16,99 €
Der einäugige Ernest Herz hat, erschöpft von seinem exzessiven Liebesleben, den Posten des Bibliotheksleiters im Stift W. angenommen und besinnt sich auf seine nicht minder große, andere Leidenschaft – das alte Buch. Die Wohnung, die er im Kloster bezieht, hatte seinem Vorgänger, Pater Mrozek, gehört, der auf eine kuriose Art Selbstmord begangen hat.
Ernest Herz muss feststellen, dass er mit seiner Vision einer zeitgemäßen Bibliothek in der konservativ-klerikalen Gesellschaft des Klosters auf Widerstände stößt, dass mit seinem mitgebrachten Telefunkenradio etwas nicht zu stimmen scheint, weil es nur noch «Radio Gabriel» empfängt, und dass der Selbstmord seines Vorgängers zahlreiche Fragen aufwirft. Eines Tages findet der Bibliothekar in einem Versteck ein Exemplar des mittelalterlichen Beststellers «Dialogus miraculorum». Dem Buch fehlt der Einband, die Neugierde des Bibliothekars ist geweckt, er versucht nun nachdrücklich herauszufinden, was seinen Vorgänger dazu getrieben haben könnte, sich umzubringen. Weiß der junge, verstörend schöne Kellner der Gastwirtschaft «Zum Lamm» unten im Dorf vielleicht mehr?
Skurril, komisch und liebevoll, mit ihrem unnachahmlichen Blick für das schräge Detail, macht Marjana Gaponenko die Welt der Bibliothek zum spannend-abgründigen Schauplatz.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 269
Marjana Gaponenko
DER DORFGESCHEITE
Ein Bibliothekarsroman
C.H.Beck
Der einäugige Ernest Herz hat, erschöpft von seinem exzessiven Liebesleben, den Posten des Bibliotheksleiters im Stift W. angenommen und besinnt sich auf seine nicht minder große andere Leidenschaft – das alte Buch. Die Wohnung, die er im Kloster bezieht, hatte seinem Vorgänger, Herrn Mrozek, gehört, der auf eine kuriose Art Selbstmord begangen hat.
Ernest Herz muss feststellen, dass er mit seiner Vision einer zeitgemäßen Bibliothek in der konservativ-klerikalen Gesellschaft des Klosters auf Widerstände stößt, dass mit seinem mitgebrachten Telefunkenradio etwas nicht zu stimmen scheint, weil es nur noch «Radio Gabriel» empfängt, und dass der Selbstmord seines Vorgängers zahlreiche Fragen aufwirft. Eines Tages findet der Bibliothekar in einem Versteck ein Exemplar des mittelalterlichen Beststellers «Dialogus miraculorum».
Dem Buch fehlt der Einband, die Neugierde des Bibliothekars ist geweckt, er versucht nun nachdrücklich herauszufinden, was seinen Vorgänger dazu getrieben haben könnte, sich umzubringen. Weiß der junge, verstörend schöne Kellner der Gastwirtschaft «Zum Lamm» unten im Dorf vielleicht mehr?
Skurril, komisch und liebevoll, mit ihrem unnachahmlichen Blick für das schräge Detail, macht Marjana Gaponenko die Welt der Bibliothek zum spannend-abgründigen Schauplatz.
Marjana Gaponenko wurde 1981 in Odessa geboren und studierte dort Germanistik. Nach Stationen in Krakau und Dublin lebt sie heute in Mainz und Wien. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch und veröffentlichte u.a. die Romane «Wer ist Martha?» (2012) und «Das letzte Rennen» (2016). Sie wurde mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis, dem österreichischen Literaturpreis Alpha und dem Martha-Saalfeld-Förderpreis ausgezeichnet.
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
XXXVI
XXXVII
XXXVIII
XXXIX
XXXX
XXXXI
Danksagung
Literaturverzeichnis
Franz Maschek, unvergessen
Способность получить высококлассное образование может стать элитарной привилегией, доступной только «посвященным». Произойдет разделение на тех, кто будет уметь читать сложную литературу, и тех, кто читает вывески, кто таким клиповым образом хватает информацию из интернета. Оно будет раздвигаться все больше и больше.
Татьяна Черниговская
Die Fähigkeit, eine erstklassige Bildung zu bekommen, könnte ein elitäres, nur für «Eingeweihte» zugängliches Privileg werden. Es wird zwei Parteien geben: Diejenigen, die komplexe Literatur lesen, und die «clip-thinker», die nur Schilder lesen und Informationen aus dem Internet überfliegen können. Die Kluft dazwischen wird immer größer und größer.
Tatjana Tschernigowskaja
So remember to look up at the stars and not down at your feet.
Stephen Hawking
Ernest Herz starrte lange den abblätternden Deckenputz an. Schließlich begriff er, dass er in einem fremden Bett lag, im Bedienstetentrakt des Stifts W., seinem neuen Zuhause. Die Erinnerung an den Vorabend erhob sich in blendender Deutlichkeit vor seinem tränenden und einzigen Auge: das muffige Zugabteil, die wechselnden Mitreisenden, deren einzige Beschäftigung darin bestand, ihr von zu Hause mitgebrachtes Essen zu verspeisen. Nicht einmal ein Buch hatten die Älteren unter ihnen dabei. Dann die Ankunft an dem zweigleisigen Bahnhof von W., der Schritt ins Freie, die pfirsichfarbene Fassade, die er auf den ersten Blick für ein Gebäude der freiwilligen Feuerwehr hielt. Dann las er: «Teufelinnen heiß wie Feuer, 24 h.» Die Buchstaben standen in eine schiefe Zeile gedrängt, als würden sie sich über diese Konstellation schämen. Leb wohl, Provinz, hörte er sich selbst sagen. Ernest Herz, erstaunt über den Klang seiner Stimme, blickte sich um. Außer einem an den Treppenstufen kauernden Trio von übergewichtigen Schulkindern war niemand in Sicht.
Den Wahnsinn habe ich also tatsächlich unten gelassen. Von oben und unten kann man gerade an einem Ort wie diesem auch im übertragenen Sinn sprechen, man muss es sogar. Hier oben herrscht der Geist, da unten piept das Gewürm. Hier posaunen die Freskenengel von den zehn Meter hohen Decken, da zuckeln Spielzeugzüge, glitzern Schiffe und Segelboote, fingernagelgroß, wie festgefroren an den trüben Bändern, die Flüsse sein sollen – lächerlich, und schwindend kleine Mitmenschen, gewiss in leicht entflammbaren Polyesterjacken, kraxeln mit Skistöcken irgendwo im Grünen vor sich hin, in ewiger Sorge um ihre Gesundheit. Ohne mich! Nun heißt es, sich sammeln, ora et labora, Sodom et Gomorra. Von nun an lebe ich rechtschaffen, gottgefällig könnte man noch sagen, doch das wäre geheuchelt. So sprach Ernest Herz zu sich selbst, während er sich aus dem Bett quälte und ins Bad schlurfte. Jetzt spürte er ihn auch, den Hügel, den er gestern in der Dämmerung wie ein flotter Gamsbock hochgeklettert war, spürte den fein gehackten Kies, über den er schamvoll einen Rollkoffer geschleift hatte. Sein Weg hatte ihn an Buchsbaumhecken und Bronzestelen vorbeigeführt. Was sie darstellten, konnte Ernest Herz auch in den nächsten Monaten nicht enträtseln. Am Fuß einer Treppe hob er schließlich seinen abgewetzten «Tourister» wie eine Braut hoch und trug ihn weiter. Oben am Stiftsvorplatz war offenbar Jahrmarkt – ein bunt erleuchteter Tragarm des Imperators hatte gerade, von Mädchenkreischen begleitet, einen Bogen beschrieben, während Laserbilder in wildem Tempo an die Stiftsfassade geworfen wurden, ein Säbelzahntiger wurde von einem Schmetterling, der Schmetterling von einer Krone und die Krone von einem pumpenden Herzmuskel abgelöst. Ernest Herz verfolgte die Bilder eine Weile (im einzigen erleuchteten Fenster tauchte eine Putzfrau mit Kopftuch und Besenstiel auf), dann begann sein Auge zu tränen.
«Was ist denn hier los?», fragte er einen vorbeischwankenden Jahrmarktsbesucher.
«Was denn, was denn? Martini, was denn sonst?»
«Ach, heute ist der 11. November!», stieß Ernest Herz aus.
«Und morgen ist der 12.», kicherte der Betrunkene, «gestern war der 10.», stellte er verwundert fest.
Ernest Herz ging weiter. Unter den kahlen Bäumen einer Allee lächelten ihm frierende Verkäuferinnen aus ihren Pappbuden zu, als er an ihnen (den Koffer nun hinter sich herrollend) vorbeilief. Möglicherweise hielten sie ihn für einen Berufszauberer, der mit seinem Equipment zu einer Aufführung eilte. Eine ältere Brillenträgerin, die sich als Zigeunerin verkleidet hatte, deutete sogar triumphal auf eine Zauberkugel, von deren Sorte die Regale hinter ihr vollgestellt waren.
Im Spiegel, der mit Zahnpasta seines mysteriösen Vorgängers gesprenkelt war, nickte er sich nun selbst anerkennend zu. Ernest Herz trotzte seit Jahren dem Zahn der Zeit, und das mit Erfolg. Sein Geheimnis war, darauf konnte er schwören, ein Stamperl Enzianschnaps vor dem Schlafengehen. «Gelber Enzian», pflegte er geheimnisvoll zu sagen, wenn manche Frau den Fehler machte, ihn nach seiner Gesichtscreme zu fragen. «Oral», fügte er grinsend hinzu. Auf diese Art und Weise kam er zu seinen Freundinnen. Es waren Hunderte, wenn nicht Tausende. Nichts blieb von ihnen außer einem Karteikarteneintrag im Geheimfach von Ernest Herz’ Rollsekretär. Ab und zu blätterte er in dieser als Zettelkatalog angelegten Datenbank und sah sie alle wieder vor sich, Kolleginnen, Passantinnen, Kellnerinnen, eine Tierschützerin mit erdigen Augenringen, eine Clowndame, dessen süßes Kinderlächeln ihre schiefen Zähne vergessen ließ, eine Lehrerin, die alles besser wusste, obwohl sie einen Bildungsradius wie eine Wohnungskatze hatte, eine Schaffnerin, die, bevor sie unter seine Decke schlüpfte, ein paar Seiten in einem der Codices las, die sich auf Ernest Herz’ Nachtkästchen türmten. Eine Menge Verkäuferinnen waren dabei, einige stolz wie eine Latschenkiefer in den Pyrenäen, die meisten jedoch richtige Klammeraffen:
Angelika Schaumlöffel: Wieselweg 12, 02758/6357; ca. 185 cm, -Großfolio+, blond <gefärbt>, blauäugig; 20.08.1988, Anais Anais von CacharelRegest:ÖAW, Handschriften, kompetent aber phantasielos
Susi Pleitinger: Rüsselgasse 53, 0488300/64838; ca. 175, +Folio+, blond, braunäugig; 30.04.1990, Diorissimo von DiorRegest:Gastronomie, naja aber oho
Annalena Schwarzmeier, Am Rand 8, 05248/947477; ca. 168, +Oktav+, brünett, braune Augen, <Brille>; 06.09.1981, 24, Faubourg von HermesRegest:Slawistin, Achtung Jagdschein(!)
Kaum wollte eine dieser Damen, ganz gleich, ob sie ein schmales Oktavheftchen war oder über ein majestätisches Atlasformat verfügte, hinter seine Augenklappe schauen, verlor sie unwiederbringlich ihren Zauber und Ernest Herz das Interesse. Er fand, es gab gewisse nicht zu überschreitende Grenzen, bei aller Liebe, aber bei der Augenklappe war Schluss. Er legte sie an, zwinkerte sich selbst mit dem heilen Auge zu und begann sich zu rasieren. Sein Gesicht wirkte alterslos und leider, wenn nicht die leere Augenhöhle wäre, völlig unscheinbar. Seine Behinderung empfand er deswegen als einen Segen. Als Kind hatte er das Tragen der Piratenbinde lästig gefunden, als Teenager lächerlich und als Student der Geschichte des Mittelalters unentbehrlich. Als er für ein Studentenmagazin interviewt wurde, sagte er, die Binde habe ihm den gesellschaftlichen Schliff verpasst, der ihm unter anderen Umständen höchstwahrscheinlich versagt geblieben wäre. Sie habe zu einer Art Haltung geführt, die auch eine Lebensart sei. Ernest Herz – der Lebenskünstler, lautete die Überschrift des Interviews, das in der Rubrik «Menschen, die anders sind» abgedruckt wurde.
Wie er darauf gekommen war, seine weiblichen Eroberungen alphabetisch zu ordnen, war Ernest Herz nicht mehr ganz klar. Dachte er aber an seine Anfänge zurück, so stand für ihn außer Frage, dass er, der seit dem ersten Semester der Mediävistik darum bemüht gewesen war, groß zu denken, und gleichzeitig die Prahlerei seiner Kommilitonen, lauter Sunny Boys, verachtete, sich in dieser delikaten Angelegenheit nur der Form eines bibliothekarischen Zettelkataloges hätte bedienen können. Im Unterschied zum handlichen, aber spießbürgerlichen Bandkatalog ließ sich der Zettelkatalog unendlich erweitern. Ihm imponierten das Systematisch-Methodische der Klassifizierung, die quasi wissenschaftliche Distanz zum Forschungsobjekt, am meisten jedoch die Haptik der herausnehmbaren Lade des Zettelkastens, in der sie alle drin lagen, eng aneinandergeschmiegt – seine Herzensfreundinnen. Eine Zeit lang hatte er großen Spaß daran gehabt, bei einem Glas Wein die Kärtchen über die Damen mit ihren Besonderheiten durchzublättern und jede von ihnen vor seinem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen.
Mathilda Heizknecht, Gassensturz 6, 08574/957472; ca. 170 cm, -Oktav-, blond, graue Augen, <kurzsichtig>; 02.12.1987, Miss Dior Chérie von DiorRegest:Vater ist Urologe
Die kleine Matilda, Kellnerin aus der Gastwirtschaft Zur lahmen Gans, ein fröhliches, einfältiges Wesen mit einer großen Klappe: Wie lange war er hinter ihr her gewesen! Als seine Zeit gekommen war, ihr in der Abstellkammer zwischen Essigreiniger und Haushaltsrollen unter den Rock zu greifen, geschah eine Katastrophe. «Was lesen Sie gerade?», hatte er ihr schwer atmend ins Ohr geflüstert. «Der Schieläugige, der einen Biathlon gewann von Tomas Tomansen», lautete die selbstbewusste Antwort. Kaum hatte er den Titel des an jedem Kiosk ausliegenden Bestsellers vernommen, wandte er sich, einen Schwächeanfall simulierend, von Mathilda ab. Dabei wäre er für dieses Mädchen eben noch zu den schönsten Dummheiten bereit gewesen. Aber doch nicht zu allen. Oder die Sonja Korsch.
Museumsplatz 6, 0534/95483; ca. 160 cm, +Oktav+, blond, gefärbte Kontaktlinsen; 09.01.1990, Obsession von Calvin Klein.Regest:Tierschützerin, vegan
Auch ihr gelang es, Ernest Herz ordentlich auf Trab zu halten. Immer beschäftigt, denn eine Demonstration jagte die andere (sie demonstrierte gegen Tierversuche, gegen Fuchsmästung, gegen die Leder- und Pelzindustrie, aber auch gegen Kinderarbeit in Entwicklungsländern), selten erreichbar, und wenn doch, dann war sie kurz angebunden, wenn sie mal gesprächig war, dann driftete sie ins Esoterische ab oder jammerte über ihre Rückenschmerzen, die ihr Riesenbusen verursache – angeblich. Dabei lag es an ihrer schlechten Haltung, an den Hängeschultern. So glaubte sie, kaschieren zu können, was gesehen werden wollte. Dafür aber ein Madonnengesicht! Sonja gehörte zweifelsohne zu den hübschesten Zielobjekten. Und später als alle anderen hatte sie ihn nach der Augenklappe gefragt. (Dürfte ich mal schauen?) Die Frauen mit ihrer Augenlust, jede wollte das. Jede scheiterte daran. Mit jeder machte er sofort Schluss. Mit Sonja schriftlich. Ihr Madonnengesicht wollte er aber ohne Bitterkeit in Erinnerung behalten. Und doch schrieb er am Schluss seines Trennungsbriefes: «Eine Information am Rande für Sie als femme vegane: Die Schmerzmittel gegen Rückenschmerzen sollten Sie nicht nehmen, wenn Sie mit Leib und Seele (Seele unterstrich er mit einer gezackten Linie, die in ein Fragezeichen mündete) gegen Tierversuche sind. Für Ihre Tabletten leiden täglich Rhesusaffen.»
Auf seinem früheren Posten als bibliothekarischer Mitarbeiter der Lobkowicz-Bibliothek hatte er die Regest-Kolumne um Duft und Format vervollständigt. Die älteren Frauen hielten es beim Duft wie in der Liebe: animalisch, ledrig, orientalisch, mit viel Gewürz und Weihrauch. Die jüngeren: wild, verspielt, frisch, linear und ziemlich flach. Umständlich notierte er die Namen der Parfüms vor den Augen der Damen und versprach, sich den Duft zu besorgen. «Warum?», hauchten sie erschrocken. «Um Sie in den stillen Momenten der Sehnsucht bei mir zu haben, meine Liebe», pflegte Ernest Herz zärtlich zu antworten, oder: «Um mit Ihnen, süße Katherina, Valerie, Chantal, auf der molekularen Ebene zu verschmelzen.» In Wirklichkeit aber kaufte er sich nie, bis auf eine einzige Ausnahme, den genannten Duft, er ging nicht einmal in die Parfümerie. Als Mann des Wortes genügten ihm die Kritiken, die er in einem der vielen Internetforen für Parfüm-Nerds las. Er genoss die Duftrezensionen wie kleine Delikatessen. Sinnlich und scharfsinnig formuliert, ließen sie ihn mit dem Gefühl zurück, tatsächlich einen Duft samt seiner Aussage begriffen zu haben. Mehr noch, der Wortzauber der olfaktorisch Begeisterten hüllte den Gram einer gerade beendeten Liebelei in ein gnädiges und heiteres Licht und adelte die Duftträgerin in Ernest Herz’ Erinnerung für immer. War er am Anfang noch anonymer Besucher auf den Parfümseiten gewesen, sah er sich allmählich doch gezwungen, sich anzumelden und einigen der wortgewandten Parfümfreunde für den Lesegenuss zu danken. In dieser Zeit kam auch ein Tauschhandel zustande. Eine Rubinia Böck, allein schon der Name raubte ihm den Verstand, gehörte zu den wenigen professionellen Musikerinnen und verheirateten Frauen in seinem Katalog, eine spröde Sphinx, die sich leider nicht ganz erobern ließ, nur im Kopfbereich sozusagen – bis zum Äußersten zu kommen, gelang ihm trotz übermächtiger Anstrengungen nicht, aber sie verriet ihm nach dem ersten und einzigen Kuss ihren Duft. Leider verlangte sie sofort, als Gegenleistung, hinter die Augenklappe zu schauen. An diesem Abend, die Wirkung des gütig-mütterlichen Kusses war noch nicht ganz verflogen, las er in seinem Lieblingsforum gunsandnoses einige Kommentare zu Rubinias Parfüm, das den seltsamen Namen Resta con noi 33 trug und auf der Abbildung wie eine Salzmühle aussah. Der Parfümeur sei von Hause aus Cembalist und fertige nebenbei Schuhe für den Papst an, hieß es in der Beschreibung des Produkts. Resta con noi 33 rieche wie Engelsatem und erhebe alles im Umkreis von zwei bis drei Metern in eine Sphäre der Versöhnung und absoluter Geborgenheit. So rieche die Ewigkeit. Als Andenken an Rubinia hätte er das Parfüm gern gekauft, der Preis von 240 Euro ernüchterte ihn jedoch, und außerdem, was sollte er mit einem ganzen Flakon? Schließlich konnte er sich mit einem anderen Nutzer, nachdem dieser von Ernest Herz’ Beruf erfahren hatte, darauf einigen, eine kleine Abfüllung des Engelsdufts gegen ein Buch zu tauschen. Dabei überließ der andere Ernest Herz die Wahl mit dem Hinweis, sich sowohl für Frauen als auch für Rokoko-Möbel zu interessieren. Mit den Memoiren eines Dandy des englischen Schriftstellers John Cleland, einem Exemplar aus der Bibliothek seines Vaters, schien er den Geschmack des Nutzers getroffen zu haben. Tolles Buch, schrieb dieser wenig später, es rieche nach süßer, alter Pappe, auch nach Dunhill-Tabak und Blumenstaub. Das 10-ml-Röhrchen, das seiner Sendung beilag, bewahrte Ernest Herz seitdem im Andenken an Rubinia Böck als Trophäe auf, holte es immer wieder aus den Tiefen seines Sekretärs und gönnte sich einige Sprühstöße auf die Armbeuge oder sogar auf den schwarzen Baumwollstoff seiner Augenklappe, und tatsächlich stimmte ihn der undefinierbare Weißblüher-Duft auf die Langeweile des ewigen Lebens ein, unmittelbarer als Musik oder eine luxuriös illuminierte, theologische Handschrift. Für ihn roch Resta con noi 33 wie eine etwas verblühte und füllige Operndiva – also ein Großfolio –, die in einem Spitzen-Negligé im Boudoir ihrer Villa im Piemont sitzt. Schon geschminkt und frisiert, pudert sie sich noch pro forma die Nase, legt den Pinsel beiseite, erhebt sich, lächelt gütig, aber auch selbstbewusst, wissend um die ungebrochene Kraft ihres Weltklasse-Soprans. Da beginnt sie zu singen, vissi d’arte, vissi d’amore, non feci mai male ad anima viva! Während sie ihren jungen Geliebten fixiert, einen Flüchtling aus Ghana, der traurig und lüstern den Blick der Diva erwidert, an das Essen im Kühlschrank denkt und mit Puccini nichts anfangen kann. Das entgeht der Tosca nicht, doch in ihrer Güte und Reife nimmt sie es dem jungen Mann nicht übel. Sie mag zwar vor ihm singen, doch es ist gar nicht Addo, den sie erreichen will. Vielmehr schaut sie durch ihn hindurch auf etwas Größeres. Er ist nur die Lupe, durch die sie ihre Strahlen in eine andere, ewige Dimension schickt.
Was das Format der Damen anging, so richtete er sich nach einem Beurteilungssystem, das auf einer Mischform der Preußischen Instruktionen und seines persönlichen Formatgefühls beruhte. Entsprechend bezog es sich auf Brustumfang (Lagendichte), Größe (Höhe des Buchrückens) und Bildungsgrad (Inhalt). War die junge Dame mit üppigen Formen gesegnet, groß gewachsen und strohdoof, fiel sie in die Kategorie «+Oktav–». War sie groß gewachsen, hatte sie einen stattlichen Vorbau und einen Master in Numismatik, so sah sich Ernest Herz gezwungen, sie als «+Oktav+» einzutragen. Eine Baseballspielerin mit wenig Brust und wenig Intellekt hätte nur als «–Folio–» geführt werden können. Eine Bohnenstange mit wenig Brust und einem Doktor in Neurowissenschaften als «–Groß-Quart+». Eine stattliche, groß gewachsene Dame mit viel Brust, einem hellen Kopf und viel Humor (+Imperial-Folio++) wäre eine willkommene Kuriosität gewesen. Auch kleinformatige, superschlaue Dolly Partons (Doudez) fehlten ihm im Katalog. Seine Beziehung zu seinen Damen war die eines Sammlers zu seinen Objekten. Nach den ersten Eroberungen begann ihn nicht die Frau selbst, sondern das Serielle zu erregen, und mit Mitte dreißig war er so weit, jede Frau, die er mit seiner schwarzsamtenen Augenklappe betörte, für ihre Schwachheit zu verachten. Wie einfach gaben sie sich dem vergeistigten Piraten hin! Manchmal überlegte er sogar, «nackt» mit der leeren Augenhöhle auf Frauenjagd zu gehen, um festzustellen, ob er so auch leichtes Spiel mit ihnen haben würde. Aber dann schob er diesen Gedanken beiseite – viel zu groß war die Angst, nicht mehr imposant gefunden zu werden.
Als seine Einträge immer mehr Platz in der Schublade seines Schreibsekretärs einzunehmen begannen, ließ er, von seinem fantastischen Erfolg beim schönen Geschlecht beseelt, einen Schreiner kommen. Dieser entkernte die abnehmbare Krone des Sekretärs und baute für eine horrende Summe ein Geheimfach in den entstandenen Hohlraum hinein. Diese Investition hatte Ernest Herz nie bereut. Denn sie läutete eine Phase höchster Katalogisierungsaktivität ein. Die Damen, die ihm von nun an in die Fänge gerieten, zeichneten sich alle, als hätten sie sich untereinander abgesprochen, durch eine ausgeprägte spielerische Ader aus. Eine Kampfkünstlerin lehrte Ernest Herz das Fürchten, aber auch ein paar Tricks für die Selbstverteidigung. Den Tritt ans Schienbein konnte er bereits nach wenigen Sessions, auch, wie man sich aus der Umklammerung befreien konnte, indem man den Gegner in die Rippen zwickte. Hart musste er kämpfen, bis er Luise Klein auf die Matte legen durfte (von Können konnte keine Rede sein). Wie die meisten Frauen hegte auch Luise viel Mitleid mit der lebenden Kreatur im muskulösen Leib und rollte sich freiwillig auf den Rücken, mit einem Lächeln im Gesicht, das ihren inneren Kampf zwischen Spott und Wohlwollen offenbarte und sie begehrenswert machte. Dem Luischen folgte Julia Bratz-Schiele, eine kräftige Kindergärtnerin, die ihm am Tag ihrer Begegnung Angst eingejagt hatte wie nichts und niemand zuvor. Gleichzeitig konnte er sich auch an keinen First Impact erinnern, der ergreifender und romantischer gewesen wäre. Sie waren sich auf einem mit weißem Kies bestreuten Parkweg zufällig um Mitternacht begegnet. Ernest Herz, der gern im Dunkeln spazieren ging, dachte zu dieser späten Stunde wahrscheinlich an gar nichts, zumindest versuchte er es, denn dazu war Flanieren seiner Meinung nach auch da – es lüftete einen hitzigen Kopf, brachte einen Unruhigen zur Ruhe, einen Verblendeten zur Einsicht. Nie ging er mit seinen Freundinnen in die Natur, aus Angst, dieses Refugium der Liebe zu opfern. Wenn er seine dementen Eltern besuchte, wanderte er mit ihnen einen Waldweg entlang oder bestieg einen Weinberg. Durch das Tanzen gut in Form, erwiesen sich die Eltern als pflegeleichte und dankbare Mitwanderer, viel angenehmer als früher, fand Ernest Herz. Nun durften sie jammern und quengeln, weglaufen und wild pinkeln. Manchmal picknickte er mit den beiden unter einer Rotbuche oder einem Vogelbeerbaum mit Blick ins Tal. Die Backsteinfassade der Seniorenresidenz Zur heiligen Dreieinigkeit stach puffrot aus dem grauen Einerlei der Reihenhäuser hervor. Er nahm die Eltern mit in die Natur, weil er sich revanchieren wollte. Sie hatten ihn ja auch mal früher an der Hand genommen und ausgeführt, in den Wald zu den Bäumen, an den Teich zu den Fischen, in die Weinberge, und erst als Erwachsener hatte er verstanden, welchen großen Gefallen sie ihm damit getan hatten.
Während er also um Mitternacht durch den Park lief, fuhr Julia Bratz-Schiele geräuschlos mit ihrem E-Bike heran und sprach ihn alkoholisch und munter an: «Sie laufen so aufrecht. Sind Sie Physiotherapeut?» Ob sie das metaphorisch meine, fragte er. «Na ja, Ihr Rücken ist halt so wahnsinnig gerade, das hat sicher einen historischen Hintergrund», erklärte Julia. «Ich habe vor wenigen Tagen einen einmonatigen Selbstverteidigungskurs absolviert, deswegen vielleicht. Machen Sie mich an?» Statt einer Antwort zwinkerte sie ihm zu. Langsam öffnete sie das zugekniffene Auge, und während sie ihn neugierig, aber auch in demütiger Erwartung des Kommenden anschaute, begannen die staubigen Haselnusssträucher, die adretten Heckenrosenbüsche und der Kirschlorbeer mit seinen schwarz blinkenden Blätterzungen träge und wie aus einem Traum erwachend zu rascheln. Im Nieselregen küssten sie sich, ohne dass Julia Bratz-Schiele dafür von ihrem E-Bike hatte absteigen müssen.
Ahnte wenigstens eine seiner Gespielinnen, dass seine Leidenschaft die eines echten Spezialisten war? Wahrscheinlich hatte er sich oft genug verraten, doch hatte wenigstens eine den Blick für seinen Blick? Ernest Herz bezweifelte es. Jede von ihnen war entzückend auf ihre Weise, manche strengten sich sehr an, ihm zu gefallen, andere mimten die kühle Unnahbare, und erst nachdem er alle Register gezogen hatte, schenkten sie ihm im Glücksfall einen bedürftigen, verwirrten Blick, den er insgeheim noch höher schätzte als eine Nacht.
Die Glocken vom Turm der gegenüberliegenden Stiftskirche kündeten die neunte Stunde an, als es zaghaft an der Tür klopfte. Es war der Portier, ein Enddreißiger mit einer üppigen Frisur, hinter der er an seinem Platz sicher gut schlummern könnte. Die Strähnen seines Ponys, das er, dafür konnte Ernest sein Auge verwetten, à la polonaise mit einem Küchentopf auf dem Kopf selbst geschnitten hatte, fielen ihm tief ins Gesicht. Ihre Umzugsleute sind da, meldete er. Beide horchten. Wie ein sterbender Ritter in voller Montur mühte sich, quietschend und klappernd, sein Rollsekretär die gewendelte Treppe hinauf.
«Gelobt sei Jesus Christus», keuchten die Möbelpacker.
«In Ewigkeit. Amen», schnarrte Ernest Herz, verärgert, dass man ihn für einen Gottesmann hielt, und das, obwohl er sich mit dem Playboy-Morgenmantel, den er trug, ausdrücklich vom Klerus im Prälatenflügel distanzierte.
«Wohin mit dem guten Stück, Hochwürden?»
Ernest Herz deutete in eine von Schimmel kunstvoll befallene Wandnische.
«Vorsicht mit den Beinen, das gute Stück ist ein Unikat!»
Der zweite Teil seines Satzes ging im Glockengeläute unter. Auf der Treppe schnappten bereits die übrigen Spediteure nach Luft. Es folgten: ein lederbezogener Ohrensessel, ein backofengroßes Telefunken-Radio, ein Leuchtmondglobus mit Neil Armstrongs Vogelspuren im Mondstaub, eine Standuhr, in deren Boden man gut Alkoholika lagern konnte, sowie eine Karawane von Kisten.
«Ganz schön luxuriös für unser Gemäuer», bemerkte der Portier.
«Ich lege keinen Wert auf Äußerlichkeiten», konterte Ernest Herz.
«Das machen Sie aber sehr stilvoll», sagte der Portier, drehte sich um und schlenderte den Gang entlang zur Treppe.
Diese Bemerkung ließ Ernest Herz nicht auf sich sitzen. Bevor er zu seiner ersten Mahlzeit schritt (diese fand eingedenk der Martini-Feierlichkeiten für die ganze Stiftsmannschaft im Refektorium statt), machte er einen Abstecher zum winzigen, in ein zum Büro mit Überwachungskameras umgebauten Erker im Erdgeschoss, wo er auf den Portier traf.
«Herz. Ernest Herz. Der neue Bibliothekar.» Der Portier stellte sich als Magister Duzelovic vor. Sie schüttelten sich die Hände, als hätten sie sich eben erst kennengelernt. «Überraschend fest», lobte Ernest Herz, «Sie haben bestimmt eine Metzgerlehre hinter sich.» Duzelovic lächelte gequält und ließ sich ohne eine Antwort wieder in seinen Drehstuhl fallen.
«Bei mir im Zimmer», begann Ernest Herz, «haben Sie von Luxus gesprochen. Ich möchte Ihnen widersprechen. Luxus ist nichts anderes als Überfluss, etwas, worauf man verzichten kann, geben Sie mir recht?»
«Meinetwegen», murmelte Duzelovic, an einer Trockenbanane kauend.
«Der wahre Luxus ist praktischer Natur. Ich bin zum Beispiel jemand, der viel mit Büchern zu tun hat.»
«Tja, das sieht man», unterbrach Duzelovic, die Augenklappe fixierend, «ein Banänchen?»
«Danke. Trockenbananen sind krebserregend. Wo war ich stehen geblieben?»
«Sie lesen gerne.»