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Kann ein Tropfen Parfüm die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählen? Karl Schlögel entwickelt einen ungewöhnlichen Zugang zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.
Kann ein Duft Geschichte aufbewahren? Zwei Parfums liefern Karl Schlögel den Stoff, die europäischen Abgründe des 20. Jahrhunderts neu zu erzählen. Durch die Turbulenzen der Revolution gelangte die Formel für einen Duft, der zum 300. Kronjubiläum der Romanows kreiert worden war, nach Frankreich. Er lieferte die Grundlage für Coco Chanels Nº 5 und für sein sowjetisches Pendant Rotes Moskau, das bis heute unter diesem Namen produziert wird. Verantwortlich für die Parfümindustrie war Polina Schemtschuschina, die Frau des Außenministers Molotow. Sie fiel später einer Säuberungskampagne zum Opfer — und Coco Chanel kollaborierte mit den deutschen Besatzern. Ein unscheinbarer Zufall führt Karl Schlögel zu erstaunlichen Entdeckungen in einer Epoche, die wir gründlich zu kennen glaubten.
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Seitenzahl: 244
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Kann ein Duft Geschichte aufbewahren? Zwei Parfums, das französische Chanel Nº 5 und das sowjetische Rotes Moskau, liefern Karl Schlögel den Stoff, die europäischen Abgründe des 20. Jahrhunderts aus ungewohnter Perspektive zu erzählen. Durch die Turbulenzen der Revolution gelangte die Formel für einen Duft, der zum 300. Kronjubiläum der Romanows kreiert worden war, nach Frankreich. Er lieferte die Grundlage für Coco Chanels Nº 5 und für sein sowjetisches Pendant, das bis heute unter dem Namen Rotes Moskau produziert wird. Verantwortlich für die Parfumindustrie war Polina Shemtschushina, Frau des Außenministers Molotow. Sie fiel später einer Säuberungskampagne zum Opfer, während Coco Chanel mit den deutschen Besatzern kollaborierte. Ein unscheinbarer Zufall führt Karl Schlögel zu Entdeckungen, die unsere Vorstellung vom »Zeitalter der Extreme« um erstaunliche Details bereichern.
KARL SCHLÖGEL
DER DUFT DER IMPERIEN
Chanel No5 und Rotes Moskau
Carl Hanser Verlag
In memoriam
Karl Lagerfeld
(1933–2019)
INHALT
Eine außerplanmäßige Recherche
Der Duft des Imperiums oder wie aus dem »Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina II.« von 1913 nach der Russischen Revolution Chanel No 5 und das sowjetische Parfum Rotes Moskau werden
Geruchslandschaften. Prousts Madeleine und die Geschichtsschreibung
Wenn »das schwächste Glied in der Kette des Imperialismus reißt« (Lenin). Die Welt der Düfte und die olfaktorische Revolution
Abschied von der belle époque und Kleider für den Neuen Menschen. Chanels und Lamanowas Doppelrevolution
Chanel’s Russian Connection
French Connection in Moskau? »Vaterland der Werktätigen« und Michail Bulgakows Spur
Auguste Michels unvollendetes Projekt: ein Parfum der Marke »Palast der Sowjets«
Der verführerische Duft der Macht. Coco Chanel und Polina Shemtschushina-Molotowa. Zwei Karrieren im 20. Jahrhundert
Aus der anderen Welt: Der Rauch der Krematorien und der Geruch der Kolyma
Nach dem Krieg. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. New Look und Stiljagi
Nachtrag: Olga Tschechowa, die Grande Dame des deutschen Films, die Kosmetik und der Traum von der ewigen Jugend
How One World Smells
Nicht nur das Schwarze Quadrat: Malewitschs Flakon
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Register
EINE AUSSERPLANMÄSSIGE RECHERCHE
Es war in meinem Leben nicht vorgesehen, mich einmal mit Gerüchen, Düften oder gar Parfums zu beschäftigen. Dass die Teilung der Welt in Ost und West auch eine Teilung der Geruchswelten war, wusste jeder, der vor dem Fall der Berliner Mauer einmal den Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße passiert hat. Aber auf meiner wissenschaftlichen Agenda standen andere Stoffe und Themen obenauf. Es gab keinen Vorsatz und kein Projekt, eine Forschungslücke zu füllen oder Belege für einen neuen kulturwissenschaftlichen »turn« beibringen zu müssen. Meine Kenntnisse der Welt der Düfte waren mehr als bescheiden, entsprachen vermutlich der durchschnittlichen Erfahrung eines Mannes, der nur das Allernotwendigste parat hat, wenn es um Seifen, Deodorants, Cremes oder Duftwässer geht. Die Berührung mit der Welt der Odeurs war eher marginal, punktuell: beim Durchqueren der Parfümerieabteilung der großen Kaufhäuser – sie liegen meist im Erdgeschoss und lassen sich kaum umgehen –, beim Gang zum Gate am Flughafen, das man nur erreicht, wenn man die Zone der Duty-Free-Shops passiert. Mehr noch als die Düfte oder die seltsame Melange von Düften wirkte das Licht und das Glitzern der Kristalle, des Regenbogens aus Farben, Spiegeln und Glas, und das vollendete Make-up der Frauen, die hier nicht Personal und Bedienung waren, sondern Models, lebendige Verkörperungen der Eleganz. Man fühlte sich in dieser Glitzerwelt der unendlich abgestuften Skalen von Farben und Nuancen immer sehr fremd.
Es gab dennoch einen starken Impuls, die Skrupel zu überwinden und ohne Vorkenntnisse sich in diese spezielle Sphäre vorzuwagen. Es ist ja eine Art Selbstermächtigung, wenn sich jemand das Recht herausnimmt, über etwas zu schreiben, von dem er bis dahin kaum eine Ahnung hatte. Stärker als alle Bedenken war ein erster Impuls, von dem sich herausstellte, dass es sich um mehr als nur einen bloßen Eindruck gehandelt hatte, nämlich um die Verfolgung einer Spur, der nachzugehen einen eigenen Drive, einen eigenen Sog entwickelt, der erst verschwindet, erlischt, wenn sie freigelegt und herauserzählt ist.*
Am Anfang war ein Duft, der überall da in der Luft lag, wo es in der Sowjetunion besonders festlich zuging; das konnte im Moskauer Konservatorium, im Bolschoi-Theater, bei der Verabschiedung von Absolventen an der Universität oder bei einer Hochzeitsfeier sein. Das etwas süße, schwere Aroma verband sich in meiner Erinnerung mit einem eher gesetzten Publikum, poliertem Parkett, strahlenden Lüstern, wenn das Publikum in den Pausen im Theaterfoyer zirkulierte. Ich begegnete diesem Duft auch später, in der DDR, vorzugsweise bei offiziellen Empfängen, im Umkreis deutsch-sowjetischer Begegnungen oder in Offizierskasinos. Diesem Duft nachzugehen, vielleicht die Marke ausfindig zu machen stand am Anfang, und alles Weitere ergab sich wie von selbst, eins nach dem anderen. Erste Recherchen ergaben, dass der Duft von einem Parfum namens Rotes Moskau stammte. Nun kennen wir die Karriere des so erfolgreichen Chanel No 5, aber kaum die Geschichte des populärsten sowjetischen Parfums. Es zeigte sich, dass beide auf eine gemeinsame ursprüngliche Komposition zurückgehen, komponiert von französischen Parfümeuren im Zarenreich, von denen der eine – Ernest Beaux – nach Revolution und Bürgerkrieg nach Frankreich zurückkehrte und auf Coco Chanel traf, während der andere – Auguste Michel – in Russland blieb, bei der Gründung der sowjetischen Parfümindustrie mitwirkte und aus dem »Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina das Rote Moskau schuf. Beide Parfums stehen für die Entstehung neuer Duftwelten, für radikal unterschiedlich verlaufende Biografien, für kulturelle Milieus im Paris und Moskau der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch für den verführerischen Duft der Macht: Coco Chanel , die sich mit den Deutschen im besetzten Paris einließ, und – weit weniger bekannt – die Karriere Polina Shemtschushinas, der Ehefrau des sowjetischen Außenministers Wjatscheslaw Molotow und Volkskommissarin, die zeitweilig auch für die sowjetische Kosmetik- und Parfümerieindustrie zuständig war. Coco Chanel setzt sich nach dem Krieg vorübergehend in die Schweiz ab, Polina Shemtschushina-Molotowa wird im Zuge der antisemitischen Kampagne der späten 1940er Jahre für fünf Jahre in die Verbannung geschickt und lernt den »Geruch der Lager« kennen. Chanel reüssiert in den 1950er Jahren in der Pariser Modeszene, Shemtschushina lebt zurückgezogen an der Seite ihres Mannes in Moskau und bleibt bis zu ihrem Tod im Jahre 1970 eine überzeugte Stalinistin. Eine Nebenspur der Recherche führte zur »Grande Dame des deutschen Films«, Olga Tschechowa, die auch diplomierte Kosmetologin war.
So populär das Parfum Rotes Moskau auch gewesen sein mag, es hatte der Stagnation der späten Sowjetunion und dem Druck der globalen Duftindustrie wenig entgegenzusetzen. Im postsowjetischen Russland ist es wieder auf den Markt zurückgekehrt und steht wie die Leidenschaft der Sammler von Parfumfläschchen für eine eigentümliche »Suche nach der verlorenen Zeit«. Bei einer solchen Suche bleiben frappierende Entdeckungen nicht aus: Kasimir Malewitsch, der sowjetische Avantgardist, ist auch der lange anonyme Designer des Flakons für das meistgekaufte Eau de Toilette der Sowjetunion – und das vor seiner Erfindung des Schwarzen Quadrats, dieser Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Es gab bei dieser Recherche lange Wegstrecken, auf denen nichts passierte, dann aber wieder wurde man vorangetragen von überraschenden Entdeckungen. Man treibt sich auf den Basaren russischer Städte herum und beginnt, Flakons und vorrevolutionäre Reklameplakate zu sammeln, trifft überall Laien, die sich zu Experten gemacht haben. Man pilgert zur Place Vendôme und in die Rue Cambon 31, um das Treppenhaus zu sehen, in dem Coco Chanel ihre Kollektionen präsentiert hat, und man lernt, dass die Welt des Luxus für die Gesellschaftsanalyse nicht weniger aufschlussreich sein kann als Studien zur Geschichte des Alltags der einfachen Leute. Die Boutiquen und Parfümerien in der Rue Saint-Honoré geben eine Vorstellung von der Würde des Handwerks und der unerschöpflichen Fantasie der Künstler und Designer. Vielleicht wäre das Buch ohne die Inspiration des großen Karl Lagerfeld gar nicht geschrieben worden. Man besucht Museen und Archive, in die man sich sonst nicht verirrt hätte, und entdeckt Netzwerke und Personenzusammenhänge, die erst im Lichte einer spezifischen Konstellation sichtbar werden. Djagilew als Zeitgenosse Coco Chanels, Malewitsch als Zeitgenosse Tiffanys, Gallés oder Laliques. Und wer im Internet stöbert, entdeckt, dass heute das Rote Moskau nicht bloß Sammelobjekt von Nostalgikern ist, sondern jederzeit online bestellt werden kann.
Jede Zeit hat auch ihr eigenes Aroma, ihren Duft, ihren Geruch. Das »Jahrhundert der Extreme« hat seine eigenen Geruchslandschaften hervorgebracht. Revolutionen, Kriege, Bürgerkriege sind auch olfaktorische Ereignisse. Die Teilung der Welt im vergangenen Jahrhundert kann jetzt post festum und zusammenhängend – gleichsam »mit der Nase« – erkundet und erzählt werden.
Berlin/Los Angeles im Frühjahr 2019
Karl Schlögel
DER DUFT DES IMPERIUMS ODER WIE AUS DEM »LIEBLINGSBOUQUET DER KAISERIN KATHARINA II.« VON 1913 NACH DER RUSSISCHEN REVOLUTION CHANEL NO 5 UND DAS SOWJETISCHE PARFUM ROTES MOSKAU WERDEN
Alles sieht nach einem Zufall aus. Im Spätsommer 1920 traf Coco Chanel bei einem Ausflug nach Cannes den Parfümeur Ernest Beaux in dessen Labor. Das Treffen war vermutlich durch Dmitri Pawlowitsch Romanow arrangiert worden, dem damaligen Liebhaber der Chanel, seines Zeichens Großfürst und Mitglied der Zarenfamilie sowie Cousin des letzten Zaren. Seit seiner Verbannung lebte er in Frankreich.1 Wie Großfürst Dmitri Pawlowitsch, ein enger Freund von Fürst Felix Jussupow, der die Ermordung Rasputins im Winter 1916 in die Hand genommen hatte, gehörte auch Ernest Beaux der Welt des Luxus und der Moden der russischen Aristokratie an. Als Chefparfümeur des Moskauer Hoflieferanten Alphonse Rallet & Co. war er nach Revolution und Bürgerkrieg nach Frankreich zurückgekehrt und in die Niederlassung des französischen Parfumherstellers Chiris in Grasse eingetreten, der die Firma Rallet gekauft hatte. 1913 hatte er zum 300-jährigen Jubiläum der Dynastie der Romanows das Bouquet de l’Imperatrice Catherine II entwickelt, das 1914 in Rallet No 1 umbenannt worden war – in der Zeit des Krieges gegen die Deutschen war eine Hommage an die aus Anhalt-Zerbst stammende Zarin russischen Kundinnen nicht mehr zuzumuten. Das Rezept für dieses Parfum hatte er mit nach Frankreich gebracht und suchte dort die Formel des »Bouquets« den neuen französischen Verhältnissen anzupassen. Aus der Serie von 10 Proben wählte Coco Chanel die Nummer 5 aus, die später den Markennamen Chanel No 5 ergeben sollte.
Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina II. (1903)
Tilar J. Mazzeo, die Autorin eines Buches über »Die Geschichte des berühmtesten Parfums der Welt«, beschreibt die Szene wie folgt: »Und da standen sie, zehn kleine Glasphiolen mit den Zahlen Eins bis Fünf und Zwanzig bis Vierundzwanzig darauf. Die Lücke zwischen den Zahlenreihen zeigte an, dass es zwei unterschiedliche – wenn auch sich ergänzende – Duftserien waren, unterschiedliche ›Zugänge‹ zu einem neuen Duft. In jeder dieser kleinen Glasphiolen befand sich eine ganz neue Kreation, die im Wesentlichen auf Provence-Rose, Jasmin und den erst ein paar Jahre zuvor synthetisierten Duftmolekülen namens Aldehyde basierte. Der Legende nach soll eine unvorsichtige Laborassistentin für eine massive Überdosis dieser noch kaum erforschten Substanzen verantwortlich gewesen sein. Sie hatte sie, ob versehentlich oder nicht, pur statt in zehnprozentiger Verdünnung in eine der Phiolen gegossen.
Schnuppernd brachte Coco Chanel den Tag in jenem Raum zu, umgeben von Apothekerwaagen, Messbechern und Medizinfläschchen, und überlegte. Bedächtig ließ sie jede Duftprobe unter ihrer Nase kreisen, und man hörte, wie sie langsam ein- und ausatmete. Ihr Gesicht verriet nichts. Das war etwas, an das sich jeder erinnerte, der sie kannte – wie unbeteiligt sie wirken konnte. Und dann erzeugte eines jener Parfums in ihrer Sinneswelt einen Widerhall, denn sie lächelte und sagte schließlich ohne jedes Zögern: ›Nummer fünf.‹ – ›Ja‹, bestätigte sie später, ›das war es, worauf ich gewartet hatte. Ein Parfum wie kein anderes. Ein Parfum für Frauen mit dem Duft einer Frau.‹« Auch was die Namensgebung – die No 5 – betraf, schien sie selbstsicher und frei von Zweifeln. »Ich präsentiere meine Kollektion am 5. Mai, dem fünften Monat des Jahres«, antwortete sie Ernest, »und deshalb soll die Probe Nummer fünf den Namen behalten, den sie bereits hat. Das wird uns Glück bringen.«2
Ernest Beaux, Portrait um 1921
Ernest Beaux selbst hat viele Jahre später jenen Moment, in dem das legendäre Parfum in die Welt kam, in einer Rede am 27. Februar 1946 so beschrieben: »Man fragt mich, wie es mir gelungen ist, Chanel No 5 zu schaffen. Erstens habe ich dieses Parfum im Jahre 1920 geschaffen, als ich aus dem Krieg zurückgekehrt war. Ein Abschnitt meines militärischen Einsatzes verlief in den nördlichen Ländern Europas, jenseits des Polarkreises, in der Zeit der Polarsonne, wenn Seen und Flüsse eine besondere Frische ausstrahlen. Diesen charakteristischen Geruch habe ich in meinem Gedächtnis behalten, und nach großen Anstrengungen und Bemühungen ist es mir gelungen, ihn wieder zu erzeugen, obwohl die ersten Aldehyde instabil waren. Zweitens, warum dieser Name? Mademoiselle Chanel, die ein sehr gut gehendes Modehaus hatte, bat mich, für sie ein Parfum zu schaffen. Ich habe ihr eine Serie von den Nummern 1 bis 5 und von 20 bis 24 gezeigt. Sie hat einige ausgewählt, darunter auch die No 5. ›Wie soll man dieses Parfum nennen‹, fragte ich sie. Mademoiselle Chanel antwortete ›Ich stelle die Kleider-Kollektion am Fünften des fünften Monats vor, das heißt im Mai. Das heißt, wir lassen dem Parfum die Nummer, die es trägt. Diese Nummer 5 bringt ihm Erfolg.‹ Ich gestehe, sie hat sich nicht geirrt. Diese neue Duftnote erfreut sich eines großen Erfolges, kaum ein Parfum hat so viele Verehrer gefunden, kaum ein Parfum hat man so sehr versucht nachzumachen wie Chanel No 5.«3
Chanel No 5
No 5 war abstrakt, hatte nichts mehr mit der Assoziation mit den luxuriösen traditionellen Aromen wie Rose, Jasmin, Ylang-Ylang und Sandelholz zu tun, sondern spielte auf etwas Neues an, die chemische Produktion von Duft, die Arbeit mit Aldehyden, auf Ingredienzien, die die »olfaktorische Welt eines ganzen Jahrhunderts verändern und Chanel No 5 zum vielleicht größten Parfum dieser Epoche« werden ließen. Aldehyde wurden hier nicht zum ersten Mal eingesetzt, aber zum ersten Mal bei einem bekannten Parfum und in so großen Mengen, »wodurch eine ganz neue Duftfamilie ins Leben gerufen wurde: die sogenannten Floral Aldehyde, bei denen der Geruch des Aldehyds genauso wichtig ist wie das Blumenbukett4«.
Die altehrwürdige Parfümeriekunst, die ihren Ursprung aus Alchemie und Seifensiederei noch nicht ganz verleugnen konnte, traf auf die Chemie des Industriezeitalters. Es handelt sich bei Aldehyden um Moleküle mit einer sehr speziellen Anordnung ihrer Sauerstoff-, Wasserstoff- und Kohlenstoffatome. Sie sind ein Stadium in dem natürlichen Prozess, der abläuft, wenn sich bei Oxidation, also unter dem Einfluss von Sauerstoff, Alkohol in Säure verwandelt. Aldehyde sind synthetische Moleküle, Moleküle, die in einem Labor entstanden sind. Sie werden von Chemikern abgespalten und sind stabilisierte Moleküle, die eine Vielzahl von Gerüchen erzeugen – Zimtaldehyd, die säuerliche Frische von Orangenschale, Zitronengras u.a. Aldehyde allerdings sind flüchtige Stoffe, sie verblassen schnell, um schließlich ganz zu verschwinden. Sie verstärken die Aromen eines Parfums und setzen so Reaktionen im Nervensystem in Gang. »Es kommt zu kribbelnder Frische oder zu einem kleinen Schauder durch einen elektrisierenden Funken. Deshalb wirke Chanel No 5 auf die Sinne wie kühle perlende Champagnerbläschen, die zerplatzen.« Dieser Effekt entsprach dem Wunsch von Ernest Beaux, einen Duft zu kreieren, den er auf seiner Flucht aus dem russischen Bürgerkrieg, auf dem Weg über die Halbinsel Kola, in der Schnee- und Tundrenlandschaft jenseits des Polarkreises, empfunden hatte. »Im Schnee alpiner Hochgebirgslandschaften und der öden polaren Tundra kommen Aldehyde heute in Konzentrationen vor, die zehnmal höher sind als in anderen schneebedeckten Regionen unserer Welt, sodass Luft und Eis dort klarer und intensiver wahrgenommen werden.« Beaux fügte dem strengen Geruch von Schnee und Schneeschmelze in Chanel No 5 eine große Menge exquisiten Jasmins, den er in der Blumen- und Parfummetropole Grasse vorfand, hinzu, um einen opulenten und süßen Duft zu erzeugen, der allerdings auch einen exquisiten Preis mit sich brachte. »Der essenzielle Kontrast zwischen dem sinnlichen Blumenduft und den asketisch anmutenden Aldehyden ist Teil des Geheimnisses von Chanel No 5 und seines enormen Erfolgs.«5
Es existieren mehrere Hypothesen zur Entstehung von Chanel No 5. Gegen die Hypothese vom Mischfehler der Assistentin spricht, dass der Rosen-Jasmin-Akkord perfekt gegen den Aldehyd-Komplex ausbalanciert war, also Ergebnis systematischer Studien. Gegen die These von der extrem frischen polaren Luft spricht, dass Beaux selbst schon 1913 Aldehyde in seinem Bouquet préferé de l’Impératrice eingesetzt hatte, inspiriert durch den Erfolgsduft Quelques Fleures des französischen Parfümeurs Robert Bienaimé (1876–1960), sodass am wahrscheinlichsten die Annahme zutrifft, dass es sich bei Chanel No 5 um ein (modifiziertes) Remake von Le Bouquet préféré de l’Impératrice von 1913 handelte, das Beaux ein Jahr später umbenannt und als Rallet No 1 vorgestellt hatte.6
Die Komposition soll sich aus 31 Parfum-Rohstoffen zusammengesetzt haben. In der elaborierten Sprache der Parfümerie-Experten, die dem Gegenstand angemessen sein will, wird das Register der Düfte wie folgt beschrieben (oder verklausuliert): »Die Kopfnote wird geruchlich vom strahlend-frischen, leicht metallisch-wachsig-rauchigen Aldehyd-Komplex C-10/C-11/C-12 (1:1:1,06 %) dominiert, mit seinen typischen Anklängen an wachsige Rosenblätter und Orangenschalen. Die hesperidisch-zitrusartigen Facetten werden durch Bergamottöl, Linalool und Petitgrainöl aufgenommen und unterstrichen. Die Herznote wird von den Dufteckpfeilern Jasmin, Rose, Maiglöckchen (Hydroxycitronellal), Iris-Butter und Ylang-Ylang-Öl aufgespannt … Da Mademoiselle Chanel auf der Intensität der Jasminkomponente bestand, tat er dies mit der kommerziellen Jasmin-Base Jasmophore und einer eigenen Rosen-Base »Rose E. B.« (E. B. für Ernest Beaux – K. S.). Nuanciert wird das blütig-blumige Herz durch Jonone (Iralia) mit ihrer pudiert-voluminösen Veilchennote, die das Iris-Thema aufgreifen und verlängern. Weitere Bestandteile sind Mairose, Neroli-Essenz und brasilianische Tonkabohnen. Würzige Akzente von Cassia und Isoeugenol setzen Spannungspunkte und leiten zum Fond der Komposition über. Ungewöhnlich ist hier für einen Damenduft die Vetiver-Note (Qualität Java), die einen maskulinen Kontrapunkt am Anfang der Basisnote setzt und so von Beaux’ Handschrift zeugt. Nuanciert wird diese Holznote durch Sandelholz- und Patschuliöl. Vanillin, Coumarin und Storax leiten dann zum betont sinnlichen Moschus-Komplex über, der im Schlussakt der Komposition das Thema bestimmt und im Original von 1921 aus echter Moschus- und Zibet-Infusion im Zusammenspiel mit den Nitro-Moschuskörpern Moschus Keton und Moschus Ambrette bestand, die fast unmerklich von Eichenmoos und Zimtrinde umspielt wurden. Da aus Artenschutz-Gründen etwa echter Moschus verboten und die Nitro-Moschusse wegen ihrer Phototoxizität limitiert sind, ist die Formel im Laufe der Zeit immer wieder adaptiert und an neue Sicherheits-Normen angepasst worden.«7 Durch Molekularanalyse konnte die heimliche Abstammungslinie von Chanel No 5 »hundertprozentig« nachgewiesen werden; andererseits wird behauptet, dass die Formel bis heute geheim gehalten werde.8
Wenn vieles, auch die weitere Entwicklung von Chanel No 5, von Unklarheiten umgeben ist, dann hat dies auch mit der Spezifik eines Gewerbes zu tun, das ohne Verschwiegenheit nicht auskommt, wie nicht zuletzt Patrick Süskinds Roman zeigt. Mit der Komposition allein ist aber der stupende Erfolg von Chanel No 5 noch nicht erklärt. Es mussten, wie noch darzustellen sein wird, viele Dinge hinzukommen. Er ist das Produkt dessen, was Karl Lagerfeld in seiner Hommage an Coco Chanel als »Russian Connection« bezeichnet hat, also mehr als nur die Summe von Chanel, Beaux und Großfürst Dmitri Pawlowitsch.9 Ernest Beaux ging von seiner ursprünglich russischen Kreation aus, gestaltete aber einen klareren und kühneren Duft. »Er nahm den Geruch von Moskau und Sankt Petersburg und von Dmitris privilegierter Kindheit auf und fing die exquisite Frische der Arktis in den letzten Tagen eines untergehenden Reiches ein. Doch vor allem bot es Coco Chanel das komplette Spektrum ihrer Sinneswahrnehmungen – das war der Geruch nach frischem Leinen und warmer Haut, sie spürte die Luft von Aubazine und Royallieu, Erinnerungen an Boy und Emilienne wurden wach. Es war wahrhaft ihr Duft. Und wie sie hatte es sogar eine komplizierte, teils im Dunkel liegende Vergangenheit.« Das Parfum fing »exakt den Geist der Goldenen Zwanziger ein«, es führt nichts Geringeres herbei als einen »Paradigmenwechsel« in der Welt der Wohlgerüche.10 Nichts scheint diesen Bruch mehr zum Ausdruck zu bringen als das Design des Chanel-No 5-Flakons. Seine Botschaft lautet: Die Zeit der Blüten und Blumenpracht, der Ornamente und Verzierungen ist vorbei, ein neues Zeitalter hat begonnen. Jean-Louis Froment, der die große Chanel-No 5-Ausstellung im Palais de Tokyo im Jahre 2012 konzipiert hat, spricht von diesem Parfum als der Verkörperung des »Geistes der Epoche«.11
Ein »Paradigmenwechsel« – ungleich brutaler – hatte sich in Russland ereignet, in einer »Zeit der Wirren«, wie das Jahrzehnt von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg in Russland genannt wird, mit den chaotischen Zuständen, in denen Fabriken stillgelegt und enteignet, Personal vertrieben oder ermordet wurde, und mit dem Wechsel der Eigentumsverhältnisse, durch den auch die Archive zugrunde gingen oder in alle Welt zerstreut wurden. Betriebe waren stillgelegt, weil die Arbeiter aufs Land zurückgegangen waren, um sich ernähren zu können, die Zufuhr von Rohstoffen war infolge der Bürgerkriegswirren und der Blockade unterbrochen, und es gab sogar grundsätzliche Überlegungen, die Parfumindustrie als Luxusindustrie einzustellen. Ausländische Fachleute waren verschwunden (die Deutschen als »feindliche Ausländer« schon im Jahr des Kriegsausbruchs 1914), die Arbeitsdisziplin war ebenso zusammengebrochen wie die Produktion. Die Belegschaft von großen Kosmetik- und Parfümeriewerken wie Brokar & Co. in Moskau, das vor der Revolution 1000 Menschen beschäftigt hatte, war auf 200 zusammengeschmolzen, Meister und Fachleute waren geflohen, und die Gebäude wurden umgenutzt – das Firmengebäude von Brokar wurde zeitweise zur Herstellung von »Gossnaki«, also zum Druck von sowjetischen Banknoten, umfunktioniert, während die Nachfolger von Brokar das Gebäude einer Tapetenfabrik beziehen mussten. Eine opulent gestaltete Festschrift zum 50-jährigen Firmenjubiläum im Jahre 1914 zeigt noch eine der modernsten Fabrikanlagen Moskaus und einen der größten Parfümeriebetriebe der Welt.12 Kein Wunder, dass in der allgemeinen Not der Bürgerkriegszeit – Papier war knapp, und ganze Bibliotheken wanderten in die Burshujki genannten Öfen – an eine weitere Verwendung der eindrucksvollen Reklameplakate, die die Firma reichsweit bekannt gemacht hatten, nicht zu denken war. Die Privatbetriebe wurden verstaatlicht und erhielten neue Namen. Die Firma Brokar wird zunächst Staatliche Seifensiederei-Betrieb Nr. 5, später heißt sie Nowaja Sarja (Neue Morgenröte). Die Firma Rallet & Co. wird zunächst Seifensiederei-Fabrik Nr. 4 und nach 1924 zum Betrieb Swoboda (Freiheit). Die Parfumfabrik S. I. Tschepelewedski und Söhne wird umgewandelt in die Fabrik Profrabotnik (Gewerkschafter), die Firma Köhler wird zu Farmsawod Nr. 12 (Pharmazeutischer Betrieb).13 Die gesamte Produktion, soweit und sobald sie wieder aufgenommen wurde, sollte nun auf dringend notwendige Hygieneartikel für die Bevölkerung ausgerichtet werden. Die Parfümerieindustrie kehrte zu ihren Anfängen in Zeiten der Seifensiederei zurück – für einen Augenblick zumindest. Im Vordergrund stand nun der Bedarf der Roten Armee, die für ihre Lebensmittelbeschaffungsaktionen auf dem flachen Land einfachste Hygieneartikel brauchte, um sie bei den Bauern gegen Brot tauschen zu können. Seife und Parfum war kostbares Gut im Kreislauf der Naturalwirtschaft geworden, in der ein Stück Seife Äquivalent für einen Leben rettenden Laib Brot sein konnte.14
Es war – russischen Forschungen zufolge – wesentlich das Verdienst der Arbeiter und Angestellten, wenn die von Schließung bedrohten Betriebe wieder in Gang gesetzt wurden. Die Arbeiterin und Mitglied der bolschewistischen Partei Jewdokija Iwanowna Uwarowa war zur Direktorin des Seifensiederei-Betriebs Nr. 5 (ehemals Brokar) geworden und hatte sich an Lenin persönlich gewandt.15 Die Restbestände der kostbaren Essenzen der Firma Brokar und anderer konnten teilweise geborgen und für die Wiederingangsetzung des Betriebs auf deutlich reduziertem Terrain genutzt werden.
Das wichtigste Erbe, das von Firmen wie Brokar und Rallet nach Revolution und Verstaatlichung übernommen wurde, waren nicht so sehr die materiellen Hinterlassenschaften von Werkzeugen, Maschinen und Rohstoffen, sondern die Weiterarbeit beziehungsweise die Übernahme des Wissens und der Expertise von Fachkräften und Leitungspersonal. Im Falle der Firma Brokar beziehungsweise Nowaja Sarja war dies Auguste Ippolitowitsch Michel, der im Besitz der Formeln für die Zusammensetzung von Parfums und Kenner der Herstellungsmethoden war. Im Jahre 1924 wurde der Import ätherischer Öle wieder aufgenommen. Auguste Michel beschäftigte sich mit der Zusammenstellung von Düften. Seine erste Kreation war Manon. Im selben Jahr 1925 wurde auch Krasnaja Moskwa entwickelt, das sich nach der Beschreibung des Parfümeurs S. A. Wojtkewitsch aus ätherischen Ölen von Apfelsinenblüten, Zitronen, Bergamotte sowie Moschus zusammensetzte. Der Grundton des Aromas war Alpha Isomethylionon, das einen Anteil von 35 % ausmachte; einer anderen Beschreibung zufolge enthielt das Parfum 60 Komponenten, darunter Iris, Veilchen, Nelke, Ylang-Ylang, Rosen und Ambra.16 Das Parfum war schon im Jahre 1925 entwickelt, aber erst 1927 – zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution – in den Handel gebracht worden.17
Auguste Michel (links) bei der Arbeit, Mitte der 1930er Jahre
Lange Zeit wurde in der Sowjetunion über Auguste Ippolitowitsch Michel nicht gesprochen und seine Autorschaft immer wieder in Zweifel gezogen. Angeblich sprachen sogar die von ihm ausgebildeten Schüler und Pioniere der sowjetischen Parfümerieindustrie wie Alexej Pogudkin und Pawel Iwanow schlecht über den ausländischen Parfümeur. Aber im Jahr 2011 schließlich erklärte Antonina Witkowskaja, die Generaldirektorin von Nowaja Sarja, Auguste Michel sei derjenige gewesen, »der das berühmte Krasnaja Moskwa geschaffen hat«. Sie händigte dabei dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew ein Geschenk aus. »Die Legende der russländischen Parfümerie – das ist das Parfum Krasnaja Moskwa. In unserer Fabrik erhielt sich ein Muster aus dem Jahre 1913 … Wir übergeben es Ihnen, damit Sie ein Stück der Geschichte der russischen Parfümerie in Händen haben« – es handelte sich um den Originalflakon und das ursprüngliche Parfum, das nach der Revolution in Krasnaja Moskwa umbenannt worden war. Im Moskauer Museum für die Kunst der Parfümerie im Werk von »Nowaja Sarja« waren Exemplare des Lieblingsbouquets der Kaiserin und Krasnaja Moskwa in Vitrinen nebeneinander ausgestellt.18
Krasnaja Moskwa (Rotes Moskau)
In Wahrheit ist die Geschichte weniger eindeutig. Während Biographie und Lebensstationen von Ernest Beaux im Detail bekannt sind, liegt die Vita von Auguste Michel weitgehend im Dunkeln. Ernest Beaux, Sohn des Parfümeurs des Hoflieferanten des Zaren Alphonse Rallet war 1881 in Moskau geboren, kehrte nach Ausbildung und Militärdienst in Frankreich 1902 wieder nach Russland zurück, wurde dort Chef-Parfümeur von Rallet, wo er mit seiner Komposition des Bouquet de Napoleon 1912 – zum 100. Jahrestag der Schlacht von Borodino – großen Erfolg hatte, der mit seiner Kreation des Bouquet de l’Imperatrice 1913 – zum 300. Jubiläum der Romanow-Dynastie – wiederholt werden sollte. 1914 wurde dieses nach Katharina der Großen benannte Parfum in Rallet No 1 umbenannt, dem französischen Verbündeten im Ersten Weltkrieg zuliebe. Es war eine Weiterentwicklung dieses Parfums, die Beaux 1920 nach dem Ende des Bürgerkriegs Coco Chanel vorstellen sollte. Von Auguste Michel liegen nur knappe und zudem widersprüchliche Daten vor. Die einen sehen ihn als Sohn eines im 19. Jahrhundert nach Russland eingewanderten französischen Parfumfabrikanten, er selbst bekannte in einem 1936 geführten Interview, er sei in Grasse an der Riviera geboren und aufgewachsen, habe dort auch seine Ausbildung zum Parfümeur erfahren und sei 1908 nach Moskau zur Firma Rallet gekommen; von dort war er offensichtlich von der Firma Brokar abgeworben worden.19 Es ist höchstwahrscheinlich, dass Ernest Beaux und Auguste Michel einander kannten und dass Michel über die Duftkompositionen von Ernest Beaux Bescheid wusste. Gewissheit haben wir, dass beide Parfümeure Schüler Alexandre Lemerciers, des Meisterparfümeurs der Firma, waren und dass beide von der Innovation des Houbigant-Parfümeurs Robert Bienaimé profitierten, der bei der Komposition seines großen Erfolgsparfums Quelques Fleures (1912) Aldehyde (die C-12 MNA-Verbindung) eingesetzt hatte. Auguste Michel, der von Rallet zu Brokar gegangen war, kannte also das Rezept für Bouquet Napoleon, das dann zum Ausgangspunkt für die Kreation des Lieblingsbouquets der Kaiserin Katharina II. wurde. Das bedeutete – so Natalja Dolgopolowa –, dass 1912/13 in zwei verschiedenen Moskauer Betrieben identische oder verwandte Parfums unter zwei verschiedenen Namen erschienen waren. Ernest Beaux, der bei Rallet & Co. gearbeitet hatte, nahm das Rezept für Bouquet Napoleon und Lieblingsbouquet der Kaiserin Katharina II. mit nach Frankreich und schuf dort Chanel No 5, während Auguste Michels Weg von Rallet und Brokar zu Nowaja Sarja, dem 1917 verstaatlichten Betrieb von Brokar, führte.20
Gebäude der Firma Brokar & Co., Moskau, vor 1914
Wie dem auch sei: Krasnaja Moskwa war in der Welt, wurde zum prominentesten Parfum der Sowjetunion und kehrte nach deren Ende nach einer Unterbrechung infolge der Privatisierung der Parfumindustrie als erfolgreiches Remake auf den russischen Markt zurück. Der Duft von Krasnaja Moskwa in der dritten Generation hat sich vom Ursprungsgeruch wohl weit entfernt. Um den ursprünglichen Duft erleben, das heißt riechen zu können, müsste man die früheren Versionen rekonstruieren – nach den Originalrezepturen und den Originalingredienzien. Die zweite Möglichkeit wäre, einen absolut dicht verschlossenen und gut aufbewahrten Flakon zu finden und zu öffnen. Drittens könnte man sich auf die Beschreibung des Duftes durch sowjetische Experten wie etwa R. A. Fridman stützen: »Ein warmes und zartes, sogar etwas heißes, doch intimes und weiches Parfum. Ein typisch weibliches Parfum21«.
Wenn der Transfer von Wissen gesichert erscheint und eine Kontinuität sichtbar wird, so ist die Tatsache, dass Auguste Michel zum Träger dieser Kontinuität wurde, doch offensichtlich einem weiteren Zufall zu verdanken, wie aus einem in den 1930er Jahren durchgeführten Interview hervorgeht. Michel, der in Moskau die Wirren von Revolution und Bürgerkrieg erlebt hatte, versuchte am Ende des Bürgerkriegs in seine Heimat zurückzugelangen, wohin ein großer Teil der französischen Gemeinde Moskaus schon zurückgekehrt war. Den Pass, den er bei der Behörde im Moskauer Zentrum eingereicht hatte, um ein Visum zu beantragen, bekam er nicht zurück. Ohne Papiere erhielt er eine Aufenthaltsgenehmigung, blieb und nahm seine Arbeit in dem inzwischen verstaatlichten Betrieb von Brokar wieder auf. So ging es bis zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion 1924. Michel bekam nun seinen Pass zurück. Doch er blieb in Sowjetrussland, sei es, weil er seine Arbeit wieder aufnehmen konnte, sei es, weil er dort seine große Liebe gefunden hatte. Erwiesen erscheint, dass Michel einen nicht unbedeutenden Anteil an der Wiederbegründung der russischen Parfümerieindustrie nach der Revolution gehabt hat, die auf ihre Weise einen »Paradigmenwechsel« in der Welt der Düfte herbeigeführt hat.
Brokar-Flakon
Die hochentwickelte Parfümerieindustrie, die vor der Revolution im Wesentlichen von ausländischen, vor allem französischen Firmen bestimmt war, die sich in heftiger Konkurrenz den riesigen russisch-eurasischen Markt streitig machten, war verstaatlicht worden. Nun waren die Prioritäten radikal verändert: Es ging vor allem um Massenproduktion, um die Versorgung der Bevölkerung mit Hygiene- und Kosmetikartikeln des täglichen Bedarfs; die ausländischen Experten waren abgereist, die Lieferketten für Import und Export der notwendigen Ingredienzien waren unterbrochen, die gesamte Parfümeriebranche musste reorganisiert und auf eine neue Grundlage gestellt werden.