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Die Geschichte einer beeindruckenden Frau Es gibt drei Möglichkeiten, dem Leben zu begegnen: dulden, kämpfen, fliehen. Nach acht Jahren in der Türkei verlässt Gül zum zweiten Mal ihre anatolische Heimat in Richtung Deutschland: Um wieder bei ihrem Mann Fuat zu sein, der in Bremen arbeitet, und um noch einmal Fuß zu fassen in einem Land, das ihr eine bessere Zukunft verspricht, obwohl es ihr stets fremd geblieben ist. Heimweh und Sehnsucht hat sie gelernt zu erdulden, indem sie ihrer Umwelt immer liebevoll und voller Akzeptanz begegnet. Mit ihrer Herzlichkeit und Wärme berührt Gül jeden – über die Grenzen kultureller und sozialer Konventionen hinweg. Einfühlsamer Roman über Heimat, kulturelle Identität und das Leben zwischen zwei Welten Es ist das Leben einer beeindruckenden Frau, das Selim Özdogan mit viel Gefühl und Poesie, aber ohne Sentimentalität schildert. Ein Leben, das geprägt ist von Melancholie und Trennung ebenso wie von Warmherzigkeit und Anteilnahme. Er erzählt damit die Geschichte eines Schicksals, das uns im Leben täglich begegnet: das Schicksal unserer Mütter und Großmütter, die ihre Heimat verließen, um eine bessere Zukunft zu finden. Das Schicksal der Frauen, die wir aus dem Bus oder aus dem Supermarkt kennen, deren Welt uns dennoch unbekannt bleibt. Das Schicksal unserer Arbeitskolleginnen und Freundinnen. Ein Leben, viele Leben, denen in der Literatur aber bisher nur wenig Platz zugestanden wurde. "Wo noch Licht brennt" ist ein zutiefst menschlicher Roman und ein Gegengift gegen die Unsichtbarmachung und Diskriminierung, unter der muslimische Frauen in Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz leiden. Die Kraft des Herzens Nach den Romanerfolgen "Die Tochter des Schmieds" und "Heimstraße 52" erzählt Selim Özdogan die Geschichte seiner Protagonistin Gül weiter, mit der er bereits viele Leser*innen in den Bann gezogen hat. Eine einfache Frau mit einem guten und weisen Herzen, voller Lebenserfahrung. Sie erfährt, was es bedeutet, Heimat zu verlieren und neue Heimat zu finden - nicht nur durch die Migrationserfahrung, auch durch die Entfremdung von der Familie und von der Welt der Kindheit. Mit der Zeit jedoch lernt sie umzugehen mit den Schmerzen, die einem das Leben zufügt. Denn da ist das Licht, das immer noch brennt, nämlich im eigenen Herzen. *********************** Leser*innenstimmen: "Selim Özdogan schafft es, dass man versteht, wie sich Menschen zwischen zwei Kulturen fühlen. In der Türkei nicht mehr zu Hause, aber auch in Deutschland nie richtig angekommen, gehört Gül nirgendwo mehr so richtig hin. Berührend und sehr liebevoll beschreibt der Autor das Leben dieser Frau und ihrer Mitmenschen." "Selim Özdogans Sprache hat einen ganz besonderen Zauber, der seinen Figuren Leben einhaucht. Man fühlt förmlich die Sorgen und Freuden, die Gül durchlebt." "Die Hauptprotagonistin Gül ist eine beeindruckende Frau. Trotz der vielen Probleme, die sich in ihrem Leben ergeben, macht sie immer weiter und behält sich eine Wärme gegenüber ihren Mitmenschen, die ergreifend ist."
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Seitenzahl: 478
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Wo noch Licht brennt
Roman
Unter der Tür schimmert Licht durch. Gül zögert und horcht. In der Stille der Nacht glaubt sie zu hören, wie jemand raucht, und öffnet die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Ceyda sitzt am Tisch und zerbricht die Zigarette im Aschenbecher, als sie hastig versucht, sie auszudrücken. Gül sieht auf die Uhr an der Wand. Halb vier.
– Was machst du?
– Ich konnte nicht schlafen.
– Schlaflosigkeit ist schlimmer als Sehnsucht.
– Wirklich?
– Die Sehnsucht verschwindet, wenn man schläft, oder wird zumindest weniger. In der Schlaflosigkeit verfolgt einen dagegen alles und man hat keinen Ort, um kurz Luft zu holen. Wer nachts nicht schläft, dessen Sorgen sind so groß, dass sie in seinen Tag nicht hineinpassen.
Seit einer Woche ist Gül hier, sie braucht nicht zu fragen, wie es ihrer Tochter geht, sie hatte genug Zeit, sie zu beobachten.
– Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich habe versucht, leise zu sein, sagt Ceyda.
– Ich war auf der Toilette und habe das Licht gesehen.
– Leg dich wieder hin. Komm nicht auch du noch um deinen Schlaf.
Gül schüttelt den Kopf und setzt sich. Sie hofft, dass es einen Unterschied macht. Sie schläft selbst auch schlecht, seit sie wieder in Deutschland ist, aber davon hat sie Ceyda nichts erzählt. Könnte man Schlaf teilen, sie würde alles, was sie hat, Ceyda geben.
Als sie vor über zwanzig Jahren das erste Mal in dieses Land gekommen ist, konnte sie nur wenige Worte deutsch, sie fühlte sich hilflos und verloren in einer andersartigen Welt, die Menschen, die Sprache, der Alltag, die Lebensmittel, alles war ihr fremd. Sie, die aus der türkischen Kleinstadt kam, verlief sich auf dem Weg zur Arbeit. Während Fuat auf der Nachtschicht war, saß sie in der kleinen Küche der Einzimmerwohnung und ihr Herz blutete, weil sie ihre kleinen Töchter in der Türkei zurückgelassen hatte.
Jetzt, wo sie nach fast acht Jahren in der Türkei wieder nach Deutschland zurückkehrt, weiß sie viel besser als beim ersten Mal, was sie erwartet. Sie muss nicht denselben Schmerz der Trennung erdulden, dennoch schläft sie schlechter als damals. Viel schlechter. Sie greift nach der Schachtel und hält sie Ceyda hin.
– Ich kann das nicht.
– Du bist eine erwachsene Frau, du hast zwei Kinder, du darfst ruhig in Gegenwart deiner Mutter rauchen. Schau, ich nehme mir auch eine. Lass uns gemeinsam rauchen und dann ins Bett gehen.
Ceyda gibt erst ihrer Mutter, dann sich selbst Feuer.
– Weißt du noch, sagt Gül, wie dein Vater deine Zigaretten gefunden und dann wortlos auf den Tisch gelegt hat?
– Natürlich. Kein Wort hat er gesagt. Auch später nicht. Mir ist heiß geworden. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun soll und ob mich ein Donnerwetter erwartet oder nicht. Ich hatte solche Angst, dass ich drei Wochen lang nicht geraucht habe.
Heute erzählt Fuat die Geschichte gerne, um zu erklären, wie einfach Erziehung ist. Man müsse nur wissen, wann man den Mund zu halten hat. Fuat, der gerne große Reden schwingt, Fuat, der gerne prahlt. Der Mann, der es seit Monaten nicht schafft, in Bremen eine Wohnung zu finden, in der er gemeinsam mit seiner Frau leben könnte. Fuat, der in einem Apartment wohnt, das noch kleiner ist als die Einzimmerwohnung, in die Gül seinerzeit gekommen ist. Fuat, der sie jahrelang hingehalten hat, wenn es darum ging, wann er ihr in die Türkei folgen würde. Fuat, der nicht erfreut darüber zu sein schien, dass Ceyda ihrer Mutter nun geholfen hat, wieder nach Deutschland zu kommen. Als Gül das erste Mal nach Deutschland übergesiedelt ist, war sie fremd, aber sie hat sich nicht unerwünscht gefühlt und hat nicht auf einer ausziehbaren Couch im Wohnzimmer geschlafen, sondern im selben Bett wie ihr Ehemann.
Im Flur hört man das schleifende Geräusch, das Gül schon kennt. Das Geräusch, das der kleine Timur macht, wenn er nachts in seinem Schlafsack aus dem Kinderzimmer trippelt. Ceyda steht auf und Gül hofft, dass ihre Tochter noch ein paar Stunden schläft, wenn sie sich nun mit ihrem Sohn ins Ehebett legt.
Wie in ihren ersten Tagen in Deutschland sitzt Gül am Küchentisch und schreibt Briefe. Damals hatten sie kein Telefon, und als sie dann später eines bekamen, hatte ihr Vater in der Türkei keines. Als der Schmied schließlich ebenfalls ein Telefon bekam, musste man die Ferngespräche beim Postamt anmelden und stundenlang warten, was dazu führte, dass oft mitten der Nacht schlaftrunken telefoniert wurde.
Jetzt könnte sie einfach anrufen, sie hat die Nummer ihres Vaters, ihrer drei Schwestern, ihres Bruders, es kostet ein Vermögen, doch sie könnte eine dieser Nummern wählen und mit wenigen Worten eine Verbindung schaffen, sie könnte sich am Klang der Stimmen wärmen, sie könnte die Sehnsucht lindern für einige Momente, sie könnte die Melodie hören, die sie gemeinsam sind.
Nur Ceren hat keine Nummer, die sie wählen könnte. Ceren, die noch keine drei Jahre alt war, als Gül sie damals bei ihrer Schwiegermutter gelassen hat, das kleine Mädchen, das sich beim Abschied am Fuß der Treppe die Haare raufte und das Gesicht zerkratzte, als ahnte sie, dass sie ihre Mutter 18 Monate lang nicht mehr sehen würde. Ceren, die mittlerweile in Erzurum wohnt, weil ihr Mann seine ersten zwei Jahre Dienst als Lehrer in einer östlichen Provinz verrichten muss.
Ceren ist damals mit ihrer Mutter zurück in die Türkei gezogen und hat sich in den ersten Jahren schwergetan in der neuen Umgebung. Doch nun ist sie glücklich mit Mecnun, wenigstens eine, die einen guten Mann bekommen hat, dem Herrn sei’s gedankt.
Gül sitzt am Küchentisch, doch sie weiß nicht, was sie schreiben soll. Sorgen. Alles, was ihr einfällt, sind Sorgen. Die Missstimmung zwischen Fuat und ihr, Ceydas Sorgen mit ihrem Mann Adem, seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber, Güls Ängste vor der Zukunft, ihr Bedauern, die Türkei wieder verlassen zu haben.
Sie wollte ja zurück nach Deutschland, weil sie sich in ihrer Heimatstadt verloren fühlte, nachdem Ceren weggezogen war und Fuat immer noch nicht zurückkam, um sie wenigstens vor den anzüglichen Bemerkungen der anderen Männer zu schützen. Sie wollte zurück nach Deutschland, um bei Fuat zu sein und um Ceyda beistehen, doch nun vermisst sie ihren Vater, vermisst ihre Schwester Sibel, vermisst das Sommerhaus, vermisst die Entfernung zu Deutschland. Ceren würde sich möglicherweise schlecht fühlen in ihrem Glück, wenn sie ihr all das schreiben würde.
Der Stift in ihrer Hand hat Sorgen, das Papier vor ihr hat Sorgen, der Umschlag hat Sorgen, die Briefmarken haben Sorgen, nichts hat Leichtigkeit, so kommt es Gül vor, wie soll sie da etwas schreiben, das Ceren bei sich tragen kann, wie soll sie Worte finden, die eine Verbindung schaffen? Nachdem sie eine halbe Stunde über die Begrüßung kaum hinausgekommen ist, gibt sie auf, geht ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Auf dem deutschen Kanal, türkische Sender kann man noch nicht empfangen, wird eine Frau interviewt, deren Akzent Gül sofort erkennt. So wie diese Frau hat auch Tanja gesprochen. Tanja, die einzige Deutsche, die damals in der Heimstraße wohnte, Tanja, die einige Sitten und Gebräuche ihrer Nachbarn angenommen hat, Tanja, die sich wohl fühlte unter all den Ausländern. Tanja, die alte Dame, die alle nur Tante Tanja nannten und die gestorben ist, kurz bevor Gül zurück in die Türkei zog. Gül denkt an die Heimstraße, in der sie jahrelang gewohnt hat, bevor die Wollfabrik schloss und sie und Fuat ihre Arbeit verloren. Fuat fand dann eine Stelle bei Mercedes in Bremen und Gül beschloss, in die Türkei zu ziehen, wohin Fuat ihr wenige Jahre später folgen wollte. Ceyda war damals schon verheiratet und blieb in Deutschland, Ceren ging noch in die Schule und zog mit ihrer Mutter gemeinsam um.
Sie hatten Sorgen, auch in der Heimstraße, aber rückblickend erscheint es Gül, als seien sie dort glücklich gewesen. Als die Kinder noch zu klein waren, um zu übersetzen, ist sie oft zu Tanja gegangen, wenn sie Briefe vom Amt bekamen, die sie nicht verstanden, und Tanja hat geduldig versucht zu erklären, was es mit den Schreiben auf sich hatte. Tanja hat anders gesprochen als die anderen Deutschen, doch Gül hat sich nie gefragt, warum das so war. Jetzt erkennt sie den Akzent und hört der Frau zu, die sich freut, endlich reisen zu dürfen und dass die da oben die Rechnung dafür bekommen haben, das eigene Volk nicht ernst zu nehmen.
Gül hat Tanja nie gefragt, wo sie herkommt. Sie wusste nur, dass ihre Ehe kinderlos geblieben und ihr Mann bereits verstorben war, als sie in die Heimstraße zog. Sie hat sich gewundert, dass so wenig Deutsche auf Tante Tanjas Beerdigung waren, und hat geglaubt, es liege daran, dass für die Deutschen Familie nicht so wichtig ist, doch nun glaubt sie besser zu verstehen.
Der Tod ist Gottes Befehl, wenn nur die Trennung nicht wäre. Gül murmelt die Zeilen Orhan Velis vor sich hin. Die Trennung findet den Menschen. Sie hat ihren Vater, den Schmied, gefunden, als er noch ein kleiner Junge war und sein Vater starb. Sie hat ihn später noch einmal gefunden, als sie ihm seine Frau Fatma genommen hat. Sie hat Gül gefunden, als sie fast sechs war und ihre Mutter starb.
Doch die Trennung findet den Menschen auch ohne den Tod. Sie hat Gül gefunden, als ihr Mann beim Militär war, sie hat ihre beiden Töchter gefunden, als sie ohne sie nach Deutschland zog, sie hat alle Geschwister Güls gefunden, die sich meist nur noch ein oder zwei Mal im Jahr sehen. Die Trennung hat Gül fast ihr ganzes Leben lang begleitet. Doch sie begleitet nicht nur die, die ihre Eltern verlieren, und die, die in die Fremde ziehen, sie begleitet auch die anderen. Sie hat ganz Deutschland begleitet, als es getrennt war.
Wir sind verbunden, denkt Gül. Die Diener des Herrn sind alle verbunden dadurch, dass die Trennung sie begleitet wie ein treuer Freund. Bei denen, die wegziehen, ist sie genauso wie bei denen, die daheimbleiben. Und bei wem sie nicht ist, der hat das Los der Einsamkeit gezogen und ist auch nicht zu beneiden. Ach, ich nehme die Trennung tausendfach auf mich und danke dir, dass ich zwei gesunde Töchter habe, die auf eigenen Beinen stehen, ich danke, dass ich Briefe schreiben kann und meine Augen noch sehen.
Sie drückt den Knopf der Fernbedienung, macht den Fernseher aus und geht zurück in die Küche. Sie zündet sich eine Zigarette an und nimmt den Stift in die Hand. Das wird auch ihrem belesenen Schwiegersohn gefallen. Der Tod ist Gottes Befehl, wenn nur die Trennung nicht wäre, so heißt es, doch die Trennung ist das Leben, schreibt sie. Wenn man von niemanden mehr getrennt ist, dann ist man tot.
Ihr fällt das andere Gedicht ein, in dem sich jemand wünscht, der Streit würde aufhören, der Hunger würde aufhören, die Müdigkeit, die Bedürfnisse des Körpers, der Schmerz, das Gedicht, in dem jemand sich im Grunde wünscht, tot zu sein. Es ist nur die Trennung, schreibt sie, und die währt nicht für immer. Gott liebt seine Geschöpfe, und wenn er sie auch an der Trennung leiden lässt, sie ist erst nach dem Tod ewig.
Gül schreibt einen Brief voller Melancholie und schwerer Gedanken, doch keinen, der gefüllt ist mit Sorgen, sie schreibt einen Brief, in dem die Liebe einen Platz findet in der Melancholie und der ein Herz erwärmen kann im Frühling nach dem harten Winter Erzurums.
Fuat hat schon gehumpelt, als er Gül vom Flughafen abgeholt hat, nur eine kleine Wunde am Knie hat er gesagt. Das ist jetzt fast drei Wochen her, drei Wochen, in denen Gül bei Ceyda in einem Vorort von Hamburg gewohnt und ihren Mann, der in Bremen wohnt und arbeitet, fast nur an den Wochenenden gesehen hat. Drei Wochen, in denen sein Humpeln immer schwerer geworden ist. Nun ruft er an und sagt, dass er im Krankenhaus ist und dort auch bleiben muss. Es hat sich ein Abszess gebildet, der operiert worden ist.
– Er hat sich nicht um dich gekümmert und du möchtest sofort zu ihm, wenn er anruft?
– Er ist mein Mann.
Ceyda sieht ihre Mutter an. Ihr Mann. Dieser Mensch, den sie Vater nennt und den sie früher in der Heimstraße zusammen mit ihrer Mutter häufig nachts aus dem Auto ins Haus getragen hat, damit die Nachbarn morgens nicht sehen, dass er es im Suff nicht mehr bis in die Wohnung geschafft hat.
– Gut, sagt sie, wenn du möchtest, fahren wir. Wir nehmen das Auto und lassen die Kinder bei meiner Schwiegermutter.
Zum ersten Mal sieht Gül Ceyda Auto fahren und sie freut sich für ihre Tochter. Sie wollte, dass ihre Kinder gebildeter sind als sie, sie wollte, dass sie unabhängig sind. Sie hat früher immer ihre Freundin Saniye bewundert, die viel am Steuer saß, wenn die beiden Familien gemeinsam in die Türkei fuhren. Autofahren erscheint Gül wie ein Stück Freiheit, doch sie hat schon als Beifahrerin große Angst und traut sich nicht zu, jemals so viel Mut aufzubringen, selbst zu fahren.
Die erste halbe Stunde schweigen beide. Ceyda hat noch nie viel geredet und Gül weiß häufig nicht, was in ihrer Tochter vorgeht. Sie weiß nicht, warum sie sich damals für eine Lehre als Friseurin entschieden hat, sie weiß nicht, warum sie Adem geheiratet hat, sie weiß nicht, ob sie ihr noch nachträgt, dass sie sie als Kind in der Türkei zurückgelassen hat.
Dass Gül so lange schweigt, ist ungewöhnlich, doch sie genießt den ersten Teil dieser Fahrt, sie genießt ihn, weil das Auto ein privater Raum ist, ein Raum, in dem nur sie beide sind, es kann kein Telefon klingeln, keiner kann unvermutet die Tür öffnen, keines der Kinder kann nach Aufmerksamkeit verlangen, in diesem Auto fühlt sich Gül mit ihrer Tochter ungestörter als nachts in der Küche.
– Ich wollte euch nicht zur Last fallen. Vielleicht kann ich ja in der Wohnung in Bremen bleiben, solange dein Vater im Krankenhaus liegt.
– Mama, du fällst uns nicht zur Last. Die Kinder freuen sich, deinen Händen sei Dank habe ich gar nicht mehr gekocht, seit du da bist. Und du weißt doch, wie Vater ist, er sträubt sich eben, aber er wird euch eine schöne Wohnung finden, vielleicht sogar vom Krankenhaus aus, man muss ihn nur ein wenig motivieren, ich mache das schon. Du bist wahrscheinlich ohnehin nicht mehr lange bei uns, ich möchte, dass wir die Zeit genießen, die wir noch haben.
– Glaubst du, dass es Adem stört?
Ceyda zögert. Zündet sich eine Zigarette an. In Gegenwart ihrer Mutter. Lächelt gequält.
– Die Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Ich würde dir sagen, wenn es ihm auf die Nerven ginge, ich würde es dir sagen und ich würde mich darüber freuen. Ich würde mich freuen über irgendeine Gefühlsregung. Die Kinder nerven ihn manchmal, aber sonst ist er der gleichgültigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Du siehst ihn ja. Wie viele Jahre sind wir jetzt verheiratet und er ist mir immer noch ein Rätsel. Ich wollte keinen wie Vater, ich wollte auf gar keinen Fall einen, der trinkt, und jetzt habe ich so einen wie die, auf die Vater immer geschimpft hat, einen, der lebt wie eine Pflanze. Er schlägt nicht, er flucht nicht, er spielt nicht, er frisst nicht, er läuft keinem Vergnügen nach, er hilft nicht im Haushalt, es interessiert ihn nicht, wie es mir geht, er kann sich nichts merken, was ich ihm sage. Er würde ihn nicht weiter stören, wenn ich auf einmal weg wäre. Ich könnte wahnsinnig werden. Jedes Mal, wenn er nach Hause kommt und die Vorhänge sind zugezogen, fragt er: Warum hast du die Vorhänge zugezogen? Es ist helllichter Tag. Jedes Mal. Und wenn ich ihm geantwortet habe, macht er sie auf und sagt: Was soll ich denn in einer dunklen Wohnung? Aber er regt sich nicht auf. Nie.
Sie sieht ihre Mutter an.
– Ich glaube nicht, dass es ihn stört, dass du da bist. Ich glaube, ihn stört es mehr, wenn die Batterien der Fernbedienung leer sind.
Was soll Gül sagen? Ich bin deine Mutter, du kannst dich auf mich verlassen, tu, was du für richtig hältst, ihr seid eine neue Generation, du wirst dein Leben in diesem Deutschland verbringen, ich werde hinter dir stehen und alle deine Entscheidungen unterstützen. Aber würde sie wirklich da stehen? Würde sie nicht Bedenken äußern? Sie, die nur eine Couch hat, auf der sie schläft. Sie, die keinen Pfennig Geld verdient. Sie, die ihren Mann nicht dazu bewegen konnte, rechtzeitig eine gemeinsame Wohnung für sie zu finden. Gül hat schon einmal ihren Platz in Deutschland gefunden, sie wird ihn auch dieses Mal finden, nimmt sie sich vor. Sie wird aufrecht stehen, damit Ceyda sich anlehnen kann. Sie wird. In Zukunft.
Nachdem Ceyda am Empfang des Krankenhauses erfragt hat, wo ihr Vater liegt, steigen Mutter und Tochter in den Aufzug, um in den vierten Stock zu fahren. Als sie ausgestiegen sind, sieht Gül, wie eine Frau die Tür eines Krankenzimmers hinter sich schließt und ihnen entgegenkommt. Erst als die Frau an ihnen vorbeigegangen ist und sie sich Fuats Tür nähern, wird Gül klar, dass sie aus dem Zimmer ihres Mannes gekommen ist.
Fuat liegt auf dem Bett, der Fernseher läuft, er hat ein leichtes Grinsen im Gesicht, als er sich aufrichtet. Seit einigen Jahren geht er im Winter auf die Sonnenbank, und nun sieht er auf den weißen Krankenhauslaken wie das blühende Leben aus. Sein Bettnachbar, ein junger Mann mit roten Haaren, liest eine Boulevardzeitung. Gül weiß, dass die Deutschen keine Worte für diese Situation haben. Man kommt nicht in ein Krankenzimmer und sagt als Erstes gute Besserung. Ceren hat als Kind nach einem Unfall einige Tage im Krankenhaus gelegen und dort ihre Freundin Gesine kennengelernt, Gül hat damals viel Zeit in der Klinik verbracht.
– Möge es vorbei sein, sagt sie.
– Danke, danke.
– Was genau ist passiert?
– Ich habe mir nur das Knie an einer Ecke von meinem Spind aufgeschrammt, habe ich dir ja erzählt. Ich dachte, das verheilt schon, aber es ist immer schlimmer geworden und gestern auf der Arbeit konnte ich nicht mehr auftreten, geschweige denn arbeiten. Sie mussten das Knie aufmachen, um den ganzen Eiter da herauszuholen. Es hätte zu einer Blutvergiftung kommen können, sagt der Arzt. Kaum fassbar, und das gerade dann, wenn die Produktion auf Hochtouren läuft. Wie viele Überstunden mir jetzt durch die Lappen gehen, nur weil ich hier liegen muss.
– Wie lange sollst bleiben, haben sie etwas gesagt?
– Eine Woche. Eine Woche, das ist fast schon so, als würde man auf den Tod warten.
– So einer bist du ja nicht, sagt Ceyda, jemand, der eine Woche nur liegt. Du wirst doch mit Sicherheit die eine oder andere Sache in Gang bringen, während du hier bist.
– Meine Tochter kennt mich, sagt Fuat geschmeichelt.
Man kann ihm viel nachsagen, aber er ist nicht faul und er legt Wert darauf, als gewieft zu gelten.
– Wahrscheinlich findest du sogar von hier aus eine Wohnung für dich und Mama. Wundern würde es mich nicht.
– Mal sehen, mal sehen. Es ist nicht so leicht, in dieser Stadt eine billige Wohnung zu finden. Und besichtigen kann ich die ja so auch nicht, ich komme kaum bis ins Raucherzimmer mit diesem Bein.
– Möchtest du mir den Schlüssel für deine Wohnung geben? Dann muss Ceyda mich nicht dauernd hin- und herfahren.
– Was willst du denn die ganze Zeit alleine in dieser Wohnung? Du kennst niemanden in Bremen. Willst du in diesem winzigen Zimmer sitzen und Trübsal blasen? Oder noch schlimmer: den ganzen Tag hier im Krankenhaus verbringen? Das ist doch nichts für gesunde Menschen. Ich komme hier zurecht, kein Problem. Solltest du nicht besser bei deiner Tochter sein? Erst willst du nach Deutschland, dann fällt dir nichts Besseres ein, als zwischen einer Wohnung und einem Krankenhaus hin- und herzufahren? Such dir doch lieber eine Arbeit, wenn du zu viel Zeit hast.
Gül weiß nicht, warum Fuat so aufgebracht ist. Ihre alte Freundin Saniye wohnt in Bremen, sie haben sich nicht mehr gesehen, seit Gül in die Türkei gezogen ist, sie haben nur Briefe geschrieben und drei-, viermal telefoniert. Sie wollte Saniye erwähnen, aber nach Fuats letztem Satz weiß sie nicht, ob dieses Gefühl in ihrem Magen als Tränen aus ihren Augen herauswollen wird, und hält den Mund.
Such dir eine Arbeit. Wie oft hat sie das gehört, als sie noch in Deutschland war. Es war nicht ihre Schuld, dass die Wollfabrik geschlossen hatte, es war nicht ihre Schuld, dass die Lage auf dem Arbeitsmarkt schlecht war. Dass Fuat eine neue Arbeit gefunden hatte, war schon ein Glück. Fuat hat geklagt, wie er mit einem Gehalt drei Mäuler stopfen sollte. So könne er ihre Zukunft in der Türkei nicht sichern. Sichern, sichern konnte man die Zukunft mit Geld. 10.500 Mark für Gül und 1.500 Mark für Ceren gab es als Rückkehrerhilfe. Wer konnte damals ahnen, dass Fuat seine Rückkehr immer wieder aufschieben würde, dass Ceren heiraten und nach Erzurum ziehen würde, wer konnte ahnen, dass Ceyda alles in Bewegung setzen würde, um ihrer Mutter eine Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen. Und wer kann jetzt ahnen, dass auch Ceren eines Tages wieder in Deutschland leben wird?
Such dir eine Arbeit. So wie er früher häufig gesagt hat, er bevorzuge schlanke Frauen. Es trifft sie. Dämpft das Licht in ihrem Inneren. Sie hat ihm einmal entgegnet, sie würde Männer mit Haaren auf dem Kopf bevorzugen, seitdem hat er kein Wort mehr über ihre Figur verloren. Such dir eine Arbeit. Darauf weiß sie keine Entgegnung. Such dir eine Arbeit. Als wäre das so einfach.
– Sie ist noch keinen Monat hier, ihr habt noch nicht einmal eine Wohnung, wir finden schon etwas, mach dir da mal keine Sorgen, sagt Ceyda.
Gül ist erstaunt, wie scharf ihr Ton ist. Das ist nicht mehr das Mädchen, das links und rechts kaum unterscheiden kann, wenn eine Packung Zigaretten auf dem Tisch liegt.
– Da bin ich ja mal gespannt, antwortet Fuat. Unter Arbeit versteht man nicht, an einem warmen Ofen zu sitzen und jeden Monat einfach so 400 Mark überwiesen zu bekommen, keine Miete zahlen zu müssen und sich die Tage mit Klatsch und Tratsch und Weiberkram zu vertreiben.
– Wir sind hierhergekommen, um dich zu besuchen und dir gute Besserung zu wünschen, sagt Ceyda.
– Das habt ihr ja jetzt getan. Euren Füßen sei Dank.
Als Ceyda den Knopf im Aufzug drückt, sieht Gül, dass ihre Hände zittern. Sie hat eine Vorstellung davon, wie viel Beherrschung es ihre Tochter kostet, nicht loszuheulen, als sie die Autotür zuzieht.
– Mach dir nichts draus, du weißt doch, wie er ist, sagt Gül und fragt sich, was sie eigentlich in Deutschland verloren hat.
Gül ist erstaunt, wie sehr Saniye in den letzten acht Jahren gealtert ist, da sind Falten um ihre Augen, ihre roten Haare haben ihren Glanz verloren. Aber sie ist noch so schlank wie zu jener Zeit, als Gül sie kennengelernt hat, und trotz ihrer Augenringe sieht sie nicht erschöpft aus, sondern strahlt, als sie Gül umarmt.
– Was für ein Glück, sagt sie, so führt uns das Leben wieder zusammen. Das habe ich ja nicht gedacht, dass wir uns hier nochmal wiedersehen. Obwohl der Herr mir oft genug in meinem Leben gezeigt hat, dass man seinen Liebsten immer wieder begegnet.
Saniyes Gefühle sind wie Wasser, sie finden immer einen Weg, doch sie stauen sich nie. Gül ist jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie diese zierliche Frau sich freuen kann und wie viel Trauer in ihr Platz hat.
Gül wird es leichter ums Herz, als sie ihre Freundin sieht. Es ist, als hätten sie sich gestern erst gesehen und Saniye wäre einfach über Nacht gealtert. Sie sind verbunden, sofort. Gül erinnert sich, dass es mit ihren Schwestern nicht so war, als sie zurück in die Türkei gezogen ist. Vielleicht weil sie fast noch ein Kind war, als sie Fuat geheiratet hat und von zu Hause fortgezogen ist, und weil sie schon eine junge Frau war, als sie Saniye kennengelernt hat.
Saniye wird in der Nähe sein. Jetzt, wo ihr Vater so weit weg ist, jetzt, wo sie ihre Schwester Sibel nicht mehr um sich hat, jetzt, wo sie nicht mehr mit Ceren im Arm am Ofen sitzt, wird es Saniye sein, mit der sie alles teilen kann.
Der zweite Besuch bei Fuat ist friedlicher verlaufen, obwohl Gül viel unruhiger war. Aber auch vorsichtiger, weil sie aus diesem Krankenhaus wollte, ohne verletzende Worte zu hören. Und weil sie sich freute, nach dem Besuch mit Ceyda zu Saniye zu fahren, die in einer Hochhaussiedlung wohnt und zur Zeit in einer Bäckerei arbeitet. Sie hat über die Jahre schon so viele verschiedene Arbeitsstellen gehabt, dass Gül sie kaum mehr alle zusammenbekommt. Saniye macht es nichts aus, irgendwo aufzuhören und woanders wieder ganz von vorne anzufangen. Sie gewöhnt sich schnell an neue Umstände.
Gül hat in ihrer Anfangszeit in Deutschland in einer Hühnchenschlachterei gearbeitet, in einer Näherei und in einer Brotfabrik, jeweils nur kurz und ohne Arbeitserlaubnis. Ihre erste richtige Stelle war in der Wollfabrik, wo sie geblieben ist, bis sie geschlossen wurde.
Bei Saniye im Wohnzimmer stehen ein großes Regal voller türkischer Bücher und ein fast genauso großes Regal voller Platten und CDs, die Gül hier zum ersten Mal sieht. Der Fernseher ist riesig, Fuat hätte seine Freude daran, doch so ein großer würde kaum in seine Wohnung passen, und selbst wenn die Wohnung größer wäre, würde er ihn wahrscheinlich nicht kaufen. Da stehen mächtige Boxen, die teuer aussehen, außerdem hängt ein Bild an der Wand, auf dem man Alltagsgegenstände sieht, die seltsame, fließende Formen haben. Doch es hängt auch ein blaues Auge aus Glas über der Tür, um den bösen Blick abzuwenden, da ist ein Samowar, da sind Tulpengläser, Häkeldeckchen, Gegenstände, die für Gül ein vertrauter Anblick sind.
Saniyes Mann Yılmaz ist seinerzeit nicht wegen der Arbeit nach Deutschland gekommen, sondern weil er wegen politischer Aktivitäten von seinem Studium ausgeschlossen wurde. So erklärt sich Gül die vielen Bücher, aber sie weiß nicht, warum jemand, der viel liest, auch so einen großen Fernseher braucht.
Während Gül zwei Stück Zucker in ihren Tee rührt, ist sie versucht, von ihrem Kummer zu erzählen, entscheidet sich aber dagegen. Ceyda ist schon nach Hause gefahren, Saniye und sie sind unter sich, doch warum soll sie eine Decke aus Gram über dieses freudige Wiedersehen legen? Warum soll sie an traurige Melodien erinnern? Die beiden Frauen zünden sich Zigaretten an, der süße Tee, die Worte, die Vergangenheit, die gemeinsamen Anfangstage in Deutschland, Saniyes helles Lachen, Güls behagliches Seufzen im Wohnzimmer voller Bücher und Platten und CDs verbinden sich an diesem späten Nachmittag zu einer Blase, in der die beiden Frauen herausgehoben werden aus ihrem Alltag und in der sie einfach erzählen, was sie in den letzten Jahren bewegt hat, wer Kinder bekommen hat, wer gestorben ist, wer keine Arbeit hat und zu wem das Schicksal besonders gütig oder mitleidlos war.
Gül hat bestimmt schon sechs Gläser Tee getrunken, als sie den Schlüssel in der Tür hört, ein Geräusch, das sie zurückholt. Es gibt noch eine Welt draußen, und aus dieser kommt Yılmaz. Nachdem er Gül herzlich begrüßt hat, sieht er kurz fragend seine Frau an, die sanft den Kopf schüttelt. Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht und Gül fühlt sich fehl am Platz.
– Wir haben keine Butter mehr, sagt Saniye, kannst du bitte nochmal kurz in den Supermarkt?
Yılmaz nickt. Während er weg ist, kommt Sevgi, die Tochter der beiden, heim.
– Du erinnerst dich doch, sagt Saniye.
– Wie könnte ich Tante Gül jemals vergessen, sagt das Mädchen. Ich habe mich jedes Mal gefreut, wenn wir euch in der Heimstraße besucht haben, obwohl Ceyda und Ceren ja so viel älter waren als ich.
Gül hat Tränen in den Augen, Sevgi war vielleicht fünf, als sie sich das letzte Mal gesehen haben. Ohne Scheu geht das Mädchen auf Gül zu, lässt sich umarmen und küssen und legt dann ihren Kopf an Güls Schulter.
– Der Geruch, sagt sie dann. Der Geruch von früher ist leider nicht mehr da.
– Sevgi, sagt Saniye mit einem mahnenden Unterton in der Stimme, während man erneut den Schlüssel in der Tür hört.
Der Geruch wird wiederkommen, denkt Gül, ich werde wieder ein Heim erschaffen, eines, in dem sich wieder alle wohl fühlen werden, eines, an das man sich erinnern wird wie an die Heimstraße. Wenn nur die guten Träume wahr werden könnten und die schlechten in Vergessenheit geraten.
Yılmaz kommt wieder rein, seine Augen glänzen, er lächelt.
– Der Geruch ist jetzt bei euch, sagt Gül.
Saniye sieht sie an, als hätte Gül kein Kompliment gemacht, sondern eine Anspielung, aber Gül hat keine Ahnung, worauf.
In dieser Nacht schläft Gül auf einem anderen Sofa, sie schläft, als sei Schlaf etwas, aus dem Mut gemacht wird und nicht etwas, aus dem man erwacht, um die Tochter in der Küche rauchend vorzufinden.
Gül hat Angst, sich zu verlaufen, sie hat Angst, in eine Situation zu geraten, in der ihr Deutsch nicht ausreicht, sie hat Angst vor verletzenden Worten, sie hat Angst davor, ungewohnten Situationen ausgesetzt zu sein, doch sie hat keine Angst vor Arbeit. Wie groß auch der Berg zu sein scheint, der sich vor ihr auftürmt, sie geht darauf zu ohne zu zagen. Ihr Vater hat in der Gluthitze des Feuers gehämmert. Gül erinnert sich an das Geräusch der Schweißtropfen auf dem heißen Eisen. Nie hat er geklagt über die Arbeit, aber häufig über das Jucken seiner Waden. Gül hat keine Angst vor Arbeit, darin könnten sie und Fuat sich ähneln, doch Fuat drückt sich gerne. Nicht weil er faul ist, sondern weil er sich gewieft vorkommt, wenn er ungestraft weniger tut, als er muss.
Gül hat keine Angst vor Arbeit und von ihrer Tochter kennt sie es auch nicht anders. Jetzt ist sie überrascht, als Ceyda an diesem Morgen im Friseursalon anruft und sich krankmeldet. Ceyda sieht den erstaunten Blick ihrer Mutter und sagt:
– Die kennen das. Das passiert ab und zu, dass ich mich krankmelden muss.
– Krank? Du siehst mir ganz gesund aus.
– Ich sehe schon so kleine Flecken in den Augenwinkeln, als würde da die Farbe verlaufen und gleichzeitig eckig werden. Und meine Finger sind taub. Es dauert nicht mehr lange, bis die Kopfschmerzen anfangen.
Gül kann es noch nicht ganz glauben. Ihre Tochter meldet sich wegen Kopfschmerzen krank? Sie sieht aus, als könnte sie durchaus arbeiten gehen. Während Ceyda die Vorhänge zuzieht, überlegt Gül, ob ihre Tochter je über Kopfschmerzen geklagt hat, solange sie noch zu Hause wohnte.
– Seit wann hast du denn diese Kopfschmerzen?
– Das hat etwa ein Jahr nach Duygus Geburt angefangen.
– Was sagt der Arzt dazu?
– Es ist eine Migräne, man kann nicht viel machen.
– Warum hast du mir nicht davon erzählt, als es anfing?
– Ach, Mama, was hätte das denn geändert?
Ceyda ist blass geworden in den letzten Minuten, das konnte man sogar in dem Halbdunkel mit den zugezogenen Vorhängen erkennen. Jetzt steht sie auf und geht auf die Toilette, wo sie sich übergibt.
Gül weiß immer noch nicht, was Ceyda heute erwartet. Kurz nachdem sie sich übergeben hat, liegt ihre Tochter auf der Couch und ist zu nichts mehr fähig. Sie bittet ihre Mutter, leiser aufzutreten, dabei ist der Teppich dick und schluckt alle Geräusche. Ceyda lehnt die Aspirin ab, weil die sowieso nicht helfen, ebenso den Kaffee mit Zitronensaft und die kalten Umschläge.
Gül sieht hilflos zu, wie ihre Tochter sich auf der Couch windet, aber nur ganz langsam, weil auch die Bewegung schmerzt. Sie hört Ceydas Wimmern und sieht die Qualen auf ihrem Gesicht, und wenn sie lange genug hinstarrt, bekommt sie eine Ahnung, wie sich ein Kopf mit Migräne anfühlen kann. Wie ein hämmernder Schmerz von innen gegen eine Seite des Schädels drückt und auf einen der Augäpfel, wie er immer stärker pulsiert, wie sich der Magen anfühlt, als wolle er alleine den ganzen Weg bis zum Mund gehen, wie jede kleine Bewegung im Körper ein Echo im Schmerz findet, das noch lange nachhallt.
Gül möchte Ceyda in den Arm nehmen, sie trösten, sie kosen, ihr ein Halt sein, aber Ceyda erträgt keine Berührung. Auch die Stimme ihrer Mutter möchte sie nicht hören.
– Mama, sag bitte nichts mehr. Mir kann man nicht helfen. Sei still, mit ein wenig Glück bin ich wieder auf den Beinen, bis die Kinder kommen.
Die Kinder sind wie jeden Tag zusammen mit ihren Cousins bei ihrer Großmutter. Der Großvater ist gestorben, bevor er auch nur einen Enkel sehen konnte, und die alleinstehende Frau führt ein strenges, aber liebevolles Regiment über die kleinen Rabauken, wie sie sie nennt. Ich habe sieben Kinder großgezogen, sagt sie, da werde ich doch mit diesen vier hier spielend fertig. Doch in zwei Jahren schon wird sie sich zu alt dafür fühlen und ihre Ruhe haben wollen.
Gül geht in die Küche, um zu kochen, weil sie sich irgendwie ablenken muss.
– Mama, ruft Ceyda und ihre Stimme klingt klagend, schwach, gebrochen. Ein wenig so, wie sie vor etlichen Sommern klang, als sie ihre Mutter nach 18 Monaten Trennung wiedersah. Mama, vier Buchstaben, die einen Klang bilden, in dem Schmerz, Vorwurf, Verzweiflung, Ohnmacht und Sehnsucht Platz haben.
Gül geht so leise sie kann ins Wohnzimmer.
– Mama, bitte nicht kochen. Der Geruch bekommt mir nicht.
Einige Stunden später kommt Adem von seiner Frühschicht aus der Glasfabrik und fragt:
– Warum hast du die Vorhänge zugezogen? Es ist helllichter Tag.
– Ich habe Migräne, Adem.
– Willst du nicht ins Bett gehen? Ich würde gerne fernsehen.
Gül kann ihren Zorn nur mit Mühe im Zaum halten.
– Ich bin schon dankbar dafür, sagt Ceyda später, früher hat er einfach die Fernbedienung genommen und den Fernseher eingeschaltet. Man kann dir ja ohnehin nicht helfen, hat er gesagt und damit war die Sache für ihn erledigt.
Die dunklen Augen, die jetzt schon dichten Augenbrauen, die längliche Kopfform, die trotz der Pausbacken zu erkennen ist, alles an ihr ähnelt ihrem Vater. Gül sitzt mit dem Bild ihrer Enkelin in Ceydas Küche und spürt die Kraft, die sie mit Fatma verbindet, die nach ihrer Großmutter benannt ist. Sie kennt Cerens Tochter nur von diesem drei Monate alten Foto. Jetzt ist Fatma schon sieben Monate und viel größer als auf dem Bild, sie fängt langsam an zu krabbeln. Mecnun musste in die Stadt fahren, um den Film entwickeln zu lassen, doch die Straßen waren wochenlang zugeschneit. In diesem Winter hat es minus 30 Grad gehabt, schreibt Ceren, sie kann an einer Hand abzählen, wie oft sie in den ersten Monaten nach Fatmas Geburt vor der Haustür war. Was sollte sie auch draußen tun? Auch Mecnun hat drei Wochen lang nicht gearbeitet, weil es nicht genug Holz gab, um das Klassenzimmer zu heizen.
So viel Zeit ist seit Güls Kindheit vergangen, wenn nicht in jedem Haus, so gibt es doch in jedem Postamt ein Telefon, Menschen besitzen eigene Fotoapparate, die Technik macht überall Fortschritte. Gül fragt sich, ob alles aus Sehnsucht entstanden ist, die Telefone, die Fernseher, die Fotoapparate, ist das alles erfunden worden, weil ein Mensch sich einem anderen näher fühlen wollte. Ist die Sehnsucht die Kraft, die alle antreibt? So viel hat sich geändert seit ihrer Kindheit, aber in der Türkei bleiben immer noch Schulen geschlossen, weil sie nicht geheizt werden können. Sie hat gefroren in der Schule, Ceren hat gefroren, vielleicht wird auch Fatma eines Tages frieren. Gül kann nicht ahnen, dass Fatma im Süden des Landes, wo die Winter mild sind, zur Schule gehen wird.
Jetzt ist es Frühling, Ceren geht es gut, für Mecnun nahen die Schulferien, im Sommer werden sie in Güls Heimatstadt fahren und dort werden wieder alle für einige Tage vereint sein. Güls Schwestern und ihr Bruder werden mit ihren Kindern kommen, Ceyda wird da sein und der Schmied wird wieder lächelnd dasitzen und vor Freude feuchte Augen haben. Gül erinnert sich, wie sie die Sommer früher immer genossen hat, wie viel Leben sie in diese sechs Wochen Ferien gesteckt hat, wie sich ihre Grenzen aufgelöst haben, wie voll sie geworden ist, wie lange sie davon zehren konnte.
Als Ceren ihr erzählte, dass sie schwanger ist, hat Gül sich gefreut. Nur eine Mutter weiß, wie eine Mutter sich fühlt, hat sie gesagt. Jemand, der kein Kind hat, kann nicht verstehen, wie es ist, eines zu haben. Nicht die, die es gelesen, gehört, studiert und verstanden haben, wissen es, sondern die, die es gelebt haben. Gül hat sich gefreut, ich habe diese Mädchen auf den Weg gebracht, sie stehen jetzt auf eigenen Beinen, haben eigene Kinder, ich könnte in Frieden sterben, obwohl ich erst vierzig bin, hat sie gedacht. Dabei wusste sie damals schon, dass es Probleme in Ceydas Ehe gibt und dass sie weiterhin für ihre Töchter da sein wollte.
Gül hätte gerne ein Foto von sich und ihren Geschwistern, wie sie als Kinder unter dem großen Maulbeerbaum im Garten stehen. Ein Foto, wie es nie gemacht worden ist. Ein Foto wie eine Tür zu einer anderen Welt, die man immer als schön empfinden wird, weil sie vergangen ist und weil man aus seinen Erinnerungen nicht vertrieben werden kann. Ein Foto, das einen daran erinnert, dass man sich ganz gefühlt hat, heil. Als ein Ton einer Melodie, die man jeden Tag hören konnte. Die Melodie, deren Teil sie alle sind, egal, wo sie sich gerade befinden, die Melodie, die immer weitergesungen wird, die Melodie, der jedes neue Kind in der Familie einen neuen Ton hinzufügt.
Fotos können die Sehnsucht der Augen stillen, das Telefon die Sehnsucht der Ohren, aber Briefe stillen die Sehnsucht des Herzens. Mit den Worten, die man immer wieder und wieder lesen kann, rückt man etwas näher, denn die Worte kommen aus dem Herzen, gelangen durch die Hände auf das Papier und über die Augen wieder zurück ins Herz. Sie fließen durch Hände und Arme, die Verlängerungen des Herzens sind, weil das Herz sich aus Berührungen nährt, von Fingern, die über Wangen streichen, von Händen, die Wärme übertragen, von Armen, die sich um andere legen, von Schultern, die sich an andere Schultern lehnen.
Briefe stillen die Sehnsucht des Herzens, doch nur kurz, der Sehnsucht ist nur Einhalt zu gebieten, wenn auch der Hunger der Haut gestillt wird.
Fuat ist gestürzt und hat sich das Fersenbein gebrochen.
– Man sollte meinen, in einem Land wie diesem hat alles seine Ordnung, zetert er. Ich wäre ja mit diesem verdammten Aufzug gefahren, anstatt mit dem kaputten Knie die Treppe zu nehmen, aber der eine wurde gerade repariert, der andere war nur für Krankentransporte reserviert und auf den dritten habe ich länger gewartet, als es dauert, eine Zigarette zu rauchen. Kaum fassbar, es ist ein Krankenhaus, aber man wird geradezu genötigt, die Treppe zu nehmen. Ganz schön teuer ist mir diese Zigarette gekommen. Jetzt kann ich mich ohne Rollstuhl gar nicht mehr bewegen. All diese Überstunden, die mir durch die Lappen gehen, dieser Fraß, den sie einem hier servieren, das Leben, das man hier führen soll, als sei man nicht mal ein Tier, sondern nur ein Kraut am Wegrand. Rauchen hat seinen Preis, diese Nichtraucher rechnen dir ja vor, was eine Packung kostet und wie sich das summiert über die Jahre, aber soll ich hier mal eine Rechnung aufmachen? Und was soll es bringen, wenn ich jetzt aufhöre zu rauchen? Die Überstunden sind weg und ich liege hier.
– Wie lange?
– Noch mindestens eine Woche, sagt er Arzt, aber danach kann ich ja immer noch nicht laufen.
– Du brauchst frische Kleidung, sagt Gül.
– Nein … nur eine Woche … Die Sachen sind ja noch sauber, was mache ich hier schon, ich bekleckere mich ja nicht, ich bin kein alter Mann.
– Das gehört sich nicht, sagt Gül, komm, wir holen dir schnell ein paar frische Sachen.
Gül denkt sich nichts dabei, als sie das sagt. Oder zumindest glaubt sie das hinterher, dass sie sich nichts gedacht hat. Oder hat eine Kraft sie getrieben, die stärker war als ihre Gedanken?
Die Wohnung ist nicht so weit vom Krankenhaus entfernt, wie sie geglaubt hat, man könnte bequem zu Fuß gehen. Gül schließt die Tür auf, betritt Fuats kleines Junggesellenapartment und sieht auf der Anrichte in der Küchenzeile eine Packung Lord liegen.
Die Hitze scheint aus zwei Richtungen zu kommen. Als würde jemand sie mit kochendem Wasser übergießen und als würde gleichzeitig glühende Lava aus ihren Haarwurzeln emporschießen.
– Ich trinke ein Glas Wasser, schau doch im Schrank nach den Sachen, sagt sie zu Ceyda, die hinter ihr die Wohnung betreten hat.
Sie ist erstaunt, dass man ihrer Stimme die Hitze nicht anhört. Sie steckt die Packung ein, der Aschenbecher daneben ist ausgeleert. Nachdem sie ein Glas aus dem Schrank genommen hat, beugt sie sich runter, sieht in den Mülleimer unter der Spüle und findet dort, was sie vermutet hat. Ihr wird noch heißer. Erst als sie sich aufrichtet, fällt ihr die Postkarte auf, die an die Mikrowelle gelehnt ist. Herzlich willkommen steht über dem Bild eines Hauses, das aussieht wie für Kinder gezeichnet. Während sie sich Wasser einlässt, dreht sie die Karte um, liest die beiden ersten Worte. Ihr Mund ist trocken, sie möchte das Glas Wasser runterstürzen, aber sie hat das Gefühl, nicht schlucken zu können. Mühsam zwängt sie zwei Schlucke ihre Kehle hinunter.
– Was ist los?, fragt Ceyda.
– Weiß nicht, sagt Gül, mir ist auf einmal heiß geworden. Vielleicht sind das schon die Wechseljahre.
– Möchtest du dich kurz setzen?
– Nein, nein, es geht schon.
Ihr Hirn fühlt sich taub an, als hätte man es mit Eis eingerieben, ihre Ohren scheinen nicht richtig zu hören, das Bild um sie herum droht zu verschwimmen, dafür sind Fetzen von Bildern vor ihrem inneren Auge, die sich zusammenfügen. Als hätte sie alles schon längst gewusst, wäre aber vor diesem Wissen davongelaufen. Als habe sie immer nur ins Licht geguckt, um nichts drumherum zu sehen. Jetzt wird sie sich an das Dunkel gewöhnen müssen.
Aber vielleicht ist sie gar nicht davongelaufen, vielleicht ist sie geradewegs darauf zu und hat dabei die Augen fest geschlossen.
Man braucht jemanden zum Reden, am meisten braucht man jemanden zum Reden, wenn man niemandem erzählen möchte, wie man sich fühlt.
Sie reißt sich zusammen, sie reißt sich zusammen auf der Fahrt zum Krankenhaus, sie reißt sich zusammen, als sie Fuat sieht, auf der Heimfahrt, beim Abendessen, beim Einräumen der Spülmaschine, beim Fernsehen, sie reißt sich zusammen, bis sie auf der Couch liegt und das Licht gelöscht ist. Wie soll man loslassen, wenn alles, was dabei herauskommen würde, Tränen sind? Sie kann nicht aufstehen, in die Küche gehen und rauchen, die ganze Nacht rauchen, bis man das Herz durch den ganzen Qualm in der Lunge nicht mehr fühlen kann. Sie kann nicht rauchen, bis alles umnebelt ist. Auch wenn sie kein Licht macht und nur im Dunkel den Trost in sich hineinzieht. Was würde sie denn sagen, wenn die Tür aufgeht und Ceyda wissen möchte, was sie dort macht.
Sie liegt wacht, denkt dieselben Gedanken wieder und wieder. Warum macht er das? Sie hat ihn einmal gefragt, als sie von Cerens Hochzeit kamen und er so betrunken war, sie hat gesagt: Wir haben jung geheiratet, wir waren fast noch Kinder. Es können viele Dinge geschehen auf dieser Welt. Gibt es etwas, das du mir zu sagen hast? Sie hat ihren Mut zusammengenommen und gefragt. Und er hat Nein gesagt.
Ist das der Grund, warum er seine Rückkehr in die Türkei immer wieder hinausgezögert hat? Wie kann er ihr so etwas antun? Wissen seine Freunde davon? Wer weiß es überhaupt? Womit hat sie das verdient? Hat sie nicht alles getan, um ihm ein Heim zu bieten? Eine Deutsche. Die Frau, die aus seinem Krankenzimmer kam, sah wie eine Deutsche aus. Was macht er mit einer Deutschen? Genügt es nicht, wie viel Trennung und Sehnsucht dieses Land ihr schon beschert hat, muss es ihr auch noch den Mann wegnehmen? Ahnt Ceyda etwas? Wieso gibt er sich nicht mehr Mühe, es zu verstecken? Hält er sie für so dumm? Was stellt er sich vor, wie es weitergeht? Wie konnte er sie so verraten? Wie konnte er ihr Vertrauen so missbrauchen? Wieso schmerzt es sie so sehr? Wieso hat sie so lange die Augen davor verschlossen?
Sie sieht immer wieder diese Frau auf dem Krankenhauskorridor vor sich, sie denkt die gleichen Gedanken und Fragen immer wieder, sie dreht und dreht sich im Kreis. Doch nicht nur. Die Gedanken bleiben gleich, doch die Gefühle ändern sich im Laufe der Nacht. Der Ton der Fragen ändert die Farbe. Wo zunächst nur Schwarz ist, flüssiges Schwarz, das einen zu ertränken droht, kommt bald ein Violett hinzu. Violett wie die Ringe unter den Augen von Güls Mutter, bevor sie starb. Aus diesem Violett wird langsam ein Rot und neue Gedanken kommen hinzu. Es war richtig, hierher zu kommen. Hier gehört sie hin. Was bildet er sich eigentlich ein? Wieso sollte sich dieser Hohlkopf so frei bewegen dürfen? Wo ist sein Anstand? Gegen Morgen sind alle ihre Gedanken rot gefärbt, gegen Morgen würde sie am liebsten aufstehen, ins Krankenhaus fahren und diesem Mann mal so richtig ihre Meinung geigen. Gegen Morgen lodert das Feuer der Wut in ihr so stark, dass es sich anfühlt, als könnte sie den Weg nach Bremen problemlos zu Fuß zurücklegen. Ohne Angst sich zu verlaufen. Wenn sie nur den Weg kennen würde. Gegen Morgen steht sie auf und liest die Postkarte im ersten Licht des Tages noch ein weiteres Mal. Mein Schatzi, steht da, willkommen zu Hause. Ich freue mich, dass du wieder gesund bist. Gaaanz viele Küsse, Karen.
Am liebsten würde Gül die Karte in tausend Stücke reißen, aber so dumm ist sie nicht. Nachdem sie die Karte noch zehnmal gelesen hat, geht sie raus, um ungestört zwei oder drei Zigaretten zu rauchen. Gereizt nimmt sie Zug um Zug und hat das Gefühl, dass die frische Luft ihren Zorn ein wenig abkühlt.
– Hoffentlich bedeutet es nur Gutes, dass du noch früher auf bist als sonst, sagt Ceyda.
– Wie gesagt, ich glaube, es sind die Wechseljahre, die bringen Veränderung mit sich, antwortet Gül.
Sie lächelt. Sie weiß, dass dieses Lächeln zerbrechlich ist. Sie weiß, dass ihre Gedanken noch viele verschiedene Farben annehmen werden, bevor sie verblassen. Doch sie spürt eine Kraft. Vielleicht ist es dieselbe, die sie zurück nach Deutschland gebracht hat. Eine Kraft, die nicht aus ihr kommt, sondern die allen gehört, die Kraft, die über das Blut weitergegeben wird, die Kraft der Ahnen.
Es ist heiß in der Wohnung und Gül steht oft am offenen Dachfenster und sieht hinunter auf die Straße. Die Wohnung in Bremen ist ihr siebtes Zuhause. Zuerst hat sie bei ihren Eltern gewohnt, anfangs auf dem Dorf, dann in der Stadt, später ist sie in das Haus ihrer Schwiegereltern gezogen, von dort nach Deutschland, wo sie zuerst zusammen mit Fuat in einer kleinen Wohnung lebte, bevor sie in die Heimstraße übersiedelten, die nicht asphaltiert war und in der hauptsächlich Türken wohnten. Auf die Jahre in der Heimstraße, in der sie sich immer wohl gefühlt hat, folgte die Jahre im eigenen Haus in der Türkei und nach den Wochen auf der Couch bei Ceyda ist sie nun hier in einer Altbauwohnung gelandet. Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie auf eine Straße mit vielen Geschäften, Imbissen und Restaurants, auf junge Menschen mit bunt gefärbten Haaren, Studenten, Obdachlose und auf solche, die abwesend aussehen, sich etwas zu langsam bewegen und keine Orientierung zu haben scheinen. Sie sieht und hört Deutsche, Türken, Kurden, Italiener und ihr fällt auf, dass hier auf der Straße keine Kinder spielen.
Unter ihnen im Haus wohnt ein älteres deutsches Ehepaar, das nicht grüßt, in der Wohnung darunter hat sie noch nie jemanden gesehen. Ihr erster Bekannter hier ist Herr Bender, der Besitzer der Buchhandlung im Erdgeschoß. Ein Mann mit silbergrauen Haaren um die fünfzig, der Hemden in dunklen Farben trägt und dessen blaue Augen hinter seinen Brillengläsern immer freundlich zu lächeln scheinen. Stets grüßt er und spricht Gül auch einige Male an. Es sind Güls erste Gespräche auf Deutsch, seit sie wieder zurück ist. In den letzten Wochen hat sie viel Deutsch gehört, sich erneut an diese Sprache gewöhnt, doch als sie anfängt zu sprechen, merkt sie, dass sie noch schneller als früher an ihre Grenzen stößt. Das ist ihr unangenehm, doch sie lächelt, weil sie Herrn Bender nicht entmutigen möchte. So gut sie eben kann, erzählt sie, dass sie jahrelang in der Nähe gelebt hat, dass sie einige Jahre in der Türkei verbracht hat, dass sie jetzt ein zweites Mal nach Deutschland gezogen ist, dass sie zwei verheiratete Töchter hat. Und dass sie zurzeit arbeitslos ist. Herr Bender sucht für den Laden gerade eine neue Putzfrau. Zwei Wochen wohnt Gül in der Dachwohnung, als sie anfängt nach Ladenschluss die Buchhandlung sauber zu machen.
Wenn er davon wüsste, würde es Fuat vielleicht gefallen, dass seine Frau sich als gewieft erweist. Doch wenn er von der Schicht nach Hause kommt, nimmt er wortlos sein Essen zu sich, schenkt sich eine Whisky-Cola ein und setzt sich vor den Fernseher. Er schaut deutsche Quizshows, amerikanische Actionserien, Nachrichten, er schaut wahllos, doch er scheint dankbar dafür zu sein, dass die Auswahl größer geworden ist und er häufiger umschalten kann.
Nur wenn ein Quizkandidat Geld gewinnt, macht Fuat den Mund auf und sagt: Kaum fassbar.
Wenn es viel Geld ist, macht er auch mehr Worte: So viel Asche für nur zwanzig Minuten Arbeit, nur einen Lottoschein auszufüllen geht schneller. Wahrscheinlich braucht der nicht mal Geld, sieh ihn dir mal an. Was für ein Leben, in dem immer nur die Reichen gewinnen. Wenn wir auch mal so eine Summe einstecken könnten ohne dafür zu buckeln und zu schwitzen. Sauberes Geld, Scheine ohne den Dreck der Fabrik. Sieh es dir doch an, jeder Pfennig, den wir beiseitegelegt haben, riecht nach Schweiß und harter Arbeit. Jeder einzelne Pfennig.
Gül reagiert nicht darauf. Es ist das zweite Mal, dass sie einen Sommer in Deutschland verbringt, anstatt in die Türkei zu fahren, es ist heiß unter dem Dach, sie hat niemanden zum Reden, wenn sie die Treppen hochgeht, ist sie auf halbem Weg außer Atem und nass geschwitzt. Sie fragt sich, ob das Treppensteigen leichter wäre, wenn sie abnehmen würde. Sie fragt sich, ob sie alleine in die Türkei fahren sollte, sie fragt sich, ob ihre Töchter wissen, was los ist. Sie fragt sich, wie es weitergehen soll. Sie fragt sich, jeden Tag.
Sie träumt sich in das Sommerhaus ihres Vaters, wo alle vereint sind, sie träumt sich dort hin ohne die Ereignisse der letzten Zeit, sie träumt sich einen Zusammenhalt, den sie immer nur für Wochen leben konnten, sie träumt sich zu ihren Töchtern, mit denen sie jetzt telefonieren kann, weil es im Haus ihres Vaters ein Telefon gibt.
In der stickigen Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite wählt sie regelmäßig die Nummer. Einen Teil des Geldes, das sie bei Herrn Bender verdient, lässt sie sich in Fünfmarkstücken ausbezahlen, von denen sie eine Handvoll in der Tasche hat, wenn sie runtergeht, um zu telefonieren. Zu Hause haben sie noch kein Telefon, aber selbst wenn sie eines hätten, würde sie nicht von dort aus anrufen, sie hätte keinen Überblick über die Kosten, und so kann sie eine Münze nach der anderen einwerfen und Fuat bekommt nichts mit.
Fatma spricht ihre ersten Worte, Ceyda, die im Urlaub noch keinen Migräneanfall gehabt hat, ist mit ihren Kindern Duygu und Timur in der Stadt geblieben, während ihr Mann Adem in das Dorf seiner Großeltern gefahren ist. Güls Bruder Emin, der Lehrer gewesen ist, hat seinen Beruf aufgegeben und wird nach Istanbul ziehen, wo Nalan, die jüngste seiner vier Schwestern, seit Jahren lebt. Melike, die zweitälteste, scheint darüber aus irgendeinem Grund nicht besonders erfreut zu sein. Doch die Neuigkeit des Sommers in ihrer Heimatstadt, die Gül am meisten beschäftigt, sind Mecnuns ständige Magenschmerzen. Er kann kaum noch etwas essen und hat bereits neun Kilo verloren, seit er im Urlaub ist. Neun Kilo? Er war ohnehin kaum dicker als Güls kleiner Finger, jetzt kann er nur noch Haut und Knochen sein. Wenn Gül ihm nur etwas abgeben könnte von den Kilos, die sie zu viel hat.
Sie steht oft in der stickigen Zelle und sie weiß es zu schätzen, dass sie ihre Töchter hören kann und sie weiß es zu schätzen, dass in der kurzen Zeit der Telefongespräche nicht weiter auffällt, dass sie weniger erzählt als sonst.
Es ist ihr zweiter Sommer in Deutschland, ein Sommer, in dem Fuat bald nach Hause kommt und kaum den Anpfiff abwarten kann. Wenn Gül die Freude sieht, mit der er die Fußballspiele verfolgt, kocht sie vor Wut. Wie kann er nur? Sein Neid auf das Geld der anderen, sein Glauben, dass Glück eine Frage des Kontostandes ist, hat sie kaum gestört, aber jetzt fragt sie sich, wie er so unbeteiligt sein kann. Güls Wut entgeht Fuat nicht, auch wenn sie schweigt. Er sagt:
– Gönnst du mir diese Spiele nicht? Ich bin jeden Tag pünktlich zu Hause, ich trinke nicht mit meinen Freunden, ich spiele nicht, ich mache gar nichts mehr, ich gehe zur Arbeit und komme nach Hause, ich bin wie ein Gefangener hier, man könnte …
– Halts Maul, sagt Gül, sonst passiert noch ein Unglück, halt bloß dein verdammtes Maul.
Fuat ist erschrocken genug, dass er verstummt.
Gül steht am Fenster, raucht und sieht auf die Straße hinunter, die sich vor den Fußballspielen leert. Sie sieht auf die Straße hinunter und denkt jeden Tag über die Worte nach, die sie schon oft gehört hat: Man kann gehen und nicht wiederkommen können, man kann wiederkommen und niemanden mehr vorfinden können.
So sagen die Ahnen.
Vielleicht war die Welt damals anders, denkt Gül, vielleicht hat sie sich nicht so schnell gedreht. Damals konnte man noch zurückkehren, heute ist das nicht mehr möglich. Sie weiß, dass sie wenig von Deutschland kennt, viel weniger als von der Türkei und die kennt sie schon kaum. Weinberge, ihre Freundin Aysel hat ihr in der Türkei erzählt, dass sie in Deutschland in den Weinbergen gearbeitet hat. Gül kann sich keine Weinberge in Deutschland vorstellen, sie kennt das Land kaum, aber das Wenige, das sie kennt, hat sich verändert. Früher gab es keine Paprika und keine Auberginen, keine Wassermelonen und keine Lammkoteletts. Jetzt sieht sie aus ihrem Fenster einen Imbiss auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der Döner und Lahmacun verkauft, die hier alle nur türkische Pizza nennen.
Deutschland hat sich verändert. Während sie in der Heimstraße gewohnt hat, ist ihr das nicht aufgefallen, sie war zu nahe dran, aber jetzt sieht sie, dass es das Land, in das sie damals gekommen ist, nicht mehr gibt. So wie die Türkei nicht das Land ist, das sie damals verlassen hatte. Wer geht, kann nicht mehr zurückkehren, weil die Orte verschwinden.
Was hatte sie in diesem Deutschland verloren, warum hat sie einen Mann geheiratet, der dem Ruf des Geldes gefolgt ist, warum hat Gott Fuat Augen gegeben, die immer nur den Reichtum am Horizont sehen können, aber nicht die Sorgen seiner Frau und seiner Töchter?
Dennoch ist sie jetzt wieder hier, und es gibt zwar kein Wiederkommen, aber ein Wiedersehen mit den Menschen, die sie liebt. Es gibt immer ein Wiedersehen, solange man noch auf dieser Seite des Lebens ist.
Man muss zusammenbleiben, denkt sie, man muss zusammenbleiben, auch wenn das bedeutet, dass man weniger hat. Es gibt keine Rückkehr und man kann auch nicht einfach gehen und eine neue Heimat finden, weil man mit der alten nicht zufrieden war. So wie man sich keine neue Frau suchen kann, nur weil man die eigene allein vorgeschickt hat, um dann nie nachzukommen. Zusammenbleiben. Dazu gehört Wille. Und Treue. Treue bedeutet nicht, ständig danach zu schielen, wo es einem besser gehen könnte, wo der eigene Vorteil liegt.
Gül hat sich nicht ausgesucht, dass ihre Mutter so früh stirbt, sie hat sich nicht ausgesucht, die Älteste von fünf Geschwistern zu sein und sich um die anderen kümmern zu müssen. Aber Fuat hat sie sich ausgesucht, nachdem bereits einige andere um ihre Hand angehalten hatten. Sie war jung damals, es gibt Tage, an denen sie sich kaum erinnern kann, warum sie zu Fuat ja gesagt hat, aber bislang hat sie sich nie von ihm abgewendet, wie sie es jetzt tut.
Was hat dieser Mann gelernt, was weiß er über Treue und was über Zusammenhalt? Er hat sie verraten. Verraten wofür? Was hat er bekommen? Was haben ihm die Jahre allein in der Fremde gegeben? Fuat weiß wenig, weniger als sie. Er weiß nicht, dass es keine Rückkehr gibt, er hat nicht acht Jahre in der Türkei gelebt. Er weiß nicht, was Halt ist, was Treue, was Aufrichtigkeit.
Er muss einsam sein, wird Gül drei Monate später denken, wenn das Licht des Spätsommers gegen Abend die richtige Farbe hat, wenn es nicht mehr zu heiß ist in der Wohnung, wenn sie vorher unten in der Telefonzelle gewesen ist, wenn sie einen Brief von Ceren erhalten hat, wenn sie sich vorher mit ihrer Freundin Saniye getroffen hat. In drei Monaten wird es manchmal Augenblicke geben, in denen sie nicht grollt und voller Gram ist, in denen sie denkt, dass Fuat einsam ist, und in denen er ihr beinahe leidtut. Doch die werden schnell vergehen.