Der Dreiklang der Führungskompetenz - Christian Gansch - E-Book

Der Dreiklang der Führungskompetenz E-Book

Christian Gansch

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Beschreibung

Wie in der Kunst gehört auch in der Wirtschaftswelt eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit zum Fundament sinnvollen Handelns – und ist damit Grundlage des unternehmerischen Erfolgs. Selbstmotivation, genaues Hinhören und Hinschauen, die eigenen Fähigkeiten erkennen, den gesunden Menschenverstand einsetzen, Leidenschaft an kontrollierte Ziele binden, Entscheidungen zwischen Gefühl und Verstand balancieren: Anhand von aufschlussreichen Analogien und originellen Beispielen aus der Musikwelt rückt der Dirigent und Kommunikationsexperte Christian Gansch gestressten Managern den Dreiklang des Erfolgs ins Bewusstsein.

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Christian Gansch

Der Dreiklang der Führungskompetenz

Wahrnehmen Entscheiden Handeln

Campus Verlag Frankfurt/New York

Über das Buch

EIN NEUER TON IM MANAGEMENT

Wie in der Musik gehört auch in der Wirtschaftswelt eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit zum Fundament sinnvollen Handelns – und ist damit Grundlage des unternehmerischen Erfolgs. Genaues Hinhören und Hinschauen, an kontrollierte Ziele gebundene Leidenschaft, zwischen Gefühl und Verstand ausbalancierte und konsequent umgesetzte Entscheidungen: Anhand von aufschlussreichen Analogien und originellen Beispielen aus der Musikwelt rückt der Dirigent und Kommunikationsexperte Christian Gansch den Dreiklang der Führungskompetenz ins Bewusstsein.

»Christian Gansch schreibt witzig und klug.« Rolf Dobelli

Über den Autor

Christian Gansch, geboren 1960, ist klassisch ausgebildeter Musiker, Musikproduzent und Dirigent. Aufgrund seiner reichen Erfahrungen im Spannungsfeld von Kunst und Wirtschaft ist er seit vielen Jahren erfolgreich als Referent tätig. Er hat den Trend des Orchester-Unternehmen-Transfers begründet. Christian Gansch lebt in München.

»Die Künstler allein hassen dieses lässige Einhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen und enthüllen das Geheimnis, das böse Gewissen von jedermann, den Satz, dass jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist; sie wagen es, uns den Menschen zu zeigen, wie er bis in jede Muskelbewegung er selbst, er allein ist, noch mehr, dass er in dieser strengen Konsequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswert ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur und durchaus nicht langweilig.«

Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen

Inhalt

Vorwort: Der Dreiklang des Erfolgs

Wahrnehmen

Die 360-Grad-Wahrnehmung

Offenheit kontra Tunnelblick

Sensibilität kann irritieren

Ein dickes Fell bedrückt

Einsichten sind Privatsache

Wahrnehmung ist Lebensqualität

Wahrnehmung braucht Selbstprüfung

Wenn Wunschvorstellungen blockieren

Der einseitige Röntgenblick

Guter Rat ist teuflisch

Offenheit braucht Gelassenheit

Kein Wert ohne Bewertung

Zwischen Gefühl und Verstand

Man darf nicht trennen, was zusammengehört

Die Macht der Bilder: Kompetenz oder Maskerade

Intuition braucht Initiative

Wenn das Bauchgefühl trügt

Entscheiden

Selbst denken statt Ideologien

Ideologien verhindern Individualität

Die freiwillige Selbstaufgabe

Krampf statt Unternehmenskultur

Wer auftritt, muss spielen

Entscheiden heißt Abschied nehmen

Das Zögern der Kultivierten

Wenn man das Ruder loslässt

Die Auswahl der Mitspieler

Kompetenz durch Distanz

Entscheidungsfindung im Team

Die Kunst der Improvisation

Techniken der Improvisation

Der moralische Kontext

Innere Dynamik statt Überraschungscoup

Improvisation braucht Realitätsbezug

Handeln

Umsetzungshürden

Keine Motivation ohne Information

Künstliche Organigramme behindern

Selbstmotivation ist aller Arbeit Anfang

Wenn Marketing Innovationen verhindert

Verantwortung, Druck, Ängste

Stress und die Kunst der Abgrenzung

Beharrlichkeit erzeugt Gegendruck

Wie aus Ängsten Selbstvertrauen wird

Wenn Manager mit Ängsten spielen

Der Stil des Handelns

Inhalt statt Ego

Führung braucht Klarheit

Kleiner Fehler, großer Schaden

Leidenschaft braucht Träume

Vorwort: Der Dreiklang des Erfolgs

Wenn ein Künstler die Bühne betritt, ist dies der letzte Akt einer langen Entwicklung. Jahrelang hat er auf diesen Moment hingearbeitet. Bereits in seiner Kindheit und Jugend übte er täglich stundenlang auf seinem Instrument. Aber dieses Üben ist kein technischer Prozess, es bedeutet viel mehr, sich und seinen Körper in allen Nuancen einschätzen und kennenzulernen. Um ein fundiertes künstlerisches Konzept zu entwickeln, reicht es nicht, nur das Werk präzise zu analysieren. Der Musiker muss auch die Fähigkeit haben, genau wahrzunehmen, welche Strategien seinem Talent und seinen körperlichen Voraussetzungen entsprechen. Daraufhin muss er entscheiden, mit welchem technischen, stilistischen und individuellen Handwerkszeug er ein Werk umsetzen will. Diese Fähigkeiten erfordern eine permanente Balance von Emotionalität und Rationalität, die mit dem erklärten Willen zur Umsetzung in wechselseitiger Beziehung stehen müssen. Erst wenn der Künstler diesen Entwicklungsgang von Wahrnehmen – Entscheiden – Handeln bewältigt hat, kann er die Bühne betreten und dort erfolgreich bestehen.

In der Wirtschaftswelt denkt man in erster Linie in Kategorien des Entscheidens und Handelns. Das Wahrnehmungsvermögen wird vernachlässigt, obwohl es den Grundton dieses stimmigen Dreiklangs bildet. Und wenn der Grundton fehlt, verlieren Entscheidungen ihre Basis. Dann wird als Realität angesehen, was eigentlich nur ein Blendwerk derselben ist.

Wenn Entscheidungen auf Wahrnehmungsfähigkeit beruhen, sind sie weder willkürlich noch Selbstzweck, sondern aus Überzeugung entstanden. Dadurch gewinnt eine Führungskraft die nötige Sicherheit, Situationen präziser einzuschätzen und Widerstände auszuhalten.

Ein solcher Prozess der Meinungsbildung ruft förmlich nach Umsetzung. Er erzeugt bei Managern die Lust und den Willen zu handeln und fördert gleichzeitig ihre Authentizität.

Das fruchtbare Zusammenspiel von Wahrnehmen – Entscheiden – Handeln sollte auch im Wirtschaftsleben der Leitfaden für eine neue Führungskompetenz sein. Diese ist weniger auf den Augenblick als auf Nachhaltigkeit ausgerichtet und unterstützt somit langfristig die Substanz eines Unternehmens.

Mein Buch soll den Lesern Anregung sein, ihre Führungskompetenz künftig zuverlässiger und souveräner auf Basis dieses Dreiklangs, ganz ihrem Charakter und individuellen Vermögen entsprechend, zu entfalten.

München, Juni 2008

Wahrnehmen

Die 360-Grad-Wahrnehmung

Je höher der berufliche Druck, desto mehr verengt sich das Gesichtsfeld. Dieser Tunnelblick ist eine verständliche Abwehrreaktion, wenn sich der Mensch überfordert fühlt. In bedrohlichen Situationen kann ein kurzfristig verengter Fokus eine schnelle und hilfreiche Reaktion auslösen, aber danach muss sich das Gesichtsfeld sofort wieder weiten. Dauerstress unterdrückt die Wahrnehmungsfähigkeit. Der Tunnelblick darf nicht zum alltäglich eingesetzten Managementinstrument werden, um damit unsere Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Die Befähigung, im Berufsalltag eine offene 360-Grad-Wahrnehmung durchzuhalten, ist bisweilen anstrengend, wird aber mit Erfolg belohnt. Das Bewusstsein, mit bestem Wissen und Gewissen widersprüchlichste Aspekte erkannt und geprüft zu haben, hält auch stärksten Gegenwind aus. Man erwirbt Standvermögen und Sicherheit, wenn man sich nicht mit blindem Aktionismus zufrieden gibt und mehr schlecht als recht in Not-Entscheidungen flüchtet.

Offenheit kontra Tunnelblick

Wenn ein Dirigent ausschließlich diejenigen Instrumentengruppen des Orchesters auswählt und dirigiert, deren Ton ihn persönlich befriedigt oder die er selbst spielen kann, dann wird er niemals einen harmonischen Gesamtklang formen können, in dem das gesamte Orchester mit seinem Reichtum an Farben zur Geltung kommt. Er muss alle Stimmen wahrnehmen und sie in ihrer Unterschiedlichkeit berücksichtigen, um der vielschichtigen Partitur nicht nur in Teilaspekten gerecht zu werden. Der Tunnelblick eines Dirigenten würde konzeptionell wichtige Instrumente und Gruppen mangels Herausforderung verkümmern lassen, gleichzeitig würden zweitrangige Nebenstimmen das Werk dominieren. Ein fatales Ungleichgewicht in Bezug auf einen umfassenden Gesamtklang wäre die Folge.

Viele schreiben sich ein hohes Maß an Offenheit zu, berücksichtigen aber nicht ihren halbautomatisch wirkenden Wahrnehmungsfilter, der hauptsächlich für das Selbstwertgefühl arbeitet, indem er die angenehmen und unkritischen Aspekte, also die eigenen Wunschvorstellungen betont.

Wenn beispielsweise ein Manager lange für die Realisierung einer Sache gekämpft hat, will er sie manchmal selbst dann noch durchziehen, wenn sie aufgrund veränderter Umstände eigentlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Anstatt die neuen Bedingungen zu erkennen und seine Strategie zu korrigieren, konzentriert sich sein Streben darauf, einen Gesichtsverlust möglichst zu vermeiden. Dabei wird fast immer vergessen, dass eine umfassend begründete Korrektur meistens honoriert wird und einen Imagegewinn zur Folge hat.

Der Wahrnehmungsfilter ist auch aktiv, wenn Manager prinzipiell Entscheidungen bevorzugen, die auf Akzeptanz und wenig Widerstand stoßen. Denn eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit führt naturgemäß zu Entscheidungen, die weniger das eigene Ego als die Sache zum Inhalt haben.

Innerhalb des Orchesters bildet eine ausgeprägte 360-Grad-Wahrnehmung die Grundlage des gemeinsamen Handelns, auch wenn viele Konzertbesucher glauben, dass Orchestermusiker eindimensional auf den Dirigenten ausgerichtet sind. Musiker nehmen die Instrumentengruppen hinter sich durch ein sehr waches Hinhören wahr, und die Kollegen, die im 180-Grad-Radius um sie herum platziert sind, zusätzlich mittels Augenkontakt. Jeder Einzelne versteht sich als Mittelpunkt eines Wahrnehmungskreises, der alle Informationen um ihn herum aufsaugt, während er gleichzeitig Informationen an sein Umfeld sendet, im Wissen, dass diese von der 360-Grad-Wahrnehmung der anderen empfangen werden.

Nichts wäre im Orchester schlimmer als beispielsweise ein Geiger, der bei einer generellen Beschleunigung des Tempos einfach stur weiterfiedeln würde wie gehabt. Solche Charaktere mit Tunnelblick registrieren erst, wenn das Licht ausgeht, dass sowohl Kollegen als auch Zuhörer schon längst den Saal verlassen haben.

Besonders scharfsinnige Persönlichkeiten rechtfertigen ihren Tunnelblick oft mit geschickten Argumenten, ohne sich ihrer Selbstbeschränkung bewusst zu sein. Die Auslöser für dieses Verhalten sind oft Ignoranz und Bequemlichkeit, denn es erfordert eine hohe Bereitschaft, sich langfristig eine innere Lebendigkeit, Offenheit und Neugierde zu bewahren. Gleichzeitig verselbstständigt sich eine über Jahre gelebte Wahrnehmungsreduzierung oft so sehr, dass sie irgendwann mit dem Charakter verschmilzt und zum zweifelhaften Maßstab für Beurteilungen wird. Dadurch beraubt man sich am Ende tatsächlich der Fähigkeit, zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden.

Manchmal filtert und kanalisiert man die Wahrnehmung ganz bewusst, im Sinne einer künstlichen Stabilisierung des eigenen Egos, ohne ergründen zu wollen, was der tiefere Grund dieser freiwillig auferlegten Reduzierung ist.

Es wäre somit einerseits logisch, andererseits eine Frage des Selbstverständnisses und der Verantwortung, sich manchmal zu hinterfragen, ob die eigene Wahrnehmung tatsächlich nur unwichtige Aspekte, die reine Zeitverschwendung wären, verhindern und unterdrücken will. Oder ob es sich vielleicht um bedenkenswerte Dinge handelt, die man in sich erst gar nicht zulassen will, um nicht das Ego und die eigenen Wunschvorstellungen zu gefährden. Es ist so banal wie schwierig umzusetzen: Wahrnehmung verlangt uns zuallererst Wahrnehmungsbereitschaft ab.

Eine offene, wahrnehmungsfähige Führungskraft demonstriert, dass sie sich ihrer Verantwortung für Mitarbeiter, Team und Unternehmen bewusst ist und sich dieser Herausforderung umfassend stellen will. Gleichzeitig verliert eine Führungskraft an Autorität, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spüren, dass sie sich nur die positiven, angenehmen und stabilisierenden Eindrücke aus dem 360-Grad-Wahrnehmungskuchen herauspickt, um ein möglichst souveränes Bild abzugeben und das Image zu vermitteln, über den Dingen zu stehen.

Heutzutage wird einem Manager bereits ein hohes Berufsethos zugeschrieben, wenn er sich einer Herausforderung offen und ehrlich stellt, ohne unentwegt nur auf die Wirkung in Bezug auf das eigene Ego zu schielen. Manche bewundern beispielsweise die Souveränität einer Führungskraft, die aufgrund neuer Einsichten ihren heftig vertretenen Standpunkt ändert und dies auch ganz offen zugibt. Ich lehne diese Verklärung ab. Denn damit verleiht man einer Selbstverständlichkeit, die das Basis-Handwerkszeug einer jeden Führungskraft ausmacht, eine Auszeichnung, die sie nicht verdient.

Man bewundert ja auch keinen Musiker dafür, dass er stets genau und offen auf alle Mitspieler um ihn herum hört, mit denen er auf der Bühne zusammenspielt. Dieses Verhalten beweist schlicht seine Professionalität. Mit Berufsethos hat es nichts zu tun. Es ist die erste Aufgabe einer Führungskraft, Einflüsse unterschiedlichster Natur für eine Beurteilung wahrnehmen zu wollen, ohne alles immer nur rückbezüglich auf den eigenen Nutzen zu filtern.

Eine offene 360-Grad-Wahrnehmung ist nicht immer leicht zu ertragen. Das sollte jedoch nicht dazu verführen, in die daraus gewonnenen Informationen die individuellen, heimlichen Wunschvorstellungen hineinzuinterpretieren. Zwar nimmt man bei dieser Strategie noch wahr, was tatsächlich Realität ist, aber gleichzeitig versucht man sie zu beugen, indem man ihr die eigenen Ziele und Bedürfnisse aufzwingt. Manches muss man einfach so akzeptieren, wie es ist, und dann auch so stehen lassen.

Bisweilen erinnern Manager bei ihren Versuchen, sich die unangenehme Wirklichkeit schönzudenken, an die bösen Schwestern im Grimm’schen Märchen Aschenputtel, die sich absichtlich unter Schmerzen verstümmeln, indem sie sich ihre Zehen und Fersen abhacken, in der Hoffnung, danach in den goldenen Schuh zu passen.

Je mehr Offenheit eine Führungskraft ausstrahlt, desto höher schätzen Mitarbeiter intuitiv deren wahres Selbstbewusstsein ein. Diese Offenheit zeigt sich beispielsweise in einem wachen und von Hierarchien absehenden Blick von Mensch zu Mensch, einer Körpersprache, die nicht Abwehr, sondern Zugänglichkeit signalisiert, und in einem Gesprächsstil, der nicht wie eine lästige Pflicht wirkt, die sich in belanglosen, leeren Floskeln erschöpft.

Umgekehrt kann man sagen: Je ausgeprägter der Tunnelblick einer Führungskraft, desto mehr demonstriert sie die eigene Ur-Angst vor mangelnder Zustimmung und Akzeptanz. Dann beschleicht Mitarbeiter das permanente Unbehagen, nicht an sie ranzukommen, nicht gehört und letztlich nicht geschätzt zu werden. Meist ist eine solche Führungskraft umgeben von einer Aura der permanenten Überforderung. Ihr verengtes Gesichtsfeld baut langfristig in ihr Druck und Spannungen auf, die in der Folge nach außen hin nicht ohne Wirkung bleiben, und dies begünstigt wiederum bei den Mitarbeitern den Tunnelblick aufgrund von Abwehr und Verunsicherung. Ein Teufelskreis.

Nachdem in der heutigen Wirtschaftswelt nur die harten Fakten zum Maßstab genommen werden, lassen wir unsere Wahrnehmung, die mehr im Verborgenen wirkt, kläglich verkümmern. Es führt aber kein Weg daran vorbei: Wir müssen diese Fähigkeit wieder aktivieren, um besser entscheiden und handeln zu können. Allerdings sollte das nicht der einzige Motivationsgrund sein, denn Wahrnehmung bedeutet vor allem Lebensqualität. Selbstverständlich ist dieser Weg bisweilen steinig, er bietet aber beste, bisweilen sogar überwältigende Aussichten. Hingegen kann unsere Tendenz, lieber auf weichen, ausgerollten roten Teppichen zu wandeln, während uns das Publikum an der Seite freundlich applaudiert, verhängnisvoll in eine Sackgasse führen.

Ein Weinbauer mit Tunnelblick würde ohne Zweifel kläglich scheitern. Boden, Trauben, Sonne und Feuchtigkeit sind in jedem Jahr aufs Neue zu bewerten. Er wird die Natur konstant mit wachem Auge und Sensibilität beobachten, um den richtigen Zeitpunkt für die Weinlese daraus abzuleiten. Niemals würde er auf die Idee kommen, erfolgreiche Vorjahre als allzeit gültigen Maßstab zu nehmen, nach dem er sich künftig blind und schablonenhaft richtet. Er wird seine Entscheidungen und Handlungen weder von seinem Wunschdenken noch von dem der Kunden abhängig machen. Nur seine unmittelbare Wahrnehmungsbereitschaft für das, was tatsächlich in der Natur um ihn herum passiert, inklusive aller unvorhersehbaren Überraschungen, bringt ihm den erwünschten Erfolg.

Sensibilität kann irritieren

Als Künstler macht man immer wieder aufs Neue die leidvolle Erfahrung, dass einen gerade Musik, die man intensiv empfindet, unvermittelt aus dem Konzept wirft. Denn um ein hohes Niveau zu bieten, braucht man nicht nur innere Lebendigkeit und Einfühlungsvermögen, sondern stets auch eine perfekte technische Präzision. Als ich einmal im Orchester die 8. Symphonie von Bruckner spielte, wurde ich von der Musik so sehr ergriffen und mitgerissen, dass mir während des Konzerts plötzlich fast der Violinbogen aus der Hand fiel. Meine Sensibilität hätte dem Orchester und Publikum fast die Aufführung verdorben. Man muss sich als Künstler also einerseits schonungslos der Musik aussetzen, damit auch die Zuhörer nachhaltig berührt werden, andererseits darf man die Grenze nicht überschreiten, welche garantiert, dass man die technischen Fertigkeiten kontrollieren kann. Katastrophal wäre der Versuch, alle Sensibilität sicherheitshalber zu blockieren, damit man das Konzert technisch hürden- und einwandfrei zu Ende bringen kann. Mit dieser Strategie wären Sinn und Zweck eines Konzerts grundsätzlich verraten und wertlos geworden.

Grundsätzlich gehört es zum Wesen wahrer Sensibilität, dass sie Verunsicherungen verursachen kann. Das sollte kein Anlass sein, sich lieber wieder reflexartig abschotten und sogleich auf sicheres, überschaubares Terrain begeben zu wollen. Die entscheidende Frage ist, ob man diese Irritationen zutiefst persönlich nimmt und dadurch verunsichert wird, bis hin zu einer Minderung des Selbstwertgefühls. Man muss bei einer offenen, filterlosen Wahrnehmung stets mit Irritationen rechnen, da man niemals im Voraus absehen kann, ob sich Sinneseindrücke positiv oder negativ auswirken. Zum Trost sei gesagt, dass man dann jedenfalls nicht in Traumwelten ohne Realitätsbezug lebt. Wenn man lernt, bei kurzfristigen Verwirrungen etwas Distanz einzunehmen, und sie als interessanten und lehrreichen Faktor begreift, können diese eine fruchtbare Entwicklung anstoßen.

Versucht man hingegen, Verunsicherungen weitgehend zu vermeiden, wird zwar zunächst das Selbstwertgefühl stabilisiert, aber nur, um bei der ersten harten Konfrontation mit der Realität zusammenzubrechen. Verwunderlich ist die Tatsache, dass sich andere Menschen von diesem Pseudo-Selbstbewusstsein oft beeindrucken lassen. Wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil sie selbst unbewusst ebenso von ihrem Tunnelblick und ihren Wunschvorstellungen beherrscht sind. Eine sensible Wahrnehmung kann jedoch verhindern, auf Menschen hereinzufallen, deren Selbstbewusstsein auf Ignoranz und Inkompetenz beruht.

Menschen entwickeln sich zu authentischen Persönlichkeiten, wenn sie sich nicht abschotten, sondern alle Abstufungen von Eindrücken in sich zulassen und diese mit Selbstkritik einerseits und Selbstbewusstsein andererseits für sich zu nutzen wissen. Jegliches Ausklammern kostet Kraft, blockiert und führt wie in einem Teufelskreis zu einer noch heftigeren Abschottung vor realistischer, ehrlicher Wahrnehmung und zum panikartigen Versuch, sich seine Welt ausschließlich nach persönlichem Wohlbefinden und Gutdünken zusammenzubasteln.

Bei einer Führungskraft hat dieser sich selbst stabilisierende Tunnelblick, der nur mehr fähig ist, andere Tunnel zu erkennen, verheerende Auswirkungen. So, als würde man auf einer Fahrt durch die Schweiz die bunte, vielfältige Bergwelt gar nicht mehr sehen, nur den nächsten dunklen, engen Tunnel, der einem Sicherheit und ein klar überschaubares Blickfeld bietet. Das gleißende Licht am Ende der Röhre, die Farben, die Gletscher, der Wind, die Regenschauer, all das würde nur als Mühe und Überreizung der Sinne empfunden. Und schon bewegt man sich auf das nächste schwarze Loch zu, ein Gefühl der Erlösung in dieser so wahnsinnig vielfältigen Welt.

Deswegen müssen sich verantwortungsvolle Manager stets darüber im Klaren sein, dass ihr Unternehmen in einer komplexen und interaktiven Welt agiert und nicht auf einem abgeschotteten Markt. Wer dafür nicht den Blick hat, ist fehl am Platz.

Man führe sich Platons berühmtes Höhlengleichnis vor Augen, das von Menschen handelt, die in einer unterirdischen Höhle festgebunden sind und immer nur auf die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand schauen können. Hinter ihnen brennt ein Feuer, und zwischen dem Feuer und ihren Rücken werden Gegenstände vorbeigetragen, die Schatten an die Wand werfen. Nach diesem Gleichnis sind es die Schatten der Dinge – sie stehen für unsere sinnlich wahrnehmbare Welt –, nicht die Dinge selbst, die wir sehen können. Nur die Befreiung aus dieser Lage, der Blick zurück ins blendende Feuer und der Aufstieg aus der Höhle führen auf den Weg der Erkenntnis.

Es ist, als ob wir in unserem Alltag bequem in einer dunklen Höhle leben, deren enger Horizont uns in einer überschaubaren Welt Sicherheit bietet. Jeder Versuch, unser Gesichtsfeld zu weiten, wird uns einige Mühen und Verwirrungen bescheren. Aber letztlich erlangen wir nur auf diesem Wege Erkenntnis und auch eine fundierte und glaubwürdige Entscheidungs- und Handlungskompetenz. Nicht nur Menschen, die Verantwortung tragen, sollten sich dieser Haltung verschreiben. Schon das damit verbundene Vermögen, künftig uns selbst und unser Umfeld besser zu verstehen, spricht dafür.

Wir haben ein intuitives Gefühl für die Realität, auch wenn wir uns im Laufe der Jahre einige Wahrnehmungsfilter eingebaut haben. Sei es aus Selbstschutz oder aus mangelndem Willen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Leider wird das Leben damit nur scheinbar einfacher und übersichtlicher, denn langfristig steht das Selbstwertgefühl auf sehr brüchigem Boden, der bei der ersten Belastung einzustürzen droht. Ein dauerhaft fundiertes Selbstbewusstsein muss immer wieder auf Basis eines wahrnehmungsoffenen Realitätsbezugs errungen werden.

Fast jeder Mensch kommt irgendwann im Leben an einen Punkt, wo er spürt, dass die alten Filter-Strategien nicht mehr funktionieren. Aber wenn er versucht, diese Filter plötzlich zu deaktivieren, trifft ihn die Wirklichkeit bisweilen unvorbereitet hart. Schutzlos ist er plötzlich Intrigen, Neid, Machtkämpfen, dem Aktionismus anderer oder einer unerträglichen Oberflächlichkeit ausgesetzt. Ein Gefühl der Melancholie und Sinnlosigkeit kann die Folge sein.

Diese anfänglichen Mühen dürfen nicht der Anlass sein, sogleich wieder »zuzumachen« und den vertrauten Wahrnehmungsschutz einzuschalten! Wir müssen diese ersten Hindernisse ganz entspannt als natürliche Reaktion begreifen, weil wir eben noch nicht geübt darin sind, all die vielen Eindrücke, die plötzlich ungehindert wie Meteoriten auf uns einschlagen, einzuordnen. Wenn wir nicht aufgeben, werden wir belohnt. Die anfängliche Überforderung der Sinne wird sich auflösen, die Luft wird klar und erfrischend sein nach den ersten wilden Gewitterstürmen. Und plötzlich treten auch die angenehmen und heilsamen Seiten unversperrt in unser Blickfeld, die wir aufgrund unseres Wahrnehmungsdefizits früher überhaupt nicht in dieser Intensität und Dichte vermutet hätten:

Wir werden nämlich nach und nach gewahr, dass es eine Fülle positiver Einflüsse in unserem Umfeld gibt wie Unterstützung, Vertrauen, Ehrlichkeit, Respekt, Wärme und Menschlichkeit.

Es entspricht dem Wesen einer sensiblen Wahrnehmung, dass man nicht nur für die schönen und positiven Eindrücke offen sein kann bei gleichzeitigem Bemühen, die unangenehmen auszugrenzen und erst gar nicht an sich ranzulassen. Man bekommt leider immer beide Seiten der Medaille und zusätzlich noch unzählige Schattierungen dazwischen zu spüren. Aber wir werden all diese Dinge bewusster, direkter, ehrlicher und durchdringender erleben.

Wenn sich diese neue innere Offenheit langsam stabilisiert hat, überfordert uns die unberechenbare Fülle der Eindrücke nicht mehr. Wir werden unterscheiden und Prioritäten setzen können.

Und unser Interesse richtet sich dann entspannt auf die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur. Vielleicht beschleicht uns manchmal sogar mit Augenzwinkern die Ahnung, dass wir alle zusammen betrachtet ziemlich erstaunliche und seltsam getriebene Wesen sind und deshalb eigentlich schon wieder liebenswert.

Ein dickes Fell bedrückt

Ich kann mich an einen Leitsatz erinnern, den ich von meinen Professoren in meiner Studienzeit oft hören musste und schon damals intuitiv als widersinnig und völlig falsch empfand: »Künstler mit einem dicken Fell haben es viel leichter.«

So sehr ich auch versucht habe, mir ein dickes Fell zuzulegen, um die auf mich einstürmenden Sinnesreize zu unterdrücken, es wollte mir einfach nicht gelingen. Ich arbeitete mich wohl oder übel an diesem scheinbaren Wettbewerbsnachteil ab, leider zu viel als zu wenig wahrzunehmen. Als erstrebenswertes Vorbild beschrieb mir mein Professor einen berühmten Geiger, der stets mit einer Aura der Unantastbarkeit auf der Bühne stand, nur auf seine Aufgabe konzentriert und tief in seine eigene Welt versunken. Selbst wenn der Konzertsaal abbrennen und das Publikum schreiend davonlaufen würde, sagte mein Lehrer ihm nach, würde dieser Künstler mit seinem dicken Fell einfach ungerührt weiterspielen und vom Chaos um ihn herum nicht das Geringste mitbekommen. Wahrscheinlich würde er das Konzert auch mitten im Feuersturm fertig spielen und erst am Ende voller Überraschung die rauchenden Trümmer um sich herum bemerken.

Mir war insgeheim sofort klar, dass ich an des Vorbilds Stelle wohl als Erster im Saal überhaupt das Feuer riechen und die Bühne fluchtartig verlassen würde. Frustriert sagte ich mir, dass ich nicht die geringste Chance besaß, irgendwann in meinem Leben dem Vorbild diesbezüglich das Wasser reichen zu können.

Der Zufall wollte es, dass ich Jahre später mit diesem Geiger zusammenarbeitete. Ich erzählte ihm diese Jugendgeschichte nach getaner Arbeit bei einem Glas Wein. Anfangs hörte er nur interessiert zu, dann versuchte er, sein Schmunzeln zu verbergen, am Ende konnte er sich vor Lachen kaum mehr halten. Ich war ein wenig irritiert. Daraufhin erzählte er mir im Laufe des Abends zahlreiche Anekdoten aus seinem reichen Künstlerleben, die alle auf den gleichen Punkt hinausliefen: Seit Jahrzehnten würde er beim Spielen auf dem Podium jedes kleinste Detail um ihn herum unmittelbar und in aller Deutlichkeit wahrnehmen. Ob sich nun jemand in der letzten Reihe des dunklen Konzertsaals mit einem Taschentuch die Nase putze oder hinter seinem Rücken unruhige Bewegungen stattfänden, stets würde er alles registrieren. Aber dieses Wahrnehmungsvermögen würde ihn keinesfalls ablenken von seiner gelassenen Konzentration, schließlich nehme er ja genauso die erwartungsvolle und positive Atmosphäre der Zuhörer im Raum wahr.

Am Ende schloss er seine Ausführungen mit dem Hinweis: »Mein Lieber, merken Sie sich eines: Musiker, die ein schönes, dickes Fell haben, können vielleicht solide Handwerker und Techniker sein, wahre Künstler sind sie niemals!«

Ich erinnere mich an eine Aussage meines Sohnes, als er die zweite Klasse der Grundschule besuchte. Dort gab es die üblichen Pöbeleien unter Jungs, und als wir einmal darüber sprachen, sagte er mir: »Weißt du, mich verhaut hier keiner, denn ich sehe bei allen Jungs schon fünf Minuten vorher, wann sie sauer werden. Die einen kriegen schmale Lippen, die anderen gucken so eigenartig. Und dann verschwinde ich lieber, bevor was passiert.«

Mit einem »dicken Fell« hätte er weder die Verhaltensänderungen der Mitschüler beobachten noch diese verstehen können. Er wäre gegebenenfalls von einer Aggression völlig überrascht worden und hätte nur mehr unvorbereitet reagieren können.

Allzu oft sind wir in der misslichen Lage, zu spät zu reagieren, weil wir unsere Sinne im Vorfeld nicht rechtzeitig und nicht richtig eingesetzt haben. Unsere Wahrnehmungsbereitschaft ermöglicht nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich, dass wir Strömungen erkennen, bevor sie sich in aller Heftigkeit und Schonungslosigkeit als Konsequenz manifestieren. Es gibt genügend Beispiele aus der Geschichte, die beweisen, dass manche negativen Entwicklungen durchaus vorhersehbar gewesen wären, wenn die Mehrheit ihre Augen und Herzen nicht so bereitwillig verschlossen hätte, aus welchen Motiven auch immer.

Wir zimmern uns mit Vorliebe die Wirklichkeit nach unserem Geschmack, so, wie es uns gerade angemessen erscheint; die späteren Folgen blenden wir aus. Wenn wir doch mehr Mut und Weitsicht besäßen, nicht nur unseren kurzzeitigen Nutzen wahrzunehmen, wären wir seltener dazu verdammt, auf die fatalen Folgen unserer Abschottung unvorbereitet reagieren zu müssen.

Wenn es allerdings bereits zu spät ist, dann hilft uns in dieser Stresssituation vielleicht sogar eine kurzfristige tunnelblickartige Verengung unseres Gesichtsfeldes. Aber eine langfristige berufliche Beanspruchung braucht unbedingt eine umfassende 360-Grad-Wahrnehmung, damit wir klar unterscheiden und Prioritäten setzen können und uns die Dinge nicht über den Kopf wachsen.

Durch eine ausgewogene Wahrnehmung bleiben wir handlungsfähig, und nicht zuletzt behalten wir auch die Kontrolle über unser psychisches Befinden, weil wir die Auslöser für den empfundenen Druck besser verstehen lernen:

Falls es die reine Sachlage ist, die einen unter Druck setzt, kann man sich erlauben, sie nüchtern und emotionslos zu betrachten, und sich gleichzeitig konzentriert einen Plan zurechtlegen, der Situation angemessen zu begegnen. Allein diese Gewissheit schafft bereits Erleichterung. Beruht der Stress nicht auf einer faktischen Arbeitsüberlastung oder schwierigen Problematik, sondern ist der Auslöser die Willkür eines Vorgesetzten, so ermöglicht auch hier die Wahrnehmungsfähigkeit, dass man dessen Motive durchschaut und mit Pragmatismus Strategien entwickelt, unangenehme Konsequenzen abzuwehren. Reaktionsfähigkeit statt Verzweiflung.

Einsichten sind Privatsache

Wenn ein Musiker ein Werk auf seine Art und Weise interpretiert, trifft er eine persönliche Aussage. Gleichzeitig weiß er, dass diese Musik, von einem anderen Künstler dargeboten, zwangsläufig anders ertönen würde. Sowohl rhythmisch als auch in den klanglichen Nuancen bis hin zu enormen Differenzen der Dauer einer Komposition. Wenn man verschiedene Einspielungen eines Werks vergleicht, ergeben sich manchmal Abweichungen von bis zu einigen Minuten, wie jeder Musikliebhaber weiß.

Die Version eines Künstlers entspricht seinem Charakter, seiner Ausdrucksweise, seiner Emotionalität und insbesondere seinen intellektuellen Einsichten in Bezug auf den Komponisten und sein Werk. Niemals könnte er den Stil einer anderen Künstlerpersönlichkeit kopieren. Gleichzeitig ist er sich bewusst, dass seine Sicht ebenfalls nicht auf andere übertragbar ist. Selbst wenn die Feuilletons seine Interpretation kritisieren, kann er das Stück am nächsten Tag nur wieder auf die gleiche Art und Weise spielen, denn es trägt seine unverwechselbare Handschrift, die in Jahren gereift ist.

Individuelle Prägung ist nicht zu verwechseln mit mangelnder Wahrnehmungsfähigkeit und Offenheit. Es hat sich beispielsweise gezeigt, dass aufgeklärte Zeitungsleser einen politischen Artikel, dessen Inhalt ihrer eigenen Ansicht völlig widerspricht, eher als Bestätigung ihrer gegensätzlichen Meinung empfinden. Diese im ersten Moment merkwürdige Reaktion kann schnell zu falschen Rückschlüssen führen. Es scheint, dass wir nur diejenigen Gesichtspunkte zulassen und herauspicken, die ohnehin unsere vorgefertigte Meinung spiegeln. Fazit: Wir sind weder wahrnehmungsfähig noch lernfähig und lassen uns nicht einmal von guten Argumenten dazu bewegen, unsere ignoranten Scheuklappen abzulegen. Nichts vermag wohl unsere trägen und dumpfen Meinungen zu beeinflussen.

Diese Interpretation ist auf den zweiten Blick jedoch als abwegig anzusehen. Denn das Resultat beweist eher das genaue Gegenteil, nämlich dass uns eine gesunde Skepsis vor allzu schnellen Urteilen bewahren kann: Echte Wahrnehmung braucht Zeit.

Aus dieser Perspektive betrachtet wäre es mehr als irritierend, wenn ein Journalist nur aufgrund eines erstklassig geschriebenen Textes beim Leser sogleich eine Modifikation der in vielen Jahren gewachsenen Ansichten bewirken würde!

Was also im ersten Moment ein sichtbarer Beleg für unsere Unflexibilität und Wahrnehmungsignoranz zu sein scheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als wertvoller und überaus tröstlicher Charakterzug: Wir wechseln eben nicht tagtäglich unsere Meinungen wie die Socken. Es braucht eben mehr, bis wir uns beeinflussen und tatsächlich überzeugen lassen. Das sollte man keinesfalls als Charakterschwäche betrachten, sondern als Beweis innerer Stärke.

Eine gewisse Skepsis ist gesund und macht uns viel weniger manipulierbar. Denn allzu oft wird das Wort »Wahrnehmung« von Interessengruppen missbraucht. Diese werfen mit Vorliebe gerade denjenigen einen ignoranten Tunnelblick vor, die sich nicht vorbehaltlos für ihre Zwecke einspannen lassen und nicht willenlos nach ihrer Pfeife tanzen.

Der demagogische Vorwurf, nicht richtig wahrnehmen zu wollen, was einem andere vorgegeben haben, ist ja argumentativ nicht leicht von der Hand zu weisen und somit ein geschickter Schachzug der Herabsetzung. Aber man sträubt sich völlig zu Recht, vorbehaltlos als eigene »Wahr-Nehmung« zu akzeptieren, was andere für »wahr« befunden haben, nur weil es ihren Interessen nützt.

Viele Meetings in Unternehmen laufen nach diesem Prinzip. Wenn beispielsweise ein erfolgreich am Markt agierendes Unternehmen die Chefposition im Marketing auswechselt, gehört es zum Selbstverständnis der neuen Führungskraft, nicht einfach das Bewährte fortzuführen, sondern eigene Akzente zu setzen. Demzufolge wird der Kunde neu vermessen und bewertet, denn man will ja künftig noch näher an ihn ran. Die tiefschürfenden und oft überraschenden Analysen beruhen angeblich auf sensibleren Wahrnehmungsmethoden. Den Vertriebsleuten werden dann veränderte Kundenbedürfnisse und entsprechend abgewandelte Verkaufsstrategien suggeriert, die im Widerspruch zu ihren täglichen Erfahrungen stehen. Am Ende stellt sich heraus, was alle von der ersten Sekunde an dachten, aber nicht auszusprechen wagten: Der ganze sinnlose Aufwand entsprang dem Ehrgeiz der Führungskraft, sich mit ungewöhnlichen Wahrnehmungsmodellen zu profilieren. Größerer Schaden wurde nur abgewendet, weil sich die meisten bei ihrer Arbeit insgeheim der verordneten Wahrheit widersetzten und weiterhin auf ihre unmittelbaren und erfolgreichen Erfahrungen vertrauten.

Sinnvoller wäre es, wenn eine neue Führungskraft sich nicht zu schade wäre, zuerst die Erfahrungen der erfolgreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzuholen, anstatt sogleich mit Erkenntnissen aufzutrumpfen, die mehr das krampfhafte Bemühen widerspiegeln, sich vom Üblichen abzuheben, als die Realitäten des Marktes.

Jeglicher Versuch, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie wahrzunehmen haben, ist ein unangemessener Eingriff in die Privatsphäre und Würde des Menschen, also eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte.

Wahrnehmung ist Lebensqualität

Ich hatte das Glück, mit einigen außergewöhnlichen Künstlern zusammenzuarbeiten und sie genauer kennenzulernen. Bei aller Unterschiedlichkeit haben sie eines gemeinsam: Ihr Selbst-Bewusstsein ist kein stabiles, in Beton gegossenes und stets verlässliches Fundament, sondern muss tagtäglich aufs Neue erlebt und errungen werden. Ihr Selbst-Bewusstsein befindet sich im Spiel und Fluss der Kräfte und wird von einem ausgeprägten »Bewusst-Sein« geprägt, das mit sich selbst in kontinuierlichem und kritischem Austausch steht. Nur dadurch erhalten sich große Künstler ihre Wachheit, Präsenz und Lebendigkeit. Ihre Hypersensibilität kann ihnen zwar manchmal eine Bürde sein, aber die ihnen zugeschriebene Exzentrik ist viel weniger ego-zentrisch als in der Öffentlichkeit dargestellt und wahrgenommen. Sie ist oft nicht viel mehr als das verständliche Bedürfnis, sich ein wenig abzuschotten. Große Persönlichkeiten bleiben über alle Hindernisse und Belastungen hinweg stets enorm durchlässig und wahrnehmungsfähig und dadurch schutzlos nach außen und nach innen. Das ist ihr Erfolgsgeheimnis.

Man kann auch in einem Wirtschaftsbuch die Wahrnehmungsfähigkeit nicht nur aus der rein beruflichen Perspektive betrachten, denn sie ist ein Wert an sich.

Menschen, die privat offen und wahrnehmungsfähig sind, können dieses Vermögen im Job nicht einfach abschalten, und wenn doch, dann nur im Sinne einer bewussten Reduzierung, vielleicht aus Frust oder aus welchen Gründen auch immer. Ein berufliches Ausklammern von Sensibilität führt langfristig leider auch im Privatleben zu einem Verlust dieser Fähigkeit. Umgekehrt hat eine schwierige private Situation, die unser Gesichtsfeld beschneidet, auch Auswirkungen auf unser Berufsleben.