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Gretchen, die kleine Tochter von Käthe Lauer, erkrankt nach einem Zeckenbiss an Meningitis, der Zustand des Mädchens verschlechtert sich rapide. Käthe ist verzweifelt. Sie hört, dass es ein neues Medikament geben soll, das Gretchen helfen könnte, doch es ist noch nicht auf dem Markt. Es läuft aber schon eine Versuchsserie in einer Klinik. Dort lehnen die Ärzte es ab, dem Mädchen zu helfen, weil Gretchen nicht in das Forschungsprofil passt. Käthe beginnt, um das Leben ihrer Tochter zu kämpfen. Sie setzt alle Mittel ein, um an das Medikament zu gelangen, auch juristische. Abel vertritt sie, doch seine Bemühungen scheinen fehlzuschlagen. Käthe hingegen lässt sich nicht abspeisen. Sie wird dieses Medikament für Gretchen besorgen, auf welchem Weg auch immer. - Abel muss versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Der Roman wurde 1988 mit Uwe Ochsenknecht als Abel von der ARD verfilmt.
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Fred Breinersdorfer
Notwehr
Ein Fall für Abel
Ein Kriminalroman
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Christian Dörge mit Bärenklau Exklusiv, 2023
Korrektorat: Bärenklau Exklusiv
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die Handlungen dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Notwehr
Mittwoch, 12. September
Donnerstag, 13. September
Freitag, 14. September
Samstag, 15. September
Nachwort
Der Autor Fred Breinersdorfer
Folgende Romane des Autors Fred Breinersdorfer sind ebenfalls erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung
Gretchen, die kleine Tochter von Käthe Lauer, erkrankt nach einem Zeckenbiss an Meningitis, der Zustand des Mädchens verschlechtert sich rapide. Käthe ist verzweifelt. Sie hört, dass es ein neues Medikament geben soll, das Gretchen helfen könnte, doch es ist noch nicht auf dem Markt. Es läuft aber schon eine Versuchsserie in einer Klinik. Dort lehnen die Ärzte es ab, dem Mädchen zu helfen, weil Gretchen nicht in das Forschungsprofil passt. Käthe beginnt, um das Leben ihrer Tochter zu kämpfen. Sie setzt alle Mittel ein, um an das Medikament zu gelangen, auch juristische. Abel vertritt sie, doch seine Bemühungen scheinen fehlzuschlagen. Käthe hingegen lässt sich nicht abspeisen. Sie wird dieses Medikament für Gretchen besorgen, auf welchem Weg auch immer. – Abel muss versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
Der Roman wurde 1988 mit Uwe Ochsenknecht als Abel von der ARD verfilmt.
*
Fred Breinersdorfer ist einer der renommiertesten deutschen Krimi- und Drehbuchautoren. Der Berliner Anwalt schuf die Abel-Reihe im ZDF, basierend auf seinen Romanen, die nun in digitaler Form vorliegen. Sie sind Klassiker des modernen deutschen Krimis. Er schrieb für die ARD über fünfzehn Tatort-Drehbücher.
***
Ein Fall für Abel
Käthe pendelte nervös auf dem Flur der Kinderklinik hin und her. Ein Doktor lehnte im Türrahmen, der Kittel, offen, hing ihm von den schmächtigen Schultern. Er rauchte. Das geht schon lange so, so mager wie er ist, dachte Käthe. Das Arztgesicht wirkte wie eine braune Zitrone. Sonnenbank. Der Doktor sagte hinter sich in den Flur hinein, dass er noch rüber in die Gynäkologie müsse. Risikogeburt. Aus dem Flur kam keine Antwort zurück. Der Doktor zog seinen Kittel über der Hühnerbrust zusammen, steckte die Kippe in ein Sandbecken und ging zu der Risikogeburt.
Mein Gott, wie stolz sie gewesen war in dem Moment, als Gretchen ihren Körper verlassen hatte, ein eigenes Leben begann, als sie Gretchen geboren hatte. Sie wusste von Berufs wegen, dass das mit den Hormonen zusammenhängt, die der weibliche Körper bei Geburt eines Kindes ausschüttet. Trotzdem, welch ein Gefühl! Nebenan, hinter einem Plastikparavent, hatte eine Ausländerin in den Wehen gelegen und gebrüllt wie eine Kuh beim Kalben. Käthe hatte die Frau nie gesehen. Gesehen vielleicht, aber nicht erkannt. Jedenfalls waren die Schreie und das Stöhnen im Gedächtnis geblieben, immer unsynchron mit den eigenen Wehen, die sie gehabt hatte. Und Käthe war es trotz der unerträglichen Schmerzen peinlich gewesen, selbst lauter zu stöhnen, als notwendig in den Presswehen. Waren das Scheißschmerzen gewesen! Aber kaum, dass Gretchen draußen war, ist es schlagartig besser geworden. Wahrscheinlich sind es außer den Hormonen die Restinstinkte der Natur, die den Frauen erlauben, trotz einer fast übermenschlichen Anstrengung voll da zu sein, wenn das Kind geboren ist, damit man mit dem Baby fliehen kann, schnell weg, falls was passiert.
»Kommen Sie jetzt, Frau Lauer?« Eine weibliche Stimme.
Käthe zuckte herum und nahm ihre Handtasche fester über die Schulter. Das war so eine Bewegung, die einfach saß. Ihre Hände schwitzten, ihre Achseln schwitzten, und sie hastete hinter der Krankenschwester her in den Untersuchungsraum. Auf der Liege hatte sich ihre kleine Tochter Margarete, die sie Gretchen nannte, wie ein Bogen ausgestreckt. Ihr Kopf war weit in den Nacken gebogen, der winzige Körper seltsam starr. Glücklicherweise hatte Gretchen die Augen geschlossen. Aber über den Wangen lag ein leichter roter Hauch. Fieber! Der Mund war etwas offen und die Zunge, die sonst nie Stillstand, lag regungslos und trocken zwischen den Lippen.
Käthe rupfte nervös an einem Taschentuch und schaute sich um. Von der Wand grinsten Kaspergesichter, die kranke Kinder auf der Station gemalt hatten. Die Tür fiel zu. Sie war mit ihrem Kind und einem Arzt allein. Wie gut sie das alles kannte, den Geruch, die Geräte, die Floskeln. Käthe war selbst vom Fach. Krankenschwester. Sie kannte die Symptome aus der Grundausbildung. Trotzdem wollte sie die Diagnose von dem jungen Arzt hören, sozusagen amtlich.
»Meningitis, Sie wissen …«, sagte der Doktor.
Käthe nickte.
Der Arzt referierte: »Meningitis ist eine schwere entzündliche Erkrankung der Hirn- und Rückenmarkshäute. Ihre Erreger, fast immer Bakterien, werden auf verschiedenste Art übertragen. Wir haben das Rückenmark von Gretchen punktieren müssen, um Liquor zu entnehmen, damit wir den Erreger bestimmen konnten. Wahrscheinlich wurde er in diesem Fall durch den Biss einer Zecke übertragen. Tückische, kleine Blutsauger, die an Blättern von Bäumen und Büschen hängen und sich auf Mensch und Tier herunterfallen lassen, um deren Blut zu saugen. Dabei gelangen die Bakterien in die Blutbahn.«
Es gab keinen Grund ihn zu unterbrechen, obwohl sie das alles schon hundert Mal in ihrem Kopf durchgespielt hatte – nur mit anderen Worten – seit sie vor fünf Tagen morgens in Gretchens Bett eine mit Blut vollgesogene, mehr als erbsengroße Zecke gefunden hatte. Sie lag mit prallem Hinterleib auf dem Kopfkissen. Zuerst hatte sie mit dem ekligen Ding nichts anzufangen gewusst, bis ihr bei näherem Hinsehen aufgefallen war, dass sich vorne an dieser sonderbaren Erbse winzige, schwarze Beinchen bewegten. Angewidert hatte sie das Ungeziefer mit dem Taschentuch genommen und im Klo hinuntergespült. An eine akute Gefahr hatte sie nicht gedacht, obwohl seit Jahren Warnplakate in der Klinik hingen, wo sie arbeitete. Man gewöhnt sich an Warnungen. Und sie war in Eile gewesen. Sie war spät dran. Aber nun musste sie mit ihrem Versagen fertigwerden. Ausgerechnet ihr hätte das nicht passieren dürfen.
*
Der Doktor sah Käthe Lauer an, zögerte und sagte dann, dass man nicht wisse, wie man diese Hirnhautinfektion in den Griff bekommen sollte. Er saß auf einem Schemel neben der Untersuchungsliege, die Knie gespreizt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. Er war müde, das konnte ihr geübtes Auge erkennen. Immerhin war es mitten in der Nacht, und er hatte heute schon operiert, Visite gemacht, endlos mit Eltern geredet, getröstet, aufgeklärt, ermuntert. Vielleicht hatte er ebenfalls Kinder zu Hause. Die lagen im Bett und hatten schlimmstenfalls einen unruhigen Schlaf. Gretchen bewegte sich nicht, lag starr.
»Warum gibt man ihr denn nicht Penicillin?«
»Ein virulenter Verlauf.«
»Wie?«
»Ungewöhnlich virulent«, sagte der Arzt und stieß sich mit den Ellbogen von den Oberschenkeln ab. Er erhob sich vom Hocker und faltete sich zu voller Größe auf. Ein langer Mensch. Er hatte junge, blaue Augen, die Melancholie ausstrahlten. »Dass sie Penicillin in hohen Dosen bekommt, habe ich sofort verordnet. Routine«, sagte er und bekreuzigte sich. Dass er ein Kreuz schlug, fiel Käthe auf, weil sie in ihrer Klinik noch nie einen Arzt gesehen hatte, der seine Religiosität zeigte, wenn überhaupt einer religiös war.
»Das muss doch anschlagen, das Penicillin«, sagte Käthe, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie streichelte Gretchen übers Haar. Normalerweise, wenn sie schlafen würde, ja, wenn's bloß eine verzerrte Haltung im Tiefschlaf wäre, wie der Kopf so im Nacken hing, dann hätte das Kind sich bewegt, irgendwie reagiert, vielleicht die Lider aufgeschlagen und sie leer angesehen, sich umgedreht und das Kinn vorn auf die Brust fallen lassen, sich eingerollt und weitergeschlafen. Doch Gretchen lag da, verbogen, steif, und der Kopf wollte nicht mehr vor. Die Muskeln in dem kleinen Körper waren angespannt. Gretchens Haut brannte heiß in der Hand ihrer Mutter. Hohes Fieber.
»Wie viel?«, fragte sie den Arzt und sah ihm ins Gesicht.
»Temperatur?«
»Ja.«
»Vierzig acht.«
»Vierzig acht! Aber Kinder haben ja auch schnell eine hohe Temperatur, das geht genauso schnell wieder zurück!«, sagte sie verzweifelt.
»Ja, ja«, antwortete der Arzt, »im Normalfall schon. Wo arbeiten Sie?« Er wusste, dass Käthe Krankenschwester war.
»In der Geriatrie. Wenig Leute, ewige Hetzerei. Und die Alten sind oft unerträglich.«
»Soso, praktisch in der Gegenwelt.« Er verzog die Lippen zu einem geschwungenen Lächeln und zeigte dabei die Zähne. »Und in welchem Haus?«
Käthe nannte den Namen der Krankenanstalt, in der sie als Schwester arbeitete.
»Auch ein Mistladen«, bemerkte der Arzt. Sein Gesicht war wieder ernst. »Jesses, hier ist auch ewig Hetzerei. Wir können ja nicht hexen. Jesses«, sagte der Arzt wieder und schlug ein Kreuz. Aber wenn das Penicillin wirke, dann, okay, dann sei alles paletti. Und man habe gleich ein Breitspektrum genommen. So was wirke. Normalerweise.
»Normalerweise«, wiederholte Käthe. Wie oft hatte sie das selbst schon zu den Patienten und Angehörigen gesagt. Aber in der Geriatrie war »normal« etwas anderes.
»Normal ist normal, wenn ich's sage.« Der Arzt gähnte und beugte sich vor, stützte die Arme wieder auf und sah zu dem verbogenen, überspannten Kinderleib hinüber. »Ein virulenter Verlauf kann vorkommen«, er zeigte wieder seine Zähne, »muss nichts heißen, reden wir deswegen nicht drüber.«
Käthe wusste, was das bedeutete, eine Gehirnhautentzündung bei einem Kind von vier Jahren. Schlimm auf alle Fälle! Wenn sie die Sache nicht in den Griff bekamen, konnte es Schäden geben, die man ein Leben lang nicht mehr wegbekam.
»Ein behindertes Kind ist nicht einfach«, sagte Käthe. Man sah ihr die Angst an. Deshalb sagte der Arzt in burschikosem Ton: »Noch isses nix.«
»Und wenn …?«, fragte sie nach einer Pause und sah dem Mann ins Gesicht. Die blauen Augen des Doktors wichen ihr aus. »Ab wann treten Hirnschäden auf?«, wiederholte sie. »Sie brauchen mir nichts vorzumachen.«
»Kann keiner sagen. Lassen Sie das Penicillin erst mal wirken. Morgen früh kommen Sie gegen acht wieder vorbei. Die Schwester bringt Gretchen gleich auf Station.« Der Arzt erhob sich, winkte mit der Hand und verließ leise den Raum.
Natürlich ging Käthe nicht. Sie nahm den Tragriemen ihrer Tasche von der Schulter und setzte sich auf den Schemel, der noch warm war, unmittelbar neben der Untersuchungsliege und sie betrachtete den Körper und das Gesicht mit dem rötlichen Fieberschatten.
So begann ihre Nacht.
*
Unterdessen war der Rechtsanwalt Jean Abel aus München zu Hause angelangt. Er kam gerade aus dem Urlaub. Unten im Süden war er gewesen. Aber jetzt war leider Schluss damit. Die Arbeit rief.
Er warf die Tür seines Wagens zu und ging die drei Stufen in seine Kanzlei hinauf. Den Hörer zwischen Schulter und Ohr wühlte er mit der Linken in einem Aktenstoß, den ihm Jane Münster, seine Anwaltsgehilfin, säuberlich neben den vielen anderen aufgetürmt hatte, damit der Meister bei der Bearbeitung die Übersicht nicht verliere. Nun suchte er die Übersicht. Dort, ja, das war's. Er zerrte die schmale Akte heraus, blätterte, fand die Telefonnummer, wählte und hörte das Freizeichen. Sein Blick wanderte zu der noch offenen Kanzleitür hinaus. Im weichen Licht der Laterne wirkte der Straßenasphalt gelblich. Ein Kater ging vorbei, den Schwanz stolz in die Höhe gestreckt. Sein langer Schatten folgte ihm und wanderte über die Schwelle. Abels Hund Paul Schmitz bellte aus dem Auto herüber.
Es knackte in der Leitung. Eine Männerstimme sagte: »Waldmüller hier.«
»Abel.«
»Endlich«, man konnte die Erleichterung des Mannes hören als er ausatmete. »Ich war schon drauf und dran, beim Notdienst anzurufen.«
»Der ist nur für Strafsachen«, sagte Abel nüchtern. Der Hund bellte weiter. Der Kater war nicht mehr zu sehen.
»Kann ich vorbeikommen?«, fragte die Männerstimme.
Abel nickte und antwortete: »Wenn Sie sich nicht an der Unordnung auf dem Schreibtisch stören.« Waldmüllers Probleme waren anderer Natur. Abel legte auf und ging den Hund und den Koffer holen.
»Jetzt ist Schluss mit dem Schlendrian und dem Rumgetreibe«, sagte er zu Paul Schmitz, scheuchte ihn auf die Straße und lächelte in sich hinein. Der Hund ging zur Wand und hob sein Bein, und sein Herr schaffte das Gepäck in die Küche. Er öffnete die Tür, damit der Mief von anderthalb Wochen rausziehen konnte. Hinter der ehemaligen Papierhandlung, wo Abels Kanzlei untergebracht war, breitete sich ein wild zugewachsener Hof aus, Brutstätte für Stechmücken und Oase mitten in Lehel. Abel schnüffelte ein wenig Hinterhofluft, hörte, wie ein Paar lautstark auf einem Balkon stritt, den man halb einsehen konnte. Abel ging in die Kanzlei zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch. Die Deckenbeleuchtung war an. Ein helles, warmes Licht strömte aus den Strahlern.
Jetzt hatte jeder sein Büro, Abel und Jane. Sie hatten renoviert, Tapeten geklebt, gegipst und gestrichen. Jetzt roch es frisch. Früher hatten sie in einem Raum zusammengesessen, das war unangenehm für die Mandanten, wenn sie über intime Dinge reden mussten. Intim kann bei einem Anwalt auch der Grund für einen Meineid oder fortgesetzte Schwarzfahrerei sein. Einen Teppichboden gab es jetzt auch. Nur der Besucherstuhl und der Schreibtisch waren die alten geblieben und wirkten nun ein wenig deplatziert, abgeschabt, zwar noch nicht popelig, aber das würde noch kommen. An der Wand hing eines der blau-weißen abstrakten Bilder, die bis vor Kurzem noch fast jede Wand in der Kanzlei geziert hatten. Der Maler war einer von Abels Freunden, der bei ihm in der Kanzlei Bilder auslagerte. Jetzt hatte sie der Maler wieder abgeholt. Er machte schon seit Langem auf Yves Klein, bloß dass er zum Blau noch Weiß tat. Jetzt hatte er es geschafft, dass auch andere seine Verwandtschaft mit dem Franzosen entdeckt hatten. Heute gingen die Bilder gut. Also war für Abel nur das Dankbarkeitsexemplar geblieben, das er liebte, weil er immer andere neue Formen darin erkannte, wenn er beim Nachdenken darauf starrte. Nun schien ihm das Gemälde mit seinem neuen schmalen, silberfarbenen Rahmen richtig kostbar. Abel hatte im Urlaub Bilder von eben jenem Yves Klein in Nizza gesehen. Jetzt weiß man, was man zu Hause hat, dachte er und blätterte in dem Aktenstück, um den letzten Brief zu lesen, der in der Sache Waldmüller contra Quast GmbH & Co. eingegangen war. Dann starrte er wieder auf das Bild hinüber.
Waldmüller hatte ihn mit drei Anrufen aufgescheucht und von der überfüllten Côte zurück nach München gejagt. Abel hatte während der Fahrt vor sich hin gegrübelt. War er denn der Lakai? Brach seinen Urlaub ab. Weiß der Himmel, wie lange es her war, seit er zum letzten Mal im Urlaub war. Und nach zehn Tagen diese drei Anrufe! Abel hatte seine Klamotten in den Koffer geworfen, den Hund ins Auto gelockt, die Frau geküsst, die sein Zimmer geteilt hatte, und war weggefahren. Genua, Mailand, Brenner. Zurück zur Arbeit. Home, home, sweet home. Er lachte. Wehe dem Waldmüller, wenn er ihn nur zum Spaß im Urlaub aufgescheucht hatte! Dann würde er ihm eine Rechnung schreiben, dass ihm die Augen tränten. Soweit, so gut. War’s aber nicht gerade die Aussicht darauf, Waldmüller zur gegebenen Zeit, wenn der Fall glücklich zu Ende gebracht worden war, wirklich eine satte Rechnung schreiben zu können, die ihn seinen Urlaub hatte abbrechen lassen? War es nicht die Gewissheit, dass einer wie Waldmüller so eine Rechnung auch bezahlen konnte? Abels Klientel bestand nicht aus Geschäftsleuten wie Waldmüller, sondern aus Studenten, einfachen Leuten, armen Schluckern und kleinen Kriminellen. Die Renovierung hatte einen Batzen Geld verschlungen. Da kam ein solcher Fall wie Waldmüller gegen Quast & Co. wie gerufen. Trotzdem fühlte sich Abel ein wenig käuflich. Waldmüller winkte mit dem Scheckbuch, und Abel sprang. Das war normalerweise nicht so bei ihm. Und wenn er sprang, dann weil’s nötig war und nicht wegen des Geldes.
Es klopfte. Waldmüller trat ein. »Gut sehen Sie aus«, sagte er zu Abel.
»Danke.« Abel zeigte ihm den Sessel und lehnte sich zurück. Der Mandant setzte sich und legte sein Lederköfferchen auf die Knie. Waldmüller war ein schmaler Mann, elegant gekleidet, und trug sogar nachts noch einen Schlips zum Zweireiher. Wenn er sprach, hatte seine Stimme einen hellen, heiseren Klang.
Ein blau-weißer Schatten huschte über die Fenster. Ein Streifenwagen war vorbeigeglitten. Das Horn brauchte er nicht, weil niemand auf der Straße war.
Waldmüller sah sich um, dann wandte er sich zurück zu Abel. Er sprach mit seiner merkwürdig hohen Stimme. »Die gehen über die Wupper«, sagte er.
Abel machte die Geste der römischen Kaiser, wenn ein Gladiator im Zirkus das Leben verlieren sollte. Daumen nach unten.
»Insolvenz?«
»Scheiße, ja«, sagte Waldmüller und schüttelte sich.
»Ist das sicher?«, fragte Abel, und als Waldmüller nickte, erkundigte sich der Anwalt nach der Quelle der Information.
»Der Prokurist. Er hat einen Freund, und dem hat er gesagt, dass sie morgen um neun Gesellschafterversammlung haben, da wird man entscheiden, ob man sofort zum Konkursrichter geht.« Mit einer kurzen Geste streckte Waldmüller den Arm vor und schaute auf die silbrig schimmernde Sportuhr mit römischen Ziffern. Die Uhr sah nicht aus, als wäre sie eine Imitation. Waldmüller hatte die Zeitanzeige nicht wahrgenommen. Es war nur so eine Angewohnheit. Abel zog seine Hemdmanschette ein wenig nach vorne, aber nicht, weil er sich für die alte Uhr schämte, die er am Handgelenk trug, sie tat ihren Dienst, wenn man sie alle paar Tage nachstellte, aber Uhren waren heute nicht nur zum Zeitmessen da.
Unterdessen sprach Waldmüller über die Bilanzverluste, die durch fehlerhafte Abgrenzungen entstehen könnten. Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab, wo im Falle der Firma Quast die Verluste hergekommen sein könnten.
Abel interessierte das nicht. Nur, dass Insolvenz drohte, war wichtig. Er sagte: »Und als Sie die Maschine geliefert haben, haben Sie nichts geahnt?«
»Exakt! Sonst wär ich …«
»Ja, ja.« Abel wollte die Verträge und Lieferscheine sehen. Waldmüller packte aus. Sein bordeauxroter Koffer riss das Maul auf und gab die Papiere frei. Es roch für einen kurzen Augenblick nach Leder. Abel sagte: »Mal sehen, wie wir an die Maschine rankommen.« An Geld wagte in einer wirtschaftlichen Situation wie dieser keiner zu glauben. Man musste den Eigentumsvorbehalt an der Maschine geltend machen.
Abel begann die Dokumente zu lesen, und Waldmüller klopfte sich einen Zigarillo zurecht, schlug die Beine übereinander und ließ den Blick in der Kanzlei umherschweifen. Er begann zu rauchen, ohne Abel zu fragen.
*
Sie hatten Gretchen für die Nacht fertig gemacht, es nicht gewaschen, aber ihm eines von den Krankenhausnachthemden übergestreift. Zur Kreislaufkontrolle war Gretchen an einen Monitor angeschlossen. Sie schlief jetzt, gegessen hatte sie nichts, nur apathisch alles mit sich geschehen lassen. Der kleine Körper lag nun auf der Seite, die Bogenspannung hielt an. Natürlich konnte jetzt noch keine Wirkung der Medikamente festgestellt werden.
Käthe saß auf einem hölzernen Besucherstuhl und blätterte in zerlesenen Zeitschriften, die uralt waren, deren Inhalt vergessen und verjährt war. Wie schnell die Zeit oft wegflutschte, dachte sie. Und wenn dem Kind was passierte? Was dann? Vier Jahre hatte Käthe ihr Gretchen schon gehabt. Wie das Kind jetzt gebogen und fiebrig dalag! Aber es konnte alles wieder normal werden. Alles. Und wenn nicht? Ob die Erinnerung an Gretchen auch mal verjährte? So ein Menschengedächtnis reicht nicht sehr weit. Aber das Herz? Käthe begann, verstohlen zu weinen, verstohlen, obwohl sich niemand in der Nähe befand. Sie sagte sich, dass sie sich zusammennehmen müsse. Was sollte es denn helfen, wenn sie jetzt den Kopf verlor?
Sie musste an Gretchens Vater denken, wie er geschaut hatte, als sie ihm erzählt hatte, dass da was Kleines unterwegs war. Sie hatte es so sachlich zu sagen versucht, wie es bei großer Anstrengung möglich war, in einem Stadtbistro im Glockenbachviertel mit hellem Licht und mäßig besetzten Tischen. Vormittags. Es war eine nüchterne Stunde voller ängstlicher Nervosität. Einer anderen Nervosität als jetzt. Ja, ich bin schwanger, hatte sie gesagt, und dann gleich darauf, dass sie jetzt mit dem Rauchen aufhören würde. Nicht nur, weil's der Arzt geraten hatte, sondern auch dem Kind zuliebe.
»Von wem?«, hatte er gefragt. Sofort kamen ihr Zweifel.
»Von dir«. Ein langer Blick, den Käthe aushielt. Knut Singer wusste, dass Käthe keine Frau war, die sich mit einem anderen Mann einlässt, wenn sie verliebt ist. Nicht, dass er von ihr weggerückt wäre oder dass er ihr vorgeworfen hätte, dass sie, Krankenschwester zumal, unfähig gewesen war, gegen so einen Fall Vorsorge zu treffen. Aber sie hatte es seinen Augen angesehen, wie er im Kopf schnell durchkalkuliert hatte, wie er am besten aus dieser Sache herauskommen könnte, und was bestenfalls und schlechtestenfalls die Folgen wären. Knut war gut im Rechnen, das hatte Käthe immer an ihm gefallen. Ein nüchterner Mann, Prüfingenieur für Aufzuganlagen beim TÜV Bayern. Als er fertig war und die Resultate bewertet hatte, sagte er: »Ich zahle die Abtreibung. Geh in eine gute Klinik. Egal was es kostet, ich zahl's.«
»Nein«, hatte sie urplötzlich geantwortet, spontan und ohne noch einmal gründlich nachzudenken, obwohl sie schon einen Termin gehabt hatte, um das Kind abtreiben zu lassen. »Nein, ich behalte es.«
»Und ich finanzier's dann?« Es war eine Knut-Singer-Frage gewesen. »So kann man doch nicht entscheiden!«
»Doch«, hatte Käthe aus Trotz geantwortet.
Der Kellner war gekommen und hatte gefragt, ob man noch was trinken wolle. »Nein«, hatten sie beide abgewunken. So hatten sie eine Zeit lang dagesessen, hatten hinausgestarrt durch die klar geputzten Scheiben auf den grauen Straßenverkehr, das ständige Aneinandervorbeihasten, und Käthe hatte geglaubt, dass alles geklärt wäre. Dabei hatte sie sich über sich selbst gewundert, dass sie den unwiderruflichen Entschluss gefasst hatte, dass das Kind bleiben solle. Sie war im Sternbild des Widders geboren worden, und man wusste ja, dass Widder ihre Entschlüsse durchbrachten. Sie sah Knut in die Augen. Er wich ihr nicht aus.
»Überlege es dir, dein ganzes Leben ist verpfuscht.«
»Mein Leben?«
»Ja.«
Klarer konnte ein Mann in einer solchen Situation nicht zum Ausdruck bringen, dass er außer Alimente keine Verantwortung für ein Kind übernehmen würde.
So war die Existenz Gretchen, als sie noch äußerst zerbrechlich gewesen war, beschlossene Sache.
Singer hatte später noch auf sie eingeredet. Natürlich hatte das keinen Zweck mehr gehabt. Sie hatte dann so getan, als müsse sie mal raus aufs Klo, hatte aber beim Kellner die Frühstücksrechnung beglichen. Für beide. Dann war sie ohne Gruß hinaus auf die Straße gegangen. Und Knut hatte es noch nicht einmal bemerkt, weil er am Zigarettenautomat stand und in der Hosentasche nach Kleingeld suchte.
Käthe hatte nicht mit dem Rauchen aufgehört. Sie hatte Singer noch einige wenige Male getroffen. Förmliche Termine mit förmlichen Fragen nach dem Wohlbefinden beider. Mutter und Kind. Die Zahlungen nach der Geburt kamen pünktlich. Und zu jedem Geburtstag Spielsachen und eine Karte von Singers Mutter.
*
Käthe verließ Gretchens Zimmer und trat auf den Balkon am Flurende hinaus. Sie blickte über die nächtlich ruhige Straße und die kurze Schlange mit Taxis vor dem Haupteingang. Die Zigarette tat ihr jetzt gut, besänftigte ein wenig die Angst. Im blauen Nachthimmel flackerte der Mond zwischen den dahinziehenden Wolkenrudeln. In den Ästen der Pappeln im Krankenhauspark wühlte der warme Südwestwind. Es rauschte und wehte überall. Die Glut an der Spitze ihrer Zigarette funkelte hellrot. Hinter sich hörte sie ein Kind schreien und wimmern. Obwohl sie wusste, dass es nicht Gretchen sein konnte, schnippte sie die Kippe über das Balkongeländer und eilte zurück.
*
Abel erläuterte dem Mandanten Waldmüller die Rechtslage: Die Maschine sei so lange Waldmüllers Eigentum, bis der Kaufpreis vollständig bezahlt worden wäre. Definitiv.
»Weiß ich«, knurrte Waldmüller dazwischen. »Dafür braucht man keinen Anwalt.«
»Bloß kann man mit seinem Eigentum in so einem Fall nicht so verfahren, wie man will«, fuhr Abel ungerührt fort, »der Käufer hat ein Recht zum Besitz und zur Benutzung …«
»… wenn er zahlt.«
»Ja«, antwortet Abel, »aber zahlen muss man erst bei Fälligkeit. Und im Augenblick ist nichts fällig. Das ist der Casus!«
»Und meine Maschine bin ich los?«, fragte Waldmüller. Man konnte Panik in seiner Stimme hören. »Wenn erst der Konkursverwalter seine Geierkrallen in die Firma schlägt, ist es aus.« Rolf Waldmüller rückte seine Seidenkrawatte zurecht und ließ sie durch die Finger laufen.
»Nein«, sagte Abel. Er erklärte, dass der Eigentumsvorbehalt auch gegenüber dem Konkursverwalter gelte. Der müsse respektieren, dass die Maschine noch nicht bezahlt sei, und müsse sie rausgeben.
»Wie lange dauert so was?«
»Ist fraglich.«
»Ich sag Ihnen was«, begann nun Waldmüller. Er stützte sich mit dem Unterarm auf den Schreibtisch und sein Gesicht kam vor. Mit der linken Hand hielt er sein Köfferchen fest. Das Gesicht wirkte nun noch schmaler, passend zu der Stimme, die ein wenig schrill klang. Abel konnte riechen, dass der Mann eine leichte Fahne hatte. Alkohol und Knoblauch. Abel holte eine Flasche Weinbrand aus dem Schreibtisch und zwei Gläser aus der Küche, während Waldmüller sprach.
»Meine Lage ist die, Herr Abel«, rief Waldmüller, »dass ich auch fertig bin, wenn die Maschine nicht sofort zurückkommt. Fertig. Kaputt. Aus. Verstehen Sie? Diese Maschine hab ich auf eigene Rechnung gekauft, das war eine günstige Gelegenheit. Wert ’ne dreiviertel Million. Da hängt mein ganzes Vermögen drin, und jede Menge Kredite. Jetzt im Moment kann ich sie gerade noch mal an einen anderen Kunden verkaufen, achthundertfünfzig, cash. Ich muss in drei Tagen den Vertrag unterschreiben und sofort liefern. Sonst springt der ab, verstehen Sie? Rohertrag hundert, wenn es klappt. Wenn nicht, bin ich kaputt.«
»Dann gibt s wieder einen Käufer«, warf Abel dazwischen. Er kam mit den Gläsern und schenkte ein. Prosit! Waldmüller trank das Glas auf einen Zug aus. Er atmete tief durch.
»So eine Fertigungsmaschine ist kein gebrauchtes Auto, für das es theoretisch hunderte von Interessenten gibt. Diese Maschinen sind in der ganzen Welt nur für eine Handvoll Käufer interessant, mehr nicht. Die habe ich alle durch. Ein einziger, ein Holländer in Den Haag will kaufen. Aber der hat keine Zeit, stellt gerade seine Produktion um, der entscheidet in exakt drei Tagen, ob er meine gebrauchte Maschine nimmt, oder sich eine neue beim Hersteller holt. Lieferzeit drei Monate. Wenn ich meine Maschine nächste Woche abbauen und liefern kann, zahlt er achthundertfünfzig cash.«
»Die Zeiten sind schlecht, wie steht's mit der Solvenz des Käufers?«
»Kein Problem.«
»Na ja«, sagte Abel und schenkte nach.
Es war oft so, dass sich die Menschen von unverhältnismäßig hohen Gewinnen locken ließen, alles aufs Spiel zu setzen. Klar doch, für eine bescheidene Rendite lohnte kein Risiko, da konnte man Pfandbriefe kaufen. Allein das schnelle Geld lockte. Da war der Glaube an die Solvenz so inbrünstig und unerschütterlich!
»Solvenz, kein Problem«, sagte Waldmüller noch einmal, als müsse er sich in die Tasche lügen. Genau dasselbe wird er gesagt haben, als er mit Freunden das Geschäft mit der Gießerei Quast erörtert hatte, nun musste er sich darum sorgen, dass er seine Maschine nicht schnell genug wieder an die Hand bekam. Wenn nicht, hatte er einen Ladenhüter für viele hunderttausend Euro da stehen, der nur Lagerhaltungskosten produzierte. Ein fein ausgeklügeltes Monstrum aus Stahl und Elektronik, knapp dreißig Tonnen schwer, wie aus dem Lieferschein hervorging, den Abel gerade noch einmal überflog. Dabei tüftelten die Ingenieure bei uns, und die Japaner, Amis und vielleicht sogar die Chinesen schon an der nächsten Generation dieser Art von Maschinen. Auflagen von weniger als dreihundert Stück. Die neuen kamen und die alten waren nur noch ein bizarres, buntes Gebilde aus Stahl und Lack mit Kabeln, Führungsschienen und Greifarmen. Ein Schrotthändler würde ein paar Tausender bieten, weil hochwertiges Material zum Bau verwendet worden war. Die paar Tausender deckten jedoch noch nicht einmal die Zinsen ab, die Waldmüller bei seiner Bank bezahlen musste. Sein eigenes Kapital würde er abschreiben können, wenn die Sache platzte. Zweihundertfünfzigtausend würden fort sein. Und dazu musste er die halbe Million, die er sich gepumpt hatte, an die Bank zurückbezahlen. So wird aus einem wohlhabenden jungen Kaufmann ein schuldenbeladener armer Hund, für den es sich nicht mehr zu arbeiten lohnt! Denn wie will man eine halbe Million je wieder verdienen, wenn man kein Startkapital besitzt? Durch Arbeit geht das kaum.
Waldmüller war durch den Alkohol kaum ruhiger geworden. Er saß Abel gegenüber und starrte vor sich hin, irritiert, weil sein Anwalt den Mund hielt und in einem dicken roten Band mit unzähligen Gesetzen blätterte. Waldmüllers Finger trommelten herum, er räusperte sich und rieb sich mit der Hand die Nasenwurzel. Dann sagte er, dass er zu Abel gekommen war mit seinem Problem, weil Abel ein Anwalt war, der nicht bloß ein großes Maul hat, sondern einer, der auch was anpacken konnte. Waldmüller hatte Abel von einem Freund empfohlen bekommen, dem Abel den Führerschein in einer energisch geführten Verhandlung gerettet hatte.
»Ja, ja«, brummte Abel und nickte. Es tat gut, wenn ein Mandant so was sagte. Das war so ähnlich wie bei Fußballtrainern, deren Mannschaft gewonnen hatte. Abel ließ die Katze aus dem Sack: »Wir probieren's mit einer Einstweiligen Verfügung.«
Waldmüller war skeptisch. »Das dauert«, rief er. Wieder schaute er symbolisch auf seine Armbanduhr. »Die Justiz pennt sich doch immer einen ab.«
»Es kann dauern, muss aber nicht«, sagte Abel und stand auf. »Ganz wie der Richter will. Wenn wir Glück haben, kommen wir an einen, der uns einen Beschluss in einer Stunde macht. Ohne nähere Begründung, nur zur Sicherung Ihrer Rechte, Herr Waldmüller.«
So einen sollte man finden, brummte Waldmüller, als ob man sich auf die Justiz verlassen könnte. Überhaupt und vor allem in so einem Fall. Ein Ausdruck hilfloser Skepsis flog über sein Gesicht.
Abel stand auf und sagte: »Feierabend.«
»Feierabend? Gibt's denn keinen Bereitschaftsdienst oder so was?«
»Doch«, Abel nickte und sortierte im Stehen Waldmüllers Papiere so, wie er sie brauchte. »Aber für uns reicht es, wenn wir morgen ganz früh in der Geschäftsverteilung einen ausgeschlafenen Kollegen bekommen. Sie können sich doch lebhaft vorstellen, wie ein Richter drauf ist, den man wegen einer Maschine aus dem Bett holt. Oder er muss vom Stammtisch weg … es gibt tausende von Möglichkeiten, sich die Chancen zu versauen, Nachtbereitschaft bei der Justiz ist eine davon«, lachte Abel.
Waldmüllers Nervosität war durch diese taktischen Erwägungen eher verstärkt als gemildert worden. Er sprang auf, lief herum und fragte sich, ob er den Holländer für die gebrauchte Maschine schon anrufen und ihm signalisieren sollte, dass alles klar gehe.
»Abwarten.«
Waldmüller fragte Abel nach den Erfolgsaussichten. »So Pi mal Daumen.«
Abel zuckte mit den Schultern und sagte: »So lala.«
»Wann morgen?«
»Um sieben bei mir.« Abel pochte mit dem Knöchel auf seinen Schreibtisch, »dann setzen wir die Antragsschrift gleich auf. Paletti?«
»Und warum setzen wir das nicht sofort auf?«
»Weil ich jetzt erst mal die Rechtsprechung durchsehen muss«, sagte Abel und steckte die Hände in die Taschen, wartend, ob sich der Mandant dazu entschließen würde, die Kanzlei zu verlassen. Die zwei Cognacs rumorten in seinem Magen. Er brauchte was zwischen die Zähne nach fast zehn Stunden Fahrt.