Der Dienstagmann – Ein Fall für Abel - Fred Breinersdorfer - E-Book

Der Dienstagmann – Ein Fall für Abel E-Book

Fred Breinersdorfer

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Melly Moslech ist mit ihren Kollegen auf einem Betriebsfest, wo ausgiebig Fasching gefeiert und reichlich getrunken wird, dass sich sogar der schüchterne Hiltsch durch Musik und Sekt angeregt fühlt und Melly zum Tanz auffordert. Als er später versucht sie zu küssen, gibt sie ihm eine schallende Ohrfeige und verlässt verärgert die Feier. Um den Nachhauseweg abzukürzen, geht sie durch den Englischen Garten. Plötzlich glaubt sie verfolgt zu werden und dreht sich um. Sie schafft nur noch zwei oder drei Schritte, bis sich krallenartigen Finger in ihr ungeschütztes Genick schlagen. – Sie wird bestialisch vergewaltigt, erkennt den Täter jedoch nicht, hat aber eine Vermutung.
Die Polizei nimmt Hiltsch vorläufig fest. Abel übernimmt die Verteidigung, glaubt an dessen Unschuld und kämpft für die Freilassung seines Mandanten. Der Kriminalbeamte Holz bringt unaufgeklärte Fälle sowie den berüchtigten Dienstagmann, einen Serientäter, an, der nur an Dienstagen Frauen überfällt und misshandelt. Wurde auch Melly von diesem nebulösen Phantom angegriffen und vergewaltigt? Doch wie passt dann Abels scheuer Klient da hinein?

Der Roman wurde 1988 mit Günther Maria Halmer als Abel von der ARD verfilmt. Die Kritik schrieb über den Film: »Gelungenes Psychodrama« (FUNK-Korrespondenz).
Fred Breinersdorfer ist einer der renommiertesten deutschen Krimi- und Drehbuchautoren. Der Berliner Anwalt schuf die Abel-Reihe im ZDF, basierend auf seinen Romanen, die nun in digitaler Form vorliegen. Sie sind Klassiker des modernen deutschen Krimis. Er schrieb für die ARD über fünfzehn Tatort-Drehbücher.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

Fred Breinersdorfer

 

 

Der Dienstagmann

 

 

Ein Fall für Abel

 

 

Ein Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

Cover: © by Christian Dörge mit Bärenklau Exklusiv, 2023

Korrektorat: Bärenklau Exklusiv

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die Handlungen dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Der Dienstagmann 

Faschingsdienstag, den 28. Februar 

Aschermittwoch, den 1. März 

Donnerstag, den 2. März 

Freitag, den 3. März 

Samstag, den 4. März 

Sonntag, den 5. März 

Dienstag, den 7. März 

Donnerstag, den 9. März 

Dienstag, den 14. März 

Mittwoch, den 15. März 

Freitag, den 17. März 

Mittwoch, den 22. März 

Donnerstag, den 6. April 

Freitag, den 5. Mai 

Mittwoch, den 10. Mai 

Freitag, den 12. Mai 

Montag, den 15. Mai 

Samstag, den 27. Mai 

Dienstag, den 30. Mai 

Montag, den 26. Juni 

Freitag, den 30. Juni 

Mittwoch, den 5. Juli 

Montag, den 10. Juli 

Dienstag, den 11. Juli 

Mittwoch, den 12. Juli 

Nachwort 

Der Autor Fred Breinersdorfer 

Folgende Romane des Autors Fred Breinersdorfer sind ebenfalls erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

 

Melly Moslech ist mit ihren Kollegen auf einem Betriebsfest, wo ausgiebig Fasching gefeiert und reichlich getrunken wird, dass sich sogar der schüchterne Hiltsch durch Musik und Sekt angeregt fühlt und Melly zum Tanz auffordert. Als er später versucht sie zu küssen, gibt sie ihm eine schallende Ohrfeige und verlässt verärgert die Feier. Um den Nachhauseweg abzukürzen, geht sie durch den Englischen Garten. Plötzlich glaubt sie verfolgt zu werden und dreht sich um. Sie schafft nur noch zwei oder drei Schritte, bis sich krallenartigen Finger in ihr ungeschütztes Genick schlagen. – Sie wird bestialisch vergewaltigt, erkennt den Täter jedoch nicht, hat aber eine Vermutung.

Die Polizei nimmt Hiltsch vorläufig fest. Abel übernimmt die Verteidigung, glaubt an dessen Unschuld und kämpft für die Freilassung seines Mandanten. Der Kriminalbeamte Holz bringt unaufgeklärte Fälle sowie den berüchtigten Dienstagmann, einen Serientäter, an, der nur an Dienstagen Frauen überfällt und misshandelt. Wurde auch Melly von diesem nebulösen Phantom angegriffen und vergewaltigt? Doch wie passt dann Abels scheuer Klient da hinein?

 

*

 

Der Roman wurde 1988 mit Günther Maria Halmer als Abel von der ARD verfilmt. Die Kritik schrieb über den Film: „Gelungenes Psychodrama“ (FUNK-Korrespondenz)

Fred Breinersdorfer ist einer der renommiertesten deutschen Krimi- und Drehbuchautoren. Der Berliner Anwalt schuf die Abel-Reihe im ZDF, basierend auf seinen Romanen, die nun in digitaler Form vorliegen. Sie sind Klassiker des modernen deutschen Krimis. Er schrieb für die ARD über fünfzehn Tatort-Drehbücher.

 

 

***

 

 

Der Dienstagmann

 

 

 

 

 

Faschingsdienstag, den 28. Februar

 

 

Rechtsanwalt Jean Abel zerrte die Gummikordel über seine struppigen Haare, dann nahm er die Pappnase mit beiden Fingern, zog sie ein wenig nach vorne und ließ sie wieder zurückschnappen. Der Leimgeruch drang in sein Bewusstsein. Abel atmete mit offenem Mund und beobachtete sein Spiegelbild: ein türkisdunkelblaues Clownsgesicht mit weißen Feldern um die Augen. Eine grellrote Träne funkelte auf der linken Wange, gelb stach die spitze Pappnase hervor, und der kurze Vollbart schimmerte vom kupfernen Puder.

»Gut so«, sagte Abel zu dem Clown im Spiegel und sah ihn breit lachen. Er knipste die Lampe über dem Badspiegel aus und ging in die Küche, um seine Lederjacke zu holen. Sein Hund, ein großes Tier mit einem mächtigen Kalbsschädel, fuhr mit wütendem Gebell unter dem Tisch hervor und fletschte die Zähne.

»Kusch«, rief Abel, der sich über die unerwartete Aggressivität erschrocken hatte. »Kusch, Schmitz!« Verwirrt hielt der Hund inne und nahm mit zitternden Nasenflügeln die Witterung seines Herrn auf. Abel schlüpfte in die grüne Motorradjacke und zog die Pappnase hoch, um sie auf den Kopf zu setzen wie einen zierlichen Hut. »Isses so besser?«, fragte er seinen Hund. Schmitz tapste mit der Pfote vorsichtig an Abels Bein entlang, als müsse er sich versichern, dass der bunt maskierte Mann wirklich Abel war. Der ging hinüber in sein Büro, das unmittelbar an die Küche anschloss, und kramte unter den Akten einen karierten Schal hervor.

Paul Schmitz, der Kalbskopfhund, folgte seinem Herrn schweifwedelnd, nun ohne jede Skepsis, denn neben dem Schal hing die Hundeleine, und weil er die Vorbereitungen für den Ausgang für abgeschlossen hielt, polterte er voraus zur Tür.

Abel griff sich an die Stirn. Drei Fingerspitzen waren dunkelblau, zwei türkis. »Richtig, du musst noch raus«, sagte er zu seinem Hund und öffnete die Tür. Schmitz rannte los und hob an der Hausecke ein Bein. Abel holte vorsichtshalber noch die Hundeleine, dann schloss er die Tür.

Erster Vorfrühling. Milde Luft strich durch die Straßen vom Englischen Garten her. Es roch nach feuchter Erde. Abel folgte seinem Hund im Park von Baum zu Baum, während das Tier zwischen knospenlosen Sträuchern stöberte. Abel lehnte sich mit dem Rücken an eine Laterne, die den Hauptweg spärlich erleuchtete. Er zog einen Kaugummistreifen aus der Tasche und packte ihn aus. Ein später Mountainbiker hechelte heran und machte einen respektvollen Bogen um Schmitz. Er drehte sich dreimal nach Abel um. Abel sah hinauf. Hinter dem Licht der Straßenlaterne war der Himmel schwarz. Einzelne dünne Regentropfen fielen. Er hörte den Hund graben und schnauben.

Abel pfiff. Schmitz folgte ausnahmsweise, sie gingen zurück über die Prinzregentenstraße ins Lehel, einer Innenstadtgegend von München, in der heute nur noch wenige Angestammte leben. Nicht arme Einwanderer haben das Viertel besetzt, sondern die elegante Welt der so genannten Besserverdienenden, zu denen Abel nicht gezählt werden kann, der als einer der Ersten gekommen war.

Er ging mit seinem Hund am Fuß und bunt bemalt im Gesicht, die Thierschstraße hinunter. Hier soll in den Zwanzigern der verarmte Postkartenmaler aus Braunau gewohnt haben. Wenigstens hier sind seine Spuren verweht.

Ein Fenster wurde in dem Haus hinter Abels Rücken aufgerissen. Musik dröhnte heraus. »… in seinem Bett gesehn, ja, der hat’s wunderschön, der braucht nicht aufzusteh’n. Und links und rechts vom Bett, da wächst der schönste Wein, ja, der hat's wunderfein, der alte Vater Rhein …«

»Dadadamdamdamdam«, sangen Männer und Frauenstimmen heiser, laut und falsch nach dem Refrain. Einer jodelte dazwischen. Man war ja, bitteschön, in Bayern. Abel drehte sich um und sah an der Backsteinfassade hoch. Hinter der Fensterreihe im ersten Stock brannte rotes Licht, an den Griffen hingen Luftschlangen.

Er sah den Schattenriss eines tanzenden Paares auftauchen und verschwinden. Dann war das Lied vom Vater Rhein vorbei. Stimmengewirr. Eine Frau lachte kreischend. Sofort verschlang ein dröhnender Faschingsschlager wieder alle anderen Geräusche.

Abel pfiff durch die Finger. Paul Schmitz löste sich von einer Hausecke und rannte herüber. Er prallte mit der Flanke an Abels Bein.

Ein Mann kam ihnen entgegen. Er ging eng an der Hausmauer und hatte die Schultern hochgezogen. Auf dem Kopf saß eine Matrosenmütze, weiß mit blau und einem hochgestülpten Rand. Eine rote Plastiknelke, wie man sie auf der Wies’n schießen kann, war vorne aufgenäht. Sie begegneten einander im Schein eines erleuchteten Schaufensters.

»Guten Abend, Herr Hiltsch«, sagte Abel. Der Kopf des Mannes flog herum. Hiltsch grüßte flüchtig zurück und ließ den Kopf wieder zwischen die Schultern sinken. Er ging mit kleinen Schritten weiter an der Mauer entlang. Ein Moped röhrte die Straße herunter. Süßlicher Zwei-Takter-Mief. Als Abel sich noch einmal umdrehte, beobachtete er, wie Hiltsch im Eingang des Hauses verschwand, in dem das Faschingsfest gefeiert wurde.

»Soso«, brummte Abel beifällig vor sich hin. Er hatte den Mann in dessen Scheidungssache zu vertreten.

 

*

 

Das Fest war schon lange vor acht Uhr voll im Gange, denn man feierte bei der Firma seit nachmittags um vier Faschingsdienstag, das war Tradition.

Da darf man sogar in einem bayrischen Handelskontor für Textilien und Strickwaren ausgelassen sein. »Die Polonaise von Blankenese«. Melly Moslech mitten in der Reihe, die Hände auf den dürren Schultern des Prokuristen Seidel und um ihre Taille die Pranken von dem neuen Lehrling, der Abitur und ein abgebrochenes BWL-Studium an der FH hatte. Die Lehrlingsfinger massierten wie zufällig die kleinen, nackten Speckröllchen oberhalb des Bundes der engen Jeans.

»… greift er von hinten an die Schulter, ja, da kommt Stimmung auf«, jubilierten die Firmenangestellten, und die kräftigen Lehrlingshände lösten sich und rutschten nach oben. Da zog Melly schnell die Ellbogen an und wandte sich um.

Der Lehrling war als Frau verkleidet, Minirock und haarige Beine unter Nylon, einen mächtigen, ausgestopften Busen in einer Bluse, die über den breiten Schultern spannte. Der grellrot geschminkte Mund lachte, darüber trug er einen säuberlich gestutzten Schnauzbart.

Melly begann, mit dem Lehrling, den Kühn, zu tanzen. Es folgte eine langsame Nummer, und ihr Partner zog sie zu sich her, umwand sie mit Tentakelarmen, schob sein Knie vor und schnaufte ihr heiß ins Genick. Melly tastete seine unverbrauchten Muskeln unter der Damenbluse ab. Er roch nach Schnaps und Schweiß, der unter der Perücke hervorsickerte.

Sie sah, wie Hiltsch eintrat und sich umblickte. Er legte seinen Mantel über einen Stuhl an der Tür und gab Seidel höflich die Hand. Sie hörte, wie der Prokurist sagte: »Gelungene Verkleidung, lieber Hiltsch. Weißblau, da könnan S’ ja sofort in die CSU eintreten.«

Bei der nächsten Drehung musterte Melly den Mann neben Seidel. Der Lehrling brummte ihr »Strangers in the Night« ins Ohr.

Hiltsch trug ein blauweiß gestreiftes Hemd. Querstreifen, versteht sich. Schwarze Hosen, schwarze Schuhe und ein lächerliches Käppi, ebenfalls blauweiß, mit einer roten Nelke vorne drauf. Da kam ihr eine Idee.

»Sekunde«, sagte sie zu dem Lehrling und drehte sich aus seinem Griff, dann rannte sie hinüber zu ihrer Tasche, die auf dem Tisch neben einem halbvollen Sektglas lag, ließ sie aufschnippen und kramte ihren Lippenstift heraus. Im Fortspringen goss sie den Schluck Sekt hinunter und dann war sie schon bei Hiltsch, der händereibend am Rand der Tanzfläche stand, so als sei er aus großer Kälte hereingekommen.

»Jetzt wollen wir unseren Hiltschi mal verkleiden«, rief sie, und alle sahen herüber. Sie nahm ihn beim Arm und zog ihn in die Nähe der roten Lampen. Er hielt ihr zögernd zuerst die linke, dann die rechte Wange hin und Melly malte mit dem dunklen, rot-lila Lippenstift auf die eine Seite ein Herz und auf die andere einen Paragraphen. Dabei bemerkte sie, dass er frisch und sauber rasiert war und nach Sandelholzparfüm roch.

»So«, sagte sie und kniff kritisch die Augen zu. Sie betrachtete sein Gesicht. Weich, fast weiblich sah es aus der Nähe aus. Und seine Augen wirkten in dem düsteren Licht nur schwarz und weiß, ohne Ausdruck. Jemand legte eine neue Platte auf, und die Boxen begannen zu dröhnen. Die Beatles. »Oldies but Goldies«. So was kommt an.

Plötzlich war wieder der Lehrling neben ihr, packte ihren Oberarm und schrie ihr etwas ins Ohr. Melly verstand nicht, was er wollte, schüttelte dennoch den Kopf und wendete sich wieder Hiltsch zu, um den Jungen loszuwerden. Der Lehrling trollte sich und plötzlich hakte sie Hiltsch unter. Ihre Augen kontrollierten schnell seinen Gesichtsausdruck. Ein flüchtiges Lächeln und immer noch die schwarzweißen Augen. Er zog sie aber mit sich zu der kleinen Sektbar. Melly folgte, denn sie hatte Durst.

 

*

 

Sie tranken zwei Gläser, jeder. Und dann noch mal zwei. Demi-sec.

Hiltsch zahlte. Er stand neben ihr, beide Ellenbogen auf den Tresen gestützt, und spielte mit seinem Glas. Er sprach von seiner Scheidung. Seine Matrosenmütze saß in der Stirn, und die Plastiknelke hing schlaff herunter. Trotzdem wirkte sein Gesicht im roten Licht nun kantiger. Lange, schmale Schatten liefen von der Nase über den Mund bis hin zum Kinn. Melly hörte nicht nur aus Höflichkeit zu, denn sie war selbst geschieden. Knapp zwei Jahre war es jetzt her.

Sie nickte. »Ja, ja, das kenn ich gut«, sagte sie.

»Und dann geht sie fort, von einem Tag auf den anderen«, fuhr Hiltsch mit seinem Bericht über seine untreue Ehefrau fort, »so mir nichts, dir nichts, als wären die zehn Jahre vorher ein Dreck gewesen, als könnt man das wegstecken, wie wenn in einem alten Auto der Motor aufgibt.« Er starrte vor sich hin. »Das geht einem nach.«

Melly, aufgeweckt, ein wenig pummelig, doch für ihre Verhältnisse so um Ende dreißig gut beieinander, verzog die Lippen zu einem Lächeln und schubste den Kollegen Hiltsch in die Seite.

»Komm, wir tanzen«, sagte sie.

Hiltsch folgte ihr ohne Widerspruch, fasste sie nur ganz leicht um die Taille und begann sich im Walzertakt zu drehen. »Schnaps ist schlimmer als Heimweh«, sang Melly nach der Melodie und fand es toll, sie legte ihren Kopf zurück. Die Girlanden und Luftschlangen über ihr tanzten und wirbelten in rotbunten Spiralen mit. Hiltsch musste sie fester halten, damit sie ihm nicht entglitt.

Dann kam »La Bamba«, man musste jedes Mal beim Refrain klatschen und in die Knie gehen. Melly spürte, dass Hiltschs Hände zweimal ihre Brüste berührten, ganz flüchtig und nebenbei und wie unbeabsichtigt, bevor er sie wieder in den Arm nahm. Dabei tanzten die anderen offen.

Danach tranken sie wieder Sekt, und Hiltsch stand von Anfang an ganz eng bei Melly und sie rückte nicht fort. Sie fand, dass Sandelholzrasierwasser gar nicht so schlecht roch, wenn einer die Haut dafür hatte. Und Hiltsch sprach von der Einsamkeit, die man empfindet, wenn einen ein geliebter Mensch verlässt.

»Wenn sie gestorben wäre, wär’s was anderes gewesen«, sagte Hiltsch und trank einen langen Schluck, »dann hätte sie nichts dafür gekonnt, und man hätte sie immer noch im Herzen für sich gehabt – aber so …« Er hatte die Mundwinkel heruntergezogen.

Melly beobachtete ihn von der Seite und sah, wie er seine Augen zukniff. Er hatte schmale, dünne Augenbrauen. Der Lippenstift-Paragraph auf seiner Backe war schon am unteren Ende verwischt. Dann spitzte er die Lippen und drehte sich zu ihr um, endlich lächelte er, weil auch Melly lächelte. Sie legte ihm die Hand auf die Brust und schüttelte den Kopf. »Hab ich gar nicht vermutet, dass Sie so schwermütig sein können, wo Sie sonst so korrekt sind, lieber Hiltsch.« Sie fand die saloppe Anrede in der Situation angebracht. Das Duzen im Betrieb wurde von Prokurist Seidel systematisch unterbunden.

Hiltsch hielt ihre Hand für einen Augenblick fest, aus einem Lächeln heraus biss er auf seine Unterlippe. »Sie müssen das verstehen, denn sie war meine erste Frau, überhaupt«, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich sag das sonst nicht, nur heute, wissen Sie, da ist es etwas anderes.«

Melly hätte die Hand noch auf Hiltschs Brust gelassen, doch er hatte sie so schnell wieder freigegeben.

»Fast noch Jungfrau«, fuhr es Melly heraus und sie lachte laut und schrill.

Da tauchte der Lehrling neben ihr auf. Er hatte inzwischen die Perücke abgenommen und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. »Auf«, rief er und griff mit seinen kräftigen Händen nach Melly, zerrte sie auf die Tanzfläche und nahm sie wieder voll in Beschlag.

»Je t’aime«, stöhnte Jane Birkin aus den Lautsprechern, »moi non plus«, raunte Gainsbourg, und der Lehrling hatte Melly fest im Griff mit Tentakelarmen und vorgeschobenem Knie. Sie versuchte, sich ein wenig auf Distanz zu halten, doch er reagierte nicht. Sie sah, dass Hiltsch starr mit durchgedrücktem Rücken vor der improvisierten Sektbar stand und sie mit hartem Gesicht beobachtete.

Das Nylonbein des Lehrlings massierte zwischen ihren Schenkeln herum. »L’amour physique est …«, hörte sie den Jungen schnaufen, dann schwebte plötzlich sein Gesicht mit dem verschmierten Lippenstiftmund im Dämmerlicht vor ihr, kam flink auf sie zu, und schon bohrte sich seine Zunge in ihren Mund, vollführte eine kurze Wendung unter dem Gaumensegel und verschwand wieder mit einem schmatzenden Schnalzen.

Melly war so verblüfft, dass sie lachte. Der Lehrling mit Abitur wollte sich wieder über sie hermachen, da war das Stück zu Ende und es folgte »Jambalaya« von Fats Domino, und da kann man nicht clinchen.

Hinter dem Jungen tauchte der Prokurist auf und klatschte in die Hände. Den Kopf leicht zur Seite geneigt und die Fußspitzen nach außen zeigend stand er da und sagte: »Darf ich bitten, Frau Moslech?«

Melly nickte und tanzte mit dem Prokuristen Seidel einen Foxtrott mit wohlgesetzten Schritten nach der Musik von »Jambalaya«. Dabei hatte sie den Kollegen Hiltsch fest vergessen. Erst als sie mit Seidel fertig war, sah sie wieder hinüber zur Sektbar und bemerkte, dass Hiltsch immer noch in erstarrter Haltung verblieben war, wie sie ihn vorher gesehen hatte. Er tat ihr Leid, und sie eilte sich, zu ihm hinzugehen.

»Nicht traurig sein, so ist der Fasching eben«, sagte sie und lachte lauthals. Sie ergriff ihr Glas und gab ihm seines. »Prost«, sagte sie und stieß von sich aus an.

Hiltsch betrachtete sie lange mit seinen schwarzweißen Augen, und dann antwortete er: »Ist ja auch egal.«

Melly trank ihr Glas aus und blickte in die Augen des Mannes, die ihr jetzt melancholisch vorkamen in dem roten Licht. Sie beschloss, auf den Kollegen Hiltsch ein wenig einzugehen, und begann deshalb, die Geschichte ihrer eigenen Scheidung zu erzählen. Zuvor bestellte sie aber noch ein Gläschen. Hiltsch zahlte bereitwillig. Noch einmal lächelte er Melly an. Sie lächelte zurück.

 

*

 

Die Korporation, der einige Freunde Abels angehörten, feierte in ihrem Haus unweit der Münchner Freiheit den Faschingsdienstag. Es ging normal und deshalb laut und ausgelassen zu. Als Abel in den großen, holzgetäfelten Kommerssaal trat, schlug ihm heiße, stickige Luft entgegen. Es roch nach Parfüm, Zigaretten, Schweiß, Staub und Bier. Er zog seine gelbe Pappnase herunter, sozusagen in Gefechtsstellung, und mischte sich unter die Leute. Eine Rumpf-Dixieland-Band, Basstuba, zwei Posaunen, Trompete und Gitarre, schmetterte »Bill Bailey«, und der Fuxmajor sang einen bayrischen Text dazu, in das wackelige Mikrofon. 

»Wann’d hoam kimmst kriagst’n Arsch voll …«, schmetterte der Fuxmajor. Abel bestellte ein Bier, trank einen tiefen Zug und ging die schmale Holztreppe zur Empore hinauf, um einen besseren Überblick zu bekommen. Er spähte herum und konnte im schummrigen Licht und im Qualm unter sich keinen Bekannten ausmachen.

Enttäuscht ging er wieder zurück in den Saal, von dort aus suchte er in anderen Zimmern und im Flur. Keine Seele, die ihm bekannt vorkam. Niemand war so maskiert wie er selbst. Man sah ihn öfter mit neugierigen Augen an, so als prüfe man, ob er dazugehöre.

Abel holte sich schnell ein zweites Bier und tröstete sich damit, dass Paloff und Ketterer und wie sie alle heißen mögen, sicher noch kommen würden, später, gegen elf.

Im letzten Jahr waren immerhin noch drei oder vier gute alte Kommilitonen eingetrudelt, und zwei waren schon von Anfang an dabei gewesen. Abel setzte sich auf die Stufen der Emporentreppe und starrte auf die Band, die den »Tiger Rag« spielte. Grund genug für die beiden Posaunen, sich auszutoben. Er überlegte, wer für das altmodische Musikprogramm verantwortlich war, ohne DJ, ohne Wummerbässe? Vielleicht war Dixi der neue Trend in München?

»Na, Alter«, sagte einer der Studenten, wischte sich den Schweiß vom Tanzen aus der Stirn, dann nippte er an seinem Bier. »Heiß, wa?«

Abel nickte. Er kannte den Jungen nicht.

»Ick tät ma nich so anmaln.«

»Geschmackssache.«

Der Student beschrieb mit seinem Zeigefinger einen großen Kreis um den Saal. »Scheißweiba, nix wie Schrott, Zicken«, er lachte verächtlich. »Haufen Juristinnen … Studentin des Rechts, neutralen Geschlechts.«

»Du musst’s ja wissen«, brummte Abel. Er fand tatsächlich keine hübschen Mädchen darunter. Er schnitt eine Grimasse, weil der den Sprüchen des Studenten trotzdem nichts abgewinnen konnte.

 

*

 

Es war eine Jederfrauscheidung gewesen, als Frau Melly Moslech sich von ihrem Mann Harald trennte. Vier Jahre Ehe, Entfremdung heißt das dann, er geht seine Wege, sie ihre, kaum Streit, bis es soweit war und man die Anwälte konsultierte. Dennoch gewann Melly ihrer Schilderung der Geschichte dramatische Aspekte ab.

Da war die Auseinandersetzung um das Urlaubsgeldkonto. Ein Sparbuch, auf das man monatlich Beträge für die nächste Ferienreise umbuchen ließ. Mit Harald Moslech – und vermutlich einer Geliebten – waren neunhundert Euro vor einem verlängerten Wochenende von dem Konto verschwunden. Sie schilderte die Auseinandersetzungen um diese Ungeheuerlichkeit, dann sagte sie: »Das ist irgendwie eine symbolische Handlung gewesen, das mit dem Geld, verstehen Sie.« Sie schaute trübsinnig den Kollegen Hiltsch an, der sich neben ihr mit den Unterarmen auf die Bar gestützt hatte.

»Ja, das ist so endgültig.«

»Nein, weniger deswegen«, sagte Melly, »es war nur so gemein, weil die Hälfte von dem Geld von mir war, ich habe auch dafür malocht, hier in dieser Firma, vierzig Stunden pro Woche und Überstunden. Und das, was in so einer Woche reinkommt, legt dieser Mann an einem Wochenende auf den Tisch. Neunhundert, pfft, nur so zum Fenster raus.« Sie machte mit den Fingern eine flatterige Bewegung.

»Manchmal versteht man sich nicht«, sagte Hiltsch und verfolgte mit seinen Augen diese flatterige Handbewegung, er wollte fortfahren, doch Melly unterbrach ihn.

»Gehn Sie mir nur mit Verstehen oder so. Ich weiß nicht, das mit dem Geld ist doch wohl eher ’ne Frage von Anstand, das muss einer doch haben, hier drin, irgendwie …« Sie zeigte auf ihre Brust. Auch dorthin folgten Hiltschs Augen. Sein Blick blieb an dem dünnen T-Shirt mit dem Donald-Duck-Gesicht hängen. Wegen der heftigen Bewegung wackelten ihre Brüste unter dem Stoff.

»Man versteht sich einfach nicht«, wiederholte Hiltsch und starrte in sein Glas. »Es ist, als ob alle Leitungen durchgeschnitten sind, und man ist alleine in einem Raum. Möbel, Licht, Essen, das ist alles da, bloß: Du frierst und die Leitungen nach draußen sind tot.«

»Genau. Er hat mir auch nicht mehr zugehört am Schluss, und von einem seiner Weiber, die hab ich später dann zufällig mal kennengelernt, von der hab ich erfahren, dass er überall die Show ›meine Frau versteht mich nicht‹ abgezogen hat. »Der«, sie lachte bitter, »der hat ja gar nicht zugehört, echt. Wenn einer den anderen nicht verstanden hat, dann war es, verdammt noch mal, der Herr Moslech und nicht ich.«

Hiltschs Blick war nun endgültig auf ihren Brüsten haften geblieben. Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Zu reizvoll und geheimnisvoll waren die Rundungen und Bewegungen. Melly mochte solche Blicke nicht und stellte sich mit der Seite zu ihm. Sie winkelte ihren Arm an.

»Es ist auch schwer, einen anderen zu verstehen«, sagte Hiltsch und zwang sich, den Kopf wieder nach vorne zu drehen. »Ich verstehe keine Frau, hab sie noch nie verstanden. Weil es so kompliziert ist. Mal reagieren sie mit dem Gefühl und mal mit dem Kopf, das ist doch konfus? Ich habe gemeint, bei meiner Frau, da wäre ich endlich einmal durch die vielen Schichten durch mit meiner Leitung …«

Melly lachte vulgär über diese unbewusste Stilblüte. Hiltsch rang sich ein Lächeln ab. Sein Fehler war ihm peinlich. Melly nahm ihn am Arm und zog ihn auf die Tanzfläche. »Fasching ist nicht zum Nachgrübeln da, da muss man richtig lustig sein«, rief sie und begann, vor Hiltschs Augen auf und ab zu tanzen. Es lief Discomusik, ein hämmernder Rhythmus bebte aus den Basslautsprechern, und ein Mann mit schwuler Kommandostimme gab exzentrische Befehle. Mellys Körper wand sich zur Musik, sie hatte die Augen halb geschlossen, die Hüften zuckten träge im Rhythmus. Sie sah, wie Hiltsch die Zähne zusammenbiss und schluckte. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab, bevor er sich mit angewinkelten Armen in Bewegung setzte, was aussah, als würde er, auf der Stelle stehend, Waldlauf betreiben. Seine Bewegungen passten nicht zur Musik. Melly warf rhythmisch den Kopf in den Nacken und fuhr sich hie und da mit den gespreizten Fingern durch die Haare, die schon längst nicht mehr in eleganter Welle aus der Stirn gefönt waren. Sie war eins mit dem Rhythmus. 

Plötzlich tauchte der Lehrling im Mini mit dem breiten Kreuz neben ihr auf, gleichfalls gut im Schwung und im Rhythmus, auch seine Hüften zuckten träge im Takt, er tanzte eng an Mellys Seite, kopierte ihre Bewegungen, und Melly ging darauf ein, immer den Jungen aus den Augenwinkeln beobachtend, ihre Zungenspitze zwischen den Lippen, so als müsse sie sich sehr stark konzentrieren, und über manche Bewegungen des Lehrlings lachte sie in die dröhnende Musik hinein.

Hiltsch hatte sich gedreht, ohne seine Waldläuferposition aufzugeben, und festgestellt, dass sie fast alleine auf der Tanzfläche waren, nur noch ein Pärchen, das er nicht identifizieren konnte, knutschte eng umschlungen in der Nähe des einen Lautsprechers. Hinter der Sektbar stand der Hausmeister und genehmigte sich selbst einen, wozu Seidel ihn animiert hatte. Bei Seidel standen noch drei oder vier Herren, die der Prokurist eingeladen hatte.

Keiner nahm, wie es Hiltsch erschien, Anstoß an dem Tanz, also drehte er sich wieder zu Melly und dem Lehrling zurück, die gerade kokett mit den Hüften aneinander stießen. Hiltsch wandte sich wieder ab und seine Augen beobachteten die große Musikanlage, deren Lämpchen unablässig blinkten. Auf der Konsole spritzten grüne Leuchtbänder mit jedem Schlag des Rhythmus auf. Jetzt fragte eine laszive Mädchenstimme ständig: »Say what?« Melly warf die Arme hoch, drehte sich und spürte, wie hinter ihr der Lehrling ganz nahe an sie herantanzte. »Say what?«, wiederholten ihre Lippen, sie nahm die Arme wieder herunter. 

Melly hatte Hiltsch schon vergessen.

 

*

 

»Keiner will was von uns«, sagte der junge Polizeimeister Brunner und schaukelte auf seinem Stuhl.

»Sogar hier in Minga sind alle beschäftigt«, sagte sein Kollege Bärlach, der aus Traunstein kam. »Sogar bei dem Rudimentärfasching in der Stadt.« Er war stolz auf die Ausschweifungen in Traunstein.

»Sei froh!«, antwortete Brunner.

»Dienstlich gesehen, vielleicht«, Bärlach drehte sein kleines Kofferradio auf. In BR 5 lief neben der Nachrichtenschleife ein Bericht über ein Umweltprojekt in Angola – natürlich ohne die geringste Andeutung einer Faschingsmelodie.

»Nix wie Linke im Radio … wie überall«, sagte der Polizeimeister Bärlach abschätzig und drehte weiter, ein Kanal brachte Klassik. »Des wird nach der Wahl a net besser«, knurrte er und drehte weiter.

Endlich kam fröhliche Fastnachtsmusik aus dem Lautsprecher. Humba täterä und Tuschs hallten durch die öde Amtsstube der Revierwache. Bärlach konnte sich nun wieder in seine BILD-Zeitung vertiefen. Bald hob er das Blatt hoch, zeigte auf eine nackte Frau, die eine Kapitänsmütze auf dem Kopf trug und mit einem Wasserball posierte: »Solche Titten, das müsst’ mer mal anlangen können, hä?«, fragte er.

Brunner lachte dröhnend. Aus dem Lautsprecher kam ein Tusch.

»Wenn du für jeden Stich heut Nacht in München einen Euro hättest, brauchst Du dann noch arbeiten?«, fragte Bärlach. Brunners Gelächter dröhnte wieder durch die leere Amtsstube.

»Wär mir lieber mit jeder einmal selber«, sagte er dazwischen.

»Du, da sind au grauslige Weiber dabei«, antwortete Bärlach und vertiefte sich wieder in sein Blatt. »Mit so einer kriagst koan hoch.«

Ein Büttenredner aus dem goldenen Mainz stellte Erwägungen zu dem launigen Thema »Wein und Weib« an. Er war heiser. Ein kreischender Beifall unterbrach ihn. Tusch, dann hetzte der Redner zur nächsten Pointe weiter. Herrensitzung. Schloss. Sendung zum Fastnachtsausklang. Mitschnitt aus einer früheren Sitzung. Und immer wieder gern gehört, das Lied von der Amanda, die die Hand da weglassen soll.

»So isses recht«, sagte Bärlach. Er malte Strichmännchen auf ein Anzeigenformular. Die Flächen in den Buchstaben »e«, »a«, »b«, »o« und so weiter waren schon mit Kuli ausgefüllt. Er sprach weiter: »Wetten, dass heute wieder so ’ne Tussi kommt und behauptet, ihr Macker hätt’s mit Gewalt machen wollen?«

Im Lautsprecher spielte das Fastnachts-Hof-Orchester die Melodie »O wie wohl ist mir am Abend«. Brunner lauschte mit schräg gelegtem Kopf. »Tut denen doch nur gut, gut tut das denen, glaubst nicht?«

Bärlach lachte.

 

*

 

Hiltsch hatte längst seinen Waldläufertanz aufgegeben und sich auf einen Bürostuhl neben dem Ausgang zurückgezogen. Seidel stand immer noch mit den Herren an der Theke. Man sah sie lachen, die Köpfe zurückgeworfen und weitertrinken. Hiltsch hatte Bier aus einem der anderen Büros geholt. Gerade ging er wieder hinüber, um seinen Halbliterkrug erneut füllen zu lassen.

Als er wiederkam, tanzten nur noch Melly und der Lehrling im Maschinenrhythmus. Das Pärchen hatte sich in Hiltschs Nähe gesetzt und begann leise zu streiten. Trotz seiner Neugier entging ihm der Gegenstand der Diskussion. Er saß mit geradeaus gewandtem Kopf, doch seine Augen schielten zur Seite, um ein wenig von den Lippen lesen zu können. Er vergaß sogar für eine Weile, hinüber zur Tanzfläche zu starren und Mellys Körper in der Bewegung zu beobachten.

Plötzlich sah er, dass der Lehrling mit einem Schwung den Minirock von den Hüften streifte, in kurzen Turnhosen weitertanzte und dabei die beiden Zeitungspapierbrüste aus der Bluse kramte, was Hiltsch ein wenig irritierte. In Shorts wirkte der Junge schmaler. Die Beine in den dunklen Nylonstrumpfhosen stachen grotesk von der weißen, haarlosen Brust ab, die aus der offenen Bluse hervorschaute.

Er befahl sich wegzuschauen. Als Hiltsch wieder hinübersah, war er schockiert, denn Melly tanzte Körper an Körper mit dem Lehrling, stoßende Bewegungen eingeschlossen.

Melly und der junge Mann waren durch das klatschende, immer wieder repetierte Stampfen in der Musik in ihre Bewegungsabläufe eingefräst und vollständig jeder auf den anderen eingestimmt, den hämmernden Takt instinktiv in Bewegung umsetzend.

Zwei Sekretärinnen gingen durch das Zimmer. Hiltschs Blick verfolgte ein kurzes Stück die Frauen beim Gehen; dann blickte er zu dem tanzenden Paar, und er sah mit Erleichterung, dass Melly sich von dem Mann gelöst hatte und offen tanzte.

Sofort war Hiltsch wieder von Mellys Bewegungen gefesselt, die stetig erschienen, obwohl sie immer anders waren, genauso wie sich das Wasser in einem Wasserfall bewegt. Es waren kräftige und sichere Aktionen und Gesten, nichts daran durch Nachdenken verfälscht, alles ursprünglich und wild und erotisch.

Hiltschs Adamsapfel zuckte wieder. Er bemerkte, wie sich in seinem Kopf die Erkenntnis herauskristallisierte, dass Melly nichts mit dem Lehrling zu tun haben wollte – objektiv! Da ist nichts zwischen den beiden, kein körperlicher oder geistiger Kontakt, kein Funken, der überspringt. Ein zudringlicher Typ, aber sie hatte ihm die Grenzen gezeigt. Der andere dient nur zur Legitimation für den Auftritt auf der Tanzfläche, sonst nichts. Auf den Lehrling ist sie nicht wirklich eingegangen. Ganz im Gegenteil, ihn hat sie weggestoßen, vorhin, als er zudringlich wurde. Und so einer war doch zu jung, viel zu jung. Mit so einem kann man keine Gespräche führen, dachte Hiltsch.

Doch dann zogen ihn wieder die Bewegungen an und er starrte hinüber auf die Tanzfläche. Sie tanzt nur für dich, sagte ihm eine innere Stimme. Nur für dich, Sigurd. 

 

*

 

Abel stand am Fenster in einem der finsteren Zimmer außerhalb des Festes und sah hinunter auf die nächtliche Straße. Er hatte beide Flügel geöffnet. Feuchte und milde Luft strömte herein und brachte den Geruch der Großstadt mit sich. Abel legte die Hände auf die Fensterbrüstung und atmete tief durch.

Hinter ihm öffnete sich die Tür. Ein breiter, gelber Lichtstrahl zuckte über den hölzernen Fußboden, und die Geräusche des Festes ergossen sich in den Raum. Eine Stehlampe glühte auf. Abel drehte sich herum. Er sah ein Mädchen, das einen Sessel herbeizog und sich hineinfallen ließ.

»Sie sind doch Abel?«, fragte sie.

Er nickte.

»Sie haben sich fast unkenntlich gemacht«, sagte das Mädchen. »Was macht Erika?«

Erika … das war vor drei Jahren. Er musterte das Mädchen im Sessel. Sie hatte kurze, farblose Haare und ein rundes Gesicht mit hellen Augen. Sie war nicht verkleidet, hatte noch nicht einmal einen närrischen Hut auf dem Kopf. Ihre kurze, fast barsche Gestik passte nicht zu ihrer rundlichen Figur. Abel ließ sich mit der Gegenfrage Zeit: »Woher kennen Sie Erika?«

Das Mädchen lachte. »Wir kennen uns eben, dass ihr Männer immer eine rationale Erklärung braucht …«

Abel drehte sich wieder herum und starrte hinaus. Durch das Licht im Raum war die Nacht schwärzer geworden.

»Es ist nichts los hier«, sagte das Mädchen, »dabei ist man extra hergekommen, weil hier im Haus Remmidemmi sein soll.«

Abel hatte die Hände in den Taschen. Sein blaues Clownsgesicht schimmerte im Halbdunkel, das die Stehlampe in der Nähe des Fensters ließ. Er lachte. »Beinahe hätte ich gesagt, dass das früher so war.«

»Sehen Sie, wie einfach das ist?«

Abel zeigte auf sich. »Mein Gesicht schließt mich aus.« Er zeigte auf die Maske.

»Und die anderen?«, fragte das Mädchen.

»Die anderen? Sie sind zu Hause bei ihren Frauen und Kindern, oder sie arbeiten am Faschingsdienstag in der Nacht. Das hat alles seine Ordnung.« Abel zog sich hoch und setzte sich auf die Fensterbrüstung.

»Sie gehören hier dazu?«, fragte er. »Angezogen wie immer, das Jedentagsgesicht auch abends dabei?«

Das Mädchen war nachdenklich. »Warum verkleiden? Es erkennt einen doch auch so keiner.«

Abel zuckte mit den Achseln. Das Mädchen stemmte sich aus dem Sessel hoch. Sie war fest so groß wie Abel und schlanker, als er gedacht hatte.

»Nichts los hier, tschau, Abel«, sagte sie im Hinausgehen, »und einen schönen Gruß an Erika.«

»Wenn ich sie sehe … von wem?«

»Ulla, vulgo Uli«, antwortete das Mädchen und löschte das Licht, bevor sie das Zimmer verließ.

 

 

 

Aschermittwoch, den 1. März

 

 

Hiltsch trank einen langen Schluck.

Es war gerade Mitternacht. Immer noch schwer was los, obwohl das Fest seit vier Uhr am Nachmittag lief. Hiltsch mochte sich noch lange nicht verabschieden. Die dröhnende, peitschende Musik war immer noch da, wie das rote Licht und die beiden wabernden Körper. Der Prokurist kam mit den fremden Herren vorbei und winkte mit einer knappen Bewegung zu Hiltsch hinüber. Hiltsch registrierte das nicht. Zu sehr war er damit befasst zu warten, bis die Musik zu Ende war, bis Melly wiederkommen würde. Man würde das Gespräch fortsetzen, er würde auf sie eingehen, ganz intensiv mit ihr reden, sie mit seinen Gesten und Augen fesseln, dann vielleicht eine kurze Bewegung hin zu ihren Armen, ihre Haut berühren. Ihm fiel das knutschende Pärchen ein und er malte sich aus, wie sich Mellys Körper unter seinen Händen anfühlen würde, dieselben lasziven, trägen Bewegungen und die Hüften, die sich an ihn schmiegten und Druck ausübten. Hiltsch benetzte mit der Zunge seine Unterlippe.

Plötzlich riss die Musik mitten im Ton ab. Es dauerte eine kurze Zeitspanne, bis sich die Stille in Hiltschs Kopf vorgekämpft hatte, er setzte sich mit geradem Rücken hin. 

Melly hatte noch ein paar Takte weitergetanzt und war dann stehen geblieben. Sie lachte. Der Lehrling kam auf sie zu und wollte sie vertraulich in den Arm nehmen, sie ließ ihn gewähren, doch sie sagte ihm etwas ins Ohr, lachte und stieß ihn von sich. Eine kurze Diskussion zwischen den beiden folgte, ohne Gesten und so, dass niemand im Raum etwas verstehen konnte.

Melly war wütend. Der Lehrling auch. Hiltsch sagte leise »Hä!«. Es klang ein wenig triumphierend. Doch Melly ging hinaus ohne zu ihm hinüberzusehen. Er stand auf, wollte ihr folgen, verharrte dann aber, um zu überlegen, ob das jetzt richtig sei.

Der Lehrling kam zu ihm herüber. »Blöde Titte«, sagte er, »bläst sich derartig auf, macht einen auf scharf und dann zick, zick, zick … dabei könnte die froh sein, wenn sie einen kriegt … so alt wie die ist.« Er winkte ab.

»Vielleicht sind Sie ihr zu jung«, sagte Hiltsch. Er machte ein strenges, abweisendes Gesicht, denn er hätte ohnehin nicht mit einem Lehrling des Betriebes über eine Kollegin reden sollen, er hätte ihn tadeln müssen. Der Junge sah Hiltsch an. Er steckte den Daumen zwischen den Zeigefinger und Mittelfinger.

»Wenn eine gesund ist«, sagte er, »dann braucht sie in dem Alter auch mal was Junges zwischen den Beinen, knackig, vital und ohne Probleme, wissen Sie.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?«, fragte Hiltsch, obwohl er nach seiner Meinung keinesfalls solche Fragen hätte stellen dürfen.

»Das spür ich. Das hat man, oder man hat’s nicht. Und ich sag Ihnen, dass die’s braucht und zwar ganz dringend. Sie ziert sich bloß, das ist ’ne Masche, manche Weiber wollen erobert werden«, der Lehrling machte eine kämpferische Geste mit dem rechten Arm. »Knallhart, verstehen Sie. Aber ich hab das nicht nötig, an so ner Tusse rum zu graben, bis es ihr passt.« Er lachte breit und zeigte eine Reihe weit auseinanderstehender Zähne, dann ging er hinaus. »Waidmannsheil«, rief er zu Hiltsch hinüber.

Es roch nach kaltem Rauch, und das Zimmer war leer. 

Hiltsch hörte von draußen lachende Stimmen. Sein Adamsapfel hüpfte, und er säuberte sich die Fingernägel mit den Nägeln der anderen Hand. Unschlüssig stand er nun am Rand der kleinen Tanzfläche in dem leeren, in rotes Licht getauchten Raum, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Er nagte an der Unterlippe, schließlich drehte er sich mit einem Ruck herum und ging ebenfalls hinaus.

Der lange Flur zwischen den Büros war gleißend und kalt von Neonröhren ausgeleuchtet. Weiße Wände, grauer Teppich, hinter der Naturholztür zum Prokuristenzimmer hörte man Geplauder. Hiltsch schritt vorsichtig den Gang entlang.

Im Schreibzimmer standen die beiden Sekretärinnen und lachten über einen Spruch des Lehrlings, der sich vor ihnen aufgebaut hatte und gestikulierte. Zwei andere Grüppchen Kollegen standen zusammen und tranken Bier aus der Flasche.

Hiltsch ging vorüber und bog rechts ab in den Stichgang zur Toilette. Melly stand dort und zog die Konturen ihrer Lippen mit dem lila Stift nach. Der große rote Cola-Automat brummte. Sie bemerkte Hiltsch nicht, weil sie in ihren kleinen Handspiegel sah und ihm den Rücken zuwandte. Unter dem linken Arm trug sie ihre schmale Handtasche eingeklemmt.

Es war nur ein kurzer Augenblick des Überlegens. Hiltsch zögerte immer noch, er schloss kurz die Augen und ballte die Fäuste, konzentrierte sich. Sie braucht s, sie braucht’s, sagte er zu sich, öffnete die Augen und entspannte die Fäuste. Er ging schnell die zwei Schritte auf Melly zu. Sie drehte sich um, erkannte ihn und ein flüchtiges Lächeln verzog ihre blauroten Lippen.

»Hiltsch?«

Seine Hände griffen nach ihren Schultern und mit weit geöffneten Augen holte er zu einem Kuss aus, zerrte sie dabei an seine Brust. Die Handtasche fiel klappernd auf den Boden.

Er schloss die Lider. Sein Mund öffnete sich.

»Hiltsch!« Es war ein schriller Ton mit Betonung auf dem »i«.

Er spürte, wie sie sich mit beiden Händen heftig abstieß. Doch er hatte sie gut im Griff, wollte den rot-lila Mund mit einem Kuss verschließen. Sie braucht’s, sie braucht’s, hämmerte er sich ein. Er spürte den Druck ihrer Hände, er streifte ihre Wange, sie schüttelte heftig den Kopf. Seine Mütze mit der Nelke glitt herunter und verklemmte sich zwischen ihren Körpern. 

»Nein, hören Sie auf«, sagte sie laut, aber ohne zu schreien.

Und dann sehr streng: »Hiltsch!«

»Komm, zier dich nicht«, sagte er mit knappem Atem; denn er musste sich anstrengen, sie zu halten. »Fasching ist halt so.«

In diesem Augenblick hatte Melly alle Kraft gesammelt und sich aus seinem Griff befreit. Sie schlug ihm hart mitten ins Gesicht und noch einmal an den Kopf. Hiltschs Ohr begann zu pfeifen.

Melly hob die Tasche auf und streckte ihm dabei ihren prallen Jeanshintern noch einmal entgegen, dann ging sie, ohne sich umzusehen, davon.

Hiltsch lehnte mit dem Rücken an dem Cola-Automaten. Das Vibrieren des Kühlaggregats übertrug sich auf ihn. Er säuberte seine Fingernägel, als wäre nichts geschehen. Aus seiner Nase sickerte Flüssigkeit. Er wischte mit dem Handrücken und prüfte. Es war kein Blut. Innerlich war er unbewegt, wie Eis. Er spürte, wie sich in seinem Gesicht brennend ein roter Fleck als Folge des Schlages ausbreitete.

Als das Kühlaggregat abschaltete, löste er sich von dem Automaten. Er ging in die Toilette, vermied es in den Spiegel zu sehen und zog seinen Reißverschluss herunter. Die Tür ging auf. Der Lehrling kam herein. Er stellte sich unmittelbar neben Hiltsch, der deshalb sein Wasser nicht lassen konnte; es war unmöglich in der Nähe des Jungen. Er schloss seine Hose und ging hinaus, ohne die Hände zu waschen.

»Waidmannsheil, … was sind die Weiber fröhlich«, hörte er den Lehrling grölen. Es hallte laut durch die Toilette.

 

*

 

Melly kramte Zigaretten und Feuerzeug aus der Handtasche. Allmählich ließ das Zittern ihrer Hände nach, die sie zum Anzünden zu einem Trichter formte. Das flackernde Licht der Flamme züngelte kurz über ihr Gesicht. Sie zog den Rauch tief ein. Die milde Nachtluft hier draußen tat ihr gut. Jesses, weshalb regst du dich auf wegen einer solchen Lappalie, sagte sie sich. Dass die Männer immer bei solchen Gelegenheiten durchdrehten und meinten, sie sei einfach mal so zu haben. Vor allem Hiltsch! Hiltsch! Er war besoffen und hat’s halt versucht. Na und. Trotzdem ärgerte sie sich immer noch, mehr als über den Lehrling. Der war wenigstens nicht richtig handgreiflich geworden. Aber Hiltsch, aus heiterem Himmel! Schwanzgesteuerte Idioten! 

Sie hatte danach noch zwei oder drei Gläser mit dem Prokuristen und seinem Besuch getrunken, um den Ärger herunter zu spülen, bevor sie den Heimweg antrat. Natürlich hatte sie kein Wort davon gesagt. Hiltsch war keine große Nummer im Betrieb, aber eine größere als sie selbst und das musste man realistisch sehen.

Sie hatte mit Seidel und seinen Herren nur über Belanglosigkeiten geredet. Außerdem waren alle schon ziemlich betrunken gewesen. Sie hätte mit ihrer Geschichte höchstens einen Lacherfolg geerntet. Da war es besser gewesen zu schweigen. Sie war nur froh, dass sie Hiltsch und den Lehrling nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatten sich beide aus dem Staub gemacht. Die paar Schluck Sekt hatten endlich angeschlagen und sie war ruhiger geworden. Dann war sie gegangen.

Angebote, von einem der besoffenen Herren nach Hause gefahren zu werden, hatte sie ausgeschlagen. Bedarf gedeckt für heute Abend, dachte sie. 

Sie hatte ohnehin nur ein paar Schritte zu gehen, man konnte sogar noch abkürzen, durch den Englischen Garten beim Eisbach. Keine Affäre. Sie packte ihr Feuerzeug ein und zerknüllte die leere Zigarettenschachtel. Frische Luft ist etwas Gutes für einen angenebelten Kopf! Sie schritt energisch los.

 

*

 

In der großen Parkanlage jenseits der Prinzregentenstraße war es in dieser schwarzen Vorfrühlingsnacht still und einsam. Nur der milde Wind zauste in den kahlen Ästen der Sträucher Das Wabern des Großstadtverkehrs lag wie eine dichte Haube über den Bäumen. Einzelne bleiche Lichter wiesen den Weg durch den Park, Richtung Monopteros und Chinesischem Turm. Melly würde schon vorher nach rechts abbiegen, um nach Hause zu kommen. Ihr sicherer Schritt wurde tastender, als sie den Park betrat. Sie zirkelte die Lichtkreise von Lampe zu Lampe ab. Es gab schwaches, aber ausreichendes Licht auf den Wegen, damit man nicht stolperte. Ordentliche Straßenlaternen sind viel heller, aber sie haben natürlich nichts in einem Park zu suchen. Zehn Minuten hätte der Umweg gekostet. Es gab keinen objektiven Grund, diesen Umweg zu machen. Also schritt Melly wieder fester los.

Ihr Weg war gesäumt von hohen Bäumen und undurchdringlichen Buschgruppen, teilweise kahl, dazwischen auch Koniferen. Der Eisbach, ein schwallartig fließendes Gewässer, das auch im Sommer seinem Namen alle Ehre machte, rauschte und gurgelte in der Dunkelheit. Melly trat mit ihren Stöckelschuhe auf dem Asphalt des Parkweges energisch auf, als müsse sie sich selbst Mut machen.

Sie war schon weit gekommen, als sie hinter sich plötzlich ein Steinchen über den asphaltierten Boden klimpern hörte. Sie sah sich um und blieb stehen. Vögel lassen keine Steinchen fallen, nachts fliegen die Vögel nicht, sagte sie sich. Nun war es still, nur der Eisbach und der Wind in den kahlen Ästen der Bäume. Sie stellte den Kopf schräg, um besser zu hören, ihre Augen erforschten die Segmente der Finsternis entlang an den dunklen Buschgruppen. Eine Bö griff nach den Sträuchern, erzeugte überall Bewegung. Hoch über ihr rauschten die Äste einer Fichte. In der Ferne hupte ein Auto lang anhaltend. 

Gerade als sich die Bö verlief und Melly sich umdrehte, um zügig rechts abzubiegen und schnell auf die beleuchteten Straßen ihres Viertels zu rennen, spürte sie seine Nähe hinter sich.

Sie schaffte nur noch zwei oder drei Schritte, bis sich seine krallenartigen Finger in ihr ungeschütztes Genick schlugen, sie spürte die Nägel und warf den Kopf zurück, um den Schmerz zu lindern. Vor Mellys Augen war das matte Strahlen der nicht allzu fernen Straßenlaternen. Der Mann packte sie an der Seite und riss sie hart und entschlossen in das Gebüsch.

Zweige brachen unter ihrem Gewicht. So zerrt eine Katze die Feldratte aus dem Loch. Sie spürte immer noch die Nägel im Nacken. Endlich konnte sie schreien. Sie schrie. Es war fast wie in einem Traum, in dem einem die Kehle zugeschnürt ist, weil einer auf der Brust kniet, und man vom eigenen Angstgebrüll aufwacht. 

Doch sie war wach, spürte seine Klaue in ihrem Fleisch und hörte ihren eigenen Schrei. Das Geäst um sie herum prasselte und sie stürzten zusammen auf den Boden.

Melly registrierte noch den Schmerz des Sturzes, als sie spürte, wie er ihren Mantel vorne aufriss und sich seine Pranken in ihre Brüste vergruben. Das T-Shirt zerriss, und auf der Haut fühlte sie seine Krallen und das heiße, feuchte Fleisch seiner allgegenwärtigen Hände.

Wild schlug sie mit den Armen um sich. Die Angst war mit einem Mal weggewischt und einer wilden, mächtigen Wut gewichen. Sie presste ihre Schenkel fest aneinander. Unter ihren Hieben wichen seine Hände von ihren Brüsten, sie hörte, wie die Schläge trafen, mitten in das schwarze, riesengroße Gesicht des Mannes über ihr.

Dann aber stürzte er schwer auf sie, mit der ganzen Last seines Körpers. Er drosch ihr den Atem aus der Brust. Sie spürte seine Fäuste an ihrer Schulter, fühlte ihren Oberkörper hochgehoben und mehrfach auf den Boden geschmettert. Melly rang nach Luft, unfähig, sich weiter zur Wehr zu setzen. Knallend fuhr eine Faust in ihr Gesicht.

Ihr wurde schwindelig und sie erbrach sich, kotzte diesem schwarzen, gewalttätigen Phantomgesicht mit einem stinkenden Strahl alles entgegen, was sie an diesem Faschingsabend gegessen und getrunken hatte. Das Ausgespiene troff warm auf ihre nackten Brüste zurück. Mit einem schmatzenden, sabbernden Geräusch machte er sich über ihre Hose her, riss und zerrte an dem Bund, bis der Reißverschluss, ohnehin gespannt, nachgab und auflief.

Sie schrie, schrie, schrie. Es hörte nicht auf. Seine übermächtigen Hände fetzten ihr die Kleider herunter. Sie schloss fest ihre Schenkel und schrie. Irgendjemand musste sie doch hören. Irgendeiner musste wach sein, diesen Hilfeschrei registrieren und die Polizei rufen. Die Straße war doch gerade da drüben!

Der Mann kniete bei ihr, dann erhob er sich langsam und stand vor ihr, eine dunkle und kalte und mächtige Masse, die mit dem Himmel zu verschmelzen schien. Sie rang nach Atem. Ihr Schrei erstickte. Ein Tritt in die Rippen warf sie zur Seite. Im Rücken spürte Melly die Stacheln der Sträucher und die abgebrochenen Aste.

Der Mann hatte keinen Ton von sich gegeben. Auch jetzt schwieg er. Melly hörte nur seinen Atem.

Sie spürte, wie er sich langsam herunterbeugte und sich ihren nackten Schenkeln näherte. Seine Hand legte sich fast behutsam in ihren Schoß – und dann riss er ihr die Beine mit einer gewaltigen Bewegung auseinander, stürzte sich auf sie und sie spürte nur noch, wie er in sie eindrang, obwohl sie sicher war, dass niemals ein Mann in ihren vor Angst und Entsetzen verkrampften Unterkörper würde eindringen können.

 

*

 

Melly hatte sich aufgerappelt und trat aus den Büschen. Die Lichter im Park erloschen gerade. Sie registrierte den Vorgang ohne Angst. Melly schloss ihre Hose, musste sie noch einmal öffnen, um die vollständig zerfetzte Strumpfhose notdürftig zurechtzuziehen. Sie hustete. In der Dunkelheit tastete sie nach ihrem Mantel, den sie als Bündel seitlich im Gebüsch fand. Alle Knöpfe waren abgerissen. Sie wickelte sich in den Stoff und hielt den Kragen zu.

Ein Schüttelfrost züngelte über ihren Körper. Sie roch den Gestank ihres Erbrochenen, gemischt mit dem Moder der Büsche und dem Sperma, das sie überall an sich kleben glaubte. Sie würgte wieder. Dann ging sie auf die Knie, um tastend nach ihrer Tasche zu suchen.

Seitlich am Rand des Weges berührten ihre Hände das Leder. Gierig holte sie ein neues Päckchen Zigaretten hervor, zündete eine an und inhalierte tief den Rauch, bis ihr ein Glitzern durch den Kopf kroch. Doch wenige Augenblicke später, sie stand immer noch an derselben Stelle im Dunkeln, packte sie wieder dieser unwiderstehliche Schüttelfrost, der tief aus ihrem Innern hervorbrach, und nun erst trieb es ihr die Tränen ins Gesicht, sie weinte laut und ohne Beherrschung.

Weit entfernt hörte sie eine Sirene. Polizeifahrzeuge im Einsatz. Wenn mich einer gehört hat und sie finden mich so … schoss es ihr durch den Kopf. Nicht so, so wie jetzt, stinkend, verkotzt, verheult, geschüttelt von Ekel, nur so nicht, nur nicht jetzt!

Sie begann zu rennen. Knickte mit ihren Stöckelschuhen um, zog sie aus, rannte weiter, den kalten Asphalt unter den Füssen nicht spürend.

 

*

 

Die Tür wurde aufgerissen. Bärlach stellte das Radio sofort ab. Er zog die BILD-Zeitung an sich. Brunner machte ein aufmerksames Gesicht. Ein Mann von etwa Mitte zwanzig in Jeans und Ski-Anorak kam zum Tresen gestürzt. Brunner bewunderte ein frisch angelaufenes blaues Auge bei dem Mann und Kratzspuren auf der Stirn.

»Bereitschaftswache?«, fragte der Mann.

Die Polizisten nickten.

»Ich muss eine Anzeige machen.«

Brunner griff nach dem Formblatt und fragte, worum es denn gehe.

»Ein Spanner«, sagte der Mann außer Atem. »Diese Drecksau! Aber ich hab ihn erkannt und wenn ich ihn wiederseh’ …« Er schüttelte die Faust.

»Immer langsam, woll«, sagte Brunner. Er kam aus dem Münsterland und hatte die Ruhe weg. »Eins nach dem anderen. Sie heißen, Sie wohnen?«, begann er lakonisch die Personalien des erregten Mannes aufzunehmen.

»Ich bin Alex Ross«, sagte der Anzeigeerstatter und nannte seine Anschrift.

»Wos war?«, Bärlach, der beiläufig zugehört hatte, ließ die BILD-Zeitung sinken.

»Also«, begann der junge Mann, »ich bin verlobt.«

»Schön«, sagte Brunner und Ross schaute irritiert.

»Und meine Verlobte, Fräulein Schneider, und ich, wir wollten uns einen hübschen Abend machen, weil doch heute Mittag überall schon frei war und kein Dienst.«

»Gut.«

»Wir haben ein wenig Musik angemacht, solche, die uns gefällt, und meine Verlobte hat was gekocht.«

»Was?«, fragte Bärlach dazwischen, ohne von seinem Kreuzworträtsel aufzusehen, mit dem er begonnen hatte.

»Tut doch nichts zur Sache, aber wenn Sie’s unbedingt wollen … Schnitzel, paniert, und Salat mit italienischem Dressing.«

»Mit was?«

»Italienischem Dressing.«

»Gut, und weiter?«, fragte Brunner.

»Wir haben gegessen, fein gedeckt der Tisch und mit ’nem Gläschen Prosecco, Sie wissen ja.

---ENDE DER LESEPROBE---