Der Dreikönigshof - Magie der tödlichen Hoffnung - Stephanie Moll - E-Book

Der Dreikönigshof - Magie der tödlichen Hoffnung E-Book

Stephanie Moll

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Beschreibung

Eine Auftragskillerin in mitten eines dunklen Krieges.. Ein Kontinent dem Untergang geweiht. Und eine Magie, weit mächtiger als prophezeit. Nur kurz kann Vika die Freude über das Wiedersehen mit ihrem Bruder zulassen. Denn eine mysteriöse Krankheit befällt den Zufluchtsort der Magier und scheint unaufhaltsam zu sein. Als sich plötzlich Auftragskiller ganz Lyrias versammeln, sieht sich Vika zwei alten Freunden gegenüber, die ihre Vergangenheit erneut aus dem Schatten ihrer Erinnerungen holen. Noch während sich die Magischen, Menschen und Auftragskiller für einen dunklen Krieg wappnen, steht dieser schon längst vor den Toren Cardeéns. Wird die Magie der tödlichen Hoffnung den dunklen Frieden brechen?

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Seitenzahl: 441

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Alle Rechte vorbehalten

Für jene, die in der tödlichsten Dunkelheit

einen Funken Hoffnung sehen

Inhalt

Triggerwarnung

Niederschrift einer mündlichen Übermittlung der enyanschen Völker

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Eine Gutenachtgeschichte aus Alaeen

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Glossar

Danksagung

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält Szenen, in denen die Themen Tod, Blut, Mord und Gewalt explizit beschrieben werden. Bitte achte auf dich und deine Gesundheit, wenn du zu diesem Buch greifst, es könnten Unwohlsein in dir hervorrufen.

Niederschrift einer mündlichen Übermittlung der enyanschen Völker

Man sagt, die Welt sei eine unendliche Spirale aus Verderben, Freude, Mord, Leid und Wiedergeburt. Eine sich unendlich abwärts windende Linie, auf der sich all die Ereignisse befinden, die sich je in all den Zeitaltern der Welt abgespielt haben. Jede Stunde, jede Minute, jede noch so kleine Sekunde, die vom Ticken der Uhren begleitet und von den Sonnen des Universums erschaffen wurde, finden auf der Spirale ihren rechtmäßigen Platz. Nichts und niemand kann diese Spirale des Lebens verändern, sie beeinflussen oder gar durchbrechen. Sie wird sich immer drehen, solang das Universum zu existieren vermag.

Jedem Leben auf dieser Welt, welches vom Tod begleitet wird, ist eine wichtige Rolle zugeschrieben. Jedes Zeitalter birgt seine Gefahren und Tücken, die bewältigt werden müssen. Sei gewarnt, das Leben, welches einem von der Spirale des Universums zugeteilt wurde, wird sich stets wiederholen. Entscheidungen, die entweder Leid oder Freude hervorrufen, beeinflussen das Dasein nach diesem. Jedes Wort, jeder Gedanke können darüber entscheiden, ob du gut oder böse sein wirst. Ob du Freude oder Leid bringst. Ob du einsam stirbst oder im hohen Alter auf deine Vergangenheit blickst und mit Zufriedenheit in deinem Herzen von dieser Welt gehst.

Doch eines ist gewiss: Wie du dich auch entscheidest, die Spirale der Welt wird stets ein Auge auf dich haben, das dich verfolgt und jeder deiner Handlungen in sich einschließt, damit sie niemals vergessen werden.

Die Natur wird dich auf deinen Wegen begleiten, dich leiten und versuchen, dir den rechten Weg zu weisen, doch nur du kannst entscheiden, ob du der Stimme folgen möchtest. Aber wisse immer, diese Stimme der Natur ist ein Teil der Spirale der Welt, und auch sie kann nicht verändert oder beeinflusst werden. So stark du auch gegen sie ankämpfst, sie wird immer versuchen, dir den rechten Weg zu weisen. Als harmonisches Duett bilden sie die größte Macht des Landes, die in jedem Fluss, in jedem Grashalm und in jedem Stein wohnt, die den Boden von Enyan berühren.

Als Dank für die vielen glorreichen Zeitalter hat die Spirale der Welt dem Land ein Geschenk gemacht, das so rein ist wie die Seele eines neugeborenen Erdenbewohners und den Kontinent mit der Kraft versorgt, die er benötigt, um zu strahlen.

Es wird immer Seelen geben, die die Reinheit und die Kraft dieses Geschenkes beschmutzen und rauben wollen. Sie verätzen und vergiften. Die die Welt so krank machen, dass am Ende eines Zeitalters nur noch die staubige Hülle einer seelenlosen Existenz bleibt.

Berufe dich stets auf die Stimme der Natur, sobald du in Berührung mit den Giften dieser bösen Seelen kommst. Denke immer an die heiligen Kräfte des Landes, welche dich stets behüten und beschützen und dir den richtigen Weg weisen.

Denn eines ist gewiss: Es wird immer Seelen geben, die die Spirale durchbrechen wollen. Tue alles, damit dies nicht geschieht.

Sei ein Teil des Ganzen, sei die Stimme der Natur, lebe auf der Spirale der Welt und versuche, die richtigen Wege einzuschlagen. Nur so wirst du Kräfte erhalten, die im Land des reinen Wassers stets behütet und im Geheimen gehalten werden.

Schon bald bricht ein neues Zeitalter an. Dieses endet mit dem Strahlen des reinen Wassers, doch das nächste wird dunkler und gefährlicher werden als jemals zu vor.

Kapitel 1

Vika

Tu doch etwas!«, brüllte ich über den Sturm aus Schwärze und Dunkelheit hinweg, in der Hoffnung, Eleana würde mich inmitten dieses Chaos aus wirbelnden und schlingenden Schatten hören, die kreischend um meinen Körper tosten.

Meine Haut erfasste eine unsagbare Kälte, die so viel mächtiger war als die, die ich schon zuvor gespürt hatte, als das Schattenwesen, welches von Gael gesandt wurde, mich heimgesucht hatte. Diese Kälte war eisiger und kroch in jede Faser meines Körpers, ließ jeden Muskel erstarren und jeden Knochen so sehr schmerzen, dass ich glaubte, sie würden in einzelne Splitter zerspringen.

Ein animalisches Kreischen ertönte, als ich versuchte, meine Augen mit meinen Händen abzuschirmen, doch die vielen Schatten um mich herum wirbelten immer stärker um den am Boden liegenden Gael.

Aus meinem Bruder quoll die schwärzeste Finsternis, die ich je gesehen hatte, und nahm das Zelt ein, in dem wir uns befanden. Ich war zuvor von einer Welle erfasst und auf den Rücken katapultiert worden. Ich spürte noch die spitze Ecke der Kiste, auf der ich schmerzhaft gelandet war. Warmes Blut rann mir den Rücken hinunter und durchnässte mein beiges Leinenoberteil, welches durch den tosenden Sturm an meinem Körper riss und zerrte.

»Eleana!«, rief ich erneut, doch niemand antwortete mir. Verdammt, war sie vielleicht schon tot? Hatten die Schatten sie ergriffen und überwältigt? Ich durfte nicht zulassen, dass ihr etwas zustieß, denn Eleana spielte eine viel zu wichtige Rolle bei diesem Auftrag. Der niemals so enden würde, wie die drei Königinnen es sich erhofften, wenn sie denn nicht andere Pläne schmiedeten und jedes Wort, das ihren Mund verlassen hatte, wahr war.

Niemals hätte ich meinen Bruder umgebracht. Für keinen Reichtum der Welt, und das hatten die Königinnen gewusst, als sie mich beauftragen, den Ort zu finden, an dem sich die Diebe niedergelassen hatten und seitdem versteckt hielten.

Ich hatte dieses Versteck mithilfe von Eleana gefunden. Der verschollenen und geflüchteten Thronfolgerin des Dreikönigshofs. Verdammt! Egal, ob sie nun eine dahergelaufene Magierin und zufällig Gaels Geliebte oder die wahre Königin von Fia war, ich musste sie so oder so in diesem Chaos aus Dunkelheit und Schatten finden.

»Grrr«, stieß ich genervt hervor und versuchte gegen den Wind, der mich zu Boden drückte, anzukämpfen, aber eine unendliche Schwere legte sich auf meine Brust. Diese verfluchte Magie!

»Das gibt es doch nicht«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während meine Muskeln vor Anstrengung brannten.

»Vika?«, erklang plötzlich eine Stimme in weiter Ferne, als ich frustriert und mit wutverzerrtem Gesicht meine Hände auf den Boden drückte, um mich abzustützen.

»Eleana?«, rief ich erleichtert, sodass ich beinahe wieder zurück auf den sandigen, aber harten Boden unter mir fiel, dessen feine Körnchen kleine, aber schmerzende Furchen auf meiner Haut hinterließen. »Eleana? Wo bist du?« Kurz dachte ich, mir ihre Stimme nur eingebildet zu haben. Ich kniff meine Augen zusammen, da der Wind um mich herum immer stärker an meinen Haaren riss und diese wild um meinen Kopf wehten. Mit gesenktem Gesicht stützte ich mich mit meinen Armen vom Boden ab und schaffte es unter enormer Kraftanstrengung, meinen linken Fuß aufzustellen, um einen besseren Halt zu finden. Die Schatten und Kreaturen, die unentwegt aus dem Mund meines Bruders schossen, umzingelten mich wie ein Käfig aus schwarzer Materie, aus dem es kein Entkommen gab.

Doch auch wenn ich befürchtete, Gael wäre nicht mehr am Leben, spürte ich das magische Band zwischen uns. Zwei Seelen, die zueinander gehörten wie das Beten zu den heiligen Göttern der enyanschen Völker. Die eine magisch, die andere nicht. Er und ich waren weit mehr als nur Geschwister, deren Wege sich auf natürliche Weise trennten, weil sie Familien gründeten oder in andere Länder reisten. Gael war so viel mehr als nur der Mann, der mich damals als kleines Kind verlassen hatte. Er war der mächtigste Magier auf dem Kontinent Lyria und vielleicht über dessen Grenzen hinaus.

»Verdammt, Eleana! Du bist eine verfluchte Hexe, jetzt unternimm irgendetwas!«, brüllte ich den zuckenden Schatten entgegen, die, wie ich bemerkte, nicht vorhatten, mich anzugreifen. Sie wirbelten nur stetig um meinen Körper. Bemerkte denn niemand außerhalb des Zeltes, was hier vor sich ging? Müsste Parvel nicht schon längst von den animalischen Schreien alarmiert worden sein?

Bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, flammte plötzlich am anderen Ende des Zeltes ein Licht auf, dessen Ursprung ich sofort wiedererkannte. Es war das bläuliche Schimmern, das Eleana schon in Moirath hervorgerufen hatte, bevor wir von Gael und seinen Dieben angegriffen worden waren.

»Ich kann sie aufhalten!«, rief Eleana, die immer mehr von dem Lichtkreis eingenommen wurde. Ich sah, wie ihre roten Haare in Wellen nach hinten gefegt wurden. Sie selbst stand fest mit beiden Beinen auf dem Boden und streckte ihre Hände gerade aus, dort, wo Gael hilflos lag. Die Lichtkugel wuchs und wuchs, bis sie Eleana und ihre direkte Umgebung vollends einnahm. Ich glaubte, in den Augen der Thronfolgerin einen ähnlichen Sturm wie in diesem Zelt wirbeln zu sehen. Jedoch war es keine Dunkelheit, die in ihnen innewohnte, sondern ein Rauschen aus grünen Lichtstreifen, die beinahe heller leuchteten als die Lichtkugel selbst.

Für einen kurzen Moment blieb mein Herz stehen, denn das grüne Flackern in ihren Augen rief unschöne Erinnerungen in mir wach. Wieder sah ich das grüne Schimmern, welches aus den Bergen von Brent hinauf in den Himmel strahlte und auch hinter den Fenstern des Dreikönigshofs zu sehen gewesen war, als ich am Abend vor meiner Reise zur Akademie meinem Leben ein Ende setzen wollte.

Aber das konnte nicht sein. Eleana war nicht eine der Kreaturen, die ihre Schwestern umgebracht und ihre Körper eingenommen hatten, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Abgesehen von den magischen Kräften, die in ihren Adern schlummerten.

»Du schaffst es«, ermutigte ich sie. Ihre Stirn zierten Schweißperlen, die deutlich im Licht der Magie glänzten.

Mit verbissenem Gesicht konzentrierte sie sich auf die Schatten vor sich, die stetig gegen das Licht in ihren Händen ankämpften. Doch ihre Macht war zu stark, zu mächtig, als dass die Schatten eine Chance gegen sie gehabt hätten. Erstaunt beobachtete ich die rothaarige Magierin, wie sie einen Schritt nach dem anderen Richtung Gael tat, um seinen Körper in den Lichtkreis zu hüllen.

Mein Herz raste, und ich achtete kaum noch auf die Kälte, die an meinem Körper zog und zerrte. Auch die grausamen Fratzen der Schattenwesen, die vor meinen Augen auftauchten, beeindruckten mich nun weniger. Ich hatte nur noch Augen für die Frau, die mein Leben ein weiteres Mal rettete.

»Du schaffst das«, flüsterte ich, als ich sah, wie viel Kraft es sie kostete, gegen die Schatten anzukämpfen. Doch ihre Magie trieb die Dunkelheit immer weiter zurück. Nein, sie fraß sie förmlich auf. Sobald der Lichtkegel die Finsternis berührte, verpufften sie zu Staub, und kleine schwarze Fetzen fielen zu Boden.

»Ich … kann ihn nicht sehen!«, rief Eleana verzweifelt, als sie aus zusammengekniffenen Augen versuchte, Gaels Körper zu erspähen.

Ich spürte ihn über unser magisches Band, und es schien, als verdichtete sich die Dunkelheit um ihn, je näher Eleanas Macht vorrückte und die Kreaturen vernichtete. »Er muss direkt vor dir liegen!«

»Es ist zu stark. Meine Macht ist gleich aufgebraucht. Wenn ich Gael nicht gleich erreiche, dann ist es zu spät.«

»Verdammt, du willst mir doch jetzt nicht sagen, dass du aufgibst!«

»Vika, du hast keine –«, sie wehrte einen Schatten ab, der gegen den Lichtkegel sprang, »du hast keine Ahnung, wie viel Kraft mich das kostet! Also halt deinen Mund und sag mir einfach, ob ich Gael gleich erreicht habe!«

Mürrisch knirschte ich mit den Zähnen. Da hatte diese verfluchte Hexe mich tatsächlich zurechtgewiesen.

»Noch ein Stück«, brummte ich, noch immer auf dem Boden kniend.

Und tatsächlich trat Gaels Körper nur wenige Sekunden später in den Schein des Lichtkreises, doch die Schatten schienen nicht so schnell aufgeben zu wollen. Sie schlangen sich in immer schneller drehenden Bewegungen um seinen Körper, dessen Glieder erschlafft waren. Das magische Band zwischen uns zitterte, als Eleanas Magie Gaels Körper erreichte und ergriff.

Eleana stieß ein teuflisches Knurren aus, ihre Hände bebten, und sie schien jede Kraft aufzuwenden, um auch die letzte Dunkelheit aus diesem Zelt zu vertreiben.

Ihre Lippen bewegten sich und formten Wörter, die ich nicht verstand, zu laut war das Rauschen um mich herum. Es schien, als befehle sie ihrer Macht zu wachsen, denn die einstige Lichtkugel nahm nun jeden Zentimeter des Zeltes ein. Es wurde bereits so hell, dass ich meine Augen schloss, um nicht zu erblinden. Das Gemurmel aus ihrem Mund glich einem drängenden Knurren, bis sie ein letztes Mal aufschrie.

Stille.

Nichts als erdrückende Stille, die in meinen Ohren noch unerträglicher war als das Kreischen der Kreaturen vor ein paar Sekunden. Doch nun donnerte das stetige Pochen meines Herzens in meinen Ohren und bescherte mir Kopfschmerzen, die ich versuchte zu ignorieren.

Langsam öffnete ich meine Augen. Was ich zu sehen bekam, ließ mir den Atem stocken, bevor ich fähig war, mich zu bewegen.

Auf dem staubigen Boden vor mir lagen zwei entkräftete und erschlaffte Körper, deren Brustkörbe sich nur leicht hoben und senkten. Fast sah es so aus, als wäre jedes Leben aus ihren Lungen gewichen. Links von mir lag mein Bruder, dessen Augen nun nicht mehr weit aufgerissen nach oben starrten, sondern geschlossen waren. Keine zwei Meter daneben kauerte Eleana wie ein Häufchen Elend, wie ein Sack Mehl, den man einfach irgendwo abgestellt hatte. Ihre linke Hand lag ausgestreckt auf dem Boden und zeigte in Richtung Gael, als wollte sie ihn berühren.

Schnell rappelte ich mich auf und zuckte zusammen, als ein unerträglicher Schmerz meinen Rücken durchfuhr.

»Scheiße«, zischte ich und tastete mit zittrigen Fingern meine Wirbelsäule ab. Dickes, klebriges Blut benetzte meine Fingerspitzen und tropfte auf den sandigen Boden, wo es sich zu Klumpen formte. Ich hatte nur einen Gedanken in diesem Moment. Die beiden zu erreichen und ihren Puls unter meinen Fingern spüren.

Gekrümmt stolperte ich erst auf Eleana zu und rollte sie auf den Rücken, sodass ihre Lunge nicht weiter unter ihrem eigenen Gewicht eingequetscht wurde. Sie riss ihre Augen auf und japste nach Luft, als würde sie zum ersten Mal in den Genuss von Sauerstoff kommen.

»Oh heilige Götter, du lebst.« Ich atmete erleichtert auf und wäre beinahe vor Schmerzen auf die Magierin gefallen, doch konnte mich im letzten Moment mit den Händen abstützen. Die Wunde an meinem Rücken brannte wie Feuer.

»Gael, lebt er?«, fragte Eleana sofort, als sie zu Atem kam und sich suchend nach meinem Bruder umschaute.

»Ich denke ja, er scheint zu atmen.«

»Aber sicher bist du dir nicht?«

»Entschuldige, dass ich erst nach dir geschaut habe«, knurrte ich und funkelte sie böse an. Sie war schon auf den Beinen, als wäre nie etwas passiert. Sah aus wie das blühende Leben und nicht wie ein Mensch, der soeben seine letzten Kraftreserven aufgebraucht hatte, um Magie hervorzurufen. Mir kam wieder in den Sinn, wie erholt sie ausgesehen hatte, als Gael und ich sie in diesem Zelt vorgefunden hatten. Nichts in ihrem Gesicht ließ erahnen, dass die letzten Minuten überhaupt je existiert hatten.

»Gael? Gael, kannst du mich hören?« Sie hockte bereits vor meinem Bruder, während ich sie immer noch verwundert und misstrauisch zugleich musterte. Sachte umfasste sie Gaels Gesicht mit ihren Händen und schloss die Augen, bevor sie erleichtert ausatmete. »Er lebt. Sein Geist ist noch spürbar, wenn auch in weiter Ferne. Es scheint, als hätte die dunkle Magie ihn zurückgedrängt.«

»Dunkle Magie? Du meinst –«

»Ja«, unterbrach sie mich und warf mir einen Blick zu, »natürlich war das dunkle Magie oder denkst du, diese Schatten stammen aus dieser Welt.« Das war keine Frage, und ich grübelte, wieso Eleana plötzlich so missgelaunt mir gegenüber war, immerhin hatte ich ihr nichts getan. Schlussendlich war sie diejenige, die gelogen und betrogen hatte, um mich hinters Licht zu führen. Oder mich zu schützen, wie sie es sagte. Sie war es, die hier ein falsches Spiel spielte, mit allen Anwesenden. Selbst ihr eigener Geliebter blieb nicht von ihren Lügen verschont, und es galt nun die Wahrheit herauszufinden.

Ich erwiderte nichts auf ihren bitteren Unterton. Sollte sie doch selbst mit ihrem Problem fertig werden. Für mich zählte im Moment nur, dass mein Bruder wieder zu Bewusstsein kam.

»Kannst du nichts machen? Ihm irgendwie helfen aufzuwachen? Das müsste nach dieser ganzen Sache hier kein Problem für dich sein, richtig?«

Die rothaarige Magierin betastete noch einmal Gaels Gesicht, bevor sie ihre rechte Hand auf die Stelle legte, an der sein Herz hoffentlich noch schlug.

»Es ist viel Dunkelheit in ihm. Viel mehr, als ich geahnt habe. Wie konnte er nur so dumm sein und mit dunkler Magie herumexperimentieren?« Eleana schüttelte den Kopf und murmelte ein paar unverständliche Worte.

»Mehr kann ich nicht für ihn tun. Den Rest muss er allein schaffen. Gegen so eine dunkle Macht komme ich nicht an, aber ich bin zuversichtlich, dass er bald aufwachen wird. Wenn auch nicht ganz geheilt.«

»Du sagtest, er habe mit dunkler Magie experimentiert.«

»Ja, und das wurde ihm jetzt zum Verhängnis.«

Ich rieb mir mit den Händen über mein Gesicht und stöhnte laut. »Erinnerst du dich, ich habe dir von dem Schattenwesen erzählt, das mich sowohl in Fia als auch in Moirath heimgesucht hat.«

Eleana nickte.

»Und du sagtest nur Gael könne diese Macht hervorrufen.«

»Komm zum Punkt, Vika«, sagte sie und klopfte sich den Schmutz von ihrem schwarzen Kleid ab.

Ich rollte mit den Augen. »Du hattest recht. Es war Gael, der mir diese Schatten geschickt hat. Er meinte, er habe einen neuen Zauber ausprobiert, der schief gegangen sei, und seine Gedanken haben das Schattenwesen zu mir getrieben.«

»Dieser Dummkopf. Er hat gewusst, wie gefährlich das ist. Ich kann nicht fassen, dass er sich von diesem Gedanken hat verleiten lassen.«

»Welchen Gedanken?«, fragte ich und sah dabei zu, wie sie Gael unter den Armen packte.

»Hilf mir mal.«

Ich ging zu ihr und schnappte mir Gaels Füße, um ihn auf das Bett zu legen, in dem zuvor Eleana selbst geschlafen hatte. Erstaunlich, wie schnell sich das Blatt wendete.

»Also? Welchen Gedanken meinst du nun?«, hakte ich erneut nach.

Eleana schwieg einen Moment, bevor sie sich entschied, mir zu antworten. »Der Gedanke der Macht. Wer über dunkle Magie verfügt, besitzt unermessliche Stärke. Wer sie ausbaut und mit ihr experimentiert, stellt eine Gefahr für die gesamte Welt dar.«

Ich schluckte. »Du meinst, Gael ist imstande … alles und jeden zu vernichten?«

»Ausnahmslos. Wenn er nicht zur Besinnung kommt und den richtigen Weg wählt.«

»Bei den Göttern«, stieß ich aus und raufte mir die Haare. »Was treibt ihn dazu, diese Macht auszutesten? Ich dachte, die Diebe sind nicht das, wofür sie der ganze Kontinent hält. Nämlich die Bösen.«

»Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich wünschte, ich wüsste, was in seinem Kopf vor sich geht, aber ich war zu lange fort. Ich habe das Gefühl, er verheimlicht mir mehr, als er zugibt.«

»Würde ich auch, wenn man mich verrät und ausliefern will«, erwiderte ich und würdigte sie keines Blickes.

Ihr lautes Zähneknirschen reichte, um zu wissen, dass sie mich gerade am liebsten hätte umbringen wollen. Doch sie riss sich zusammen, deckte Gael bis zum Brustkorb zu und setzte sich vorsichtig neben ihn auf den Rand der Matratze. »Es ist aber nie dazu gekommen, das solltest du nicht vergessen.«

»Dennoch wolltest du all das hier einfach aufgeben und meinen Bruder den Königinnen aushändigen. Deine ach so große Liebe. Der Gedanke allein reicht, um dir das dein ganzes Leben lang vorzuwerfen. Mal ganz davon abgesehen, dass du jeden von uns belogen und betrogen hast, nur um deinen eigenen Hintern zu retten.«

»Als ob du das nicht getan hättest in meiner Situation. Spiel jetzt nicht den Moralapostel, Killerin! Du tötest Menschen und das auch noch mit Vergnügen. Lässt jeden um dich herum spüren, dass du keine Lust auf seine Anwesenheit hast und dich am liebsten allein irgendwo in deinem Luxus suhlen würdest«, fauchte Eleana wütend, woraufhin ich mich aufbäumte.

»Du hast nicht die geringste Ahnung, welche Qualen ich erleiden musste, um an diesen Punkt zu kommen«, knurrte ich wütend, »in meinem Kopf herrscht das pure Chaos, seitdem ich an diesem Ort bin. Meine Gedanken sagen nur eines: töten. Doch eine leise Stimme in meinem Unterbewusstsein und mein Herz wollen genau das Gegenteil. Ich wurde jahrelang geformt. Man hat mich gefoltert, mich gequält, mir Nadeln in sämtliche Stellen meines Körpers gerammt und mich mit Flüssigkeiten vollgepumpt, die sämtliche meiner Erinnerungen und Gefühle ausgelöscht haben. Ich kann nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin. Dieses Monster hier drin hat man erschaffen.« Ich zeigte auf meinen Kopf.

»Es reicht«, sagte Eleana bestimmt. »Halt einfach deinen Mund. Oder willst du, dass man uns hört und jeder sofort über Gael Bescheid weiß?«

Ich schnaubte verächtlich. »Ja natürlich, dein geliebter Gael. Verzeihung, Eure Hoheit«, knurrte ich und schüttelte den Kopf. Ich musste raus aus diesem Zelt, frische Luft schnappen, irgendwo hinlaufen und einfach allein sein. Diese ganze Sache wuchs mir über den Kopf, diese Magie war zu viel für meinen Verstand. Ich drehte mich um und wollte hinausstürmen, als Eleana mich zurückhielt.

»Vika, warte. Wir drehen uns im Kreis. Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe an den Kopf werfen. Das bringt niemandem etwas, ganz besonders nicht Gael. Und ja, in erster Linie geht es um ihn«, sagte sie versöhnlich, als sie sah, wie ich genervt meine Augen verdrehte.

»Na gut.« Kurz überlegte ich, dennoch das Weite zu suchen, doch dann müsste ich mir selbst eingestehen, dass ich nur aus dieser Situation flüchten würde und sie damit nicht besser machte. Eleana hatte recht. Hier ging es um meinen Bruder, aus dem irgendwelche Schattenkreaturen geschossen waren und uns alle beinah getötet hätten.

Als Auftragskillerin jagte mir das eine Heidenangst ein, denn normalerweise stellte nichts und niemand eine Gefahr für mich dar. Doch nun gab es einen viel stärkeren und gefährlicheren Feind auf dieser Welt, gegen den ich nichts ausrichten konnte.

Ich war auf Eleana, Gael und sämtliche Magier angewiesen, wenn ich diesen Krieg überleben wollte. Denn das war es schon längst: ein Krieg. Zwischen Magiern und dem Dreikönigshof.

Und eine Auftragskillerin mit wiedererlangten Erinnerungen und Gefühlen mittendrin.

Kapitel 2

Vika

Ich entschied mich, eine Weile zu bleiben und Eleana mit Gael nicht allein zu lassen, obwohl ich das Gefühl hatte, fehl am Platz zu sein, als ich der Magierin dabei zusah, wie sie meinem Bruder immer wieder sanft über die Arme strich und seine Stirn mit einem Tuch abtupfte.

»Er fiebert«, stellte ich fest, als ich die schweißnasse Haut sah, die in dem Licht des Zeltes glänzte. Ich hatte mir einen umgekippten Stuhl herangeholt, auf dem ich saß und mich nun mit verschränkten Armen anlehnte. Auch wenn Eleana und ich uns versöhnt hatten, so hing unser Streit noch immer über unseren Köpfen.

»Kannst du ihm nicht doch irgendwie helfen?«

»Nein, das sagte ich bereits. Ich habe keine Chance, gegen die Dunkelheit in seinem Körper anzukämpfen. Das muss er ganz allein schaffen.« Unentwegt tupfte sie Gael die Feuchtigkeit von seiner Haut, während sie selbst verträumt und nachdenklich dreinblickte. Ich hatte das Gefühl, ihre Gedanken kreisten noch lauter in ihrem Kopf als die in meinem. Ihr starrer Blick, der stets auf Gael gerichtet war, verriet, wie es in ihrem Inneren aussah.

»Vielleicht gibt es etwas, was er gegen das Fieber einnehmen könnte. Ich kann Parvel um Hilfe bitten. Wenn mich nicht alles täuscht, hat er auch dir ziemlich erfolgreich geholfen.«

Eleana hob ihren Kopf und richtete ihren fragenden Blick auf mich, als sie meinen unmissverständlichen Unterton vernahm.

»Komm, du brauchst mich nicht hinters Licht führen. Glaubst du wirklich, ich habe deine körperliche Veränderung nicht bemerkt? Ich würde ja zu gern wissen, was in diesen ganzen Flaschen und Döschen drin ist, die sich dort draußen zuhauf auf den Tischen stapeln. Es scheinen ja Wundermittel zu sein.«

Sie runzelte die Stirn, und ich legte meinen Kopf misstrauisch zur Seite.

»Ich weiß nicht, auf was du hinauswillst.«

»Mir scheint, als stecke da noch mehr drin als nur altertümliche Medizin.«

»Du meinst Magie?«

Ich nickte.

»Und was ist daran so verwerflich? Wir sind Magier, was erwartest du? Dass wir unsere Kräfte nicht ausnutzen?«

Ich zuckte nur mit den Schultern und erhob mich vom Stuhl.

»Ich finde es einfach beeindruckend, wie schnell du dich erholt hast und so viel frischer aussiehst als zuvor.«

Damit ließ ich die beiden allein. Dass ich das dunkle Flackern in ihren grünen Augen gesehen hatte, als ich mit Gael das Zelt betreten hatte, verschwieg ich ihr. Das Fieber, welches meinen Bruder nun heimsuchte, war nur ein Vorwand, um diesen dubiosen Parvel aufzusuchen. Ein Ziehen drängte mich dazu, den drahtigen Mann genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ich schlüpfte durch den Zelteingang und trat hinaus in die Sonne, die sich wärmend auf mein Gesicht legte, als wollte sie mich umarmen. Dank der Dunkelheit in dem Zelt mussten sich meine Augen erst einmal an das grelle Licht gewöhnen, doch schnell fanden sie wieder zur Normalität, sodass ich prüfend meinen Blick über die Umgebung schweifen ließ.

Der Bereich, in dem sich die Zelte des Krankenlagers aufreihten, war etwas abgeschieden vom restlichen Trubel Cardeéns, vermutlich, um den Kranken ihre benötigte Ruhe zu gewähren.

Mich hatte es ja bereits gewundert, wieso niemand den Tumult und die Schreie der Schattenkreaturen vernommen hatte und uns zur Hilfe geeilt war. Wie ich aber feststellen musste, hatte es in der Tat niemand gehört. Oder hören können. Vom restlichen Teil oder zumindest von dem, der mir am nächsten war, drangen die typischen Alltagsgespräche an meine Ohren. Stimmengewirr, klapperndes Geschirr, Schwertklingen, die aufeinandertrafen. Gemischt mit dem Geruch von sämtlichen Backwaren und Lebensmitteln, die über den Lagerfeuern gekocht und in den Öfen gebacken wurden.

Niemand befand sich auf dem Platz in der Mitte des Krankenlagers. Nicht einmal der merkwürdige Mediziner war weit und breit zu sehen, sodass ich die Chance nutzte, mir die Flaschen und Tinkturen näher anzuschauen, die sich auf den Tischen stapelten.

Mir war immer noch schleierhaft, wieso die Magier nicht einfach irgendeinen Zauber wirkten, damit sie gesund wurden, doch überstieg das im Moment mein Denkvermögen. Meine Augen visierten einzig und allein den überdachten Unterstand an, unter dem ich zuvor Parvel das erste Mal kennengelernt hatte.

Zügigen Schrittes eilte ich hinüber, ohne dass mir jemand in die Quere kam. Meine Bluse klebte dank des getrockneten Blutes an meinem Rücken und zwickte unangenehm an meiner Haut. Wenn mich jemand in diesem Zustand vorfand, würde ich mir wohl oder übel einige Ausreden einfallen lassen müssen, denn niemand durfte von den Geschehnissen im Zelt erfahren. Nicht, solange wir nicht genau wussten, was überhaupt passiert war. Selbst eine erfahrene Magierin wie Eleana es war, schien nicht im Geringsten sagen zu können, wieso die dunkle Magie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt aus Gael ausgebrochen war.

Vielleicht fand ich einen kleinen Hinweis zwischen all der Unordnung, die auf den Tischen herrschte. Und in den Fläschchen, von denen ich mir nun eine schnappte und betrachtete.

Mit verschnörkelter und kaum lesbarer Schrift war ein Etikett auf das Glas geklebt, aber selbst mit größter Fantasie konnte ich nicht sagen, was diese Flasche beinhaltete.

»Clever, wirklich clever«, murmelte ich und ließ meine Fingerspitzen über die Gläser und Tuben gleiten, doch so sehr ich es auch wollte, nichts schien verdächtig auszusehen. Abgesehen davon, dass anscheinend niemand außer Parvel selbst wissen und lesen konnte, was sich im Inneren der Flaschen befand, schienen es herkömmliche Medikamente zu sein.

Ich hob meinen Kopf und warf einen prüfenden Blick über die Zelte, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete. Meine Sinne waren geschärft, und ich würde die Anwesenheit eines anderen Menschen sofort spüren.

Es blieb still um mich herum, und keine Menschenseele war in Sicht, daher traute ich mich, zu dem Tisch zu gehen, auf dem zahllose Zettel und Notizbücher lagen. Kreuz und quer waren sie verstreut und sahen aus, als wären sie in Eile fallengelassen worden. Sicherlich hatte einer der Kranken nach dem Mediziner gerufen. Oder dieses Chaos war pure Absicht, damit niemand auf den Gedanken kam, hier herumzuschnüffeln, um etwas Verdächtiges zu finden. Ebenso wie mit den unleserlichen Etiketten auf den Fläschchen und Dosen.

Abgesehen von mir natürlich, deren innere Stimme ständig rief, dass hier etwas gewaltig faul war. Dieser Parvel war mir schon zuvor nicht geheuer gewesen.

Ich musste irgendetwas finden, was mir einen Hinweis darauf gab, ob mehr als nur normale Magie und herkömmliche Medizin am Werk waren.

Ohne ein Stück Papier oder eine wild dahingekritzelte Notiz zu berühren, ließ ich meine Finger über jedes Wort fahren und saugte jede Information, die ich entziffern konnte, in mir auf.

Schnell musste ich mir eingestehen, dass ich hier nichts Verdächtiges entdecken konnte. Von dem, was ich erkennen konnte, handelte es sich um Kräuternamen und Mischungsverhältnisse, Fundorte und … Moment! Als ich soeben die Suche aufgeben wollte, fiel mir ein Wort ins Auge, das mir einen kalten Schauer über den Rücken rinnen ließ.

»Das gibt es doch nicht«, murmelte ich.

»Kann ich dir behilflich sein?«

»Heilige Götter!«, rief ich erschrocken, drehte mich herum und stand Parvel direkt gegenüber. Verdammt!

»Habe ich dich erschreckt?« Seit wann duzten wir uns? Und warum konnte dieser verdammte Kerl sich geräuschlos an mich heranschleichen?

»In der Tat«, sagte ich mit schnell pochendem Herzen, das sich langsam wieder beruhigte, »das habt Ihr.«

»Also? Wie kann ich weiterhelfen? Wie es scheint, seid Ihr auf der Suche nach etwas? Etwas Bestimmtem?« Freundlich, dass mir saure Galle die Kehle hochkroch, lächelte mich Parvel mit schief stehenden Zähnen an.

Also doch wieder die alten Höflichkeitsfloskeln. Dieser Mann war mir zuwider. So schnell wie möglich musste ich hier verschwinden und zu Eleana zurückkehren.

»Ja, ich suche etwas gegen Fieber.«

»Fieber? Ihr seht mir nicht danach aus, als hättet Ihr erhöhte Temperatur. Geht es Eleana etwa wieder schlechter? Sieh sah heute Morgen so gesund aus, es würde mich wundern, wenn ihr Zustand sich verschlechtert hat.«

»Doch, doch«, stotterte ich, »sie hat schlimme Unterleibsschmerzen, Ihr versteht. Fieber ist da keine Seltenheit, wenn die Menstruationsblutungen einsetzen.« Ich verzog mitleidig mein Gesicht und setzte zur Krönung noch einen peinlich berührten Ausdruck auf, als ich auf meinen eigenen Unterleib zeigte.

»Oh, ich verstehe. Darunter sollte wirklich keine Frau leiden. Natürlich habe ich etwas gegen das Fieber und auch gegen die Schmerzen.« Parvel rauschte an mir vorbei und suchte hektisch nach der passenden Medizin, während ich mich von ihm entfernte und so viel Abstand zwischen uns brachte wie möglich.

»Hier habe ich etwas, das helfen sollte. Schafgarbe und Weidenrinde gegen das Fieber und Arnika gegen die Schmerzen.« Parvel reichte mir ein Fläschchen mit einer hellen Flüssigkeit und ein Döschen, in dem sich eine Salbe befand.

Ich betrachtete beides kurz und zuckte gleichgültig mit den Schultern, denn ich hatte in der Tat keine Ahnung von den Kräutern, ihren Namen und Wirkungsweisen. Meine Wunden vernähte ich entweder selbst oder wurde von Heilern des Dreikönigshofs versorgt. In den letzten Jahren hatte ich mir nie Gedanken über die richtige Heilung machen müssen.

»Danke«, sagte ich knapp und umschloss die beiden Gegenstände fest mit meiner Hand.

»Kann ich Euch sonst noch irgendwie behilflich sein?«, fragte der hagere Mann, der so unschuldig dreinblickte, dass ich mich für eine Sekunde fragte, warum ich so misstrauisch ihm gegenüber war. Doch ich sah dieses Flackern in seinen Augen, als er mich ansah. Fast, als würde er sich über mich amüsieren.

»Nein«, sagte ich überlegend, »ich habe alles. Danke hierfür.« Ich hob die Hand mit der Flasche und der Dose und nickte Parvel zu.

»Gebt Bescheid, wenn es Eleana nicht besser geht, ich habe ganz bestimmt noch etwas Stärkeres, was ihr helfen wird.«

»Da bin ich mir sicher«, murmelte ich argwöhnisch und warf noch einmal einen raschen Blick auf die Notizen hinter Parvels Rücken, die er zu beschützen schien. Keine Sorge, alter Mann, mir reichte, was ich gesehen hatte, um dich im Auge zu behalten.

Ich war gespannt, was Eleana zu meiner Entdeckung sagen würde. Ob sie dann immer noch so lobend über die Magier sprach. Ich hoffte nicht.

»Bitte? Ich habe Euch nicht ganz verstanden.«

»Ich sagte danke. Sicher werde ich auf Euch zukommen, sobald Eleanas Zustand sich verschlechtert.« Ich setzte mein schönstes, gekünsteltes Lächeln auf und marschierte mit geballten Fäusten wieder zurück zum Zelt, in das ich mit brodelnden Gedanken und verbissener Miene rauschte.

Dieser Mistkerl!

»Hier«, ich warf Eleana die beiden Gegenstände zu, kaum hatte ich das Innere betreten.

»Was –« Eleana reagierte gerade noch rechtzeitig, um die Medikamente aufzufangen, ohne dass sie klirrend auf dem Boden aufkamen.

»Gib ihm das, dann sollte es ihm bald besser gehen.«

Ich tigerte ungeduldig auf und ab und ballte wütend meine Fäuste.

»Vika, was ist los?«

»Die Medikamente, nun gib sie ihm schon oder auf was wartest du?«, fauchte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen.

»Obwohl«, hielt ich sie zurück und blieb auf der Stelle stehen, »vielleicht ist es besser, wenn du sie ihm nicht gibst.«

»Was? Ich verstehe gar nichts mehr.« Eleana ließ ihre Hand sinken, die eben noch die Flasche mit dem Fiebersaft an Gaels Lippen führen wollte, und sah mich fragend an.

»Nachtschatten«, stieß ich hervor. »Wieso bei all den heiligen Göttern experimentiert dieser vermaledeite Mediziner mit Nachtschatten?«

»Nachtschatten? Was redest du da? Ich glaube eher, du leidest hier an einem Fieber und nicht dein Bruder.« Die Magierin setzte erneut die Flasche an Gaels Lippen, doch ich schnellte nach vorne und packte ihr Handgelenk.

»Hast du den Verstand verloren?«, zischte sie und versuchte sich aus meinem Griff zu winden.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Auf seinen Notizen dort stand eindeutig das Wort Nachtschatten, und jedes Kind weiß, wie giftig die Pflanze ist. Warum verfügt ein einfacher Mann wie er über dieses Wissen, wenn er nichts Schlimmes damit vorhat?«

Mit gerunzelter Stirn starrte Eleana mir in die Augen. »Parvel hat ganz sicher keine bösen Absichten, wenn du darauf hinauswillst. Denkst du echt, er vergiftet uns?«

Da hatte sie genau die Gedanken ausgesprochen, die mir die ganze Zeit schon ein ungutes Gefühl in der Magengegend beschert hatten. Was, wenn es wirklich so war und Parvel irgendeinen Plan verfolgte?

»Wie kann ein Mensch nur so misstrauisch allem gegenüber sein?« Sie schüttelte ihren Kopf. »Es gibt ganz sicher einen Grund, warum Parvel Nachtschatten in seinen Aufzeichnungen aufgeführt hat. Aber eines kann ich dir sagen, er will deinem Bruder ganz sicher nicht schaden.«

Der traurige und mitleidige Ausdruck Eleanas traf mich, und ich verstand, worauf sie hinauswollte.

»Du denkst ernsthaft, ich denke mir das alles aus, weil ich nicht will, dass es Gael schlecht geht?« Ich schnaubte. »Schon vergessen, ich bin ein Mensch ohne Gefühle. Ich bin nicht in der Lage dazu, irgendetwas zu wollen, aufgrund meiner Emotionen.«

»Wenn du meinst.« Eleana zuckte mit den Schultern. »Ich für meinen Teil vertraue Parvel und werde Gael jetzt diesen Saft geben, egal, was du davon hältst.«

Ich knirschte angestrengt mit den Zähnen und umklammerte ihr Handgelenk noch einen kurzen Augenblick, bis ich sie gewähren ließ.

»Wenn es dich beruhigt, nehme ich einen Schluck davon, damit du überzeugt bist, dass das hier nicht vergiftet ist.« Sie hielt die Flasche in die Höhe und schwenkte die Flüssigkeit hin und her.

»Ich habe dich gewarnt.«

»Wie reizend, du machst dir Sorgen um mich. Ich fühle mich geehrt. Anscheinend schlummern da doch ein paar Gefühle in dir.«

»Jetzt halt deinen Mund und trink endlich«, fauchte ich. Diese verdammte Hexe trieb schon wieder Spielchen mit mir, und das konnte ich bekanntlich gar nicht leiden.

Eleana setzte die Flasche an ihre Lippen und nahm einen Schluck des Fiebersaftes. Nicht zu viel, damit es bei Gael noch die richtige Wirkung zeigte.

»Wie du siehst, lebe ich noch«, stellte sie zufrieden fest, woraufhin ich nur mit den Augen rollte. Bitteschön, sollte sie sich in ihrer Genugtuung suhlen.

»Schon gut, du hast gewonnen. Jetzt gib Gael das Mittel.«

»Ihm würde es schon besser gehen, wenn wir hier nicht unnötig diskutieren würden.« Daraufhin ließ sie die Flüssigkeit in Gaels Mund laufen, sodass seine Lippen nass glänzten.

Wir beide hielten den Atem an, als warteten wir auf eine sofortige Besserung seines Zustands. Als würde er quicklebendig aus einer Trance erwachen.

Zunächst geschah erst einmal nichts Erkennbares, bis Eleana eine Hand prüfend auf Gaels Stirn legte und erleichtert ausatmete.

»Es wirkt. Seine Temperatur sinkt, und er atmet schon regelmäßiger.«

Ich selbst verspürte Erleichterung in mir, als ich meinen genesenden Bruder dort auf dem Bett liegen sah. Wie schnell sich das Blatt doch gewendet hatte. Zuvor war es Eleana gewesen, um deren Leben wir bangen mussten, und nun war es der Anführer der Magier selbst, der auf sein Schicksal wartete.

»Und wofür ist das hier?« Fragend betrachtete Eleana die Dose mit der Salbe.

»Ich habe Parvel erzählt, dass du Unterleibsschmerzen hast.«

Sofort brach die Magierin in schallendes Gelächter aus und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.

»Was denn? Mir ist in dem Moment nichts Besseres eingefallen.« Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. »Also hör auf zu lachen und sei froh, dass ich überhaupt etwas besorgt habe. Die Situation hätte nämlich auch ganz anders ausgehen können.«

»Oh, ich bin dir wirklich für deine Kreativität dankbar, Vika. Es ist nur urkomisch, mir dich dabei vorzustellen, wie du über Menstruationsprobleme mit einem alten Mann redest.« Wieder kicherte sie. Automatisch schmunzelte ich und stimmte in ihr Lachen ein.

Es schien für einen kurzen Moment vergessen zu sein, was sich in den letzten Minuten in diesem Zelt abgespielt hatte, und wenn ich ehrlich war, dann war ich froh darüber, nicht mehr an die dunkle Magie und an die Schattenkreaturen denken zu müssen.

Es gab eine viel größere Bedrohung auf diesem Kontinent.

Kapitel 3

Caiside

Hey, Bursche! Schenk mir noch ein Bier ein!«, rief ich dem mageren Jungen zu, den ich zum ersten Mal in diesem Gasthaus sah und der sichtlich überfordert mit der Situation seiner neuen Arbeit war. Hektisch balancierte er die vielen gefüllten Krüge auf dem Tablet in seiner Hand, was ihm meist nicht so recht gelang, denn die Gänge waren eng, und die Betrunkenen drängten sich auf den Bänken. Ellenbogen, Ärsche und auch Köpfe gerieten in den Weg des Jungen und stellten ihn vor eine große Herausforderung, sich in diesem Labyrinth aus Menschen seinen Weg zu den zahlenden Gästen zu bahnen.

»Bist du dir sicher, dass du noch eins trinken willst?«

»Bist du dir sicher, dass du keins trinken willst?«, fragte ich die junge Frau neben mir, die nicht nur mich sorgenvoll ansah, sondern auch die drei leeren Krüge vor mir auf dem Tisch.

»Cai, jetzt mal ehrlich, es bringt doch nichts, sich den Frust mit Alkohol zu ertränken.« Brie biss sich auf ihre volle Unterlippe, wie sie es so oft tat, wenn sie sich Sorgen oder Gedanken machte. Dabei sah sie immer aus wie ein kleines Mädchen, das dabei erwischt wurde, wie es ungehorsam war. Dabei war Brie die Schlimmste von uns allen, die brutalste, die cleverste und geschickteste Auftragskillerin von Alaeen. Ich hatte nie zuvor jemanden so flink und wendig durch eine Menschenmasse laufen sehen, sodass niemand mitbekam, dass die blonde Frau mit dem markanten Kurzhaarschnitt soeben einen Menschen tötete, und das mitten in den prunkvollen Städten des Landes.

Nur eine Person kam mir in den Sinn, die Brie Konkurrenz machte, nur wollte ich im Moment an diese nicht denken. Sie hatte uns alle damals im Stich gelassen, sich einfach von uns abgewendet, als wären wir Fremde. Mir waren die Veränderungen an meiner damaligen besten Freundin an der Akademie erst im letzten Jahr unserer Ausbildung aufgefallen, doch wollte ich sie trotz Warnungen der anderen Absolventen nicht wahrhaben.

Am Ende war ich eines Besseren belehrt worden, mich nicht von meinem eigenen Verstand täuschen zu lassen.

»Bitte, Euer Gnaden, das Bier.« Der magere Junge stellte einen gefüllten Krug Bier vor meine Nase. Seine zittrigen Hände verrieten, dass er Angst vor uns hatte und am liebsten so schnell wie möglich das Weite suchen wollte.

»Oh bitte, nenn mich nicht so, Junge. Ich bin wahrlich nicht von edlem Blut. Das ist niemand von uns, du verstehst.«

Der Junge nickte eifrig und wandte sich kurz hektisch umblickend zu einem weiteren Gast, der nach ihm gerufen hatte.

»Hey, warte mal«, sagte ich und kramte in meiner Hosentasche, um ihm kurz darauf drei Goldmünzen zuzuwerfen, die er ungeschickt auffing.

»Was … aber … Nein, das darf ich nicht annehmen«, stotterte er eingeschüchtert und streckte mir die Goldstücke bereits wieder entgegen.

»Das hast du dir verdient. Ich sehe, wie viel du hier zu tun hast und wie man mir dir hinter der Theke umgeht. Das Geld reicht, um dich in ein anderes Land abzusetzen und dir eine andere, lukrativere Arbeit zu suchen. Also nimm es an und tritt dem alten Rags in den Arsch.« Ich zwinkerte, woraufhin die Augen des Jungen glänzten, als er die drei Münzen in seiner Hand erneut betrachtete und ihm die Bedeutung meiner Worte bewusst wurde. Ich hatte ihn innerhalb eines Wimpernschlags aus seinem alten, traurigen Leben gerettet.

»Danke«, hauchte er und verbeugte sich tief.

»Komm wieder hoch, wir wollen nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen«, sagte ich und legte eine Hand an den gefüllten Bierkrug, um in an meine Lippen zu heben. »Auf was wartest du? Verschwinde schon.« Ich nahm einen Schluck des kühlen, prickelnden Getränks und beobachtete, wie der Junge mit den Schwielen an den Händen zum alten Rags hinter die Theke ging, ihm etwas ins Ohr flüsterte und daraufhin das Weite suchte, als der Gasthausbesitzer ihm mit wutverzerrtem Gesicht einen Teller, den er soeben polierte, hinterherwarf. Laut fluchend brüllte er ihm etwas zu, was von der Lautstärke des Gasthauses verschluckt und von meinem eigenen Lachen überschallt wurde.

»Du bist wirklich bescheuert«, gab Brie von sich, die das Schauspiel nur stumm mit den Augen verfolgte.

»Was denn? Willst du mir jetzt vorwerfen, dass ich einem armen Jungen das Leben gerettet habe? Hier wäre er in ein paar Wochen vor Anstrengung umgekippt und gestorben, das weißt du«, erwiderte ich und nahm einen weiteren Schluck meines Bieres, das in der Tat kaum mehr als wie dreckiges Wasser schmeckte.

»Du hast gerade dein letztes Geld auf den Kopf gehauen, das ist dir bewusst, oder?«

»Ich mache mir nichts aus Geld. Ich brauche es nicht«, knurrte ich grimmig, denn auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, wusste ich, wie tief ich in der Scheiße steckte. Ich hatte meinen letzten Auftrag vermasselt, und nicht nur diesen, auch den davor und den davor. Wenn ich ehrlich war, hatte ich so schlecht gemordet wie vor meiner Ausbildung an der Akademie, doch nur Brie wusste, wie es um mich stand. Niemand sonst durfte erfahren, dass ich meine Anstellung, wenn man es so nennen wollte, schon vor Monaten verloren hatte. Der Ruf eilte mir voraus, sodass ich dennoch als Auftragskillerin gefürchtet wurde. Ich blieb seitdem an Bries Seite, denn sie schenkte mir einen Platz in ihrer Wohnung zum Schlafen und Essen. Im Grunde genommen lebten wir zusammen wie ein altes Ehepaar, womit ich sie gerne mal aufzog. Davon wollte sie aber nie etwas hören.

»Ich werde dich rausschmeißen müssen, wenn du dir nicht endlich eine neue Arbeit suchst. Du frisst so viel wie drei Bären, und mein Geld neigt sich auch bald dem Ende«, mahnte Brie mich, doch ich hörte den neckischen Unterton in ihrer Stimme.

»Du weißt schon, dass das niemals passieren wird? Du bist stinkreich. Reicher als jeder andere von uns.«

»Wieso musst du das immer wieder erwähnen?« Brie stöhnte und schüttelte den Kopf, als ich ihr mit meinem nun halb leeren Bierkrug zuprostete. Die blonde Auftragskillerin war schon immer die Vernünftigere von uns beiden gewesen. An der Akademie hatte mich ihre Gehorsamkeit gegenüber den Gelehrten angewidert, doch bewies sie damit, dass sich harte und pflichtbewusste Arbeit auszahlte. Wovon ich leider nicht reden konnte.

Ich hatte es zwar als eine der wenigen an der Akademie geschafft, doch war ich stets eine der schlechtesten Kämpferinnen, eine der langsamsten Läuferinnen und Denkerinnen. Es glich einem Wunder, dass ich es überhaupt bis zur Abschlusszeremonie geschafft hatte. Wie ich es angestellt hatte, lebend aus dieser Hölle herauszukommen, blieb mir ein Rätsel, das ich auch nicht lüften wollte, selbst wenn ich es könnte.

»Weil es eben so ist. Und du kannst noch so mit den Augen rollen, ich werde es immer und immer wieder sagen.« Ich fuchtelte mit meinem Zeigefinger vor Bries Gesicht herum, den sie mit ihrer Hand zur Seite schlug. »Bis du einsiehst, dass du einfach wunderbar bist.«

»Du hast zu viel getrunken, Cai. Es reicht langsam.«

»Pff, nur weil du nicht mit Komplimenten umgehen kannst, darf ich sie nicht machen? Kein Wunder, dass du keinen Mann an deiner Seite hast. Vermutlich haben die Männer Angst vor deiner dominanten und grimmigen Art. Manchmal bist du wirklich grummelig. Dann kommt man einfach nicht mehr an dich ran und hat keine Ahnung, was in deinem kleinen Köpfchen vor sich geht.« Ich tippte mit dem Finger, den Brie noch zuvor weggeschlagen hatte, an ihre Schläfe.

»Lass das«, zischte sie zornig, und ich zuckte kurz zurück.

»Okay, du bist eine richtige Spaßbremse, Brie!«, rief ich lauter als beabsichtigt und zog somit jede Menge Aufmerksamkeit auf uns. Einige Gäste steckten die Köpfe zusammen und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Andere schüttelten ihre Köpfe und murmelten vor sich hin, in beiden Varianten ging es um Brie und mich.

»Und du bist sturzbetrunken. Wir gehen. Auf der Stelle. Ich habe keine Lust, noch mehr Blicke auf uns zu ziehen. Es war ein Fehler hierherzukommen.« Brie packte mich am Oberarm und zog mich hoch.

Protestierend versuchte ich mich aus ihrem Griff zu winden. Leider war sie zu stark für mich. In der Tat hatte sie recht. Vor meinen Augen verschwammen die Gesichter der anderen Gäste, und mein Magen rebellierte bereits lautstark. Wenn ich jetzt eine ruckartige Bewegung machte, würde ich mich vor allen Anwesenden übergeben, und diese Blöße wollte ich mir wahrlich nicht geben.

»Entschuldigung«, murmelte Brie den im Weg sitzenden Gästen zu, um sich einen Weg zwischen ihnen hindurch zu bahnen. Anderen Frauen hätten sie sicherlich versucht, unter den Rock zu fassen oder sie ganz zufällig an den Brüsten zu berühren, doch bei zwei Auftragskillerinnen mit einem gewissen Ruf traute sich das niemand. Gehorsam machten sie Platz für die blonde Amazone mit den Silberschwertern auf dem Rücken und meiner Wenigkeit. Einem erbärmlichen Abbild einer Auftragskillerin.

»Du hast den ganzen Spaß verdorben«, sagte ich, als wir aus dem Gasthaus hinaus auf die Straße stolperten. Das Licht der Sonne blendete mich, und ich kniff die Augen zusammen. »Meine Güte, ist es hier immer so hell?«

»Ist das dein beschissener Ernst?«, zeterte Brie los, bevor ich auch nur ihr Gesicht sehen konnte, welches durch die Sonnenstrahlen erleuchtet wurde.

»Was ist dein Problem? Es ist doch alles in Ordnung«, lallte ich und würgte, als bittere Galle meine Kehle hochkroch.

»Du blamierst mich total! Trinkst am helllichten Tag, als gäbe es keinen Morgen. Nicht nur, dass es eh schon ein beschissenes Licht auf uns wirft, dass wir uns hier blicken lassen, nein, du musst dich auch noch mit dem Alten anlegen.«

»Nicht ich, das war der kleine Junge«, verteidigte ich mich.

»Das tut jetzt nichts zur Sache. Immerhin hast du ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt.«

»Aber dafür ist er jetzt stinkreich und –« Ich drehte mich zur Seite und übergab mich auf die Pflastersteine des Gehweges. Die fein gekleideten Leute, die unseren Weg passierten, sprangen schockiert zur Seite und machten einen weiten Bogen um uns.

»Verdammt.« Brie zog mich hoch und zerrte mich mit sich. Ihre Fingernägel gruben sich tief in meine Haut, sodass sie aufriss und die kleinen Wunden brannten.

Ich bekam kaum mit, wie wir in Bries Wohnung gelangten, doch wenige Minuten später fiel ich auf das Sofa und schlief schnarchend ein.

***

»Oh Mann«, stöhnte ich, als ich langsam aus meinen wirren Träumen erwachte. »Was habe ich getan?« Ich legte meine Hände über mein Gesicht und rieb mir die Augen. Verdammte Axt, so viel hatte ich lange nicht mehr getrunken. Wenn ich ehrlich war, seit meiner Zeit an der Akademie nicht mehr.

Mein Vater war Brauer in einer der größeren Städte von Fia, und da war es leicht, an Alkohol zu kommen. Ich hatte jeden Freitag das Lager geplündert, wenn Vater selbst betrunken mit seinen Freunden im Keller saß, und war mit meiner Beute verschwunden. Er hatte es nicht einmal bemerkt, dass jedes Mal bei der Inventur Flaschen fehlten, so sehr war er mit sich und seinem guten Ruf beschäftigt. Ihm ging es stets nur darum, welches Licht auf unsere Familie geworfen wurde, wie ich die Familie präsentierte. Nur leider enttäuschte ich ihn stets und ständig, egal wie sehr ich mich bemühte, eine gute Tochter zu sein. Irgendwann hatte ich es aufgegeben, ihm nachzueifern, denn seine Aufmerksamkeit galt der Brauerei und seinem Profit.

Niemals mir. Oder meiner Mutter.

»Das frage ich mich ehrlich gesagt auch. Was ist los, Cai? So kenne ich dich gar nicht.« Brie trat aus der Küche, legte ein Geschirrhandtuch auf den Tresen und setzte sich vor mich auf den Boden. Ich stöhnte erneut, da die Kopfschmerzen unerträglich waren.

»Mh«, brummte ich.

»Du kannst mir alles erzählen, du bist meine beste Freundin, das weißt du, oder?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Dann sag mir, was los ist. Warum wolltest du unbedingt in dieses Gasthaus? Warum hast du dich so sehr gehen lassen?« Bries versöhnliche Stimme ließ mein Herz aufgehen und meine Seele erleichtert aufatmen. Sie war nicht mehr länger sauer auf mich. Ich hätte es auch nicht ertragen, Bries Zorn auf mir zu spüren, nicht, solang wir hier zusammenlebten und unsere Geheimnisse miteinander teilten. Und die Toilette.

»Also, ich höre? Und jetzt sag mir nicht, dass es mit den verpatzten Aufträgen zu tun hat. Das glaube ich dir nicht. Du hast dich noch nie von jemandem unterkriegen lassen, selbst von diesem Grafensöhnchen nicht.«

»Bitte, nimm nie wieder den Namen dieser Person in den Mund«, murmelte ich und lugte mit einem Auge unter meiner Hand hervor.

»Entschuldige.« Brie schenkte mir ein ehrliches Lächeln. »Aber was ist es dann?»

»Frag lieber wer.«

»Was?«

»Nicht was. Sondern wer. Es ist eine Person, die … na ja … dafür verantwortlich ist.« Ich zeigte auf meinen Körper und meinte gleichzeitig meinen gesamten seelischen Zustand.

»Wie meinst du das?«, hakte Brie nach, und ich spürte die Anspannung in jeder ihrer Fasern, als rechnete sie damit, dass ich ihr jeden Moment meine Gefühle gestehen würde. Da konnte ich sie beruhigen, ich stand auf Männer, nicht auf Frauen. Und schon gar nicht auf welche, mit denen ich schon mein halbes Leben verbracht hatte. Brie war meine beste Freundin, nichts weiter. Dieses Band zwischen uns war stärker als jede romantische Beziehung je hätte werden können.

»Ein Mann ist schuld, okay?«

»Cai, das … das ist nicht dein Ernst!«, empört und sichtlich überrascht sprang Brie auf ihre Beine, und ich selbst öffnete nun meine Augen, um sie dabei zu beobachten, wie sie im Zimmer auf und ab lief, während sie sich eine Hand zweifelnd an die Stirn legte. »Ich fasse es nicht«, murmelte sie verärgert.

»Es tut mir leid, okay? Ich … Es ist einfach so passiert«, verteidigte ich mich.

»Caiside.« Ich zuckte zusammen, denn so nannte Brie mich nur, wenn sie sauer auf mich war, was ich ihr in dieser Situation nicht verübeln konnte. Ich verstand es ja selbst kaum, wieso ich mich auf diese Sache eingelassen hatte.

»Ich weiß. Du brauchst mir jetzt keine Predigten darüber halten, dass wir keine Liebesbeziehungen eingehen dürfen«, wehrte ich ab.

»Wir dürfen nicht einmal Gefühle haben, schon vergessen? Wenn irgendjemand herausfindet, dass wir es geschafft haben, unsere Erinnerungen zurückzubekommen, sind wir tot.« Brie blieb stehen und sah mich fassungslos an.

»Das brauchst du mir nicht noch einmal verdeutlichen. Ich war schließlich anwesend, als man uns das Hirn raus gebrannt hat.« Ich schaute zur weißen Decke über mir und schluckte schwer. Eine heiße Träne benetzte mein Auge. »Ich kann mich an alles erinnern. An das Brennen in meinem Kopf, an das Zerren an meinem Verstand. Die Stimmen, die jede noch so kleine Erinnerung aus mir heraustrieben. Ich sehe bis heute noch die glühenden Eisen, die meine Haut verbrannten, und die Blitze, als sie mich unter Strom setzten. Ich schmecke noch den bitteren Geschmack des Giftes.«

»Cai.« Brie setzte sich zu mir auf die Couch und legte eine Hand auf meinen Unterarm. Ich schloss die Augen, doch tat ich mir damit keinen Gefallen. Sämtliche Erinnerungen an die Ausbildung flackerten vor meinem inneren Auge auf, als wollten sie mich mahnen und mir sagen, ich sollte aufhören, menschlich zu sein.

»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich sehe all diese Dinge auch in meinen Träumen, spüre jeden Schmerz und jedes Leid, was uns angetan wurde. Aber –«

»Aber du warst nicht so dumm, dich auf einen anderen Menschen einzulassen, schon okay.«

»So wollte ich das gar nicht sagen. Hör auf, so pessimistisch zu sein. Ganz ehrlich? Ich freue mich für dich. Und das meine ich von ganzem Herzen. Da brauchst du auch gar nicht deine Augenbrauen hochziehen.« Brie boxte mich gegen den Oberarm, sodass ich schmunzeln musste. Ihre anfängliche Anspannung war vergangen, sodass nur noch meine liebenswürdige beste Freundin übrig blieb. Und zufällig die beste Auftragskillerin von Alaeen.

»Ich habe mich nie getraut, Gefühle zuzulassen«, gestand Brie, und ich schaute sie überrascht an.

»Hättest du es denn wollen?«

»Einmal ja.« Brie lächelte verträumt, als sie ihre Hand auf meinem Arm betrachtete. Ihre blonden kurzen Haare schimmerten golden im hereinfallenden Sonnenlicht. Sie sah beinah wie ein Engel aus.

»Das hast du mir nie erzählt.«