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Wenn auf beiden Seiten der Tür dein Tod lauert, für welche entscheidest du dich? Wählst du das Feuer, das dich zerfrisst oder klammerst du dich an den einzigen Funken Hoffnung, der sich als Lüge entpuppen kann? Es heißt, die Supernova hat jegliches Leben auf der Erdoberfläche in Asche verwandelt. Ein Überleben vollkommen unmöglich. Doch ich musste eine Entscheidung treffen, die mich geradewegs vor die Tore meiner sicheren Heimat gebracht hat und vor eine unlösbare Aufgabe stellt. Das Problem ist nur: Meine Familie ist schuld an dieser Situation. Ich bin Nova-Lina Brown und ich brauche jemanden, der sich mit mir den Gefahren der neuen Welt stellt. Wirst du an meiner Seite kämpfen?
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Lektorat Mitternachtsfunke
Umschlagdesign: Juliana Fabula
Buchsatz: Bleeding Colours Coverdesign
Alle Rechte vorbehalten
»Was man heute als Science Fiction beginnt, wird man morgen vielleicht als Reportage zu Ende schreiben müssen.«
-Norman Mailer-
Inhalt
Prolog
AlphaOne
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
VergesseneWelt
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Solaris
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Die Mission
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Epilog
Danksagung
Prolog
Zwei Männer. Der eine nicht viel älter als der andere, standen sich gegenüber. Zwischen ihnen ein Abstand von Hunderten von Metern, doch sie konnten sich direkt in die Augen sehen. Diese Entfernung war der Beweis dafür, wie sehr sich die Männer ineinander getäuscht hatten.
Wie sich zumindest einer in dem anderen getäuscht hatte.
Um sie herum toste der staubige, schwüle Wind. Ein gewaltiger Sandsturm rollte auf die Menschen zu, die umherliefen, wie aufgescheuchte Hühner. Niemand beachtete die beiden, die mit ausdruckslosen Gesichtern einfach nur dastanden. Niemand, außer dem kleinen Jungen, sah das Flackern in den Augen der Männer. Der Junge klammerte sich ängstlich an das Bein seines Vaters, dessen Atem gefährlich ruhig ging. Zu ruhig, wenn man die Situation betrachtete, in der alle steckten.
Scheu sah er zu seinem Vater auf, in dessen Augen sich nur eines abzeichnete: Unglauben. Unglauben, mit dem er den anderen Mann betrachtete, der ihm schwer schluckend gegenüberstand. Zwischen ihnen immer noch die unendliche Weite. Sand, Wüste, Staub. Trockenheit, die die Kehlen aller Anwesenden verklebte, sie husten ließ, bis ihnen das Blut aus den Mündern quoll.
Der kleine Junge wimmerte schrecklich, denn er musste mit ansehen, wie die beiden Männer, die ihm so vertraut waren, die er tagtäglich sah, auseinanderdrifteten. Jeder für sich zerbrach. Von jedem der Männer sprang ein Teil ihrer Seele ab und verging mit dem Sandsturm, der um sie herum toste.
Schreie ertönten.
Die Hitze wurde immer unerträglicher. Die Sonnenstrahlen brannten rosige Blasen auf die Haut. Ließ alles um sich herum in Flammen aufgehen.
Doch der kleine Junge klammerte sich fest an das Bein seines Vaters, wollte ihn nie wieder loslassen, egal, was passierte.
Langsam drehte sich der Mann auf der gegenüberliegenden Seite um und verschwand hinter dem sich schließenden Tor. Für immer.
Tränen hatte der Junge erkennen können. Tränen, die ihm über das Gesicht liefen und dort aufgrund der Hitze verdampften.
Tränen.
Doch sie änderten nichts daran, dass der Vater sich seinen Sohn schnappte, ihn auf den Arm nahm und davonlief.
Direkt in den Sandsturm hinein.
AlphaOne
Kapitel 1
»Verpiss dich!«, brüllte ich meinen kleinen Bruder an, der neben mir auf der weißen Couch lümmelte und mich mal wieder beim Zocken fertigmachte. Ich fragte mich, wo er nur die Skills lernte, mit denen er ständig aufs Neue glänzte.
»Du kleine, miese Ratte. Du cheatest doch!« Wild hackte ich auf den Controller ein, der meine imaginäre Waffe darstellte.
»Hör auf zu nörgeln und sieh ein, dass du einfach nur schlecht bist.« Auf dem Bildschirm vor uns sah ich, wie der Charakter meines Bruders meinem einen Kopfschuss gab.
Die linke Seite des Bildschirmes wurde schwarz und ich schleuderte den Controller Richtung Fernseher. Er kam scheppernd auf dem Boden auf, wo er in Einzelteile zerfiel.
»Oh man, Lina! Jetzt hast du ihn kaputt gemacht.«
»Krieg ‚ dich wieder ein. Ist ja nicht das erste Mal. Ich repariere den wieder«, mault ich.
Fin warf mir einen schelmischen Blick von der Seite zu.
»Oder bringst du ihn zu Christian in den Technikraum? Ich glaube nämlich, du machst das mit Absicht, damit du Chriiiis wiedersehen kannst.« Fin zog den Namen unseres Technikgenies gedehnt in die Länge und wackelte bedeutungsschwer mit den Augenbrauen.
»Ganz sicher nicht. Ich bin nicht diejenige, die extra lange im Klassenzimmer bleibt und wartet, bis eine gewisse Gina fertig ist.«
Die Wangen meines kleinen Bruders liefen rot an.
»Stimmt doch gar nicht«, versuchte er sich aus der Sache herauszureden. »Aber verrate es ja nicht Mom und Dad«, gab er dann doch kleinlaut zu.
Ha! Wieder einmal hatte ich Recht behalten.
»Mein Mund ist verschlossen, versprochen«, sagte ich und wuschelte meinem Bruder durch seine blonden, lockigen Haare, woraufhin er meine Hände mit einem genervten Stöhnen zur Seite schlug.
Fin und ich sahen uns nicht wirklich ähnlich, abgesehen von den welligen Haaren, die ich mir stets färbte. Ich hatte schon jede erdenkliche Farbe ausprobiert und trug sie nun schulterlang und in einem kräftigen Hellblau. Fin ähnelte unserer Mutter und ich unserem Vater. Obwohl viele Gemüter anderer Meinung waren.
»Ich werde den dann mal zu Chris bringen.« Ich sammelte die vielen Einzelteile des Controllers auf und erntete ein breites Grinsen von Fin.
»Sag ich doch«, stieß er triumphierend aus.
»Ach, halt die Klappe, du nervst!«
»Ich habe dich auch lieb, Schwesterherz«, rief mir Fin noch hinterher, als ich das Zimmer verließ. Mit einem hydraulischen Surren verschwand die Tür in der Wand und entließ mich in die unendlichen Flure der AlphaOne. Meinem Zuhause.
Kapitel 2
Ich war an diesem Ort geboren und verbrachte schon mein ganzes Leben unter der Erdoberfläche. Die Welt dort draußen, wenn es noch eine gab, war ganz sicher nicht mehr die, die sie vor Jahrzehnten gewesen war.
Als die Sonne meinte, sie müsste implodieren. Als alles den Bach runter ging. Als die Berechnungen und Voraussagungen der klügsten Wissenschaftler und Astronomen Wirklichkeit wurden.
Als das passierte, wovor die Menschheit am meisten Angst hatte. Ihr Planet stand vor dem Aus, sollte von der Sonne verbrannt werden. In der Hoffnung, dass man unsere Spezies noch retten konnte, hatte man riesige Earthscraper unter die Erde gebaut. Diese unterirdische Architektur glich ganzen Städten, für deren Durchquerung man vermutlich Wochen, wenn nicht sogar Monate, brauchte. So wollte man schon vor Eintritt der Supernova Schutz vor den Folgen der Umweltverschmutzung und des Klimawandels bieten. Smog und extreme Wetterkapriolen ging man somit aus dem Weg. Zumindest hoffte man das.
Wie durch ein Wunder überlebten die Menschen. Zumindest die, die es rechtzeitig geschafft hatten, sich einen Platz unter der Erde zu sichern.
Mein Großvater hatte Glück. Na ja, nicht wirklich, denn er war einer der Gründer des Earthscrapers und hatte somit den meisten Anspruch, seine Familie mitzunehmen.
Der Tag, an dem die Sonne die Erde verschlucken sollte, kam schneller und unerwarteter als gedacht. Es konnten längst nicht alle Menschen, die einen Platz in dieser unterirdischen Behausung hatten, gerettet werden.
Sie waren einfach verbrannt. Oder starben schon vorher, weil sie verdursteten. Denn Wasser gab es keines mehr. Die Meere, Flüsse und Seen waren ausgetrocknet. Tiere und Pflanzen starben in den Jahren aus, bis die Erde nur noch ein riesiger, sandiger Ball war.
Dem Tod geweiht.
Doch irgendetwas musste passiert sein, dass besagter Erdball immer noch existierte. Sonst hätten meine Großeltern nie ihre Kinder und Kindeskinder aufwachsen sehen können. Mein Großvater starb mit nur 60 Jahren an den Strahlen der Technik, mit denen er gearbeitet hatte. Doch er erlebte es zumindest noch, wie die AlphaOne ihren Dienst antrat.
Natürlich überlebten auch meine Eltern, die ebenfalls zwischen den Wänden dieses gigantischen Earthscrapers aufgewachsen waren. Und dann gab es da noch mich und meinen kleinen Bruder. Was sich meine Eltern dabei dachten, nach elf Jahren noch einmal schwanger werden zu wollen, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Ich wollte nicht sagen, dass ich Fin nicht über alles liebte und verdammt froh war, den kleinen Nervbold um mich zu haben, aber manchmal würde ich ihn gern in einer der Müllanlagen zusammenpressen lassen, damit er seine vorlaute Klappe hielt.
Jüngere Geschwister wurden doch immer bevorzugt und bekamen alles, was sie wollten, mein Bruder war quasi der Inbegriff von Verwöhnung und reizte diese Tatsache bis aufs Letzte aus.
Es interessierte mich schon, wie es oberhalb der Erdoberfläche aussah. Ob es keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht gab, ob wirklich -200 Grad herrschten. Doch dann war ich froh, dass ich sicher und beschützt in meinen vier Wänden lebte.
Gut, vier Wände war dermaßen untertrieben, aber es reichte, um die Situation zu verdeutlichen. Das war die Kurzfassung, wieso und weshalb wir hier lebten.
Die längere hatte ich mir fast jedes Jahr im Geschichtsunterricht anhören müssen und war heilfroh, seit Jahren nicht mehr zur Schule zu gehen. Mit 21 hätte ich mir zwar schon längst Gedanken über ein mögliches Studium oder eine Ausbildung machen müssen, aber ich verbrachte lieber die Zeit mit Dingen, die mir wirklich Spaß machten. Und das waren Zeichnen, Lesen, Videospiele spielen und meinen Bruder ärgern.
Ach ja, und meine Klamotten zu verschönern. Ich hasste die triste weiße Kleidung, die wir trugen. Einfach zum kotzen langweilig. Welch ein Glück, dass mein kreatives Hirn dazu gemacht war, viele kleine und manchmal auch so große Löcher in die Hosen oder Oberteile zu schneidern, dass mein Vater fast verrückt wurde. Meine Mutter sah ihn dann immer ganz verliebt an und schmunzelte nur. Kleinlaut gab sie ihm zu bedenken, dass sie doch ganz genauso in ihrer Jugend gewesen war.
Das quittierte Dad oft mit einem tiefen Seufzer und schenkte seiner Frau einen Kuss.
Da mir an diesem Punkt die Romantik echt zuwider wurde, verschwand ich immer in meinem Zimmer. In dem ich für mich sein konnte.
Ich wollte mich noch nicht an etwas binden, sei es an einen Beruf oder einen Mann. Ich flirtete gerne, das war kein Geheimnis, und ich hatte auch schon die ein oder andere flüchtige Bekanntschaft... Aber bisher sprach mich noch kein männliches Exemplar so sehr an, dass ich hin und weg gewesen wäre.
Ich war da vielleicht etwas altmodisch und wartete auf den Richtigen. Haha, die Auswahl war ja nicht besonders groß. Mein Jahrgang und die zwei Jahre vor mir waren ziemlich mädchenlastig.
Vielleicht sollte ich einfach mal das Ufer wechseln und das eigene Geschlecht erkunden. Abgeneigt war ich davon auf jeden Fall nicht.
»Meine liebe Nova-Lina Brown. Schön, dass wir uns mal wiedersehen.«
»Hör auf, so geschwollen zu reden. Das steht dir nicht. Und außerdem: Wer hat dir erlaubt mich so zu nennen?«, fauchte ich Christian mürrisch an.
»Das ist dein Name«, stellte er schlicht fest. Ja, und wie das mein Name war. Ich hasste ihn! Meine Eltern fanden es wohl ziemlich witzig, mich im Angesicht der Tatsache nach einem Stern zu benennen, der durch innere Explosionen ausstirbt. Klasse, Mom und Dad, damit habt ihr mir echt meine Kindheit gerettet. Nicht!
Jedes Mal, wenn mich jemand bei meinem vollen Namen nannte, gab es Gelächter und Getuschel.
Ich war Lina. Einfach nur Lina.
»Was kann ich denn heute Gutes für dich tun?«, fragte Christian, der seine gerahmte Brille mit den dicken Gläsern abnahm und mich über den Rand seines Bildschirmes holografischer Schallwellen, die direkt vor seiner Nase schwebten, ansah. Es war nicht einmal etwas Materielles, kein Vergleich mehr zu den klobigen Computern aus der Zeit, in der die Erde noch grün bewachsen und die Meere den größten Teil des Planeten eingenommen hatten. Auch unsere Fernseher und so gut wie jeder Stuhl, Tisch oder Schrank, nutzten eine Art von Ultraschallwellen, die alles mit Leichtigkeit bewegen ließ. Trotz der Schwerkraft hier unten. Super praktisch, wie ich finde, und ein ganz wunderbarer technischer Fortschritt. Besonders, wenn man ein Mensch ist, mit dem Drang nach stetigen Veränderungen. Da war es ein Leichtes, mein ganzes Zimmer umzuräumen, wenn es mich wieder einmal überkam.
»AlphaOne an Lina.« Chris fuchtelte mit seiner Hand vor meinen Augen umher.
»Ja ja, schon gut. Kannst du den hier reparieren?« Ich warf ihm den kaputten Controller zu, den er gekonnt auffing.
»Schon wieder? Sag mal, was machst du denn immer damit?«
»Kannst du oder kannst du nicht?«, fragte ich mit erhobener Augenbraue.
»Pff, was für eine Frage. Natürlich kann ich. Du hast mir schon schlimmere Dinge geliefert.« Damit verschwand er wieder hinter einem der riesigen Bildschirme und werkelte an dem Controller herum.
Ja, ich musste zugeben, ich kam gerne hier her. Aber das lag nicht nur an Chris, der in der Tat schon ziemlich gut aussah mit seinem trainierten Körper und den niedlichen Grübchen in den Wangen. Aber der eigentliche Grund war, dass ich mich nicht an den vielen technischen Geräten sattsehen konnte, die Christian in seiner kleinen Werkstatt zauberte.
Es gab hier vier Sektoren. Nord, Süd, West und Ost. Wir lebten in Sektor Ost und, wie ich fand, besaßen wir den besten Techniker dieser unterirdischen Basis. Christian war ein absolutes Genie und konnte ohne Ausnahme einfach alles reparieren, was in unserem Sektor zu Bruch ging.
Während Chris seine ganze Aufmerksamkeit meinem Controller widmete, spazierte ich in dem Raum umher und betrachtete die kleinen, technischen Wunder, die herumstanden.
Meine Augen wurden jedes Mal immer größer vor Staunen, und ich musste mich wirklich zusammenreißen nicht alles in die Hand zu nehmen. Die Gefahr bestand, dass ich wieder einmal etwas kaputt machte. Christian konnte es nicht leiden, wenn jemand, außer ihm selbst, seine Werke berührte, doch bei mir machte er da eine Ausnahme. Öfter als andere, durfte ich mir die Dinge in seiner Technikwerkstatt genauer ansehen.
Jedes SmartPad, das die Einwohner um das Handgelenk trugen, stammte aus genau diesem Raum.
Christian hatte dafür den höchsten Technikpreis bekommen, den man sich nur wünschen konnte. Aufgrund seiner Erfindung konnte jede erdenkliche Art von Daten des Besitzers gespeichert werden. Sogar ein Identifikationschip steckte in dem keinen Bildschirm um meinem Arm, der nicht nur mir, sondern allen anderen Bewohnern der Sektoren Eintritt in jedes Zimmer des Earthscrapers ermöglichte. Ausgenommen waren natürlich die privaten Gemächer. Ich wollte mir nicht ausmalen, was für ein schrecklicher Moment es sein musste, wenn plötzlich eine fremde Person in meinem Schlafzimmer stünde.
Obwohl, wenn er oder sie oder es gut aussehen würde und mir... Ich brauchte eindeutig die Zuwendung und Liebe eines anderen Menschen. Ich war ja regelrecht untervögelt!
»Bedien dich ruhig«, sagte Christian, als er sah, dass ich einen silbernen Ring in der Hand hielt, von dem ich nicht wusste, welche Fähigkeiten er besaß. Noch nicht, so wie ich Chris kannte. Der mir dieses kleine Ding an meinem Finger sicherlich gleich erklärte.
Ich sah ihn erwartungsvoll an, während ich den Ring um meinen Finger drehte.
»Das ist ein Prototyp eines neuen SmartPads. Ich wollte etwas, was nicht ganz so... groß und... weniger schick aussieht. Schalte ihn mal an.«
Ich starrte auf den Ring an meiner Hand und wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, dieses äußerst brillante und hübsche Ding eines SmartPads in Gang zu kriegen.
Ich wackelte daher unsicher mit den Fingern und drehte an dem Ring umher, doch nichts passierte. Bevor mir die Situation noch unangenehmer wurde, meldete sich Chris rechtzeitig zu Wort, der mein Unwissen mit einem Schmunzeln betrachtet hatte. Sollte er gefälligst den Controller wieder reparieren, schließlich hatte ich noch ein Date mit der Konsole und meinem Bruder, bei dem es nicht gerade liebevoll zugehen würde. Die Revanchekonnte nicht länger warten.
»Du musst einfach nur mit deinem Zeigefinger über das Gehäuse streichen.«
»Wie soll ich das anstellen, wenn...«
»Mit dem Zeigefinger deiner anderen Hand.«
»Ah ja.«
Peinlich berührt tat ich, was Chris mir empfohlen hatte und wie durch ein Wunder fing der Ring an meinem Finger an zu leuchten. Der silbrig-blaue Schimmer gefiel mir äußerst gut, woraufhin ich beschloss, diesen Ring zu behalten, sobald ich es durfte.
»Cool«, sagte ich sichtlich beeindruckt und drehte meine Hand immer wieder hin und her. Diese neue Art des SmartPads gefiel mir tatsächlich gut. Viel besser und deutlich schlichter als dieses Armband, das um mein Handgelenk lag.
»Jetzt sag deinen Namen. Ja, deinen ganzen Namen und dann bist du registriert.«
Ich warf Christian einen bösen Blick zu und rollte mit den Augen. Warum ich auch immer mit meinem beschissenen Namen konfrontiert werden musste. Ich verfluchte meine Eltern für ihre Kreativität.
»Nova-Lina Brown«, sagte ich einen Tick zu schnell, denn der Ring reagierte nicht.
»Du musst es schon deutlich aussprechen.« Wieder warf ich einen Blick zu Chris rüber, der mich gar nicht ansah, denn er vollführte die wildesten Handgriffe an meinem ramponierten Controller.
»Nova. Lina. Brown«, betonte ich deshalb langsamer. Mir wurde diese ganze Sache echt zu blöd, aber was sollte ich tun, wenn mein Herz für den neuesten, heißesten Scheiß der Technik klopfte.
Ich liebte es einfach, neue Dinge zu entdecken und genauso genoss ich es, sie auszutesten. Wie gut, dass ich mit Christian zur Schule gegangen war und wir uns dadurch schon unser Leben lang kannten. Schon damals war er ein Fanatiker, was alles anging, was mit Technik zu tun hatte, und ein totaler Nerd. Doch seine Einzigartigkeit hatte sich ausgezahlt. Ich wusste schon damals, dass er einmal einen ganz besonderen Platz auf der AlphaOne haben würde. Natürlich. Ich hatte ja auch nichts anderes im Kopf als mir Gedanken über meine Mitmenschen zu machen. Als Teenager war ich wirklich schrecklich. Schrecklich anstrengend. Manchmal taten mir meine Eltern jetzt noch leid, dass sie meine miesen Launen und Stimmungsschwankungen ertragen mussten.
Ein Glück gab es keine Türen, die man hätte zuschlagen können. Denn das hätte ich ganz bestimmt mit Genuss und mit einer unangenehmen Häufigkeit getan.
Der Ring teilte sich in zwei, nachdem ich ihm meinen Namen verraten hatte, und es stieg eine mir bekannte Lichtsäule empor. Das hatte sich also zu dem altbekannten SmartPad nicht geändert. Man konnte ja auch nicht alles neu erfinden. Selbst Christian nicht, der seine Arbeit an dem Controller für beendet erklärte und sich zu mir gesellte.
»Willkommen, Nova-Lina Brown.«
»Heilige Scheiße!« Ich erschrak und wich einen Schritt zurück. Was jedoch völlig sinnlos war, denn der Ring blieb weiterhin an meinem Finger.
»Das Ding kann ja sprechen«, stellte ich erstaunt fest.
»In der Tat. Ich kann auch rechnen, lesen, eine Bestellung aufgeben und vieles mehr. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
Mit offenem Mund starrte ich auf die kleine Lichtsäule, in der nun das Gesicht einer jungen Frau zu sehen war. Einer viel zu perfekten, jungen Frau.
»Das ... das Ding kann denken?«
Christian lachte auf. »Natürlich. Denkst du, ich gebe mich mit den alten Sachen zufrieden? Ich wollte etwas Neues erschaffen. Daher habe ich einfach die alte künstliche Intelligenz in diesen Ring übertragen. Na ja, und habe sie ein wenig verändert. Die alte Alpha hat kein gutes Bild mehr abgegeben.«
Die KI, die mein Großvater zusammen mit vielen weiteren Wissenschaftlern erfunden hatte, führte uns durch unseren Alltag und war jederzeit zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wurde.
Dennoch war es komisch, eine neue Stimme zuhören, die wiederum nicht menschlich war, aber dem erschreckend nahekam.
»Wow«, stieß ich anerkennend aus und wippte mit dem Kopf. Das war wirklich klasse. Ich musste diesen Ring haben!
»Wie heißt sie denn?«, fragte ich.
»Frag sie doch selbst.« Christian zwinkerte mir zu und nickte in Richtung der Frau, die mich erwartungsvoll ansah. Sie wartete auf einen Befehl von mir.
Mit pochendem Herzen traute ich mich, mit der neuen Intelligenz zu reden.
»Okay. Also, wie heißt du?« Das klang einfach so kindisch in meinen Ohren. Als würde mein sechsjähriges Ich ein anderes Kind fragen, ob es mit mir spielen wollte. Im Grunde genommen entsprach das sogar fast der Wahrheit, denn ich wollte mit diesem Ding spielen. Also mit dem Ring, nicht mit der Frau. Obwohl... so schlecht sah sie gar nicht aus.
Meine Güte, Lina! Such dir einen Kerl.
»Mein Name ist Ava.« Kurz und knapp. Was hatte ich erwartet? Dass Ava jetzt Smalltalk mit mir führte?
»Es ist ein Prototyp und wurde noch nicht getestet. Also, wenn du Lust hast, dann kannst du den Ring gerne behalten.«
»Echt jetzt?« Ich drehte mich zu Christian um, der mich liebevoll anlächelte. Ich kannte dieses Lächeln, und es verhieß wenig Gutes.
Oh, bitte nicht, schau mich nicht so an! Bitte, du darfst nichts für mich empfinden. Außer tiefe Freundschaft!
»Natürlich, ich könnte mir niemand anderes vorstellen. Du brennst für meine Erfindungen, und ich weiß, dass sie bei dir in guten Händen sind. Trage Ava eine Woche mit dir rum und dann berichte mir, wie es war.« Wie er ihren Namen aussprach, klang fast schon so, als rede er von einer realen Person, die sich mit uns im Raum befand und deren materielle Aura allgegenwärtig war. Als würde Ava sich im nächsten Moment von einer holografischen Abbildung in einen Menschen aus Fleisch und Blut verwandeln. Mit einem genialen Verstand noch dazu.
»Das wäre wirklich klasse! Danke. Ich verspreche dir, dass ich Ava nicht kaputt mache.« Ich hob zum Schwur zwei meiner Finger und überkreuzte sie. Also, wenn das nicht Beweis genug war, dann wusste ich auch nicht.
Christian lachte kurz auf. »Irgendetwas sagt mir, dass ich Angst um meine Erfindung haben sollte.« Dabei betrachtete er den Controller, der noch vor zehn Minuten nicht einmal ansatzweise nach einem brauchbaren Gegenstand aussah, und nun nicht einen Kratzer aufwies.
Unglaublich.
Ich boxte ihm mit der Faust an seinen Oberarm, den er sich übertrieben rieb. Schauspieler, ich hatte nicht einmal kräftig zugeschlagen.
In meiner Kindheit hatte ich mich oft geprügelt. Zum Glück war ich in meiner Pubertät zu einem ruhigeren Mädchen geworden, nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich nicht diese Wandlung hingelegt hätte.
»Also gut, dann werde ich Ava in Ehren halten und sie dir heil wiederbringen. Danke nochmal. Auch für das hier.« Ich nahm den Controller entgegen und hielt ihn kurz hoch.
»Kein Problem, du weißt, dass meine Tür für dich immer offen steht.« Da war es wieder. Dieses Lächeln. Zeit zu verschwinden.
Ich verabschiedete mich mit einem einfachen Kopfnicken. Ich hasste Umarmungen. Konnte es überhaupt nicht leiden, wenn mich einer knuddeln wollte. Grausam. Das war deutlich zu viel Nähe und dann meist von Menschen, die man nicht einmal wirklich mochte. Das Einzige, abgesehen von meinem kleinen Bruder, den ich doch ganz gerne mal an mich drückte, was sich an mich kuscheln durfte, waren meine heißgeliebten Socken. Es gab nichts Besseres als Kuschelsocken.
Ich bezweifelte, dass dort oben irgendwo eine kleine, runzlige Omi saß, die zwischen Staub und trockenen Bäumen Kuschelsocken häkelte. Obwohl die Vorstellung ziemlich witzig war.
Immer noch fasziniert, verließ ich die heiligen Hallen des Christians. Mit einem Ring an meinem Finger, der herrlich silber-blau leuchtete. Erstaunlich, mit welchen simplen Dingen man mich glücklich machen konnte.
Kapitel 3
Und wie glücklich ich war. Ich bekam das breite Grinsen aus meinem Gesicht gar nicht mehr weg. Ich fand dieses kleine, aber wunderschöne Ding so faszinierend, dass ich kaum etwas von meiner Umgebung mitbekam.
Die Menschen, die hier mit mir im Sektor Ost wohnten, rauschten an mir vorbei, sodass ich sie nur als unscheinbare und neblige Schemen wahrnahm. Mein Blick galt immer noch dem silbernen Ring, der so schön glitzerte und glänzte.
Sobald ich auf meinem Zimmer war, würde ich diese neue Erfindung des SmartPads auf all seine Funktionen untersuchen. Was Fin nur zu meiner Errungenschaft sagen würde? Er war genauso angetan von dem neuesten technischen Scheiß, den Christian auf die Welt brachte, aber er durfte den Technikraum nicht einfach so betreten, wie ich. Wie gesagt, ich hatte einen kleinen Bonuspunkt bei Chris gut, da wir zusammen zur Schule gegangen waren.
Aber nicht nur deswegen wurde meinem Bruder der Zutritt verweigert. Er war schlicht und ergreifend zu jung, um mit seinem SmartPad am Handgelenk in jeden Raum zu gelangen. Das war eine Art Sicherheitsvorkehrung der AlphaOne. Einige Dinge waren für die Augen und Ohren von Minderjährigen nicht zugelassen. Obwohl ich ganz sicher wusste, dass Fin kein gewöhnlicher Zehnjähriger war. Er war schlau und gerissen.
Wie mein Leben nur wäre, ohne dass dieser kleine blonde Wuschelkopf um mich herum wuselte?
Wahrscheinlich um einiges ruhiger. Aber schließlich liebte ich meinen kleinen, verrückten Bruder, der mich manchmal an mich erinnerte, wenn er seine rebellischen Phasen hatte.
Ob er auch einmal so werden würde wie ich? Sich gegen die Regeln und Normen der Gesellschaft richtete und sein ganz eigenes Ding durchzog? Vielleicht entschied er sich auch dazu, die langweilige, weiße Kleidung ein wenig aufzuhübschen oder seine Haare bunt zu färben. Damit würde er definitiv auffallen. Ich hatte mich bereits an die musternden Blicke der anderen gewöhnt. Oder besser gesagt, hatten sich alle an meinen Anblick gewöhnt. Auszusehen wie alle anderen fand ich öde. Das Leben unter der Erde war trist und einfach genug. Ein wenig Farbe half dabei, sich mehr als Individuum zu fühlen, anstatt eine von vielen zu sein. Das System hier erinnerte mich immer wieder an einen Ameisenstaat, in dem jeder täglich seine Aufgabe absolvierte, ohne sich wirklich entfalten zu können. Insgeheim wünschte ich mir für Fin, dass er nicht zu einer dieser Ameisen wurde.
»Hey, pass doch auf«, pöbelte mich jemand von der Seite an. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass ich jemanden rammte. So sehr war ich von meinem neuen Spielzeug vereinnahmt.
»Sorry«, murmelte ich daher nur knapp und wollte meinen Weg fortsetzen, doch der Fremde hielt mich am Arm gepackt. Aua, was sollte das? Wollte er mir jetzt etwa den Arm zerquetschen? Vollidiot.
»Lina?«
Jetzt hob auch ich die Augen und blickte in das Gesicht eines mir nicht allzu fremden Mannes. Und damit meinte ich wirklich nicht fremd. Man konnte quasi sagen, wir hatten unsere Körper sehr intensiv kennengelernt. Kurz erröteten meine Wangen, als ich an das kleine Techtelmechtel mit ihm dachte, doch riss ich mich schnell wieder zusammen.
»Aris«, sagte ich erfreut, doch erreichte mein Lächeln nicht meine Augen. Heute war wirklich ein merkwürdiger Tag. Erst erntete ich diese gewissen Blicke von Christian, die mir das Gefühl gaben, dass er mehr für mich empfand als nur Freundschaft, und nun traf ich auch noch auf den Kerl, der mir damals das Herz gebrochen hatte, weil unsere Liaison ihm zu... gefühlvoll wurde.
Ja, ich musste zugeben: Ich hatte damals angefangen, mich in Aris zu verlieben, nein, regelrecht zu verlieren. Er war wunderbar, hätte mich auf Händen tragen können, wenn er es nur zugelassen hätte. Wir trafen uns damals ganz romantisch an der Müllanlage. Ich hätte mir kein besseres erstes Kennenlernen vorstellen können, doch zwischen dem würgreizerregenden Gestank der dunkelgrauen Müllsäcke und dem ohrenbetäubenden Rattern der Presse, hatte ich mich in seine hellblauen Augen verguckt. Und nein, das hatte nichts mit der heutigen Farbwahl meiner Haare zu tun. Ganz und gar nicht. Ich stand einfach nur darauf, mich verändern zu wollen.
Tja, und so kam es, dass wir uns noch am selben Abend bei Aris trafen. Er wohnte bereits allein, nicht wie ich, die sich noch von ihren Eltern bekochen und bemuttern ließ. Aris war früh erwachsen geworden und lebte seit er achtzehn war nicht mehr zuhause. Ich sollte mir wirklich langsam Gedanken machen, wie es mit mir weiterging. So konnte mein Leben nicht aussehen. Ich hatte zu lange einfach nur dagesessen und die Füße stillgehalten, aber es machte einfach zu viel Spaß, nur die Dinge zu tun, auf die man wirklich Lust hatte.
»Wie geht es dir?«, fing er eine banale Unterhaltung an, von der ich bereits jetzt wusste, wie sie ausging.
»Ähm, gut. Und dir?«, ging ich auch noch auf seinen Smalltalk ein. Manchmal sollte ich mein Gehirn besser einschalten, als meiner vorlauten Zunge zu vertrauen.
»Mir geht’s wunderbar. Ich bin überrascht dich hier zu treffen.« Die Menschen mussten einen Bogen um uns machen, damit sie ihren Weg fortführen konnten. Doch ich ignorierte die vorwurfsvollen Blicke. Es gab schlimmere Dinge. Zum Beispiel, dass niemand wusste, wie lange wir noch zu leben hatten, in Anbetracht der Tatsache, dass kein Einziger wusste, wie es um unsere altbekannte Erde stand.
»Ich wohne hier«, gab ich ihm kurzerhand als Antwort. Ich verstand seine Verwunderung nicht.
Aris lachte. »Ja, das weiß ich. Aber ich habe dich seit Monaten nicht mehr auf den Gängen gesehen.«
»Dann warst du wohl nicht da, wo ich war«, mutmaßte ich und erschrak selbst über meinen gereizten Unterton. Irgendetwas störte mich gerade daran, dass ich auf Aris getroffen war. Mein Herz hatte einen gefährlichen Hüpfer gemacht, als ich in die hellblauen Augen meines Gegenübers blickte. Trauerte ich etwa Aris hinterher? Ja, er hatte mich damals fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel, doch sollte es mich schon längst nicht mehr stören. Schließlich sind seitdem zwei Jahre vergangen.
»Das stimmt wohl«, sagte Aris und musterte mich. »Schicke Haarfarbe. Ist die neu?«
Wirklich? Das war das Einzige, was ihm jetzt in den Sinn kam? Meine Haarfarbe? Kein: Es tut mir leid, was ich damals getan habe? Oder: Wollen wir es noch einmal miteinander versuchen? Heute Abend, bei mir. Wir zwei, nackt in meinem Bett oder auf dem Sofa.Lina! Innerlich gab ich mir eine Backpfeife und verfluchte mich für diese Gedanken.
»Ja, ich wollte etwas Neues ausprobieren. Blau hatte ich noch nicht.«
»Steht dir wirklich ziemlich gut. Besser als Pink.« Sollte ich ihm jetzt für dieses Kompliment um den Hals fallen? War das überhaupt ein Kompliment oder hatte er mich gerade dafür beleidigt, dass ich damals scheiße aussah? War das vielleicht der Grund für seine Trennung? War Pink etwa nicht seine Lieblingsfarbe? Kaum zu glauben, Arschloch.
»Ich ... ähm ... muss dann mal weiter«, versuchte ich mich aus dieser unangenehmen Situation zu winden und zeigte den Gang entlang.
»Ja, natürlich. Ich will dich nicht aufhalten. War schön, dich mal wiederzusehen.«
Ich nickte Aris zu und lächelte ihn gekünstelt an.
»War mir auch eine Freude.« Was sollte ich noch sagen? Aris tat anscheinend nichts davon leid, wie er mich damals behandelt hatte, von daher schenkte ich ihm auch keine weitere Beachtung. Musste man den Männern denn immer erst die kalte Schulter zeigen, um sich interessant zu machen?
»Vielleicht sehen wir uns jetzt öfter. Ich bin als Assistenzarzt in Sektor Ost für die nächsten Monate eingeteilt.« Oh je, auch das noch. Nicht nur, dass Aris offensichtlich einen honorierten Beruf ausübte, jetzt würden wir uns auch noch öfter sehen, als mir lieb war.
»Cool. Dann bis... irgendwann«, stotterte ich und verschwand um die Ecke.
Ausatmend lehnte ich mich an die weiße Wand, die mir unangenehm in den Rücken drückte. Konnte der Tag noch bescheidener werden?
Konnte er. Denn als ich mich dazu aufraffte, endlich wieder zu Fin zurückzukehren, stolperte ich nicht nur prompt über meine eigenen Füße, sodass mir der Controller aus der Hand flog, als ich durch die Tür zu unserem Zuhause trat, sondern es begrüßten mich meine Eltern auch noch mit dem breitesten Lächeln, das in diesem Universum existierte.
Oh Oh. Sofort schrillten alle meine Alarmglocken. Ich kannte dieses dümmliche Grinsen genau. Das bedeutete definitiv nichts Gutes. Zumindest nicht für mich, denn Mom und Dad schauten immer nur dann so, wenn sie einen besonders genialen Einfall hatten, von dem Fin und ich meist absolut nicht überzeugt waren.
In diesem Moment wünschte ich mir, dass dieser Tag einfach endete.
Kapitel 4
»Das ist nicht euer Ernst?«, brach es auch mir heraus, als meine Eltern mir den Grund für ihre gute Laune offenbarten. »Ihr wollt mich rausschmeißen?«
»Wir wollen dich doch nicht rausschmeißen, mein Schatz.« Mom versuchte meine Hand mit ihrer zu greifen, doch leider war der runde Tisch dazwischen, an dem wir saßen. Zudem hatte ich meine Arme vor der Brust verschränkt.
»Das klingt aber ganz danach. Ihr besorgt mir ohne mein Wissen eine Wohnung und erzählt mir das erst, nachdem die ganze Sache schon wasserdicht ist. Ich würde das ganz eindeutig als einen Rauswurf bezeichnen.«
Ich hörte, wie sich Fin vom Sofa aus ein Lachen verkneifen musste, und ich warf ihm einen bösen Blick zu, worauf er mir seine Zunge rausstreckte. Miese, kleine Göre. Er konnte von Glück reden, dass er noch so jung war.
»Lina, es ist wirklich kein Rausschmiss, sondern nur ein Anstoß, dass du jetzt dein Leben, ohne uns ständig um dich zu haben, auf die Beine stellst«, versuchte mein Vater die Sache schöner zu reden.
Natürlich träumte ich von meinen eigenen vier Wänden, in denen ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Aber so schnell? Damit hatte auch ich nicht gerechnet. Und das Schlimmste war, dass meine Eltern mir zuvorgekommen waren. Was, wenn mir die Wohnung nicht gefiel?
Insgeheim freute ich mich ein wenig darauf, aber irgendwie blutete mir das Herz, wenn ich daran dachte, dass ich ohne sie auskommen musste. Und ohne Fin.
»Und wir sind noch immer für dich da. Du bist doch nicht ganz alleine«, sagte Mom. Besonders von ihr war ich enttäuscht. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie froh war, dass ihre Erstgeborene noch nicht das Haus verlassen hatte. Aber da hatte ich wohl danebengelegen. Was meine Eltern wohl aus meinem Zimmer machen würden?
»Du könntest schon Montag dort einziehen.« Mein Vater holte etwas aus seiner Hosentasche, das ganz stark nach einem Chip aussah, den man in sein SmartPad steckte, sodass man zu den privaten Räumen Zugang hatte.
Meine eigene Wohnung. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ob ich ergriffen oder sauer sein sollte. Irgendwie war ich alles auf einmal, und um jeglichen Streit mit meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, nahm ich den Chip entgegen und betrachtete ihn in meiner Hand.
Gerade noch hatte ich mich über meinen neuen Ring gefreut und schon wurde ich mit der bitteren Realität konfrontiert. Verdammt, ich wollte das alles nicht. Wollte am liebsten wieder das kleine zehnjährige Mädchen sein, das davon träumte, einmal an die Erdoberfläche zu gelangen und als Wissenschaftlerin zu arbeiten.
Das waren meine Träume und bisher waren sie das auch immer geblieben. Träume.
Doch nun musste ich mich dem wahren Leben widmen, musste aufwachen und den nächsten Schritt wagen. Konnte nicht länger hier im Elternhaus wohnen bleiben. Ob es mir gefiel oder nicht.
»Montag schon«, murmelte ich.
»Ja, es ist alles fertig. Du brauchst auch nichts mitnehmen, außer deine privaten Sachen. Es ist für alles gesorgt.« Mom strahlte mich fröhlich an, und in diesem Moment konnte ich ihr nicht mehr böse sein. Schließlich wollten sie nur das Beste für mich.
Ich war 21, es wurde Zeit, erwachsen zu werden.
»Danke«, sagte ich und steckte den Chip zu meiner neuen Behausung in das SmartPad um mein Handgelenk. Er hätte sicherlich auch in den Ring gepasst, doch wollte ich es nicht riskieren, ihn kaputt zu machen.
Meine Eltern hatten in ihrer ganzen Aufregung nicht einmal die Veränderung an meiner Hand bemerkt.
»Wir freuen uns so. Und Fin kann dich ja jederzeit besuchen.«
»Nee, bin froh, wenn die Nervensäge aus dem Haus ist.«
»Fin!«, wies meine Mutter ihn zurecht. »Wieso redest du so schlecht über deine Schwester?«
»Das war doch nur ein Scherz, Mom.« Ich hörte an Fins Stimme, wie er förmlich mit den Augen rollte. Natürlich würde er es nie zugeben, aber er vermisste mich jetzt schon. Niemand, der ihn spontan herausforderte oder den er ärgern konnte. Meine Eltern verstanden von seiner Leidenschaft für Videospiele sowieso nichts.
Ich richtete mich schon einmal darauf ein, dass ich ihn mindestens jeden zweiten Tag bei mir vor der Tür fand. Wozu ich natürlich nicht nein sagen würde.
Ich strich mir meine blauen Haare hinter die Ohren, wo sie nur kurz verweilten, da sie nicht die richtige Länge hatten. Ob ich wieder einen Versuch starten sollte, sie wachsen zu lassen? Jetzt, wo mein Leben sowieso neu begann?
Ich verschob diese Überlegung auf später.
»Schön, dann haben wir das ja geklärt. Wer hat Hunger?« Mom klatschte erfreut in die Hände und erhob sich vom Stuhl, der elegant zur Seite schwebte.
Sie ging in die Küchenzeile, die mit dem Wohnraum verbunden war und öffnete die Kühlklappe.
»Oh ja! Ich hab Bock auf Pizza!«, schrie Fin vom Sofa aus und unterbrach sogar sein Spiel.
»Woher hast du nur diese Ausdrücke?«, wunderte sich Dad, während er den Kopf schüttelte.
Mom richtete ihren Blick auf ihren Ehemann und schmunzelte. »Als wenn du nicht so gewesen bist.«
Ich verfolgte die Unterhaltung meiner Eltern über richtige Erziehungsmethoden, schaltete aber bald ab, während mir der Geruch einer frisch gebackenen Pizza langsam in die Nase kroch.
Ich freute mich tatsächlich ein wenig auf meine eigene Wohnung. Jeden Tag Pizza. Ich liebte Pizza.
***
Ich war sofort in einen tiefen Schlaf gefallen, als ich vollgefuttert in meinem Bett lag. Die Pizza war wieder einmal göttlich gewesen, denn Mom zauberte einfach immer das beste Essen. Das würde ich auf jeden Fall vermissen, wenn ich für mich selbst sorgen musste. Irgendwie grauste es mir schon ein wenig davor.
Ich hatte mir nach einer langen und ausgiebigen, warmen Dusche meine Kuschelsocken übergestreift und mich sofort in die weichen Laken des Bettes geworfen. Dort war ich dann auch sofort eingeschlafen.
Eine Zeit lang hatte ich Fin noch in seinem Zimmer reden hören. Vermutlich videochattete er mit einem seiner Kumpels aus der Schule. Fin hatte nicht viele Freunde, was auch gar nicht vonnöten war. Dafür waren aber die Freunde, die er besaß, treu und ehrlich. Mit ihnen war er schon in die Krabbelgruppe gegangen.
***
Als ich morgens aufwachte, startete ein weiterer, immer gleicher Tag, der sich nicht von den anderen groß unterschied. Ich zockte mit Fin, aß und trank oder spazierte gelassen zu Christian in den Technikraum, wo ich meine Seele baumeln ließ und an dem neuen SmartPad an meinem Finger spielte. Chris zeigte mir noch einige coole Tricks, die das Ding auf Lager hatte, doch sie mir alle zu merken schien unmöglich.
Mir entging nicht, wie Chris mich immer wieder von der Seite musterte, als würde er mich begutachten. Doch ich ging nicht auf sein Verhalten ein, das mir ein wenig Angst einjagte. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Christian war zwar in meinem Alter, doch empfanden wir nie stärkere Gefühle als Freundschaft. Daher kam es mir umso mysteriöser vor, dass sich mein ehemaliger Mitschüler so verhielt.
Dennoch verbrachte ich fast den halben Tag bei ihm und bemerkte kaum, wie sich der Abend wieder näherte. Morgen war es so weit. Ich würde bei meinen Eltern ausziehen und ein neues Leben starten. Ganz nach meinen Wünschen und Vorlieben. Ich erzählte Christian davon, der sichtlich begeistert darüber war. Er schlug sogar vor, mich zu besuchen, was ich zwar dankend annahm, doch eine leise Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass dies keine gute Idee war.
Auch wenn ich ein neues Bett besaß, musste es ja nicht gleich auf die härteste Probe gestellt werden. Sex war zwar die schönste Sache in diesem Universum. Nein, die zweitschönste. Pizza toppte wirklich gar nichts.
Kapitel 5
Diese Nacht träumte ich schlecht. Das erste Mal, seit ich zehn Jahre alt war. Damals hatte ich Angst, dass eine Krankheit meine Großmutter zu den Toten schicken würde, doch sie schaffte es und besiegte das Ungetüm, welches ihren Körper von innen auffraß. Nachts hatte ich mich dann immer schlaflos hin und her gewälzt und vor meinem inneren Auge gesehen, wie meine Großmutter mir ein letztes Mal über die Wange strich und ihre Hand kraftlos zu Boden sank. Erschrocken und mit heißen Tränen war ich aufgewacht und wollte mich am liebsten ins Bett meiner Eltern verkriechen, doch schon damals folgte ich dem Motto, dass ich kein Schwächling sein wollte. Jetzt dachte ich so manches Mal, dass ich meinen Gefühlen eher hätte nachgehen sollen, denn ich hatte Schwierigkeiten, ihnen freien Lauf zu lassen. Was ich natürlich nie zugeben würde. Bis jetzt.
Denn wieder sah ich in meinen Träumen, wie jemand starb. Nur dieses Mal war es nicht meine Großmutter, sondern viele andere Menschen. Ich sah, wie die Sonne auf die Erde herabfiel und alles unter sich begrub. Ich konnte beinahe die unerträgliche Hitze der Sonnenstrahlen auf meiner Haut fühlen. Wie war es den Menschen ergangen, die es nicht rechtzeitig unter die Erde geschafft hatten? Waren sie wirklich bei lebendigem Leib verbrannt? Wenn der Schmerz nur annähernd so extrem war, wie der, den ich in meinem Traum spürte, dann wollte ich nicht wissen, wie es sich für die Menschen angefühlt hatte, die Jahre lang um ihr Überleben gekämpft hatten.
Kraftlos starrte ich an die Decke meines Zimmers. Nur der Schein der Notbeleuchtung erhellte den Raum. Die kleinen, weißen schwach leuchtenden Lämpchen mussten stets eingeschaltet bleiben, im Falle einer Notsituation. Denn es gab unter der Erde schließlich kein Sonnen- oder Mondlicht, welches die Räume erhellen konnte. Es wäre stockfinster, wenn jemand auf den Gedanken käme, das Licht auszuknipsen. Nicht einmal die eigene Hand vor Augen könnte man sehen. Nur Dunkelheit.
Tiefe, schwarze Dunkelheit.
Ich musste hier raus, um vor meinen Gedanken zu fliehen. Irgendwie überkam mich ein beengendes Gefühl, als ich so trostlos an die Decke starrte und über... Ja, über was dachte ich nach? Über den Untergang von allem?
Ich hievte mich aus dem Bett und tapste Richtung Wohnküche. Das weiße, dünne Laken ließ ich einfach zerwühlt auf der Matratze liegen, vielleicht würde ich mich wieder hineinlegen, wenn ich müde genug war. Doch nun brannte meine Kehle und rief nach einem kalten Schluck Wasser, das mich auf andere Gedanken bringen sollte.
Die Tür zu meinem Zimmer verschwand geräuschlos in der Wand. Nachts war jedes Surren oder Brummen der Hydraulik ausgeschaltet, sodass man niemanden aus dem Schlaf riss, wenn man mal auf die Toilette musste.
Auf nackten Füßen tapste ich über den beheizten Fußboden und öffnete vorsichtig das Kühlfach. Dazu brauchte ich nur meine Handinnenfläche von einem Sensor scannen lassen, denn nur befugte Bewohner der Wohnung durften sämtliche Geräte benutzen.
Ob ich auch später, wenn ich nicht mehr hier wohnte, an meine heißgeliebte Tiefkühlpizza kam? Das war ja wohl das mindeste, was mir bleiben konnte, wenn ich schon für mich alleine sorgen musste. Sie konnten sagen, was sie wollten. Sie schmissen mich raus und das im hohen Bogen. Warum hatten sie mir nicht früher erzählt, was Phase war? Wieso mussten sie mir die Tatsachen an den Kopf knallen, wenn ich gar nicht mehr widersprechen konnte?
Oh... jetzt wurde mir einiges klar.
»Kannst du auch nicht schlafen?«
»Heilige Scheiße«, zischte ich erschrocken und hätte beinahe die Wasserflasche zu Boden geworfen. Mit weit aufgerissenen Augen und rasendem Herzen starrte ich meinen kleinen Bruder an, der in seiner weißen Schlafhose zuckersüß aussah.
»Wieso musst du mich so erschrecken?«
»Sorry, ich wusste ja nicht, dass du auf geheimer Wasser-Klau-Mission bist.« Fin zwinkerte mir zu, drängelte sich an mir vorbei und holte sich die letzten Stücke der Pizza aus dem Kühlfach, welche wir vor zwei Tagen nicht aufgegessen hatten. Das war so typisch Mom, sie machte immer, aber auch wirklich immer zu viel Essen. Ich wollte mich nicht beschweren, zu einer guten Pizza mit viel Käse konnte ich nicht nein sagen, auch wenn sie schon zwei Tage alt war. Das System der Kühlfächer war so konzipiert, dass sie den Inhalt gut ein bis zwei Monate haltbar machen konnten.
Fin setzte sich ohne Umschweife auf den Barhocker an die Küchentheke und biss beherzt in das Stück Pizza. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Ich empfand nicht das leiseste Bedürfnis ihm die vor Fett triefende Pizza aus der Hand zu reißen, um sie mir selbst einzuverleiben.
Vielleicht steckte der Traum noch zu tief in meinen Knochen. So tief, dass selbst mein Leibgericht mich nicht ablenken konnte.
Ich schloss das Kühlfach und gesellte mich zu Fin an die Küchentheke. Meine nackten Oberschenkel berührten dabei das kühle Aluminium des Hockers, denn meine Beine steckten lediglich in einer kurzen Schlafshorts, die mir knapp über den Po reichte.
»Und warum bist du noch so spät unterwegs? Dich kann doch nicht schon wieder der Hunger plagen. Du hast drei Teller zum Abendbrot leer gegessen«, stellte ich resigniert fest, während ich den Schraubverschluss der Flasche öffnete und einen großen Schluck Wasser nahm.
»Mh...«, brummelte Fin mit vollem Mund.
»Ich ...«, er schickte das belegte Stück Teig mit einem schweren Schlucken Richtung Magen, »Ich stecke in der Pubertät. Das ist ganz normal. Hast doch Mom gehört. Ihre Erklärung für alles, was ich anstelle.« Und wieder biss er zu, sodass fast die Hälfte der Pizza verschwunden war.
Ich grunzte vor Lachen. »Was du nichts sagst.«
Fin war in letzter Zeit wirklich unausstehlich geworden, legte Launen an den Tag, die mich an meine eigene Pubertät erinnerten. Und alles, was Mom dazu sagte, war, dass es ganz normal sei, während Dad die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Was würde unser Vater nur machen, wenn Fin das erste Mädchen nach Hause brachte? Würde er dann freiwillig ausziehen bis Fin erwachsen war? Bis er sich eine eigene Wohnung suchte? Oder zugewiesen bekam...
Mom belächelte Fins Verhalten immer, genauso wie sie es bei mir getan hatte. Besonders, wenn ich meine Haare mal wieder färbte. Doch ich war bereits lange aus der Pubertät raus, daher gab es nur eine Erklärung für mein Verhalten: Kreativität!
»Aber manchmal frage ich mich, wer von uns in der Pubertät steckt.«
»Was?« Fin riss mich aus meinen Gedanken, und ich richtete meinen Blick von der Wasserflasche in meiner Hand auf meinen Bruder.
»Na ja, andere in deinem Alter werden nicht so schnell bockig.«
»Bockig. Ich …« Ich verstummte.
»Was sag ich.«
»Halt die Klappe. Kann man hier nicht mal in Ruhe was trinken, ohne für sein Verhalten, was völlig normal ist und mich eben auszeichnet, verurteilt wird?« Ich schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.
Okay, vielleicht steckte in mir noch ein klitzekleines pubertäres Mädchen. Aber nur vielleicht.
»Sag schon, warum bist du wirklich wach?«, fragte ich meinen Bruder nach einer Weile, in der niemand von uns beiden etwas sagte. Fin hatte die Pizza bereits erfolgreich vertilgt und schob den Teller von sich. Genießerisch leckte er sich einen Finger nach dem anderen ab. Dieser Junge hatte wirklich kein Benehmen. Von wem er sich das nur abgeguckt hatte?
»Ich hatte Hunger«, antwortete er knapp.
»Das glaube ich dir nicht«, gab ich zurück und musterte den blonden Jungen mir gegenüber. »Da steckt noch mehr dahinter. Ist es etwa die letzte Niederlage gegen mich? Wir können das Widerholen, aber glaube ja nicht, dass ich dich gewinnen lasse.«
»Das ist es nicht.« Fin schüttelte den Kopf und wirkte auf einmal ziemlich betrübt.
»Geht es um ein Mädchen?«, versuchte ich weiter mein Glück ihn aus der Reserve zu locken.
Wieder schüttelte er nur den Kopf und starrte auf den leeren Teller vor sich, der auf der penibel sauber gehaltenen Küchentheke stand.
»Nicht ganz.«
»Ein Junge?«
Fin warf mir einen bösen Blick zu.
»Was denn, kann doch alles sein. Und wenn schon. Ich würde es super finden.«
»Ich muss ja nicht wie du sein.«
Beschwichtigend hob ich die Hände. Auch wenn ich mir keine Beziehung mit einer Frau vorstellen konnte, so hatte ich doch schon die ein oder andere geküsst. Dass das nun bis zu meinem Bruder durchgedrungen war, lag nicht an mir. Hier, in Sektor Ost, gab es einige Plappermäuler, die einem das Glück nicht gönnen wollten. Zickige, blonde Mädchen, die stundenlang vor ihrem Spiegel standen und sich zu einer gruseligen Plastikpuppe schminkten. Also niemand, mit dem ich Freundschaft schließen wollte.
»Okay, ist in Ordnung. Wenn du es mir nicht sagen willst. Ich will dich nicht zwingen.« Das wollte ich wirklich nicht. Ich war nicht dazu befugt, sämtliche Geheimnisse aus Fin herauszuquetschen. Er hatte seine Gründe, warum er hier mitten in der Nacht beim schwachen Licht der Notfallbeleuchtung saß. Genauso wie ich meine Gründe hatte, die ich Fin ebenfalls nicht erzählte. Aber vielleicht hilft es ihm, aus sich herauszukommen.
»Weißt du... ich habe schlecht geträumt. Ich habe geträumt, wie die Welt dort draußen von der Sonne verschluckt wird. Wie alles abgebrannt und explodiert ist. Deswegen konnte ich nicht mehr schlafen.«
Fin hob seinen Blick und schaute mich an. Er schaute mich mit einem interessierten und wärmenden Blick an, der mich dazu brachte, ihm meine Hand auf seinen Unterarm zu legen, der auf der Küchentheke ruhte.
Er zog ihn nicht zurück, ein Zeichen, dass er seine große Schwester mal nicht nerven oder ihr beleidigende Dinge an den Kopf werfen wollte.
Ich bemerkte, wie Fin tief ausatmete und sich fallen ließ. Wie die Mauer um sein Herz bröckelte und er überlegte, ob er mich einweihen sollte. Ob ich an seiner Gefühlswelt teilhaben durfte.
»Ich will nicht, dass du gehst«, hauchte er, sodass ich ihn kaum verstand. Doch seine Worte brannten sich in mein Gehör und hallten noch eine Weile nach. Er wollte nicht, dass ich ging. Das klang so... endgültig. Als würde ich mich auf eine lange Reise machen, mit der die Ungewissheit einherging, ob ich je wiederkehren würde.
»Ach, Fin. Ich bin doch nicht aus der Welt. Du kannst mich jederzeit besuchen, wenn Mom und Dad dir auf die Nerven gehen. Wenn du Lust hast, dann kannst du gleich morgen beim Umzug helfen. Das würde mich freuen. Dann können wir ‚ne Runde in der neuen Wohnung zocken.« Gerührt von Fins Offenheit, musste ich mir eine Träne zurückhalten, die sich in meinen Augenwinkel gestohlen hatte. Fin war noch so zart und wusste nicht, wohin mit seiner Gedankenwelt. Ich war froh, dass er sich mir anvertraute und nicht alles in sich hineinfraß.
In diesem Moment bröckelte auch meine harte Fassade, und ich ließ die grummelige Frau auf dem Barhocker zurück. Fin ließ zu, dass ich ihn in die Arme schloss und mein Kinn auf sein lockiges Haar legte. Es duftete nach Aprikosen.
Ja, ich würde ihn auch vermissen. Mehr als alles andere wahrscheinlich. Fin war nicht nur mein kleiner Bruder, er war ein Stück meines Herzens, meiner Seele. Wir waren nicht nur durch unser Blut miteinander verbunden, auch gemeinsame Erlebnisse hatten uns zusammengeschweißt.
Fin lehnte seinen Kopf an meine Brust, und ich spürte ein zaghaftes Zittern. Er weinte, und ich sprach ihn nicht darauf an. Sollte er weinen, so lange er wollte. Ich war für ihn da, auch wenn wir nicht miteinander sprachen.
Ich würde immer für ihn da sein.
Kapitel 6
Meine neue Wohnung war unglaublich. Das musste ich meinen Eltern lassen, sie hatten wirklich Geschmack bewiesen und mir ein Exemplar der ersten Klasse ausgesucht. Vielleicht fand ich die Idee auszuziehen doch nicht mehr so schlecht.
Fin konnte leider nicht beim Umzug dabei sein, denn die Schule rief. Ich hatte ihm aber versprochen, dass er sofort nach Schulschluss zu mir kommen durfte, sodass wir zwischen unausgepackten Taschen und einer großen Lieferung Burger, zocken konnten. Mom und Dad erlaubten ihm sogar, die Nacht bei mir zu verbringen. Das hatte ich nie gedurft, wohlgemerkt. Bis ich meinen eigenen Kopf durchgesetzt hatte und des Öfteren die Nacht woanders verbrachte. Besonders als die Sache mit Aris noch lief. Kurz versetzte es meinem Herzen einen Stich, als ich an unsere heißen Nächte dachte, doch dann erinnerte ich mich wieder an den Tag, als er alles zunichtemachte und mich fallen ließ wie ein Stück Dreck.
Warum musste er auch ausgerechnet jetzt wieder hier auftauchen?
»Wo soll das hin, Schätzchen?« Mein Dad kam gerade mit einer Kiste herein und sah mich fragend an. Da ich immer noch überwältigt von der Schönheit meines neuen Zuhauses war, starrte ich ihn für einen kurzen Augenblick nur ausdruckslos an.
»Lina?«, rüttelte er mich aus meiner Trance.
»Ähm ja... stell das einfach in den Wohnraum. Ich sortiere mir das schon alles hin.«