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Lang war die Reise, lang wie die Reisen in Märchen.
Gül hat Tage gebraucht, um nach Deutschland zu kommen, und sie weiß noch nicht, dass die Jahre wie Wasser dahinfließen werden, bis ihr Haus in der Türkei gebaut ist und sie zurückkehren kann. Bis dahin lernt sie alle Arten der Sehnsucht kennen: die nach ihren beiden Töchtern, nach ihrem Vater, dem Schmied, nach Düften und Farben und Früchten. Doch unmerklich wird die Heimstraße in diesem kalten, unverständlichen Land zu einer anderen Heimat. „Euer Leben wird in der Fremde vergehen“, warnt man sie. Aber die ganze Welt ist eine Fremde, wenn man nicht bei den Seinen ist. Geht es ihren Töchtern gut, ist Gül, als hätte das Leben keine Grenzen mehr. Wer ihre geduldige Zuversicht kennt, muss dem Stoßseufzer einer Freundin zustimmen: „Dank sei dem Herrn für dieses Herz, in dem alle Platz haben.“
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Seitenzahl: 439
Selim Özdogan
Heimstraße 52
Roman
Aufbau-Verlag
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ISBN E-Pub 978-3-8412-0201-7
ISBN PDF 978-3-8412-2201-5
ISBN Printausgabe 978-3-351-03337-8
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Erstausgabe erschien 2011 bei Aufbau,
einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Es ist ruhig.
Viel ruhiger, als Gül es sich vorgestellt hat.
Es gibt dort alles, hatten sie gesagt, ihre Schwiegermutter, ihre Stiefmutter, die Nachbarn, und alles viel besser als hier. Deswegen hatte Gül nur diesen Pappkoffer dabei.
In Istanbul ist sie in den Zug gestiegen, in der lauten Stadt, wo jeder etwas zu tun zu haben schien, wo sich die Stimmen der Straßenverkäufer mit den quietschenden Bremsen der Züge mischten, der Schrei eines Esel mit dem Rattern einer Kutsche, die von einem Auto überholt wurde.
So ähnlich muss Deutschland sein, hatte Gül gedacht, nur weniger Tiere und noch mehr Menschen.
An den Umsteigebahnhöfen hatte sie Angst gehabt, nicht den richtigen Zug zu finden und irgendwo in der Fremde verlorenzugehen. Dieser letzte Bahnhof ist so klein, dass Fuat, der am Bahnsteig steht, größer wirkt als in ihrer Erinnerung, obwohl er abgenommen hat. Von dem Bauch, den er beim Militär bekommen hatte, ist nichts mehr übrig, im Gegenteil, seine Wangen wirken eingefallen, und selbst sein Haar scheint noch lichter geworden zu sein.
Gül fällt ihm in die Arme, erleichtert, dass da jemand ist, der sie hält. Jemand, der den Weg kennt. Während sie seinen Körper spürt, taucht wieder dieses Bild in ihrem Kopf auf, wie Ceren beim Abschied geweint hat, am Fuß der Treppe im Haus ihrer Schwiegereltern.
Fuats Mutter Berrin hielt sie auf dem Arm, ein fast drei Jahre altes Kind, das schrie und tobte, während ihr die Tränen |6|liefen und sie sich mit den Fingern das Gesicht zerkratzte und die Haare raufte, sie in Büscheln ausriss, obwohl Berrin versuchte, die Ärmchen festzuhalten. Ceyda, die bald sechs wird, stand neben ihrer Großmutter und schien weniger als ihre Schwester zu begreifen, was dieser Abschied bedeutete. Ceyda ist brav, folgsam und fleißig, hat Gül gedacht, dort am Fuße der Treppe, sie ist ein kluges Mädchen, sie wird das Beste aus der Trennung machen. Aber Ceren ist noch so klein, und auch wenn Gül keine Unterschiede in der Liebe zu ihren Kindern macht, ist ein Teil ihres Herzens dort geblieben, auf immer verbunden mit Cerens Schreien, Kratzen und Toben, das nicht zu ihrem Alter passt. So wird sie sich die nächsten 18 Monate an Ceren erinnern.
Doch in diesem Moment am Bahnsteig verschwindet das Bild, als sie sich aus Fuats Armen löst. Er nimmt ihr den Koffer ab, und sie gehen gemeinsam durch Straßen, die verlassen wirken. Gül kann sich nicht vorstellen, dass in diesen Häusern Menschen wohnen, obwohl man hinter den Vorhängen Licht sehen kann.
Auf der Straße kann man das leise Brummen einer flackernden Straßenlaterne hören.
Wie die Reise war, fragt Fuat, aber Gül mag nicht erzählen von ihrer Angst auf den Bahnhöfen, nicht einem Mann, der es kaum erwarten konnte, nach Deutschland zu fahren, der, ohne zurückzublicken, seine Frau und seine Töchter für länger als das geplante Jahr verlassen hat. Sie mag nicht erzählen, dass sie in den letzten drei Tagen nicht ihr Geschäft verrichten konnte auf dieser kalten, stinkenden Zugtoilette, sie mag nicht erzählen, wie groß ihre Freude und Erleichterung war, als sie Fuat auf dem Bahnsteig gesehen hat.
– Lang war die Reise, sagt Gül, lang wie die Reisen in Märchen.
– Ja, mit dem Zug ist es eine ganz schöne Strecke. Zurück |7|werden wir fliegen, so Gott will. Das geht schneller, als von uns mit dem Bus nach Ankara zu fahren, du wirst sehen.
Er hatte recht, denkt Gül, als sie die Wohnung sieht. In dem einzigen Zimmer stehen ein wuchtiges Bett, ein Nachttisch, ein eintüriger Schrank und eine Kommode, mehr würde auch nicht reinpassen. Es gibt eine kleine Küche mit einem Tisch und zwei Hockern und einen winzigen Flur.
– Das Klo ist im Treppenhaus, sagt Fuat, nachdem Gül ihren Koffer aufs Bett gelegt hat, komm, ich zeigs dir.
Im Haus ihrer Schwiegereltern war das Klo auf dem Hof, und es hatte keine Wasserspülung wie dieses hier, doch so eine winzige Wohnung hat sie noch nie gesehen, sie hat gedacht, Fuat übertreibt wie so oft, als er sagte, hier sei kein Platz für Kinder, selbst wenn man sie im Schrank im Stehen schlafen ließe.
– Ich muss los, sagt er, zur Arbeit, ich bin morgen früh wieder da.
Nachdem Gül die Tür hinter ihrem Mann geschlossen hat, setzt sie sich aufs Bett und öffnet ihren Koffer. Da sind ein Paar Schuhe, ein Schnellkochtopf, zwei Kleider, Unterwäsche, zwei Röcke, eine Strickjacke und nicht sehr viel mehr.
Was sollst du billigen Plunder von hier mitschleppen, haben sie gesagt, dort kannst du dir richtig gute Sachen kaufen.
Gül möchte ihre Wäsche in die Kommode räumen, doch als sie die Unordnung sieht, kippt sie die Schubladen einfach aufs Bett und fängt an zu sortieren. Als sie mit Kommode und Schrank fertig ist, geht sie in die Küche und zündet sich dort eine Zigarette an, eine Samsun, fast zwei Packungen hat sie unterwegs geraucht, und nach dieser bleibt ihr nur noch eine letzte Zigarette. Sie zieht die Füße auf den Hocker, lehnt den Rücken gegen die Wand, über der Spüle hängt ein kleiner Spiegel. Gül steht auf und sieht sich an. Sie sieht immer noch genauso aus wie in der Türkei, aber sie fühlt sich nicht so. Ihr Gefühl geht über das Bild im Spiegel hinaus. Vielleicht kommt sie sich deswegen so fremd vor.
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