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Seitenzahl: 219
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Christian Gansch
Vom Solo zur Sinfonie
Was Unternehmen von Orchestern lernen können
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
WER GIBT DEN TON AN?
Ein funktionierender Orchesterapparat ist ein Paradebeispiel für effiziente Management-, Führungs- und Kolfliktlösungsstrategien. Denn nirgendwo sonst arbeiten Spitzenkräfte täglich stundenlang auf so engem Raum zusammen.
Wie viele Solisten verträgt ein Team?Wie entsteht ein Klima, in dem der Einzelne seine Begabung zum Wohle aller nutzt?Wie werden Entscheidungen herbeigeführt, wie wird kommuniziert?Der Dirigent und Kommunikationsexperte Christian Gansch zeigt anhand vieler Beispiele, was sich Unternehmen von Orchestern abschauen können.
»Ein origineller Blick hinter die Kulissen der Orchesterwelt, der grundlegende Fragen der Unternehmensführung und -kommunikation beantwortet.« manager magazin
Über den Autor
Christian Gansch, geboren 1960 in Österreich, hat eine ungewöhnliche Biografie: Einerseits war er als Führungskraft bei den Münchner Philharmonikern und als Dirigent internationaler Spitzenorchester erfolgreich, andererseits arbeitete er vierzehn Jahre lang in der Musikindustrie. In seiner Funktion als Produzent agierte er bereichsübergreifend zwischen Produktion, Marketing, Vertrieb und Controlling. Neben vielen internationalen Auszeichnungen gewann Christian Gansch vier Grammy Awards. Seine vielfältigen Erfahrungen in der Musik- und Wirtschaftswelt bilden die Grundlage für seinen Orchester-Unternehmen-Transfer. Er zählt zu den gefragtesten Referenten im In- und Ausland.
Musik ist die Melodie, zu der die Welt der Text ist.
Arthur Schopenhauer
Vorwort zur Neuausgabe
Einführung
1. Das Orchester als Unternehmen
Erster Eindruck
Vom Solo zur Sinfonie
Klare Hierarchien
Raum für Selbstverantwortung
Führungskräfte sind stilprägend
Teamgröße
Alternative Strömungen
Unternehmerinteressen und Arbeitnehmerrechte
Recruiting
Gruppenzugehörigkeit und Milieus
Druck und Lampenfieber
2. Vom Ich- zum Wir-Gefühl
Ein Orchester als permanentes gruppendynamisches Seminar
Aktueller Ausbildungsstand versus langjährige Erfahrung
Abteilungsübergreifende Lösungen
Sympathien und Antipathien
Respekt ist wichtiger als Harmonie
Störungen des altbewährten Ablaufs als fruchtbarer Quell
Change muss Alltag sein
Bremser erkennen, motivierte Mitarbeiter fördern
Leistung oder Konsens
Mitspracherechte müssen Grenzen haben
3. Das überstrapazierte Teamideal
Gleichheit ist Illusion
Verantwortung motiviert
Teamarbeit als Wechselspiel der Kräfte
Einforderung von Teamfähigkeit als Drohgebärde
Interaktion verlangt Offenheit
Spannungen in einem Team belasten den ganzen Betrieb
Mut zu Neuem
4. Über Führungsideale und Führungsprozesse
Was macht der Dirigent?
Nur Stimmigkeit teilt sich mit
Wenn Abteilungen gegeneinander antreten
Widerstände
Voraussetzungen für Authentizität
Freiheiten zulassen
Es gibt nicht ein Erfolgsmodell
Wenn die Chemie nicht stimmt
Irrtümer zugeben
5. Innovation durch Inspiration
Zwischen Wollen und Entstehenlassen
Innovationshürden
Kontinuität durch Wandel
Emotionalität und Sachlichkeit
»Jetzt ist mir klar, warum ein Berufsorchester mit all seinen internationalen Spitzenkräften wie ein Unternehmen funktioniert und funktionieren muss. Und vor allem ist mir klar geworden, was das für unser Unternehmen heißt!« So oder ähnlich lauteten die Reaktionen auf mein Buch und riefen mir ins Bewusstsein, dass sich bis dahin anscheinend nur wenige Führungskräfte, Manager und Angestellte Gedanken darüber gemacht haben, welcher Aufwand nötig ist, damit aus unterschiedlichen Persönlichkeiten, Funktionen und Kompetenzen ein homogenes Ensemble und eine erstklassige Marke entstehen. Die meisten dachten, der äußere Eindruck eines Orchesters – die natürlich wirkende Harmonie auf der Bühne – würde automatisch auch dessen komplexe innere Struktur repräsentieren.
Mich hat das vor allem deswegen überrascht, weil man heutzutage beispielsweise im Sport ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass jedes professionelle Team nur mit einem ausgeklügelten Spielsystem und einer präzisen Taktik erfolgreich sein kann und niemals planlos und spontan aus dem Bauch heraus agiert. Nachdem ein Profi-Orchester sogar aus achtzig Spezialistinnen und Spezialisten besteht, sollte es auf der Hand liegen, dass viele Strategien nötig sind, damit sie nicht einfach drauflos musizieren, was in einem Desaster enden würde. Selbst technische Geräte oder Maschinen können wir uns leicht als Ergebnis einer langwierigen Zusammenarbeit von Kreativen, Ingenieuren und Designern vorstellen, die sich mit ihren Kompetenzen eingebracht haben und viele Hürden überwinden mussten, um das Produkt von der ersten Idee zur Serienreife zu bringen. Nur bei einem Spitzenorchester denken eigenartigerweise viele, es würde sich um einen von Natur aus homogenen Klangkörper handeln, dessen einzelne Kräfte von der Leidenschaft für Musik zusammengeschweißt werden – und vergessen dabei völlig, dass diese Profis von ganz unterschiedlichen künstlerischen Auffassungen angetrieben werden.
Inzwischen haben aber viele Leserinnen und Leser sowie Teilnehmer meiner Vorträge und Workshops ihrer Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, wie es ihnen früher überhaupt möglich war, ein achtzigköpfiges Orchester als selbstverständliche Einheit zu betrachten. Erfahren sie doch in ihrem eigenen Berufsalltag tagtäglich, wie schwer es bereits einer Abteilung von nur fünf bis zehn Personen fällt, sich abzustimmen und als einigermaßen harmonisches Team zu präsentieren. Ich habe den Eindruck, dass mein Buch, indem es Klischees in Bezug auf Orchester und Dirigenten entkräftet und damit Einsichten über das Funktionieren von Unternehmen im Allgemeinen befördert, zugleich den Respekt gegenüber allen unternehmerischen Leistungen erhöht. Besonders hat es mich gefreut, wenn die Auseinandersetzung mit den orchestralen Arbeitsabläufen bei manchen Leserinnen und Lesern eine Begeisterung für die wunderbaren musikalischen Klangwelten von Sinfonieorchestern wecken konnte.
Christian Gansch, Februar 2014
Manche Unternehmen verwenden viel Zeit und Energie darauf, einprägsame Leitbilder für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verfassen. Diese stammen meistens aus dem vertrauten idealistischen Schlagwort-Repertoire. So steht beispielsweise die Forderung nach einer besseren Kommunikation und Zusammenarbeit fast überall auf der Agenda. Und es kann bisweilen der Verdacht entstehen, dass derartige Leitbilder den Zweck erfüllen sollen, echte menschliche Vorbilder aus Fleisch und Blut und mit Herz und Seele einfach zu ersetzen. Meine langjährigen Erfahrungen in der Unternehmens- und Orchesterwelt haben mir gezeigt, dass hehre Begriffe nur leere Worte bleiben, wenn nicht gleichzeitig eine Unternehmenskultur geschaffen wird, in der engagierte Rhetorik und alltägliche Praxis auf natürliche und nachvollziehbare Weise zusammenwirken.
Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass sich unsere Einstellungen und Verhaltensweisen selten aufgrund verbaler Vorgaben verändern. Viel lieber lassen wir uns von Geschichten beeinflussen, die uns emotional bewegen und damit nachhaltig inspirieren. Vor diesem Hintergrund ist ein sinfonischer Orchesterapparat ein ideales Sinnbild für die in allen Bereichen und Branchen entscheidende Frage, wie aus einer enormen Vielfalt an Charakteren, Instrumenten und Funktionen eine schlagkräftige Einheit entstehen kann. Wobei sich auch in Berufsorchestern die einzelnen Kräfte nicht automatisch als fruchtbare Quelle für das Ganze verstehen – schließlich arbeiten dort bis zu hundert international rekrutierte Profis zusammen, die von ganz unterschiedlichen Interessen angetrieben werden. Deswegen müssen sich Orchester ihre am Ende beeindruckende Qualität und spielerisch leicht wirkende Homogenität auf Basis klar definierter Arbeitsabläufe tagtäglich aufs Neue erarbeiten. Die Strukturen von Orchestern und Unternehmen weisen verblüffende Parallelen auf, obwohl Konzertbesucher beim Anblick eines solchen Ensembles oft den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um eine anachronistische Organisationsform handele: In der Mitte thront der das Geschehen dominierende Dirigent, während die Musikerinnen und Musiker blind seinen Willen befolgen. Aber das äußere Erscheinungsbild trügt, vor allem wenn man bedenkt, dass jedes Orchester aus über zehn Abteilungen mit jeweils bis zu drei Führungskräften besteht. Dem Publikum ist oft nicht bewusst, dass in einem Berufsorchester ausschließlich Spezialisten sitzen, die seit ihrer Jugend eine intensive Ausbildung an Konservatorien und Musikhochschulen mit Engagement und Disziplin absolviert haben und die im Laufe der Jahre natürlich ihre ganz persönlichen Visionen entwickelten, was die technische Umsetzung und künstlerische Interpretation von Musik betrifft. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage gelingt es den einzelnen Orchesterprofis im entscheidenden Moment, gemeinsam Spitzenleistungen zu erbringen, da ihnen bewusst ist, dass sie für den Erfolg stets aufeinander angewiesen sind, unter dem Motto: aufeinander hören – miteinander handeln.
Der orchestralen Arbeitssituation wohnt ein hohes Konfliktpotenzial inne, weil die Musikerinnen und Musiker bei ihrer täglichen stundenlangen Arbeit eine belastende räumliche Enge ertragen müssen, ohne die geringste Chance, sich kurzfristig für eine Weile in ein Büro zurückziehen zu können. Jeder Einzelne ist ein offenes Buch für sein Umfeld, kein Fehler kann kaschiert oder anderen untergeschoben werden. Selbstmotivation und Selbstverantwortung sind daher entscheidende Faktoren für den orchestralen Erfolg.
Dementsprechend ist das Feedback im Orchester stets direkt und schonungslos. Aber ohne eine offene, ehrliche, aber zugleich entspannte Feedback- und Kommunikationskultur würde der Druck, der andauernd auf den Schultern aller Musiker lastet, ins Unermessliche steigen und irgendwann würde er wohl das ausbalancierte orchestrale Gefüge sprengen.
In Bezug auf das Thema »Veränderungsbereitschaft« stellt ein Orchester eine vorbildliche Metapher für Unternehmen dar. Denn bei drei bis vier Konzerten pro Woche müssen alle Kräfte verinnerlicht haben, dass sich die Zuhörer von heute und morgen niemals für das Konzert von gestern interessieren, das Publikum somit tagtäglich neu erobert und begeistert werden muss: Erfahrung ja, Routine nein. Auf Basis dieser Geisteshaltung wird das Thema »Change« im Orchester zur Alltagskultur, vorausgesetzt die Führungskräfte betrachten es als ihre dringlichste Aufgabe, die Selbstmotivation der Mitarbeiter zu aktivieren, indem sie nicht einfach nur Befehle geben, sondern in erster Linie Überzeugungsarbeit leisten.
Dass die Qualität eines unternehmerischen oder orchestralen Miteinanders nicht von plakativen Schlagworten, sondern letztlich von zwischenmenschlichen Faktoren bestimmt wird, beweist das folgende Beispiel aus der Orchesterpraxis: Der Dirigent Sergiu Celibidache arbeitete im langsamen Satz der 4. Sinfonie von Brahms mit den Streichern an einem warmen, ruhig fließenden Klang. Für diese wunderbaren Takte benötigen die Musiker kaum eine zusätzliche Motivation seitens der Führungskraft Dirigent, denn eindringlich offenbart sich hier die Schönheit und Würde der Musik. Aber mitten im Fluss dieser Passage brach der Maestro plötzlich unwirsch ab. Mit verbissener Miene und heiserer Stimme fauchte er das Orchester an: »Spielen Sie entspannt! Ganz locker bitte!« Unvermittelt verkrampften sich die Finger der Streicher, den Bläsern blieb gleich ganz die Luft weg. Aber nach einigen Schrecksekunden brach das gesamte Orchester in schallendes Gelächter aus, da unvermittelt jeder Einzelne die eklatante Diskrepanz zwischen Rhetorik und Umsetzung, also zwischen Theorie und Praxis empfand.
Das spontane Lachen des gesamten Ensembles klärte die Situation und führte auch dem Dirigenten den Widerspruch zwischen seiner Ausdrucksweise und dem Inhalt, den er vermitteln wollte, klar vor Augen. Er reagierte aber sehr weise, ohne seine missglückte rhetorische Vorgabe zu verteidigen: Ruhig und entspannt, ohne aufgesetzte Posen hob er – selbst ein wenig schmunzelnd – seine Hände und gab einen kleinen, unaufdringlichen Einsatz. Dann führte er mit feinen Bewegungen durch die Takte der Brahms’schen Musik. Er war ganz und gar auf den Inhalt, also auf das Wesen der Musik konzentriert. Ein offenes Miteinander entwickelte sich im Orchester, eine natürlich fließende Interaktion aller beteiligten Kräfte. Sein formender Dirigierstil inspirierte die Musiker, das Geflecht der Stimmen lebendig zu gestalten, während der Dirigent wach und wahrnehmungsfähig das Wechselspiel der Kompetenzen und Interessen organisierte.
Es ist übrigens nicht meine Absicht, Ihnen mit meinem Buch das einzig wahre und glücklich machende Erfolgsmodell anpreisen zu wollen. Mir geht es letztlich um das »orchestrale« Bewusstsein und nicht um das seelenlose Befolgen von Regeln, obwohl klare Gebrauchsanweisungen heute sehr gefragt sind, weil man sich dadurch das Selbstdenken erspart. Ich will Ihnen nicht mit guten Argumenten einen Mantel aufdrängen, der vielleicht überaus schick und gerade sehr in Mode ist, aber letztlich weder stofflich noch farblich zu Ihrem Typ passt.
Die von mir erläuterten Erfolgsstrategien innerhalb eines Orchesters sollen vielmehr anhand beziehungsreicher Beispiele einen unmittelbaren Transfer zu Unternehmen auslösen. Denn die Metaphern aus dem orchestralen Mikrokosmos bieten die Chance, Konfliktfelder offen und schonungslos anzusprechen und gleichzeitig diverse Lösungsmöglichkeiten ohne erhobenen Zeigefinger auszuloten. Meine ausführliche Darstellung der orchestralen Welt soll Sie inspirieren, lustvoll Ihre Fantasie spielen zu lassen und Ihre eigenen Schlüsse im Hinblick auf eine bessere Unternehmenskultur zu ziehen.
Ein funktionierender Orchesterapparat ist ein Paradebeispiel für ein kreatives, offenes und schnell reagierendes Unternehmen, mit klar strukturierten und effizienten Führungs- und Konfliktlösungsstrategien. Ich bin überzeugt, dass Ihnen die so selbstverständlich wirkenden orchestralen Arbeitsabläufe – das tägliche Ringen um Perfektion im Dienste der Zuhörer – zahlreiche Einsichten und Inspirationen zu vertrauten Problemstellungen und Konfliktfeldern bieten können.
Einen guten Dirigenten zeichnet aus, dass er weiß, wann er das Orchester nicht stören soll.
Herbert von Karajan
Die Musikerinnen und Musiker des Orchesters betreten langsam das Podium. Die Türen des Konzertsaales werden von Saaldienern geschlossen. Eilig huschen im Halbdunkel noch späte Konzertbesucher durch die Reihen. Die Musiker sitzen jetzt festlich gekleidet und beleuchtet auf ihren Plätzen und spielen sich auf ihren Instrumenten ein. Ein Klangwirrwarr von Streicher- und Bläserstimmen, dazwischen einige dumpfe Schläge der Pauke und des Schlagwerks. Dann erhebt sich der Konzertmeister, der als führender 1. Geiger den Platz links vom Dirigentenpodest einnimmt. Unvermittelt verstummt das Orchester. Die Oboe bläst ein »A« an und die einzelnen Instrumentengruppen stimmen ihre Instrumente nach diesem Ton. Erwartungsvolle Ruhe. Der Dirigent tritt auf. Applaus. Er schüttelt dem Konzertmeister stellvertretend fürs ganze Orchester die Hand und verbeugt sich nur kurz vor dem Publikum, denn noch gibt es nicht viel zu feiern. Dann dreht er sich zum Orchester hin. Die Mehrheit der Zuhörer kann den Dirigenten während des gesamten Konzerts nur von hinten betrachten und ahnt nicht, was ihr dabei an Einblicken entgeht. Der Dirigent hebt die Hände, ein Augenblick erwartungsvoller Stille, das Konzert beginnt.
»Diese beispielhafte Harmonie des gesamten Ensembles! Alles so einfach und selbstverständlich! Warum läuft es in meinem Job nie so rund und homogen wie da vorn auf der Bühne?«, grübelt die Führungskraft, während sie nochmals ihren Arbeitsalltag Revue passieren lässt, der voll gepackt war mit zähen Meetings, zahllosen E-Mails und Telefonaten. Aber diese wunderbaren sinfonischen Klänge sollen dem Stressgeplagten jetzt ein bisschen Entspannung und Erbauung bringen.
Ein Sinfonieorchester ist in den Augen der meisten Betrachter ein perfektes Symbol für Homogenität. Jede Musikerin, jeder Musiker nimmt seinen genau definierten Platz ein, die Hierarchie steht unverrückbar fest. Es scheint keinerlei Positionskämpfe zu geben, die zu Reibungsverlusten führen. Der Gleichklang des vielköpfigen Teams fasziniert, bestechend ist auch das spielerische Ineinandergreifen der verschiedenartigen Instrumentengruppen.
Keine Gefahr, dass die Dame, die so anmutig ihr Cello spielt, mitten in der Beethoven-Sinfonie plötzlich auf die Pauke hauen will, oder dass der Trompeter sich aus Frust, mangels größerer Herausforderungen, unter die Streicher mischt. Ebenso undenkbar, dass ein Violinist während des Konzerts plötzlich das Bedürfnis verspürt, sich selbst zu verwirklichen, indem er die Gunst der Stunde nutzt, um dem Publikum mitten im Konzert seine eigene, selbst komponierte Melodie aufzutischen. Nichts davon, eine klare Ordnung und feste Strukturen bis ins letzte Glied.
Es besteht ebenfalls kein Anlass zur Besorgnis, dass sich der Dirigent im Konzert von seinem Podest herunter mitten ins Orchester hineindrängen könnte, um der Dame mit dem Englischhorn dieses aus der Hand zu nehmen und ihr mit gönnerhafter Miene zu demonstrieren, wie sie gefälligst zu spielen habe.
Obwohl es viele Dirigenten auf einem Instrument zur wahren Meisterschaft gebracht haben – oft waren sie selbst Mitglied eines Orchesters, bevor sie die Dirigentenlaufbahn einschlugen –, ist diese Form der direkten Einmischung absolut tabu. Es gilt das simple Prinzip: Der Dirigent dirigiert, die Musiker spielen ihre Instrumente.
In meiner langen musikalischen Laufbahn kann ich mich nur an einen einzigen Fall erinnern, dass ein berühmter Dirigent, der ebenso ein anerkannter Geiger war, vor dem versammelten Orchester ein Instrument zur Hand nahm:
Im 2. Satz der 9. Sinfonie von Bruckner, einem Scherzo mit bisweilen teuflisch stampfendem Charakter, gibt es einige gefürchtete Takte für die Gruppe der ersten Violinen. Selbst bei Spitzenorchestern ist die Intonation, also die Reinheit der Töne, bei dieser grifftechnisch schwierigen Stelle nicht immer perfekt. Es klingt zwar nicht direkt falsch, aber wenn man genau hinhört, sind unsaubere Töne keine Seltenheit.
Nachdem diese technisch anspruchsvolle Passage von Maestro Lorin Maazel intensiv geprobt worden war, sich aber dennoch keine hörbare Verbesserung einstellte, waren alle beteiligten Spieler ziemlich ratlos und ein wenig peinlich berührt. Denn einem Spitzenteam sollte das eigentlich nicht passieren. Daraufhin schlug er den ersten Violinen einen Fingersatz vor, der seiner Erfahrung nach funktionieren würde.
Sein Vorschlag war eigentlich ein kleiner Tabubruch. Denn Sie müssen wissen, dass Fingersätze üblicherweise etwas zutiefst Persönliches, ja sogar Intimes sind. Jeder Musiker muss stets den für ihn besten Fingersatz individuell austüfteln, also festlegen, mit welchen Fingern der linken Hand er die Noten grifftechnisch bewältigen kann. Und das ist abhängig vom Handtyp und der im langjährigen Studium erlernten Technik.
So wie Sie Ihrer Sekretärin nicht vorschreiben würden, mit welchen Fingern sie beim Diktat zu schreiben habe, so duldet auch die Frage nach der idealen grifftechnischen Lösung keinerlei Einmischung von außen. Fingersätze sind Privatsache.
In diesem Fall waren die Musiker natürlich in der Defensive, nachdem ihre eigenen Fingersätze nicht den erwünschten Erfolg gebracht hatten. Daher waren die ersten Violinen bereit, den grifftechnischen Vorschlag von Maestro Maazel anzunehmen. Aufgrund des komplizierten technischen Sachverhalts verstanden sie aber seine verbale Erläuterung der Griffabfolge nicht sogleich. Daraufhin stand der Konzertmeister spontan auf und drückte dem Dirigenten unter allgemeinem Geraune sein Instrument in die Hand, damit dieser seinen Fingersatz vorführen konnte. Nun gab es kein Zurück mehr für den Dirigenten: Unvermittelt sah er sich gezwungen, dem gesamten Kollegium zu beweisen, dass er aus dem Stand heraus fähig ist, den selbst gesetzten Standards gerecht zu werden.
Ein wenig irritiert ließ er sich darauf ein. Das Orchester hielt den Atem an. Aber der Maestro spielte ausgezeichnet, viel besser als erwartet. Und tatsächlich zauberte er eine sehr spezielle Fingersatzlösung aus dem Hut, auf die nicht jeder Geiger sogleich gekommen wäre. Dafür erntete er anerkennenden Applaus vom gesamten Orchester, und jeder Spieler der ersten Violinen übte sofort für einige Sekunden die neue Griffvariante ein, bevor sie wieder im Kollektiv geprobt wurde.
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Es stellte sich heraus, dass dieser Fingersatz nur gut klang, wenn er individuell angewandt wurde. Als ihn jedoch sechzehn Geigerinnen und Geiger der ersten Violinen gleichzeitig umsetzten, entstand mitten in der Passage ein eigentümlicher Ruck, der den Fluss der Tonfolge störend unterbrach. Beim einzelnen Musiker fiel das kaum ins Gewicht. Aber innerhalb der Gruppe verstärkte sich dieser Effekt zu einem kollektiven musikalischen »Schluckauf«, der mit dem neuen Fingersatz einfach nicht abzustellen und in den Griff zu bekommen war. Schließlich kamen alle überein, dass es besser wäre, wieder zu den individuellen technischen Lösungen zurückzukehren und an deren Perfektionierung zu arbeiten.
Wie sich in den darauffolgenden Pausengesprächen herausstellte, empfanden die meisten diesen Ausgang insgeheim als überaus tröstlich.
Die individuelle Variante war am Ende der Kollektivlösung überlegen. Die Privatsphäre blieb diesbezüglich gewahrt und unausgesprochen stand im Raum: Vielfalt erzeugt den besten Klang, die richtige Mischung macht’s!
Dieses Beispiel zeigt, dass nicht jede Arbeitsweise und -technik bei allen Menschen gleich gut funktioniert. Dies sollte man nicht werten und beklagen, im Sinne von: »Die können das nicht auf die vorgeschriebene Weise«, sondern schlicht akzeptieren.
Oft wird das nötige Vermitteln von Techniken und Strategien bereits selbst als das Erfolgsmodell schlechthin verkauft, obwohl es nur Mittel zum Zweck ist und erst die Verbindung von Strategie und Persönlichkeit zum Erfolg führt.
Musiker müssen sich jahrelang in mühevoller Kleinarbeit das technische Handwerkszeug aneignen, um später einmal in einem Spitzenorchester mitspielen zu können. Im Laufe dieses Prozesses variiert jedoch jeder Einzelne die technischen Grundbedingungen so, dass sie zu seiner Persönlichkeit, zu seinem Körper passen. Ein kleiner Geiger mit dicken Fingern wird ganz andere Techniken verwenden müssen, als eine große schlanke Geigerin mit langen, dünnen Fingern.
In einem Orchester kommen die unterschiedlichsten Typen vor. Und sie sind alle auf ihre Weise einzigartig. Nicht zuletzt, weil es ihnen gestattet ist, ja sogar in ihrer Ausbildung stets größter Wert darauf gelegt wurde, dass sie auf Basis allgemeiner Grundtechniken ihren persönlichen Stil finden.
Bereits als Kind irritierte mich der machtvoll stampfende Gleichschritt marschierender Soldaten. Zugleich begeisterte mich die physikalische Tatsache, dass sogar erstklassig konstruierte Brücken von einer Menschenmasse im Gleichschritt wegen der sich dabei aufschaukelnden Schwingungen zum Einsturz gebracht werden können. Das ist der Grund, warum Soldaten vor Brücken unbedingt in einen individuellen Schrittrhythmus wechseln müssen, um sich und ihre Kollegen nicht in Lebensgefahr zu bringen.
In diesem Bild wird individuelle Vielfalt zur Überlebensstrategie, indem sie – im wahrsten Sinne des Wortes – Stabilität und Tragfähigkeit sichert.
Wenn man sich verdeutlicht, dass der Begriff »Brücken bauen« ein alltäglich gebrauchtes Sinnbild sowohl für zwischenmenschliche als auch für länderübergreifende Beziehungen ist, so schließt er den Gleichschritt von Massen von selbst aus.
Verschiedene Herangehensweisen führen eher zu einem tragfähigen Gesamtergebnis als gleichgeschaltete. Es ist wichtig, dass Mitarbeiter, insbesondere Führungskräfte, den nötigen Freiraum bekommen, ihre eigenen Wege für die Umsetzung eines Konzepts zu finden. Solange sich alle den gemeinsamen Zielen verpflichtet fühlen, ist das kein Wagnis für das Unternehmen.
Im Orchester entsteht ein homogenes Klangbild nicht zuletzt aufgrund der ausgeprägten individuellen Unterschiede der einzelnen Persönlichkeiten. Daher klingen Jugendorchester, selbst wenn in ihnen die besten jungen Musikerinnen und Musiker verschiedener internationaler Hochschulen zusammenarbeiten, klanglich oft ein wenig dünn. Technisch zwar perfekt und virtuos, aber eher eindimensional, nicht so aussagestark wie ein eingespielter Orchesterapparat. Diese Hochbegabten sind vom Orchestererlebnis anfangs noch zu sehr überwältigt, sie lassen noch zu viel Gleichschaltung zu, anstatt auch im Kollektiv mehr auf ihre Individualität und persönliche Note zu setzen.
Der Eindruck einer selbstverständlich scheinenden Harmonie im Orchester ist also nichts als der äußere Schein. Ein Orchester ist nach außen hin zwar ein einheitlicher Organismus, jedoch mit einer komplizierten inneren Struktur, die ganz unvermutete Parallelen mit anderen Unternehmensstrukturen aufweist.
Vom Publikum aus betrachtet, teilt sich der hierarchische Aufbau des Orchesters nur absoluten Insidern mit. Kaum jemand ahnt, dass ein Orchester wie ein Unternehmen mehrere Abteilungen mit Abteilungsleitern und deren Stellvertretern hat, die ganz unterschiedliche Aufgaben- und Verantwortungsbereiche abdecken. Was sich auch in sehr differenzierten Löhnen widerspiegelt.
Die zahlenmäßig größte Fraktion des Orchesters bilden die Streicher. Sie sitzen im Vordergrund der Bühne im Halbkreis um den Dirigenten herum und bestehen aus fünf Instrumentengruppen. In ihrer jeweils größten Besetzung bestehen sie aus maximal 16 ersten und 14 zweiten Violinen, 12 Violen, auch Bratschen genannt, 10 Celli und 8 Kontrabässen, insgesamt also an die 60 Musikerinnen und Musiker. Jede dieser autarken Streichergruppen hat einen oder mehrere Abteilungsleiter, bei den ersten Geigen nennt man sie Konzertmeister, bei den zweiten Violinen, Violen, Celli und Kontrabässen heißen sie meist Vorspieler oder Stimmführer. Diese Führungskräfte der einzelnen Instrumentengruppen haben wiederum jeweils mehrere Stellvertreter. Die Position des Konzermeisters ist unter den Vorspielern die hierarchisch höchste und wichtigste, aber jede einzelne Führungskraft handelt eigenverantwortlich. Sie entscheidet in den Proben autark, welche technischen Lösungen die ideale Umsetzung für ihre Gruppe garantieren, und sie führt ihr Team in erster Linie optisch, mit fürs Publikum nicht immer erkennbaren Körperbewegungen. Die Führungskräfte aller Streichergruppen sitzen in einem großen Halbkreis einander zugewandt, sodass sie untereinander problemlos Augenkontakt halten können, ohne sich dabei verrenken zu müssen.
Bereits jetzt wird klar, dass nicht alle Fäden der Führung stets beim Dirigenten zusammenlaufen, wie es für viele im Publikum den Anschein hat.
Führungskräfte tragen ein hohes Maß an Verantwortung. Ein Dirigent oder Unternehmer müsste unendlich viele Hände haben, um alle Koordinations- und Führungsprozesse selbst bewältigen zu können. Aber das ist weder nötig noch sinnvoll.
Denn es sind ja gerade diese autarken internen Führungsprozesse, welche Spitzenteams von eher durchschnittlichen Ensembles unterscheiden. Die permanente abteilungsübergreifende Interaktion aller beteiligten Instrumentengruppen, unter der verantwortungsbewussten Führung ihrer Vorspieler ist die entscheidende Basis für ein lebendiges, gemeinsames Musizieren und bildet die Voraussetzung für den gemeinsamen Erfolg.
Auch in den kleinen Bläsergruppen waltet die Hierarchie. Es ist ein großer Unterschied, auch was die Vergütung betrifft, ob man in einem Spitzenorchester die Position der ersten oder der zweiten Oboe innehat. Auch wenn beide stets einträchtig und scheinbar gleichwertig nebeneinander sitzen, so erfüllen sie doch unterschiedliche Aufgaben. Instrumente wie Oboe, Flöte, Klarinette und Fagott gehören zur Gruppe der Holzbläser, ihre jeweiligen Führungskräfte besetzen im Orchester künstlerische Top- und Schlüsselpositionen.
Ebenso die Blechbläser: Erstes Horn, erste Trompete und erste Posaune gehören quasi dem Topmanagement des Orchesters an. Auch hier sind die Positionen doppelt und mit Stellvertretern besetzt.
Die große Verantwortung und die hohe nervliche Belastung der Führungskräfte des Orchesters werden mit bedeutend höheren Gehältern oder Honoraren vergütet. Zusätzlich kommen sie in den Genuss von Diensterleichterungen. Es handelt sich also um durchaus erstrebenswerte Positionen. Aber ungeahnte Hürden pflastern den Weg, bis sich junge, gut ausgebildete Musiker als Führungskräfte in den Toporchestern dieser Welt etabliert haben.
Fällt bei der 4. Sinfonie von Bruckner das erste Horn für das abendliche Konzert aus, weil der Hornist nachmittags plötzlich eine Fieberblase auf seiner Lippe bekam, so wird bei Spitzenorchestern im Normalfall nicht das zweite Horn die Aufgabe des ersten übernehmen, sondern es wird entweder der Stellvertreter oder ein erster Hornist von einem anderen Orchester geholt, der mit dieser großen Verantwortung vertraut ist. Denn jeder hat seine ganz persönliche Rolle und Verantwortung im Orchester. Innerhalb von Instrumentengruppen können Positionen nicht einfach beliebig ausgetauscht werden, auch wenn dem Zuhörer oft Flöte gleich Flöte oder Cello gleich Cello erscheint.
Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich anmerken, dass obige Geschichte mit der Fieberblase nicht als Beispiel für die Wehleidigkeit einer überempfindlichen Künstlerseele verstanden werden darf: Würde ein Blechbläser versuchen, trotz Herpes ein Konzert durchzuziehen, so könnte das seine Lippen völlig ruinieren und seine Karriere für immer beenden.
Ich möchte Ihnen ein kleines Beispiel für die Selbstverantwortung orchestraler Führungskräfte geben, die in diesem Falle überlebenswichtig war:
In meiner Wiener Studienzeit ergatterte ich per Zufall eine Karte für ein ausverkauftes Konzert eines renommierten Orchesters, das sich auf Tournee befand und von einem Weltstar am Pult geleitet wurde. Als erstes Stück stand »Don Juan« von Richard Strauss auf dem Programm. Dieses leidenschaftliche Jugendwerk des Komponisten beginnt blitzartig, mit wild und stürmisch aufsteigenden 16-tel Noten in mehreren Instrumentengruppen. Der Anfang erfordert einen sehr präzisen Auftaktschlag des Dirigenten, damit alle Musiker sofort das Tempo erfassen und kein Chaos entsteht, das sich erst nach ein paar Sekunden wieder ordnen lässt. Dementsprechend groß ist üblicherweise die Spannung und Konzentration im gesamten Orchester, das den heftig antreibenden Einsatz des Dirigenten erwartet. Aber stattdessen herrschten bei meinem Wiener Erlebnis plötzlich Verunsicherung und Irritation im Orchester. Anstatt eines deutlichen Einsatzes vollführte der Dirigent nur langsame und weich schwebende Bewegungen. Nicht im Ansatz war irgendwo der erwartete markante Schlag zu erkennen, der sofort den massiven Orchestereinsatz eingeleitet hätte.
In Bruchteilen von Sekunden verständigten sich Konzertmeister und Vorspieler mit Blicken. Der seinerseits verblüffte Dirigent dirigierte nebulös und ein wenig hilflos weiter, obwohl dem Orchester offensichtlich keinerlei Töne zu entlocken waren. Die Führungskräfte der Streicher sind ohnehin in stetem Augenkontakt, und jetzt suchten sofort auch alle Bläser den Blickkontakt mit dem Konzertmeister, der nur den Kopf ein klein wenig nach links drehen muss, um die meist erhöht sitzenden Holz- und Blechbläser zu sehen. Jedem Musiker des Orchesters war unvermittelt klar, dass sich der Dirigent wohl in einem ganz anderen Stück befinden musste, ohne die geringste Ahnung, welche Noten auf den Pulten der Musiker lagen.
Dann riss der Konzertmeister mit der linken Hand die Geige hoch, desgleichen synchron mit ihm die Vorspieler. Bei diesem noch musiklosen Auftakt atmeten die Bläser wiederum synchron ein, optisch dirigiert von den jeweiligen Chefs der Bläsergruppen. Und als die Geige des Konzertmeisters ruckartig nach unten in die Ausgangslage fiel, begann das gesamte Orchester mit Don Juan. Ein absolut perfekter Beginn des gesamten, erstklassigen Riesenorchesters!