, Wodka, Bedauern, Sehnsucht, Geständnis, falsche Nostalgie, Geilheit.
– Was hörst du sonst so?, fragte ich.
– Haftbefehl, Xatar, SSIO, PA Sports, KMG, die frühen Sachen von Sido, Nazar, Nimo, Vega.
Ich nickte.
– Rappst du?
Er schüttelte den Kopf.
– Du tickst, sagte ich.
Er verzog keine Miene. Ich hätte nicht sagen können, ob irgendetwas in ihm arbeitete. Ich wusste nur, dass ich richtig lag. Ich wusste aber nicht, ob das der Grund für seine Probleme mit Sami war. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, was für ein Mensch mein Sohn war. Welche meiner Eigenschaften er hatte und welche nicht. Ob er verloren war und wenn ja, auf welche Weise. Und was das für mich bedeutete.
Mitte vierzig, Carhartt-Jeans, teures Hemd, Veja-Turnschuhe, leicht angegrautes, schütter werdendes Haar, gepflegter 14-Tage-Bart. Die Augenringe und die eingefallenen Schultern verbargen nicht, dass er es gewohnt war, sich mit jedem Mann im Raum zu messen und sich für den Gewinner zu halten.
Solche Männer hatte ich als Personal Trainer nicht motivieren müssen, die brauchten mich nur, damit da jemand war, dem sie sich überlegen fühlen konnten. Den sie nicht im Zweifel darüber ließen, wer hier das Sagen hatte und dass sie weit Wichtigeres leisteten, als zehn Kilo mehr aufzulegen oder beim Sparring die Deckung nicht sinken zu lassen.
In der Regel waren meine Klienten als Detektiv älter, unbeholfen in einer Welt, die sich Internet nannte, während Armbruster so aussah, als würde er vor dem Morgenkaffee durch seine Pushnachrichten scrollen und in Start-ups investieren.
– Herr Balcı hat Sie mir empfohlen, fing er an.
Er sprach es Baltschi aus und ich fragte mich, ob so ein Name Misstrauen in ihm auslöste und ob die Uniform half, es zu überwinden.
Ich nickte. Den Termin hatte seine Sekretärin vereinbart, ich wusste nicht, worum es ging.
– Mein Sohn …
Er sah aus dem Fenster.
– Mein Sohn ist vor zehn Tagen gestorben. An einer Droge, die er im Darknet gekauft hat. Mephedron. Es ist unwahrscheinlich, dass der Dealer gefasst wird, sagt die Polizei. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, wollen mir aber keine Hoffnungen machen. Mein Anwalt sagt, es ist nahezu aussichtslos, dafür braucht man mehrköpfige Sonderkommissionen. Er war achtzehn, sagte er mit erstickter Stimme.
Irgendetwas in meiner Magengegend schien sich zu verschieben. Ich versuchte sein Leid zu fühlen. Es gelang mir nicht. Aber irgendetwas berührten seine Worte dennoch.
– Mein Beileid, sagte ich.
Wenn die Leute Darknet sagen, heißt das meist, dass sie keine Ahnung haben, wovon sie sprechen. Sie stellen sich das Darknet als einen Bereich vor, der vom übrigen Internet abgeschnitten ist. Wie eine Anliegerwohnung, die eine eigene Haustür hat. Dabei ist das Darknet mehr so eine Art Zwischenboden, den man eingezogen hat. Es ist mitten im Haus. Man braucht nur eine Leiter, um hinzukommen.
– Können Sie den Dealer finden?, fragte er.
– Kommt darauf an. Sind Sie sicher, dass die Drogen aus dem Internet sind?
– Ja. Sein Freund hat überlebt. Er hat es erzählt. Fynn … mein Sohn war derjenige, der die Drogen besorgt hat.
– Wissen Sie, wo genau?
– Eine Plattform im Darknet, die Dream Market heißt.
– Also nur über Tor erreichbar, stellte ich fest.
Er nickte etwas unsicher. Ich brauchte sein Vertrauen.
– Tor ist eine Technologie, die vom amerikanischen Militär entwickelt wurde, um eine Kommunikation zu ermöglichen, bei der der Absender nicht ermittelbar ist. Heute wird diese Verschlüsselung nicht nur dazu benutzt, um Zensur in diktatorischen Regimen zu umgehen und Surfverhalten zu verschleiern, sondern auch, um kriminelle Foren und Marktplätze zu hosten.
– Ich möchte, dass der Mörder zur Verantwortung gezogen wird, sagte er.
– Der Betreiber von Dream Market oder der Händler, der Ihrem Sohn die Drogen verkauft hat?
Ich sah das kurze Zögern und fügte hinzu:
– Das ist jemand, der die Plattform betreibt, auf der wiederum einzelne Händler ihre Drogen anbieten.
Er schien verstanden zu haben, reagierte aber nicht sofort und ich erklärte es ausführlicher:
– Silk Road war die erste Plattform, auf der Drogen angeboten wurden. Es war ein historischer Moment, in dem Bitcoins, Tor und Drogen zum ersten Mal zusammengebracht wurden. Es ist bekanntgeworden als Amazon des Drogenhandels, doch es war mehr eine Art eBay, wo Anbieter und Käufer zusammenfanden. Wie bei eBay stellte jemand die Plattform zu Verfügung, aber die Verkäufer sind letztlich andere. Der Betreiber von Silk Road ist 2013 verhaftet worden, aber viele Händler sind dann auf die Nachfolgeplattformen ausgewichen. Von denen Dream Market eine ist. Es gibt einen oder mehrere Betreiber. Doch die sind nicht die, die Ihrem Sohn die Drogen verkauft haben, sondern ein Händler, der dort seine Waren anbietet. Also, wollen Sie den Händler oder wollen Sie den Menschen, der die Plattform betreibt?
– Beide.
– Ich kann nur versuchen, den Händler ausfindig zu machen. Für den Betreiber reichen meine Ressourcen nicht. Da ist es auch nicht mit einer Sonderkommission getan, dafür braucht es internationale Zusammenarbeit.
– Dann nur den Händler.
– Ich kann es versuchen. Lassen Sie mich das Vorgehen skizzieren. Schritt eins: Ich müsste Fynns Computer sehen, sein Smartphone, sein Tablet, alles, womit er ins Internet konnte. Ich würde mit seinem Freund sprechen, um Informationen zu sammeln. Schritt zwei: Ich müsste versuchen, die Identität des Händlers herauszufinden. Wahrscheinlich sitzt er nicht in Deutschland, sondern in Holland oder Großbritannien, das würde die Spesen möglicherweise erhöhen. Schritt drei: Wir übergeben den Strafverfolgungsbehörden die ermittelten Beweise und die nehmen den Händler fest.
Er nickte.
– Hansa Market und AlphaBay sind kürzlich hochgenommen worden, vielleicht haben Sie es mitbekommen. Mit Valhalla, Dream Market, Majestic Garden, Zion Market bleiben noch reichlich Plattformen, auf denen Drogen gehandelt werden, online. Auf jeder Plattform sind schätzungsweise zwei- bis dreitausend Händler aktiv. Die wenigsten von denen werden erwischt, selbst wenn die Plattform beschlagnahmt wird und die Betreiber festgenommen werden. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen: Schritt drei, den Händler zu enttarnen, ist unwahrscheinlich, aber ich kann es versuchen.
Er nickte erneut.
– Schauen wir erst mal bei Dream Market nach Mephedronhändlern. Moment.
Ich öffnete den Tor-Browser, loggte mich bei Dream Market ein und gab Mephedron in das Suchfeld ein. Dann drehte ich den Monitor so, dass er ihn sehen konnte.
– Vierzehn Händler insgesamt, sagte ich, einer aus Südafrika, vier aus Holland, neun aus Großbritannien, einer aus Deutschland. Das schränkt die Suche zwar ein, doch es bleibt unwahrscheinlich, dass ich herausfinde, wer von diesen vierzehn es war.
Er sah auf den Bildschirm und ich legte mir die Antwort auf die Frage zurecht, warum ich bei dieser Plattform einen Account hatte. Aus beruflichen Gründen. Die Frage kam nicht.
– Das Honorar, sagte ich. Für Schritt eins, Auswertung der Festplatten: 1.000 Euro. Für Schritt zwei, Suche nach dem Dealer: 6.000 Euro, Spesen wie Flüge und Hotel extra, für den Fall, dass Schritt drei eintritt: 10.000 Euro Provision.
– 17.000, sagte er in einem Tonfall, der mir zu verstehen gab, dass er in der Regel derjenige war, der die Ansagen machte. Ich nickte. Er sah wieder aus dem Fenster, zögerte. Überlegte vielleicht, ob er versuchen sollte mich runterzuhandeln.
Das ist dein Sohn. Ist er dir dieses Geld nicht wert? Musst du es dir vom Munde absparen? Was kostet Gerechtigkeit in dieser Welt? Was für Preise rufst du denn für deine Arbeit auf?
Glaubst du etwa, ich weiß nicht, dass du eine Agentur für Kommunikationsdesign hast und glaubst du, ich habe nicht die Namen deiner Kunden gesehen? Willst du einen Trauerbonus? Was hat denn allein der Sarg gekostet, den du deinem verwöhnten Sohn gekauft hast?
Sobald die Trauer aus deiner Fresse verschwunden ist, wird nur noch Selbstgefälligkeit bleiben.
Sagte ich natürlich nicht.
– Sehen Sie, Herr Armbruster, ich bin Dienstleister, einer der besten auf diesem Gebiet, das hat Herr Balcı Ihnen sicher gesagt. Ich verkaufe keine Gebrauchtwagen oder Smartphones, ich verkaufe Fachkenntnis. Kennen Sie die Geschichte von dem Trecker, der stehen bleibt und ein Mechaniker kommt vorbei? Klopft einmal leicht mit dem Hammer gegen den Motor und der Trecker läuft wieder. Er berechnet dem Bauern 100 Euro. 100 Euro, nur dafür, mit dem Hammer gegen den Motor zu hauen?, fragt der Bauer. Nein, sagt der Mechaniker, 1 Euro, um mit dem Hammer gegen den Motor zu hauen. Und 99 dafür, dass man auf die richtige Stelle haut.
Er zeigte keine Reaktion.
Ich bin kein Teppichhändler, aber wenn du dunkel bist, ist es klüger, sich ein wenig wie einer zu verhalten, einen Teil ihrer Vorurteile zu bestärken, damit sie sich sicher fühlen. Orientale, erzählt gerne Geschichten, scheint aber kompetent, möglicherweise sogar gerissen. Vielleicht der richtige Mann für den Job.
Bei den meisten Klienten gab ich eher den netten Ausländer: charmant, geizt nicht mit Komplimenten, ich schmierte ihnen Honig ums Maul, zeigte Verständnis dafür, dass sie sich im Neuland nicht auskannten. Sagte ihnen, dass es mir mit einem anderen Beruf wahrscheinlich genauso ginge.
Bei denen rief ich aber auch nicht solche Honorare auf.
Ich sah ihn an. Ich fragte mich, ob ich zu hoch gepokert hatte.
– Es steht Ihnen natürlich frei, sich woanders noch ein zweites Angebot einzuholen, sagte ich.
– 17.000, sagte er und stand auf. Wir gaben uns die Hand.
Nachdem ich ihn verabschiedet hatte, konnte ich mich nicht freuen. Erstens war nicht gesagt, dass ich den Dealer finden konnte. Zweitens war sein Sohn gerade gestorben. Ein Jahr älter als Lesane. Drittens mochte ich Herrn Armbruster nicht und wollte eigentlich gar nicht für ihn arbeiten.
Drittens war egal. Ich mochte die meisten Menschen nicht.
Es war alles beim alten, nur dass ich Gelegenheit hatte, ordentlich Asche zu verdienen.
Ich war noch eingeloggt bei Dream Market und klickte auf die Angebote von Tr4der Joe, legte fünf Gramm Critical Mass in meinen Einkaufswagen, bezahlte mit meinem Bitcoinguthaben.
Diese Plattformen hatten alle ein Treuhandsystem, das sich Escrow nannte. Die Bitcoins, mit denen man bezahlt hatte, blieben auf der Plattform, bis man den Erhalt der Ware bestätigt hatte oder bis eine bestimmte Frist abgelaufen war, dann erst wurden sie dem Händler gutgeschrieben. So versuchte man sicherzustellen, dass Käufer nicht betrogen wurden.
Die Kursschwankungen des Bitcoin, die Gefahr, dass die Plattform von den Behörden jederzeit geschlossen werden konnte, und die Möglichkeit, dass der Käufer der unehrliche war, der zwar die Ware bekam, aber behauptete, nichts erhalten zu haben, all diese Gefahren führten dazu, dass manche Händler ihre Ware erst losschickten, nachdem man verfrüht den Erhalt bestätigt hatte. Tr4der Joe war einer von ihnen. Ich bestätigte den Erhalt des Grases und vergab bei der Bewertung 5 Sterne. Dazu schrieb ich: FE, finalized early, will update.
Das war nicht meine erste Bestellung bei Tr4der Joe, ich wusste, dass sie ankommen würde.
Sonntags schlief ich immer lange. Oder versuchte es zumindest. Ich ließ die Augen geschlossen und drehte mich immer wieder um. Ich stellte mir vor, ich würde eine lange Treppe hinabsteigen, die geradewegs in den Schlaf führte. Manchmal klappte es.
Ich versuchte lange zu schlafen, als würde Schlaf mich schützen oder rüsten. Ich versuchte nicht mehr, sonntagvormittags zu meditieren, es war einfach zwecklos, es war die Zeit, in der ich meinen Geist am wenigsten unter Kontrolle hatte. Es sah dann nur so aus, als würde ich ruhig sitzen, aber je ruhiger ich vielleicht schien, desto mehr füllte sich alles mit Sorgen, als sei ich ein Gefäß, in das man dunkle Gedanken hineinschüttet. Je länger ich sonntags saß, desto eher war ich davon überzeugt, dass ich einfach nicht genug Liebe in mir hatte.
Ich frühstückte nicht, weil sie sich freute, wenn ich viel aß, wenigstens das.
Monatelang hatte ich sonntags Fleisch gegessen, weil ich es nicht übers Herz brachte ihr zu sagen, dass ich eigentlich damit aufgehört hatte. Schließlich hatte ich es doch erzählt, und sie hatte geschimpft und mich gefragt, was ich glaubte damit zu erreichen. Doch es hatte nicht dazu geführt, dass sie weniger kochte oder ihr gar die Ideen ausgingen.
Ich werde aufmerksam sein, nahm ich mir vor, als ich kurz vor eins die Treppen hochstieg. Ich werde zuhören. Ich werde nicht müde werden. Ich werde nicht in Gedanken abschweifen. Ich werde nicht gegenhalten und ich werde nicht genervt sein. Regelmäßig rappte ich auf diesen Stufen zu ihrer Wohnung: There’s no way I can pay you back, but the plan is to show you that I understand: you are appreciated.
– Nizar, sagte sie und umarmte mich, gab mir einen Kuss links und einen Kuss rechts, mein Sohn, komm rein. Du bist nicht wie die anderen. Gott sei’s gedankt.
Während des Essens hörte ich zu, wie sie erzählte, dass Güls Schwester jetzt im Sommerhaus wohnen würde, dass die beiden sich endgültig zerstritten hätten. Sie erzählte, dass Hakan mit einer Zwei-Drittel-Strafe aus der Haft war, dass Amira und Latif geheiratet hatten, aber jeder wusste, dass er fremdging. Sie erzählte von Brana, die fortgezogen war, um ungestört anschaffen gehen zu können, von Samiha, die in ihrem Alter noch putzen ging, von Giwar, der seinem Sohn Klavierstunden bezahlte und sich für etwas Besseres hielt. Von Alp, der seine Tochter in die Türkei geschickt hatte, weil jemand sie beim Knutschen gesehen hatte, von Hazal, die einen Studenten vor die U-Bahn geschubst hatte, von Timur, der einen Vertrag unterschrieben hatte und jetzt mit Rap Geld verdienen wollte, von Mikolaj, der letzten Monat insgesamt 14.000 Euro mit Sportwetten verdient hatte und jetzt überall damit angab. Sie erzählte, wie Snežana mit Zoran über Hakeem geredet hatte, weil Gülşah Vince verraten hatte, dass Canan ihrer Mutter das Handy geklaut hatte. Oder so ähnlich. Ich schaffte es nicht mehr zuzuhören. Zu vielen der Namen hatte ich Gesichter, doch viele waren mittlerweile verschwommen in meiner Erinnerung. Die Namen der Jüngeren sagten mir gar nichts, und das war gut so. Ich interessierte mich einfach nicht dafür, was in Westmarkt passierte. Auch ihr zuliebe nicht. Ich interessierte mich nicht dafür, aber ich wusste dennoch fast alles. Oder hätte es wissen können, wenn ich es geschafft hätte zuzuhören.
Neun Jahre war es her, dass ich sie überredet hatte, aus Westmarkt wegzuziehen, Tha Carter III war damals erschienen: I got her out the hood and put her in the hills.
Was hatte ich geredet, von schmerzhaften Erinnerungen, die sie dort nie loslassen würden, davon, dass niemand auf Dauer besser als seine Umgebung sein konnte, dass es ihr guttun würde, dass auch in anderen Vierteln Türken wohnten, dass sie sich wohlfühlen würde, dass es hier sauberer sei, geordneter, dass wir näher beieinander wären, dass wir uns zu Fuß besuchen könnten.
Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen. Aber damals war sie weniger verbittert gewesen. Damals hatte ich nicht geahnt, wie lang ihre Monologe werden würden, damals hatte sie mal gute und mal schlechte Laune gehabt. Jetzt schien sie nur noch eine Stimmungslage zu kennen.
Ich fragte mich, ob ich mir etwas vormachte, was meine Gründe anging. Hatte ich sie nur überredet, weil ich einfach nicht mehr jede Woche nach Westmarkt fahren wollte, um dort auf der Straße alten Bekannten über den Weg zu laufen? Hatte ich gedacht, diese Sonntage würden für mich leichter werden, wenn sie woanders wohnte? Sie waren leichter geworden, am Anfang, doch dann hatte sich irgendetwas geändert. Ich wusste nicht was genau. Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug gewesen.
Jeden Tag, jeden Tag bis auf Sonntag fuhr sie noch nach Westmarkt, jeden Tag ging sie durch diese Straßen, jeden Tag saß sie in Nilgüns Backshop, jeden Tag klönte sie in Defnes Blumenladen, jeden Tag verbrachte sie mit Geschichten und Gerüchten von Liebe, Verrat, Knast, Drogen und Gewalt.
– Möchtest du noch ein wenig von den Sıkma?, fragte sie.
– Ja, gerne, sagte ich. Die sind lecker geworden. Deinen Händen sei’s gedankt.
– Du bist ein guter Junge, sagte sie. Womit hat deine Mutter so einen wie dich verdient?
Die Einleitungen unterschieden sich, doch ich ahnte natürlich, wohin das Gespräch schwenkte. Ich versuchte mich auf ihre Trauer einzustimmen, ihren Gram. Natürlich würden sie davon nicht verschwinden. Ich wollte nur bei ihr sein, mich verbunden fühlen. Ich wollte nicht genervt sein von ihrer Tirade. Ich wollte ihr etwas zurückgeben.
Nie hatte ich gehungert in ihrem Haus, nie hatte es mir an Kleidung gefehlt, an Berührungen, an Koseworten. Sevgi hatte mir beigebracht, aufrichtig zu sein, sie hatte mich in Schutz genommen, auch wenn ich im Unrecht war, sie hatte mir gezeigt, dass man ruhig Fehler machen durfte. Selbst die großen Fehler, die Dummheiten, die Dealerei, den Jugendarrest hatte sie verziehen. Sie hatte an mich geglaubt, daran, dass ich den rechten Weg gehen würde. Sie hatte versucht mir beizubringen, ohne Groll, ohne Wut, ohne Rachegelüste zu leben. Sie hatte daran geglaubt, dass man Worte nicht gebrauchen durfte, um andere zu verletzen, dass man nicht stehlen und betrügen durfte, dass man seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise verdienen musste, sie hatte daran geglaubt, dass man achtsam sein musste mit sich und den anderen.
Sie hatte an mich geglaubt. Ohne sie … Wer weiß, wo ich heute wäre? Ganz sicher nicht in diesem Viertel, in dieser Wohnung, in diesem Job. Ganz sicher wäre mein Leben anders verlaufen. Ich steckte so tief in ihrer Schuld, nicht nur bis zum Hals, ich war mit dem ganzen Schädel drin.
Vielleicht hatte ich einfach nicht genug gelernt. Ich wusste nicht, wann ihre Bitterkeit angefangen hatte. Vielleicht hatte ich mich zu lange ferngehalten, vielleicht hätte es zumindest diese Sonntage immer geben müssen.
– Undank, sagte sie, wohin man auch sieht, es ist alles nur Undank.
Spätestens wenn der Tisch abgeräumt war, wenn sie mit ihrer Zigarette dasaß, vertieften sich die Falten zwischen ihren Augenbrauen und sie begann zu schimpfen, dass alles den Bach runterging, dass man niemandem mehr trauen konnte, dass Verwandtschaft, Freundschaft, Ehre nicht mehr zählten, dass alles nur noch ums Geld ging, jeder seinen Vorteil suchte, Kinder gegen Eltern aufstanden, Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester, der Mensch gegen Gott. Dummheit und Lüge regierten die Welt, jeder trug eine Maske, niemand zeigte sein wahres Gesicht, an jeder Umarmung hing ein Preisschild.
Ich wusste nicht mal, was ich schlimmer fand: dass sie jedes Mal diese Wutrede hielt oder dass ich ihr meist zustimmen konnte. Und gleichzeitig genervt war von diesen Klagen.
– Ich bin eine alte Frau, sagte sie, mit einem Bein stehe ich im Grab, wer kommt mich noch besuchen, wer ruft noch an und fragt mich, wie es mir geht, wer will die Zeit nutzen, die mir noch bleibt? Jeder rennt seinem Konto hinterher, vierundzwanzig sieben, wer denkt sich schon: Wir sind dieser Frau noch Dank schuldig? Wer sagt schon: Sie hat selber nicht gegessen, sondern alles verteilt, wer sagt schon: Sie hat nicht geschlafen und dafür Wiegenlieder gesungen und den Schlaf der anderen behütet, wer sagt schon: Sie ist selber nicht rausgegangen, aber hat uns alle Türen geöffnet, gegen die sie sich stemmen konnte? Wer weiß um den Wert einer alten Frau, die nicht mehr lange zu leben hat? Was habe ich getan, dass ich immer nur Rücken sehe? Was habe ich getan, dass diese Augen immer nur allen hinterherblicken?
Manchmal packte sie die Trauer, manchmal packte sie die Wut. Ich saß hilflos da. Dass ich da war um zuzuhören, machte keinen Unterschied. Und ich konnte es sogar verstehen.
Ich erinnerte mich an die Geschichte, die sie früher häufig erzählt hatte. An der Schwarzmeerküste der Türkei hatte sie als junge Frau gesehen, wie ihrer Schwester bei der Haselnussernte die Seile des Korbes auf ihrem Rücken in die Schultern schnitten. Abends hatte sie gesehen, wie wund diese Schultern waren. Es war das erste Jahr, dass ihre Schwester helfen musste. Sie versuchte jeden Tag Vorwände zu finden, um auch den Korb ihrer kleinen Schwester zu tragen. Sie hatte mir so oft von diesen wundgescheuerten Schultern erzählt, dass ich immer zuerst daran dachte, wenn es um eine Last ging, die jemand trug. Ich habe sie damals gefragt, was mit ihren eigenen Schultern gewesen war, doch sie sagte, sie sei es gewohnt gewesen. Ich wusste nicht, wann ihr Wunsch, die Last eines anderen zu tragen, in Bitterkeit umgeschlagen war. Vielleicht wusste ich es doch. Aber es half nicht. Nichts half je.
Manchmal Wut, manchmal Trauer, manchmal Tränen in den Augen, manchmal Spuckenebel vor ihrem Mund. Ich hingegen wurde manchmal ungeduldig, manchmal war ich genervt, manchmal wütend, ohne dass ich hätte sagen können warum. Manchmal wurde auch ich traurig.
Aber egal was war, lange Zeit hatte ich versucht, ihr trotzdem nahe zu bleiben. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Ich versuchte nicht mehr, sie in den Arm zu nehmen, ich machte nicht den Mund auf, um ihr zu sagen, dass sie mich hatte, dass ich ihr nie den Rücken kehren würde, dass mein Dank nicht enden würde, so lange ich lebte. Das hatte ich alles schon getan, doch es schien alles noch schlimmer zu machen. Der Fehler der anderen schien größer, weil ich ihn nicht hatte, sie fühlte sich stärker im Recht, weil sie mich als Kontrast hatte.
Ich saß da und wollte weg. So wie ich aus dem Kiosk weggewollt hatte, weil ich das Gelaber der Kunden einfach nicht mehr ertrug. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich keinen Unterschied machen konnte zwischen ihr und diesen Kunden.
Ich erinnerte mich daran, wie ich früher sonntags manchmal verkatert gewesen war, wie ich geglaubt hatte, den Tag nicht überstehen zu können, wie ich mir vorgenommen hatte, keinen Alkohol mehr zu trinken, zumindest nicht am Samstag. Wie dieser Schädel zu explodieren schien, wenn ich mich bückte, um die Schuhe zuzubinden und wie der Schmerz kaum nachließ, wenn ich mich wieder aufrichtete.
Der Kater war die Strafe für das Feiern gewesen. Ich wusste nicht, ob diese Besuche auch eine Strafe waren. Was hatte ich getan? Außer die Liebe zu nehmen, die sie mir freiwillig gegeben hatte?
1987, Rhyme Pays, Ice-T
Sie sitzen beide hinten auf einer Bank auf dem Spielplatz im Park, halb verborgen von einem Strauch. Eine Gruppe von acht Deutschen steht im Sandkasten und raucht, vierzehn, fünfzehn mögen sie sein.
– Da hinten kommen Türken, lass uns verschwinden.
Der Größte und offensichtlich Kräftigste unter ihnen, der, den sie Fuß nennen, sagt:
– Irgendwen von denen werde ich schon kennen. Lass uns bleiben.
– Lass uns abhauen. Die wollen doch nur Ärger.
– Wir bleiben, entscheidet Fuß.
Die Jungen auf der Bank hinter dem Strauch können sehen, dass die anderen Angst haben, aber Fuß hat das Sagen.
Murat, Berkay und Abbas sind vorne in der Gruppe der Türken. Sie stellen sich nebeneinander direkt vor die Deutschen, ohne ein Wort zu sagen. Die beiden auf der Bank können sehen, dass einige von den Deutschen jetzt noch mehr Schiss haben, obwohl die drei vor ihnen gerade mal zwölf sind. Zwei Jahre älter als sie selber.
Was guckst du so?, könnte einer von den Dreien sagen und es würde Ärger geben. Oder auch: Warum guckst du mich nicht an, wenn ich vor dir stehe?
Erol, Kazim und Fatih kommen hinzu, die sind schon dreizehn, vierzehn, und alle stehen jetzt in einem Halbkreis vor den Deutschen.
Jetzt können die Jungen auf der Bank die Angst fast riechen. Sie fragen sich, ob es zu einer Prügelei kommen wird oder ob die Deutschen rennen werden. Sie wissen, Berkay und Abbas sind heiß darauf, sich zu beweisen.
Tarkan, Erci und Kerim kommen als Letzte. Noch bevor die anderen Deutschen es bemerken, sieht der kleinere der beiden Jungen das Lächeln auf Fuß’ Gesicht.
– Tarzan, sagt Fuß, hebt die Hand und geht auf ihn zu.
– Fuß, sagt Tarkan, was machst du mit diesen Losern hier?
Die Hände schlagen auf Schulterhöhe ein.
– Die wollten schon gehen, sagt Fuß, aber ich habe ihnen gesagt, lass bleiben, da ist bestimmt jemand, den ich kenne. Und da bist du.
– Ja, da bin ich. Da habt ihr echt Glück gehabt, sonst hättet ihr alle aufs Maul bekommen. Ist ne Lebensversicherung, mich zu kennen. Wenn einer dir Ärger macht, brauchste nur zu sagen: Ich bin ein Freund von Tarzan. Mein Name ist ne Lebensversicherung. Tarzan, King von Westmarkt.
Die Kleinen sind enttäuscht. Etwas später, als die Deutschen weg sind, sieht Tarkan die beiden auf der Bank.
– Verschwindet, sagt er.
Sie stehen auf. Als sie außer Hörweite sind, sagt der Größere zum Kleineren:
– Wenn ich Tarkan gewesen wäre, hätte ich Fuß einfach trotzdem geschlagen.
Es war fast elf, als das Telefon klingelte.
– Was hast du ihm gesagt?, fragte Ayleen aufgebracht, ohne auch nur Hallo zu sagen.
– Was soll ich ihm gesagt haben?
– Weiß ich nicht. Irgendetwas hast du gemacht.
Sie schrie fast.
– Was ist passiert?
– Lesane hat Sami eine Kopfnuss gegeben.
– Scheiße.
– Ja. Scheiße. Was hast du ihm gesagt?
– Nichts, was so eine Reaktion auslösen könnte.
– Ah, ja?
– Was ist denn genau passiert?
– Wir sitzen vor dem Fernseher, Lesane kommt rein, total bekifft und total scheiße drauf, Schuhe noch an den Füßen, schnappt sich die Fernbedienung, lässt sich auf die Couch fallen und schaltet einfach um. Sami sagt: Hey, wir gucken das gerade. Geh in dein eigenes Zimmer. Und Lesane: Ich gucke, wo es mir passt. Sami steht auf, versucht ihm die Fernbedienung abzunehmen und meint: Tickst du eigentlich noch sauber? Hat dir jemand das Hirn abgeschleppt, oder was? Lesane lässt die Fernbedienung los, steht auf, gibt Sami voll die Kopfnuss und rennt raus.
– Wo ist er jetzt?
– Keine Ahnung. Was hast du ihm erzählt, verdammt?
– Beruhig dich. Ich glaube nicht, dass es an mir liegt.
– Ach, nein? Etwa an mir oder was?
– Das habe ich nicht gesagt.
Ich holte tief Luft.
– Ich spreche mit ihm, sagte ich.
– Wir haben ja gesehen, wohin das führt.
Man braucht nicht mit einer Frau zusammenzuleben, um Vorwürfe von ihr zu hören.
– Ayleen, bitte.
– Ich hätte dich nie …
Sie brach ab, schnaubte und legte auf.
Vielleicht hätte sie mir auch viel früher die Wahrheit sagen sollen, dann hätte ich eine Gelegenheit gehabt, den Jungen kennenzulernen.
Ich kam nicht dazu, mir zu überlegen, wann ich Lesane anrufen wollte. Das Telefon klingelte.
– Ja?
– Hallo, sagte Lesane. Ich glaube, ich habe Scheiße gebaut.
– Das glaube ich auch.
Er zögerte einen Moment.
– Hat Ayleen dich angerufen?
– Ja.
– Darf ich bei dir pennen?
– …
– Hallo?
– Ja.
Es klang nicht wirklich überzeugend, nehme ich an.
– Ich kann jetzt nicht nach Hause. Scheißstimmung da.
– Komm her. Dann sehen wir weiter.
Ich gab ihm die Adresse durch, setzte mich auf das Sofa und fragte mich, was passiert war. Und ob es eine Möglichkeit gab, dass Lesane mir die Wahrheit erzählte.
Eine halbe Stunde später war er da, nagelneue Jordans, rotschwarze Jogginghose und ein Helly-Hansen-Shirt.
– Danke, sagte er, als er mir die Hand gab. Korrekt von dir. Seine Augen glänzten noch vom Kiffen, aber sie waren kaum noch rot.
– Komm, setz dich, willste was trinken?
– Cola.
– Cola habe ich nicht. Wasser? Bier?
– Bier.
Als wir anstießen, sagte ich:
– Erzähl mir doch, was passiert ist.
Seine Version unterschied sich nicht von Ayleens. Ich überlegte kurz, ob ich ihn fragen sollte, warum er denn Sami so provoziert hatte. Ob ich Ayleen texten sollte, dass er bei mir war. Oder ob das Zeit hatte.
– Hast du keinen Fernseher?, fragte er.
– Nein.
– Warum nicht?
– Damit wir uns nicht über die Fernbedienung streiten können.
Er lachte nicht, aber er gab sich damit zufrieden und holte sein Handy raus.
– Welches WLAN?
Ich schüttelte den Kopf.
– Du hast kein Internet?
– Nein.
– Du willst mich verarschen.
– Nein.
– Du bist Onlinedetektiv, hast du gesagt. Du arbeitest im Internet.
– Ja, aber nicht zu Hause.
– Wo denn?
– Im Büro. Ist um die Ecke. Ich gebe dir die Schlüssel, wenn du willst.
Ich wusste nicht, ob das eine gute Idee war, ihm die Schlüssel anzubieten, aber nun hatte ich es schon gesagt.
– Und zu Hause hast du kein Internet?
– Nein.
– Warum?
– Ich halte die Kosten gering.
– Zahlen die Opfer nicht so gut?
– Ich bin zufrieden.
Er nickte, stand auf und ging ans CD-Regal.
– Wonach sind die sortiert?
– Chronologisch.
Er drehte sich um und sah mich an.
– Nach Erscheinungsjahr. Warte, hier, das ist an dem Tag erschienen, an dem du geboren wurdest.
Er sah die CD an, dann wieder mich.
– Safe?
– Ja. 23. Mai 2000.
– Wusste ich nicht.
Er war beeindruckt.
– Du kennst das Album?
– Klar.
Er ging zum CD-Spieler und legte die The Marshall Mathers LP ein, skippte aber direkt zu The Real Slim Shady, sein Kopf nickte und er rappte einen Teil der Hook mit: So won’t the real Slim Shady please stand up, please stand up, please stand up?
Ich übernahm den Rest der Hook und wir sahen uns an und lächelten.
Als ich morgens aus dem Haus ging, lag er noch auf dem Sofa, das ich für ihn bezogen hatte. Als ich mittags heimkam, saß er drauf, vor sich einen Flachbildschirm und eine Playstation, und zockte. Wahrscheinlich hatte er am Fenster geraucht, der Grasgeruch war kaum mehr wahrzunehmen.
– Morgen. Möchtest du etwas essen?
– Klar. Immer.
– Auberginencurry?
Er sah mich an, wie er mich angesehen hatte, als er feststellen musste, dass ich nicht nur keinen Fernseher, sondern auch kein Internet hatte.
Ich ging in die Küchenzeile, während Lesane weiter GTA spielte.
Ein friedliches Bild, dachte ich, Vater und Sohn in einem Zimmer, beide beschäftigt mit etwas, das ihnen Freude macht. Doch natürlich war es das nicht.
Sein Vater war Professor für Chemie an der Universität, seine Mutter war promovierte Germanistin und arbeitete als Redenschreiberin und freie Lektorin, das war schnell zu recherchieren gewesen. Das Haus war riesig und ich hatte darum gebeten, allein mit Niklas sprechen zu dürfen. Sein Zimmer war größer als meine Wohnung. Er saß auf seinem Drehstuhl, seinen Schreibtisch im Rücken, ich saß in einem Fatboysitzsack, von denen er drei Stück hatte. Hinter mir war die Couch, auf dem Couchtisch eine Xbox und eine Wii, dahinter ein Flachbildschirm dreimal so groß wie der, den Lesane angeschleppt hatte.
Niklas wippte mit dem Knie.
– Ich habe der Polizei doch schon alles erzählt.
– Ich weiß. Aber ich bin kein Anwalt und habe keine Akteneinsicht. Also weiß ich nicht, was du ihnen erzählt hast. Fynns Vater bezahlt mich dafür, dass ich den Dealer finde, der euch das Mephedron verkauft hat.
– Das mit dem Darknet hat alles Fynn gemacht.
– Ihr habt doch sicher auch mal zusammen vor dem Rechner gesessen.
Er schüttelte den Kopf.
– Ich weiß von nichts.
– WalterCojonesWhite, sagte ich.
Er konnte seine Überraschung nicht überspielen.
Ich erinnerte mich daran, wie es früher gewesen war, wenn solche Jungs Gras kaufen wollten. Sie taten immer cool, aber man konnte ihnen ansehen, dass sie die Hosen gestrichen voll hatten.
– Kommt dir also bekannt vor.
Er schaute auf sein Knie, nicht auf das, das auf und ab wippte, sondern auf das andere.
– Schau, ich bin nicht die Polizei. Ich möchte nichts von dir, außer ein paar Informationen.
Kurz sah er hoch.
– Ihr wart neugierig. Irgendwann habt ihr angefangen zu kiffen. Vielleicht weil Fynn etwas im Internet bestellt hat, vielleicht weil er in der Schule oder auf der Straße etwas gekauft hat. Viele Menschen kiffen, das ist nichts Besonderes mehr.
Er sagte nichts.
– Ihr habt gekifft, das kannst du ruhig zugeben. Ich erzähle nichts weiter. Alles hier bleibt unter uns.
Er schwieg weiterhin.
Ich zögerte, vielleicht war es noch zu früh. Vielleicht auch nicht.
– Jeder zweite kifft heutzutage, sagte ich. Auch unter den Erwachsenen, ich kiffe auch, schau …
Ich holte das Gras aus meiner Hosentasche.
Feinstes Critical Mass, nur Blüten, kein Kleinkram, ich habs im Internet gekauft, bei Dream Market, bei einem Händler, dem ich vertraue.
Das ist ein Trick, oder?
Was für ein Trick?
Sie sind verdeckter Ermittler oder so.
Wenn ich ein verdeckter Ermittler wäre, dann dürfte ich dir bestimmt kein Gras schenken, aber das ist genau das, was ich jetzt tue. Hier.
Ich hielt ihm das Tütchen hin, er bewegte sich nicht, löste seinen Blick aber auch nicht von dem Gras.
– Du kannst mir vertrauen. Und ich vertraue dir. Wenn du jemandem davon erzählst, bin ich geliefert. Dann bin ich den Job los und habe Probleme. Dein Vater würde mich sofort verklagen.
Das schien ihn zu überzeugen, zögerlich nahm er das Tütchen.
Er kiffte ohnehin. Und er würde mich nicht verraten. Er ließ das Gras in einer Dose in einer abschließbaren Schreibtischschublade verschwinden.
– Also? Willst du mir ein bisschen was erzählen?