Das russische Berlin - Karl Schlögel - E-Book

Das russische Berlin E-Book

Karl Schlögel

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Beschreibung

Fast eine halbe Million russischer Flüchtlinge nahm Berlin Anfang der 1920er Jahre auf. Die Stadt war in der Zwischenkriegszeit nicht nur die »Stiefmutter der russischen Städte«, sondern auch heimliches Zentrum der Weltrevolution. Hier trafen die totalitären Bewegungen aufeinander, die das Schicksal Europas im »Zeitalter der Extreme« besiegelten.

Karl Schlögel spürt die große Geschichte in der kleinen auf, er folgt den dramatis personae und rekonstruiert die Netzwerke, in denen sie sich bewegen. Die Welt der Bahnhöfe und die der Salons im Tiergartenviertel, die Dichter des Silbernen Zeitalters und die Agitkünstler der Sowjetmacht, der Empfang in der sowjetischen Botschaft und Nabokovs Beobachtungen zum Aufstieg der Nazis, die Stadtwahrnehmung der Taxifahrer und der Skandal um die »Zarentochter Anastasia«. In seiner Darstellung spielen Kursbücher und Adressverzeichnisse eine Rolle, Cafés und Cabarets, das Zeremoniell der Diplomatie und die Praktiken des Untergrundkampfes, die polyglotte Welt der Komintern-Funktionäre und die Karten der Geopolitiker.

Das Russische Berlin ist kein romantischer Ort, sondern Schauplatz einer Epoche, die Nachkrieg und Vorkrieg in einem war. Seit der Entfremdung zwischen Russland und der Europäischen Union ist auch das hochvernetzte »Russkij Berlin« der Gegenwart politisch gespalten. Der doppelte Blick auf das einstige und heutige russische Berlin erweist sich als unerwartet aktuell und produktiv.

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Seitenzahl: 974

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Karl Schlögel

Das russische Berlin

Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Extreme

Aktualisierte, erweiterte Neuausgabe

Suhrkamp

Den Opfern Hitlers und Stalins

Inhalt

Vorwort zur erweiterten Neuausgabe

Vorwort zur Erstausgabe (1998) Berlin, russische Stadt

Asien beginnt am Schlesischen Bahnhof

Bahnhöfe als Geschichtsorte

Kursbücher: Fahrplan und Geschichtszeit

Passagiere in der Weltkriegsepoche

Ende eines Zeitalters

Eydtkuhnen oder Die Genese des Eisernen Vorhangs

Das Nadelöhr

Die Grenzgänger

Schleuse zwischen den Welten

Kleine Grenzen, große Grenze

»Displacement« im »Jahrhundert der Flüchtlinge«: Die Brüder Kulischer und Joseph Schechtman in Berlin

»Displacement« – russisch-jüdische Lebensläufe und Jahrhundert-Erfahrung

Europa in Bewegung: Kartenbilder

Transit Berlin – Wege ins Exil, neue Netzwerke des Wissens

Harry Graf Kessler und die Russen

Der Tagebuchschreiber als Ethnologe

Die Russen in Kesslers Welt

Die Berliner Gesellschaft

Das Verschwinden der Tiergartengesellschaft

Anhang: Eine Topographie

Sankt Petersburg am Wittenbergplatz: Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Flüchtlinge

Wege nach Berlin

Stadtführer, Adressen

Rußland en miniature

Überlebenskampf

Gutenberg-Galaxis

Gemischte Gesellschaft

Wege fort von Berlin

Im Auge des Taifuns: Europe on the Move

Jenseits von Kommunismus und Faschismus: Nikolaj Berdjajews Schrift »Das Neue Mittelalter«, Berlin 1923

Exiliert. Ankunft in Berlin

»Das Neue Mittelalter«. Suche nach einem Weg aus der Krise

Faszinosum und Schrecken. Projektionsfläche und Resonanzraum

Unter den Linden 7: Sowjetische Botschaft Berlin

UdSSR en miniature

Der Botschafts-Archipel

Das Kurländische Palais

Porta orientis

Deutsch-sowjetische Szene Berlin

Abschied. Der Empfang vom 7. November 1932

Berliner Kreml

Global Village Komintern

Berlin: ›Wie in Moskau‹

In einer Zeitheimat: Berlin, Moskau

Komintern als Org-Welt

Das Rote Berlin

Global Village in der Weltkriegsepoche

Die Erledigung der Berliner Kominterngesellschaft

Rückkehr auf ein Ruinenfeld

Orte des Roten Berlin

Stadtwahrnehmung: Nabokov und die Taxifahrer

Russische Literaten in Berlin

Fremdheit als Produktionsbedingung

Berliner Embleme und urbane Interieurs

Der Chauffeur als Stadtsoziologe

1933: Konformismus und Gewalt

Nikolai Krestinski und Graf von der Schulenburg: Diplomatie als Verrat

Das diplomatische Korps zieht in den Krieg

Die diplomatische Revolution

Moskau/​Berlin: Diplomatie und Paradiplomatie

Diplomatisches Korps: »eine Art Freimaurerei«

Wanderer zwischen den Welten

Auf verlorenem Posten: Der Diplomat als Spion

Radeks Salon in Moabit

Der Steckbrief. Zur Person

Zellengefängnis Moabit

Radek und die Berliner Gesellschaft

Visionen für Europa nach dem Großen Krieg

Ernst Reuter: Radeks Begleiter als Berliner Bürgermeister

Simon Dubnows Berliner Tagebuch

Gegenwart als déjà vu

Das Jubiläum. Rückblick

Berlin: In der Diaspora

Eine Berliner Debatte 1923: Rußland und die Juden

Der Geist des neunzehnten Jahrhundertsin der Epoche des »Totalismus«

Orte in Dubnows Berlin

In einer »Landschaft des Verrats«: Das unterirdische Berlin

Schauplatz der Weltrevolution

Der kommunistische Agent als neuer Kulturtyp

Das Ende einer Karriere

Doppelspiel: Aktion »Trust«

Postskriptum

»Raum als Schicksal«: Die Internationale der Geopolitik

Begegnung der Extreme: Die »Zeitschrift für Geopolitik«

Oskar Ritter von Niedermayer: Der geopolitische Mittler

Vom ›Angelpunkt der Geschichte‹ zum ›Kontinentalblock‹

Mental maps und Geopolitik der Komintern

Großraumplanungen und Breitspurphantasien

Ausblick auf die Geopolitik der geteilten Welt

Edwin Erich Dwingers russische Obsession

Urerlebnis Sibirien

Simplicius Simplicissimus des Europäischen Bürgerkrieges

Bolschewismus auf deutsch. Die Synthese aus Weiß und Rot: Nationaler Sozialismus

»Wiedersehen mit Sowjetrußland« am 22. Juni 1941. Sentimentalität und Vernichtungsbereitschaft

Die Dämme sind gebrochen: Der Untergang des Abendlandes

Deutschlands innerer Osten und sein Therapeut

A star was born: Anastasia

Der Fall Anastasia

Geschichte und DNS-Analyse

Identität und Körpermessung

Amnesie und Revolution

Wie man eine Großfürstin macht

Endstation Hollywood

Die Intimität der Generäle: Deutsch-sowjetische Militärbeziehungen

Sieger und Besiegte 1945: Weltkriegsbekanntschaften

Aus fernen Tagen

Unternehmen Barbarossa: Reise in bekanntes Gelände

Vertrautheit als Verbrechen

Der Untergang des Grandseigneurs

Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens: Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde

Zurückgeworfen auf den Ausgangspunkt

Ein politischer Professor in der Berliner Gesellschaft

Synthesen: Deutscher Tory und Salonbolschewist

»Training for Russia«: Berlin als Zentrum der Rußlandkunde

Die letzte Niederlage des Otto Hoetzsch

Russian Connection: Das neue russische Berlin

»Überall hört man Russisch«

Russische Zeitungen: Medium des Alltags

Mental maps, Landschaften des Imperiums

Infrastrukturen und Parallelgesellschaft

Topographie des neuen russischen Berlin

Russian Connection, ursprüngliche Akkumulation und Metropolenwerdung

Danksagung

Bibliographische Notiz

Bildnachweis

Anmerkungen

Vorwort zur erweiterten Neuausgabe

Seit dem Fall der Mauer hat sich ein russisches Berlin herausgebildet, von dem niemand genau weiß, wie groß es ist. Verläßliche Statistiken gibt es nicht. Aber wahrscheinlich ist es mit mehr als 300 000 russischsprachigen Menschen nach der türkischen die zweitgrößte, und wenn man nach dem Gehör geht, vielleicht die größte Gemeinde von Ausländern oder »Deutschen mit Migrationshintergrund«: Immigranten, jüdische Kontingentflüchtlinge, Rußlanddeutsche, Pendler zwischen Berlin und Moskau, Studierende, Geschäftsleute, Langzeit-Touristen. Man braucht im Internet nur Russkij Berlin aufzurufen, und man bekommt Einblick in eine schon kaum mehr überschaubare russischsprachige Szene mit entsprechender Infrastruktur – von Restaurants, Zahnärzten, Diskotheken über Kindergärten und Fahrschulen bis zu Immobilienmaklern. Viele sprechen dann von einem »neuen russischen Berlin« im Unterschied zu jenem, das es schon einmal gegeben hat – in der Zwischenkriegszeit, in den »Goldenen zwanziger Jahren«, als Berlin Hauptstadt der russischen Emigration nach der Oktoberrevolution geworden war.

Das russische Berlin von heute hat mit dem russischen Berlin, das in den 1920er Jahren »Stiefmutter Rußlands« genannt wurde, nichts gemein. Das wiedervereinigte Berlin hat nach Jahrzehnten der Zerstörung durch die Nazi-Herrschaft, den Krieg und die Teilung im Kalten Krieg nur nachgeholt, was in anderen Metropolen im Zeitalter der Globalisierung längst vollzogen war: die Herstellung einer international gemischten Gesellschaft. Das neue russische Berlin steht nicht für Exil, Bruch mit der Heimat, sondern eher für Immigration, eine Art Zweitwohnsitz in einer Stadt mit (im Verhältnis zu Moskau immer noch) preiswertem Wohnraum, gediegener Infrastruktur, drei Opernhäusern und dem KaDeWe. Der »dekadente Westen« ist etwas für das russische Staatsfernsehen – Russen, die es sich leisten können, bevorzugen das mehr entspannte Leben oder eine Wohnung in Charlottenburg, in wachsender Zahl auch den Ort, der Schutz und Sicherheit vor Verfolgung bietet. Das russische Berlin der frühen 20er Jahre war für einen kurzen Zeitraum »Hauptstadt eines Rußland jenseits der Grenzen«, Zentrum der russischen Diaspora nach der Revolution, ein »Leben auf gepackten Koffern«, Lebenswelt von Hunderttausenden auf der Flucht, die sich ins Ausland gerettet hatten und darauf hofften, nach dem Sturz der Bolschewiki so bald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Berlin war für sie Zuflucht, Wartesaal, Überlebensort, Durchgangspunkt und für eine gewisse Zeit der exterritoriale Raum, in dem sich die aus Rußland Vertriebenen noch mit den in Sowjetrußland verbliebenen Freunden, Kollegen, Verwandten treffen konnten.

Das vorliegende Buch handelt von diesem russischen Berlin, dem Transitraum, der bald zwischen den Fronten des europäischen Bürgerkriegs aufgerieben werden wird, dem Ort, an dem sich die Knoten der deutsch-russischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschürzt haben – in vielerlei Hinsicht kreativ und produktiv in der Weimarer Zeit, auf eine unvorstellbar katastrophische Weise in der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus und erst recht im deutschen Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion. Das russische Berlin ist gleichsam die Sonde, mit der den deutsch-russischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgespürt wird.

Das Buch erschien zum ersten Mal im Jahre 1998, in einer erweiterten Neuauflage im Jahre 2007 – hinzugekommen war damals das Schlußkapitel »Russian Connection: Das neue russische Berlin«. Das Buch, seither auch im Russischen und Französischen erschienen, ist seit langem vergriffen, und ich bin dem Suhrkamp Verlag sehr dankbar, daß er das Buch dem Publikum wieder zugänglich macht. Der Neuausgabe konnte ich drei Kapitel über Persönlichkeiten hinzufügen, die in meinem Bild von Berlin als einem Ort der deutsch-russischen Beziehungen immer schon eine große Rolle gespielt haben: Nikolaj Berdjajew, der aus Rußland verbannte Denker, der in Berlin seine Überlegungen für eine Welt jenseits von Bolschewismus und Faschismus formuliert hat; die Brüder Alexander und Jewgeni Kulischer und Joseph Schechtman, die in Berlin zu Pionieren der Erforschung weltweiter Migrationsbewegungen geworden waren und denen wir den Terminus der »displaced persons« verdanken; Edwin Erwin Dwinger als ein Autor, der der Weltkriegs- und Revolutionsepoche mit den Mitteln des Trivialromans zu Leibe rückte und in seinem umfangreichen Werk wie kaum ein anderer sentimentale Russophilie und Vernichtungsbereitschaft im Weltanschauungskrieg zusammenbrachte. Ansonsten blieb der Text unverändert; in der bibliographischen Notiz sind einige Titel erwähnt, die aufgrund der veränderten Forschungslage berücksichtigt wurden.

Die Zuversicht, die der Einleitung zur Originalausgabe eigen war – daß wir nach einem Jahrhundert der Extreme und einem langen Kalten Krieg mitsamt seiner Entfremdung und Verfeindung endlich und vielleicht endgültig in eine Zeit der zwischenstaatlichen Normalität eingetreten sind – kann heute so nicht einfach weiter behauptet werden. Putins Rußland hat mit der Besetzung der Krim, dem fortgesetzten Krieg gegen die Ukraine die Grenzen Nachkriegseuropas in Frage gestellt und die Europäische Union zum Feind erklärt. Sein Konzept der »russischen Welt« – »wo Russen sind, ist Rußland« – kann jederzeit als Rechtfertigung für Intervention, vor allem im sogenannten »nahen Ausland«, genutzt werden. Die staatlich gelenkten Moskauer Fernsehkanäle, aber auch die sozialen Medien, haben in Berlin die Entstehung einer Art Parallelgesellschaft befördert. Wie sich diese neue Entwicklung auf die deutsch-russischen Beziehungen und insbesondere auf das russische Berlin auswirken wird, ist noch nicht absehbar. Das russische Berlin, das, von der Sprache abgesehen, nie sehr viel verbunden hat, ist heute tief gespalten – man denke nur an die russisch-jüdischen Kontingentflüchtlinge einerseits und die Rußlanddeutschen andererseits oder an die russischsprachigen Ukrainer und die russischsprachigen Bürger der EU-Staaten des Baltikums. Angesichts dessen fällt es schwer sich einzugestehen: Von einer »Normalisierung« kann vorerst jedenfalls keine Rede mehr sein.

Berlin im September 2018

Vorwort zur Erstausgabe (1998) Berlin, russische Stadt

Zum ersten Mal nach einem Jahrhundert furchtbarer Verwicklungen und Zusammenstöße gibt es zwischen Deutschland und Rußland keine wirklichen Probleme mehr. Deutschland ist wiedervereinigt. Die sowjetischen Truppen sind abgezogen. Die bestehenden Grenzen sind endgültig anerkannt. Wovon die Generationen davor nur träumen konnten, ist Wirklichkeit geworden: Normalität in den Beziehungen zwischen zwei europäischen Nationen, die sich in diesem Jahrhundert Furchtbares angetan hatten. Deutsch-russische Beziehungen können endlich mehr sein als »negative Polenpolitik« und das alte Spiel, dem zufolge der Feind meines Feindes mein Freund sei. Wir sind endlich heraus aus dem Tumult des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir sind frei.

Zu dieser Freiheit gehört auch, daß wir einen Blick zurückwerfen können. Gelassen, denn was geschehen ist, ist geschehen. Ohne Eiferertum und Rechthaberei, denn wir richten im nachhinein nichts mehr aus. Wir können heraustreten aus dem geteilten Horizont der Nachkriegszeit und Abschied nehmen von den Vereinfachungen, die in jedem Entweder-Oder liegen. Die Bereinigung des Feldes hat die alten Frontstellungen und Barrieren abgeräumt. Es gibt nichts mehr, was uns hindern könnte, uns unsere Geschichte zu erzählen. Es sei denn, unser beschränktes Vermögen, von den Ungeheuerlichkeiten zu sprechen, die jener Generation zum Lebensschicksal wurden. So blicken wir zurück auf ein Jahrhundert mörderischer Destruktivität, das in einem einzigen Augenblick zerstörte, woran Generationen gearbeitet hatten. In dem Feuer, in das wir zurückblicken, ist das alte Europa verbrannt, und auch im Verhältnis zwischen Deutschen und Russen konnte es nie mehr so sein wie vor dem Tag, an dem das »Unternehmen Barbarossa« begann.

Nirgends hat sich der Knoten der deutsch-russischen Beziehungen so dramatisch zusammengezogen wie in Berlin. Alle deutschen Wege nach Rußland führten in diesem Jahrhundert über Berlin, und alle russischen Wege nach Europa gingen über Berlin. Berlin war der Schauplatz deutsch-russischer Haupt- und Staatsaktionen und Wendepunkt für das Schicksal unzähliger Deutscher und Russen. Da sich diese Geschichte unter dem Strich als eine Geschichte von Katastrophen darstellt, war Berlin auch Katastrophenort. Nichts, was nicht ausprobiert worden wäre. Keine Allianz und Koalition, die man nicht wenigstens vorübergehend praktiziert hätte. Keine Kombination, die undenkbar gewesen wäre. So verschlingen sich in Berlin die Fäden zu einem Knäuel, das den Erfindungsreichtum jedes noch so genialen Dramatikers weit übersteigt.

Man muß lange suchen, um eine europäische Metropole zu finden, die einen ehemaligen politischen Kommissar und Beauftragten Lenins zum Bürgermeister hatte wie das Berlin der Nachkriegszeit in Ernst Reuter. Die ›Freiheit des Westens‹ wurde während der Blockade von einem Mann verteidigt, der 1918 mit Karl Radek über die ostpreußische Grenze gekommen war und der sich später mit Alexander Kerenski, dem im Berliner Exil lebenden Chef der Provisorischen Regierung, angefreundet hatte. In Berlin stoßen wir auf deutsche Generäle, die fließend Russisch sprechen. General Hans Krebs, der im April 1945 die Kapitulationsverhandlungen mit General Tschuikow führte, hatte es bei den gemeinsamen Manövern von Reichswehr und Roter Armee und während seiner Arbeit an der Moskauer Botschaft gelernt. Im zerstörten Berlin von 1945 treffen wir auf Russen, die Berlin noch aus den zwanziger Jahren kannten, wie jener legendäre und an seiner glatt polierten Glatze schon von weitem erkennbare Kulturoffizier Sergej Tjulpanow, der mehr von Goethe und Schiller als von Brecht und Becher hielt und 1945 noch an ein Deutschland glaubte, das es gar nicht mehr gab. Nur in Berlin war es denkbar, daß eine komplette Regierungsmannschaft aus dem Moskauer Exil eintraf, deren Mitglieder oft so gut Russisch sprachen wie Deutsch und die häufig die sowjetische Staatsbürgerschaft oder einen Rang in der sowjetischen Armee hatten.

Keine andere Stadt war – im Guten wie im Bösen – so sehr verwoben mit dem Russischen. In den zwanziger Jahren wurde Berlin zum Ankerplatz für Hunderttausende russischer Emigranten, russischer Verlags- und Zeitungsort Nummer eins. In Berlin schrieben Ilja Ehrenburg und Vladimir Nabokov ein Stück russischer Kulturgeschichte. Doch auf das russische Berlin der Emigranten folgte ein anderes: Nach dem Überfall auf die UdSSR füllten sich die Katakomben der Stadt mit den Elendsgestalten sowjetischer ›Ostarbeiter‹, die Berlin noch in Gang hielten, als die Bomben fielen. Und als auch dieses russische Berlin untergegangen war, folgte ein drittes: das Berlin der Rotarmisten. Niemand kannte die Stadt so gut wie sie. Meter für Meter, Keller für Keller, Haus für Haus hatten sie sich zu den Bunkern der Reichskanzlei und zum Reichstag vorgearbeitet. Als die Fahne auf der ausgeglühten Kuppel gehißt war, ging ein Kapitel in dem deutsch-russischen Roman zu Ende. Das russische Berlin hatte den Weg vom ›Charlottengrad‹ der Emigranten nach ›Pankow‹, dem neuen Machtzentrum in der sowjetisch besetzten Zone, zurückgelegt.

Es geht nicht um eine weitere Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Solche gibt es bereits, einige darunter sind inzwischen Klassiker geworden. Dem Verlauf der Geschichte entsprechend, haben sie meist düstere Titel. Sie heißen: Krieg und Frieden, Unheilige Allianz, Schicksalsgemeinschaft, Teufelspakt, Europäischer Bürgerkrieg. Zu praktisch allen Aspekten deutsch-russischer Beziehungen – ob zur Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee, zur sowjetischen Kulturpropaganda, zur Berliner Osteuropakunde – gibt es zahlreiche und glänzende Untersuchungen. Inzwischen hat eine große Ausstellung zum Thema »Berlin–Moskau« stattgefunden. Es gibt nicht mehr viele Geheimnisse, die noch gelüftet werden müssen, und es ist unwahrscheinlich, daß ein neuer Fund im Archiv die bisher geleistete Arbeit gänzlich über den Haufen werfen wird.

Und doch ist trotz dieser riesenhaften Arbeit kaum eine Vorstellung davon entstanden, was da zerstört worden ist. Wie benommen vom Horror des Krieges im Osten haben wir etwas übersehen, das vielleicht noch wichtiger ist als alle Greuel und Grausamkeiten: das Ende von etwas, das für Generationen fraglos und selbstverständlich gewesen war. Es handelt sich um kulturelle Nähe, die keiner umständlichen Übersetzung bedarf. Dazu gehört ein Vorrat von Vorstellungen und Begriffen, die allen gemein sind. Dazu gehören Umgangs- und Lebensformen, die von allen geteilt werden und als verteidigenswert erscheinen. Was auch geschehen mochte, dieser Referenzrahmen wurde nie angetastet. Man konnte unterschiedlichster Auffassung sein, aber daran rüttelte man nicht. Das Bezugssystem funktionierte, weil alle, die sich darin bewegten, denselben Lebens- und Erwartungshorizont hatten. Ein solcher gemeinsamer Horizont geht nicht aus Absprachen hervor, sondern ist etwas sehr Voraussetzungsreiches, das in Generationen geschaffen wurde. Das Ende der Selbstverständlichkeiten markiert zivilisatorische Brüche drastischer, als der Abbruch von diplomatischen Beziehungen und selbst Kriege es vermögen. Mit den Selbstverständlichkeiten endet die Routine, auf deren stummem Funktionieren unsere Zivilisation beruht. Und gerade dies war geschehen.

Dieses Buch handelt vom Ende der Selbstverständlichkeiten, von der Zerstörung dessen, was es vor dem Ersten Weltkrieg einmal gab und was Zivilisationsnormalität genannt werden kann. Es sind Studien über kulturelle Nähe und kulturelle Dichte und über deren Auflösung in der Weltkriegsepoche. Es ist die Erzählung davon, wie ein zur Routine gewordenes Verhältnis aufhört, so daß die Nachgeborenen wieder ganz von vorne beginnen müssen. Es kann nichts Radikaleres über die Geschichte einer Beziehung gesagt werden, als daß der Vorrat an gemeinsamen Vorstellungen, an ›Werten‹ sich erschöpft hat, weil es keinen gemeinsamen Horizont mehr gibt und die Beteiligten am Ende nicht einmal wissen, wovon der jeweils andere spricht. Die Spaltung der Welt ist dann vollständig geworden, die Erfahrung von Krieg und Zerstörung hat alles andere überlagert und scheint das einzige zu sein, was als gemeinsamer Bezugspunkt übrigbleibt.

Wenn Berlin der Ort kultureller Nähe und Dichte, aber auch von deren Auflösung ist, dann muß geschichtliche Arbeit ihr auf die Spur kommen. Man muß versuchen, das Netzwerk, die Beziehungen und Verbindungen, die sichtbaren und die unsichtbaren Fäden zu fassen. Dies gelingt nicht, wenn man die zahlreichen Einzeluntersuchungen zu einer Synthese, zu einem Mosaik oder einem Panorama addiert oder montiert. Es bedarf eigener Sichtachsen und einer ganz eigenen Arbeit der Verknüpfung. Die disziplinär angelegten Untersuchungen interessieren sich nur selten für das, was jenseits ihres ›Fachgebiets‹ liegt. Damit bringen sie sich oft um die aufregendsten, die weiterführenden Einsichten. Für sie hat es keinen Belang, daß es ein Treffen von Karl Radek, dem Inbegriff des international agierenden Revolutionärs, mit Karl Haushofer gab, in dem manche den ›Mann hinter Hitler‹ sahen; es ist nicht von Relevanz, daß Anastasia, die ›falsche Zarentochter‹, von einem Professor Bonhoeffer behandelt wurde; es ist nur eine Anekdote wert, wenn Ernst Jünger am Jahrestag der Oktoberrevolution zum Empfang in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden erscheint.

Aus meiner Perspektive hingegen sind dies alles Momente eines Textes, den wir erst wieder lesbar machen müssen. Das bedeutet Verknüpfungsarbeit – oft bis an den Rand der Erschöpfung. Wenn man die Tröstungen der Geschichtsphilosophie hinter sich gelassen hat, kann man sich auf keiner ›Gesetzmäßigkeit‹, keiner ›Logik der Geschichte‹ ausruhen. Man kann sich nach dem, was geschehen ist, nicht mehr einem ›Prozeß‹ oder einer ›Struktur‹ anvertrauen. Wir folgen keinem Plan, keinem Schema, sondern allein dem, was sich zur Kontingenz fügt. Wir arbeiten uns vor von Knoten zu Knoten und kommen im Grunde nie zu einem Ende. Das einzige Kriterium, das wir haben, ist die Festigkeit des Gewebes und das Bild, das sich aus den Tausenden von Knoten irgendwann abzeichnet. Die Arbeit von Historikern ist, so könnte man formulieren, nichts anderes als Wiederverknüpfen und Aufrollen von gerissenen Biographien, Lebenszusammenhängen und Ereignisketten. Unsere Arbeit hat sich gelohnt, wenn wir etwas bis dahin Verborgenes zur Anschauung gebracht haben.

Mich führten viele Wege ins russische Berlin. Die ersten russischen Ortsnamen, die sich mir einprägten, habe ich aus den Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes gelernt, die noch in den fünfziger Jahren im Radio verlesen wurden. Als ich zu lesen begann, waren die Illustrierten voll von Anastasia-Reportagen – das war meine erste Begegnung mit den Überresten der russischen Emigration auf deutschem Boden, noch bevor ich wußte, was das ist. Dwingers »Armee hinter Stacheldraht« las ich, weil es in der Bibliothek meiner Schule vorhanden war. Im Berlin der sechziger Jahre, in dem ich zu studieren begann, waren die Spuren des Krieges noch allgegenwärtig, in den Einschlägen im Putz des Kreuzberger Hauses, in dem ich wohnte. Relikte des russischen Berlin waren noch zu sehen: in der Reklame des Ladens für Samoware in der Marburger Straße, in den Antiquariaten, in denen man noch Überreste der russischen Bücherwelten der zwanziger Jahre finden konnte. Viele der historischen Akteure, die ich bei der Arbeit an meinem Buch über den Untergang Sankt Petersburgs kennengelernt hatte, fand ich im Berlin der zwanziger Jahre wieder, gerettet, aber im Exil. Viele, denen ich in meinen Studien über das Moskau der dreißiger Jahre begegnet war, waren aus Berlin dorthin gekommen. Sogar das Komintern-Berlin kehrte für einen Augenblick wieder: in den »Inprekorr«-Reprints der späten Studentenbewegung und in den Erzählungen der kommunistischen Arbeiterveteranen aus dem Berliner Norden. Ich fand Pjotr Krasnows Roman »Vom Zarenadler zur Roten Fahne« in den Berliner Antiquariaten und gewann so eine Vorstellung davon, daß es einmal einen russischen Autor gegeben hatte, dessen Bestseller auf deutsch erschienen waren.

Berlin erzog zur Wahrnehmung russischer Präsenz. Kein Meter, der nicht gezeichnet schien. Die Ehrenmäler in Treptow und im Tiergarten. Delegationen absolvierten dort nicht nur ihr Pflichtpensum. Im Institut, an dem ich studierte, gab es noch Schüler des großen Otto Hoetzsch, der vor dem Kriege Berlins Weltruhm in der Osteuropaforschung begründet hatte. Hier lebte noch eine Dichterin, die als junges Mädchen bei Nikolai Gumiljow in Petersburg gelernt hatte, wie man Gedichte schreibt. In den Programmheften der Deutschen Oper standen die Namen einer russischen Ballettmeisterfamilie, die schon in den zwanziger Jahren nach Berlin gekommen war. Und alle kannten irgendwie Erzpriester Malzew. Vom Alexanderheim in Tegel, das wie so vieles in den sechziger Jahren dem Abriß zum Opfer fiel, blieb nichts außer ein paar Photos und ein schmiedeeiserner Kleiderständer, den ein Bekannter aus dem Schutt rettete. Irgendwann in den siebziger Jahren setzte eine Entdeckungsbewegung ein, die der frühen Sowjetunion galt – der Avantgarde, El Lissitzky, Rodtschenko, Tretjakow, und damit auch deren Berliner Verbindungen. Und dann kam das Ende des Kommunismus und das Ende von Ost- und Westberlin. Ein neuer Blick auf die Geschichte war freigegeben, jenseits des ›deutschen Historikerstreits‹, in dem Zusammenhänge bestritten wurden, die unbestreitbar waren, und Kausalitäten behauptet wurden, die nur Konstruktionen waren.

Das Ende der Selbstverständlichkeiten. Jahrzehntelang war in Berlin der Ausnahmezustand Normalität: ein Niemandsland mitten in der Stadt, eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Ost und West. Die Wüste zwischen Potsdamer und Pariser Platz nahm der englische Photograph Aidan O’Rourke zu Beginn der achtziger Jahre auf.

Geschichte findet nicht im luftleeren Raum statt. Geschichte hat einen Ort. Berlin ist der Raum, wo die deutschen und die russischen Wege sich kreuzen. Fast jeder Meter ist markiert. Da gibt es die dichte Stadt des »Sankt Petersburg am Wittenbergplatz« mit seinen Cafés, Dielen, Konditoreien, Kunstgewerbeläden, seinen Verlagen und Buchhandlungen. Da gibt es das andere, das sowjetisch-kommunistische Berlin, dessen Zentren in der alten Mitte und im Osten der Stadt liegen: um die Botschaft Unter den Linden, um den Bülowplatz, um die Kneipen, die proletarischen Vereine, die Sportplätze, das Rote Berlin. Da gibt es die Salons und Gesellschaften des Alten und Neuen Berliner Westens, in denen Russen dazugehören, nicht als exotisch bestaunte Kosaken, sondern weil sie Europäer sind. Da gibt es die Komintern-High-Society, dieses einzigartige Biotop, aber auch die Gefängnisse von Moabit und Plötzensee. Diese Karten ergeben übereinandergelegt die russische Topographie Berlins.

Wer dem russischen Berlin auf der Spur bleiben will, dem wird einiges abverlangt. Er muß in Berlin und in Moskau ein wenig zu Hause sein und wenigstens zwei Sprachen sprechen. Er sollte sich im »Taribari« in der Nürnberger Straße, wo die russischen Emigranten verkehren, ebenso auskennen wie im Klub im Haus Kronprinzenufer 10, wo sich Berlins linke Intelligenz mit sowjetischen Autoren und Regisseuren auf Durchreise trifft. Er sollte die Strecke nach Moskau mit den Reiseberichten von damals mehr als einmal zurückgelegt haben, um zu verstehen, was Eydtkuhnen oder Negoreloje einmal war: ›Porta orientis‹ und Nadelöhr, durch das alle – von den Diplomaten bis zu den Unternehmern, von den ›Fellow travellers‹ bis zu den Agenten – kommen mußten. Er muß den Grundriß des Moabiter Zellengefängnisses, in dem Radek eingesperrt war, im Bauarchiv auffinden. Er muß bereit sein, nach Karaganda zu fahren, wenn ein Leben, das in Berlin begonnen hat, dort zu Ende gegangen ist.

Das russische Berlin, das man beschreiben will, ist eine Schule, in der man viel lernt. Es ist eine Schule der Sinne und des historischen Instinkts. Man lernt, daß hinter dem Zeremoniell des diplomatischen Korps die Zivilisierungsarbeit von Generationen steckt und daß es zu welthistorischen Umbrüchen gekommen sein muß, bevor auch nur eine Nuance geändert wird. Kursbücher sind mehr als nur eine Liste von Reisezielen, Zügen und Zeiten. Ihre Frequenzen haben zu tun mit Krieg und Frieden. Der Nord-Expreß steht wie der Orient-Expreß für das alte Europa, das Gefährt, das ›Schienenwolf‹ genannt wird, steht für den technisierten Krieg, für verbrannte Erde und totale Mobilmachung. Wir sehen in Harry Graf Kessler einen großen Ethnographen des untergehenden Europa und lesen sein Tagebuch als eine Art teilnehmende Beobachtung der Berliner Gesellschaft. Wir lernen, wie man aus literarischen Texten mehr herausholt als nur literarische Anspielungen und daß auch das Exoterische gelesen werden kann: als Zeit, in Worte gefaßt. Botschaftsempfänge, auf denen ›tout Berlin‹ zusammenströmt, sind für uns das Prisma, in dem man erkennt, wen man kennen muß, wenn man etwas verstehen will. Wir nehmen die Skandalgeschichten der Regenbogenpresse um Anastasia ernst, denn wir haben begriffen, was es für die Welt bedeutete, fortan ohne Zar und Kaiser auskommen zu müssen. Fast überall, wohin wir kommen, entdecken wir weiße Flecken: Es gibt kaum Untersuchungen zur historischen Formenwelt der diplomatischen Kultur, kaum etwas über den Kosmos der Komintern-Boheme, gar nichts über die Epochenfigur des Agenten. Die vorliegenden Studien sind daher nichts anderes als Anfänge, Versuche, Eröffnungen, die die fälligen Arbeiten anregen und vorbereiten, nicht vorwegnehmen können.

Was man dabei zu sehen bekommt, ist kein Schluß und keine Lehre, sondern eine Reihe von Geschichten, aus denen sich der Knoten geschürzt hatte. Es ist wenig sinnvoll, eine Anweisung zur Lektüre zu geben. Der Leser muß sich selbst zurechtfinden. Er kann davon ausgehen, daß ich viel Zeit und viele Gedanken darauf verwendet habe, herauszufinden, welches die Schwerpunkte der Recherche und der Darstellung – also die Knoten, die Sonden, die Stollen – werden sollten. Es versteht sich von selbst, daß weitere zu nennen wären. Aber auch dieses Buch ist endlich.

Es wird an den einzelnen Kapiteln selbst klar, weshalb sie notwendig und triftig sind. Es sind Drehbücher für den Untergang. Einzelne Studien kreisen, wie man leicht sehen kann, um Orte: Bahnhöfe, Grenzpunkte, Salons, Gefängnisse, Botschaften, Redaktionen, Cafés, Institute. Wieder andere haben Bilder und Bildwelten zum Mittelpunkt: Berlin als Metropole, die mental maps, die inneren Landkarten der Generation zwischen den Kriegen. Und schließlich geht es in fast allen Kapiteln um Personen, kulturelle Typen, Charaktere, also das Personal der Weltkriegsepoche: Emigranten, Agenten, Diplomaten, Militärs, Literaten, Funktionäre, Professoren, Virtuosen des Bürgerkrieges. Sie sind in der Regel Russen, Deutsche, Juden. Die Geschichten stehen für sich und können für sich gelesen werden, aber der Reiz des Buches besteht in den Linien, die aus dem einen Kapitel in ein anderes hinüberlaufen. Der Leser kann sich an den Titeln und Zwischentiteln rasch einen Überblick verschaffen und entscheiden, wo er einsteigen will. Der Personenindex wird ihm helfen, Querverbindungen und Querverweise ausfindig zu machen.

Wenn der Sinn der hier vorgelegten Studien schon nicht eine Lehre sein kann, sondern eine Einladung, sich in den Unübersichtlichkeiten und Verworrenheiten eines heillosen Jahrhunderts umzusehen, dann ist es auch müßig, eine Quintessenz formulieren zu wollen. Manche mögen es für ein sehr dürftiges Resultat halten, wenn man am Ende dieser Studien nichts anderes zu sehen bekommen hat als die Abwicklung und Überwältigung des neunzehnten Jahrhunderts. Aber sich einzugestehen, daß mehr nicht ›drin war‹, ist zuweilen weit schwerer zu ertragen, als sich auf dramatisch-pompöse Weise von Illusionen zu verabschieden, die verantwortlich gewesen sein sollen dafür, was mit Europa geschah. Wir können ruhig davon ausgehen, daß die Generationen vor uns nicht dümmer waren als wir selbst.

Wenn heute dennoch, wie ich annehme, alles anders ist und anders werden könnte, dann nicht weil wir klüger geworden sind, sondern weil die heillosen Machtverhältnisse, die den Generationen zuvor so unbegreifliche Konfusion und so unermeßliche Leiden aufgebürdet haben, vergangen sind. Die Konstellation der ineinander verkrallten Totalitarismen, in der die Völker Europas zur Geisel selbstmörderischer Bewegungen wurden, ist aufgelöst. Machtzerfall, Selbstdemontage und Erschöpfung durch Krieg haben die Fesseln gesprengt und die unseligen Allianzen zerstört, in denen noch die schöpferischsten Geister der Epoche befangen und gefangen waren. Organisationsgenie und intellektuelle Leidenschaft, bürgerschaftliches Engagement, energisches Intervenieren können nun zum Zuge kommen, ohne zugleich in tödliche Verstrickung münden zu müssen. Was der Totalitarismus ins Destruktive gewendet hatte, hat nun die Chance, sich produktiv auszuleben. Die Tugenden der verlorenen Generationen, einmal emanzipiert vom Zwangszusammenhang der Weltkriegsepoche, können zu Schubkräften zivilgesellschaftlicher Entwicklung werden. Das war nach 1945 wenigstens im Westen der Fall, und nach 1989 auch anderswo.

Vieles spricht dafür, daß sich die alte Konstellation erledigt hat. Die heroischen Anstrengungen und die phantastischen Projekte der Sturm-und-Drang-Periode des zwanzigsten Jahrhunderts sind überflüssig geworden. »Schicksalsgemeinschaft« oder »Geist von Rapallo«, oder wie die Epochen-Chiffren sonst noch geheißen haben, sind Geschichte geworden und ohne Relevanz für die heutige Situation. Die Notlage, in der sie erfunden wurden und aus der sie herausführen sollten, existiert nicht mehr. Die Generalität spricht weder Russisch noch Deutsch, sondern das Amerikanisch, das im europäischen headquarter üblich ist. Die Flüchtlinge, die das russische Berlin von einst gebildet hatten, sind abgelöst von den ›neuen Russen‹ im Berlin von heute. Business as usual am Ende eines Jahrhunderts der Katastrophen. So langsam arbeitet Geschichte.

Asien beginnt am Schlesischen Bahnhof

Bis zum Ersten Weltkrieg war Berlin der zentraleuropäische Eisenbahnknoten und der Durchgangspunkt für alle, die Europa von Ost nach West oder von West nach Ost durchquerten. Berlin war die erste Station für alle Reisenden aus dem Russischen Reich auf dem Weg ›nach Europa‹, und Berlin war die Station, auf der man sich einstellte auf das ganz andere, das einen nach zwei Tagen Zugfahrt erwartete. Berlin ist – neben Wien – in den russischen Reiseführern, die von der Jahrhundertwende an in Mode kamen, der Ausgangspunkt für die Erkundung Europas. Direkt vis-à-vis dem Südportal des Bahnhofs Friedrichstraße im Stadtzentrum lag denn auch das Hotel de Russie mit seinen zweihundert komfortablen Zimmern. Und als der junge Dichter Lew Lunz Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin kam, war er nicht wenig erstaunt. Den ersten Menschen, den er, soeben aus dem Zug gestiegen, ansprach, war – ein Russe: »Als ich in Berlin ankam und aus dem Bahnhof heraustrat, fragte ich aufs Geratewohl einen jungen Mann: ›Wie komme ich zu der und der Straße.‹ Der Bursche guckte mich dumm an und schüttelte den Kopf: ›Keine Ahnung.‹ Dann fragte er traurig in gutem Russisch: ›Sind Sie eventuell Russe?‹ Das war der erste ›Deutsche‹, dem ich begegnete. So betrat ich die fremde Hauptstadt.«1

Aber das Gefühl, daß in Berlin etwas endete und etwas anderes begann, galt auch für die andere Richtung. »Der östlichste Bahnhof von Berlin war der Schlesische, der nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt lag«, schrieb Hans von Herwarth, der als junger Diplomat im April 1931 von hier aus seine erste Dienstreise nach Moskau antrat. »Man fühlte, daß hier eine andere Welt begann. Die Menschen auf den Bahnsteigen, die Gerüche, die ganze Atmosphäre war unverkennbar östlich. Unser Militärattaché in Moskau, General Ernst Köstring, behauptete immer: ›Asien beginnt am Schlesischen Bahnhof‹. Von hier aus erstreckt sich eine weite, unendliche Ebene bis Wladiwostok, die nur vom Ural unterbrochen wird. Je weiter der Zug nach Polen hineinfuhr, um so spärlicher war das Land besiedelt, und der Zug bewegte sich langsamer, weil die Gleise nicht geschottert waren.«2 Tatsächlich konnte man seit 1927 durchgehende Fahrscheinbücher bis nach Fernost erwerben. Die Reise von Berlin nach Tokio kostete etwa 650 Reichsmark. Sie ging über zwölftausend Kilometer, durchmaß sieben Zeitzonen und dauerte von Moskau bis Tokio zwölf Tage (statt einer Seereise von 45 Tagen).3 Der amerikanische Korrespondent William L. Shirer nannte den Zug, der am Schlesischen Bahnhof ankam, den »Orientexpress«.4

West und Ost als geokulturelle Pole waren sogar in die soziale Topographie Berlins eingeschrieben. Die Gegend um den Schlesischen Bahnhof war typisches Bahnhofsmilieu mit Nachtlokalen, Bordellen und billigen Hotels. Ein berühmtes Etablissement wie das »Scala« war ganz in der Nähe. Der Berliner Theatermann Julius Berstl hat das Milieu um den Schlesischen Bahnhof als eine Art inneren Orient, ohne den auch Berlin nicht auskam, als den Ort der verdrängten Wünsche und Triebe beschrieben. »In Witvogels Hippodrom dröhnt Musik. Russenkapelle. Drei Mann in bunten Blusen, aber schäbig. Es riecht nach Zigaretten, Roßäpfeln und Azethylen. Vier geduldige Gäule traben im Ring. Ihre Reiter sind junge Arbeiter in Fabrikhemdchen. Die Mädchen im Herrensitz. Die Röckchen übers Knie verschoben. Man sieht die Schlüpfer und zwischen Schlüpfer und Strumpf ein Stück Fleisch. In der Mitte vom Reitring das große Tanzrad. Betrieb! Da liegen die Mädchen den Jungen im Arm, Brust an Brust, es riecht nach Menschen und Staub, in blassen Gesichtern offene, gierige Lippen, manche geschminkt, und Augen, keß, sanft, frech und ungeduldig. Das ist ein Markt hier. Man kauft und verkauft sich. Für’n Abendbrot, für’n Bett im Absteigequartier, vielleicht auch noch Strumpfgeld. Die Russen geben sich Mühe, muß man schon sagen, sie blasen unermüdlich: Liebling, wie ist dein Name, die Adresse und dein Telefon? Wohnst du bei deiner Tante, deinem Gatten oder in Pension? Oder: Ein süßer Kuß! Vorschuß auf das Himmelreich, ein kleiner Scheck von dir aufs Paradies! Glaub mir, es muß nicht sein fürs ganze Leben gleich, ein schwaches Stündchen nur mit dir, allein mit dir! O, öffne nur die Himmelstür.«5

Auch Alfred Döblin hatte seinen »Vorstoß nach dem Westen« vom Schlesischen Bahnhof aus begonnen.6 Noch ein anderer – Ilja Ehrenburg – sah in Berlin weder Ost noch West, sondern etwas Drittes und für ihn Wesentliches: »Nähert man sich Berlin, so leuchtet es aus der Ferne wie ein riesenhaftes Zifferblatt, seufzt gleichmäßig wie ein musterhaftes Chronometer. Das ist das Herz des alten Europa. Das Denken kann eilen, die Füße können zurückbleiben – das Herz aber kennt die Zahl seiner Schläge, kennt sein Maß. Meine diesmalige Ankunft in Berlin werde ich nennen: Begegnung mit meiner Zeit. In Rußland lebten wir in den ersten Revolutionsjahren im 21. Jahrhundert … Hier machte ich Bekanntschaft mit unserer Epoche.«7

Der Schlesische Bahnhof, der heutige Ostbahnhof, ist über alle Umbauten, Umbenennungen und politischen Umbrüche hinweg seit mehr als anderthalb Jahrhunderten Berlins Tor zum Osten. Hier traten Touristen, Rußlandbegeisterte und Revolutionäre ihre Reise gen Osten an, und hier traf 1945 auch Stalins Sonderzug auf dem Weg nach Potsdam ein. Seine bis zum Zweiten Weltkrieg bestehende Form erhielt der Bahnhof in den Jahren 1880 bis 1882.

Jahre später war die Ost-West-Verbindung unterbrochen und der »Nord-Expreß« nur noch eine Reminiszenz an alte Zeiten. Die Berliner Bahnhöfe waren zum Ausgangs- und Endpunkt von Hitlers Krieg im Osten geworden, zunächst im Krieg gegen Polen, dann im Krieg gegen die Sowjetunion. »Die Stadtbahn, der Güterbahnhof, aber auch zunehmend der Personenbahnhof bildeten wichtige Ausgangspunkte für Transporte von Soldaten und militärischem Gut, von Urlaubern der Ostfront sowie von Frauen und Kindern in weniger bombengefährdete Gebiete.« Urlauber mußten sich hier an der Frontleitstelle melden, erhielten ihre Marschpapiere und Verpflegung. Während die Wohngebiete großflächig von englischen Fliegerbomben zerstört wurden, blieben die Bahnanlagen relativ lange intakt. In den letzten Kriegsmonaten wandelte sich indes das Bild. »Im Schalterraum, in den Gängen und Wartesälen herrscht ein tolles Durcheinander, fliegende Sanitätstrupps, Feldküchen, Stäbe, Munitionsdepots sind hier untergebracht, aber alles im Aufbruch begriffen, hastig, eilig, nervös. Verbandsmull, zerbrochene Medikamentenflaschen, leere Konservendosen, Aktenbündel, Stahlhelme, Gasmasken, geborstene, zerbrochene Stühle und Tische, Knäuel von Telefondraht, Zigarettenstummel, Zeltplanen liegen umher, alles bedeckt von den grauweißen Wolken des unaufhörlich von den Decken und Wänden rieselnden Kalkstaubes, dem Rauch der Feldküchen, dem Qualm der brennenden Häuser.«8

Am 22. April 1945 begann der Sturm der Roten Armee auf den Schlesischen Bahnhof unbd endete am Abend des folgenden Tages. Rund 1400 Soldaten traten hier den Weg in sowjetische Kriegsgefangenschaft an. Sofort begannen die Aufräumungsarbeiten, und schon am 25. April trafen gegen 18 Uhr schwere Eisenbahngeschütze ein, die General Shukow aus Küstrin hatte heranführen lassen, um das Feuer auf die Innenstadt zu eröffnen. Auch wenn die Bahnhofshalle und das von dreizehn Bombentrichtern übersäte Bahnhofsgelände rasch wiederhergestellt wurden, so war die Stellung des Schlesischen Bahnhofs von nun an eine grundlegend andere. Und das gilt für die ›Berliner Spinne‹ als Ganzes. Berlin hatte aufgehört, der west-östliche Transitpunkt zu sein. Aus seinen Durchgangsbahnhöfen waren Endstationen geworden. Viele wurden wenige Jahre nach Kriegsende ›aus dem Verkehr gezogen‹, die meisten, darunter der Anhalter, der Potsdamer Personenbahnhof, der Stettiner, der Lehrter und der Görlitzer Bahnhof, wurden später abgerissen.9

Der Schlesische Bahnhof – faktisch Berlins Ostbahnhof – steht für eine Geschichte, die hier zu Ende ging. Ihre Folgen sind bis in die Gegenwart hinein spürbar, denn erst jetzt, nach dem Ende der Teilung der Stadt, konnte sich Berlin, stillgestellt durch fünfzig Jahre der Teilung, an die Modernisierung seines Bahnsystems machen, die zunächst nichts weiter ist als die Wiederherstellung des Vorkriegsniveaus. Endstationen sind wieder Durchgangsbahnhöfe geworden. Es gibt kaum ein exakteres Barometer für das Auf und Ab in den Beziehungen zwischen Berlin und Moskau als die Strecke, die am Schlesischen Bahnhof beginnt.

Bahnhöfe als Geschichtsorte

Europa war vor dem Krieg der Kontinent der Eisenbahn, und Berlin hatte darin eine zentrale Stellung.10 Der Ort, an dem sich Verkehr, Mobilität, Reisebewegung für diese Epoche messen lassen, ist daher der Bahnhof, nicht der Flughafen. Als am 1. Mai 1922 das erste Flugzeug der Deruluft, der deutsch-russischen Fluggesellschaft, von Berlin nach Moskau startete – mit einer Zwischenlandung in Königsberg –, war die Flugreise noch eine ganz und gar exklusive Angelegenheit, und als 1926 die gerade gegründete Lufthansa die deutschen Anteile der Deruluft übernahm und mit 518 Flügen pro Jahr gerade einmal 1100 Passagiere von Berlin nach Moskau beförderte, stand das Europa des Eisenbahnzeitalters im Zenit seiner Möglichkeiten.11 Eindrucksvoll ist die Auswahl von Schnellzügen, die der »Kurier«, ein »praktischer Reiseführer für Russen in Städten und Kurorten Westeuropas« aus den Jahren 1903 bis 1905, anbieten konnte: den Nord-Expreß Sankt Petersburg–Paris/​Ostende; den Schnellzug über Thorn, Alexandrowo und Warschau nach Moskau; mehrere Verbindungen über Königsberg und Eydtkuhnen nach Petersburg und Moskau. Eindrucksvoll ist auch, was das »Amtliche Kursbuch für das Reich« vom Sommer 1935 Richtung Baltikum, Nordwestrußland und Moskau und weiter bis Wladiwostok anbieten konnte. Jedenfalls war das Flugzeug keine Konkurrenz, wenn man bedenkt, daß in den Monaten vor Beginn des Zweiten Weltkrieges täglich 165 ankommende und 176 abfahrende Züge auf dem Schlesischen Bahnhof abgefertigt wurden.12

Im Eisenbahnzeitalter waren die Berliner Bahnhöfe das Tor zur Welt: Der Anhalter und Potsdamer Bahnhof eröffneten den Weg nach Süden, nach Dresden, München, Zürich, Triest, Verona, Rom, Süddeutschland und in die Alpen; der Stettiner Bahnhof stellte die Verbindung zu den Badeorten an der Ostseeküste und nach Skandinavien her; vom Lehrter Bahnhof ging es nach Hamburg und Mecklenburg; nach Görlitz und Hörbersdorf in Schlesien fuhr man vom Görlitzer Bahnhof ab; der Schlesische Bahnhof bediente die Strecken nach Osten und nach Südosteuropa. Über die Stadtbahnhöfe Charlottenburg, Zoologischer Garten, Friedrichstraße, Alexanderplatz gelangten die Reisenden unmittelbar ins Stadtzentrum, sei es ins Regierungsviertel oder in den Neuen Westen.

Nun fehlt es nicht an Geschichten der Eisenbahn und Geschichten der Bahnhöfe. Sie umfassen die »Mechanisierung der Triebkräfte« ebenso wie die »Pathologie der Eisenbahnreise« oder die Veränderung des Stadtbildes durch den neuen Bautyp der »Kathedralen des Eisenbahnzeitalters«.13 Die Fülle dieser Literatur steht im auffälligen Kontrast zu der Tatsache, daß die Reise, die Bewegung selbst kaum Spuren hinterlassen hat. Von Interesse ist immer nur das Ziel: der Ort der Ankunft. In den Sog der Reflexion gerät immer nur, was hinter einem zurückgeblieben ist: der Ort, den man verlassen hat. Die Bewegung selbst, obgleich sie eine nicht weniger dichte Erfahrung mit sich bringt, verschwindet gleichsam in einem toten Winkel. Sie fällt in den Bereich zwischen Abreise und Ankunft, von ihr gibt es kein Protokoll.14 Bahnhöfe sind geschichtswürdig nur dann, wenn sie zum Schauplatz von Haupt- und Staatsaktionen werden. Und solche hat es in Berlin genügend gegeben. Kaum ein Berliner Bahnhof, der nicht verwoben wäre mit der ›großen Geschichte‹.

Da ist der Potsdamer Bahnhof, auf dem am frühen Morgen des 11. April 1917 mit dem fahrplanmäßigen Zug aus Frankfurt am Main der plombierte Waggon eintraf, in dem die russischen Revolutionäre unter sicherem Geleit des deutschen Generalstabs Deutschland durchquerten. Der gewöhnliche grüne D-Zug-Wagen, in dem sich Lenin aufhielt, war mit Sichtblenden versehen, der Bahnsteig war polizeilich abgesperrt und sogar mit Stacheldraht ausgelegt. Niemand verließ oder betrat den Wagen. Schließlich wurde der Waggon vom Frankfurter Zug abgekoppelt und auf ein Reservegleis geschoben. Weiter ging es zum Stettiner Bahnhof und von dort nach Saßnitz und Trelleborg.15

Einen solchen geschichtlichen Augenblick gab es am 4. November 1918 am Bahnhof Friedrichstraße, als die Diplomatenpost der Sowjetvertretung aufplatzte und Tausende von kommunistischen Flugblättern sich über den Bahnsteig ergossen. Die deutsche Regierung hatte endlich den höchstwahrscheinlich von ihr selbst erzeugten ›Zwischenfall‹, um die diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland abzubrechen und den Bevollmächtigten Adolf Joffe des Landes zu verweisen – wenige Tage vor der deutschen Novemberrevolution.16

Da ist der Stettiner Bahnhof, auf dem die Bahnarbeiter sich im August 1920 weigerten, Züge zu beladen, um Waffentransporte für den polnisch-russischen Krieg durchzulassen. Auch wurde der Bahnhof zur Kulisse für den Empfang jener Philosophen, Gelehrten, Publizisten und Politiker, die im Herbst 1922 von Lenin des Landes verwiesen und auf dem ›Philosophenschiff‹ nach Deutschland verfrachtet worden waren.17

Auf dem Fernbahnsteig des Schlesischen Bahnhofs. Berlins Bahnhöfe waren Schauplatz der tausendfachen Pendelbewegung zwischen Deutschland und Rußland – und Ort der großen Geschichte.

Auf den Bahnhöfen wurden die Staatsoberhäupter empfangen. Der Bahnhof Friedrichstraße sah die regelmäßigen Durchreisen der sowjetischen Delegationen auf dem Weg nach Genua, Den Haag, Genf. Der Anhalter Bahnhof sah die Ankunft Wjatscheslaw Molotows und seiner sechzigköpfigen Delegation im November 1940 in Berlin, wo über die weitere Aufteilung Europas gesprochen werden sollte. »Am Morgen des 13. November fuhr der Zug auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin ein. Es regnete. Zum Empfang waren auch Außenminister Ribbentrop und Feldmarschall Keitel erschienen. Sie begrüßten die sowjetischen Vertreter. Ribbentrop sagte, daß es ihm eine Freude sei, die sowjetische Regierungsdelegation im Namen des ›Führers‹ und in seinem eigenen Namen in der Hauptstadt des ›Dritten Reiches‹ begrüßen zu können. Dann begaben sich alle zum Bahnhofsgebäude. Gleich im ersten Raum waren an der Wand die sowjetische und die deutsche Flagge angebracht, darunter stand ein großer Blumenkorb. Flaggen und Blumen wurden von einem kleinen Scheinwerfer angestrahlt. Als wir auf den Bahnhofsvorplatz hinaustraten, hatte sich der Regen verstärkt. Auf dem Asphalt glänzten Pfützen. Nach der recht zurückhaltenden gegenseitigen Begrüßung zog an den Versammelten eine Ehrenkompagnie vorüber. Ein Orchester spielte. Besonders still wurde es, als die Hymne der Sowjetunion intoniert wurde. Wohl das erste Mal seit 1933, seit dem Machtantritt Hitlers, erklang in Berlin laut die ›Internationale‹. Wer in Hitler-Deutschland dieses Kampflied des Proletariats anstimmte, wurde von der Gestapo in ein Todeslager geworfen, hier aber, auf dem Vorplatz des Anhalter Bahnhofs, standen deutsche Generale und Nazibonzen unter den Klängen der Hymne der Kommunisten stramm! Und noch eine Einzelheit prägte sich mir ins Gedächtnis ein: Rechts vom Bahnhof ragte ein Fabrikgebäude empor, und aus seinen Fenstern winkten uns Arbeiter mit roten Tüchern zu.«18

Im Unterschied zu solchen ›historischen Ereignissen‹ scheinen Routinebewegungen, an denen das Funktionieren von Städten, Gesellschaften, Kontinenten hängt, kaum der Rede wert. Über Beiläufiges wird nur selten Buch geführt, obwohl doch oft der erste Eindruck der entscheidende ist. Auf Bahnhöfen verlaufen unsichtbare Grenzen und vermischen sich Welten. Matthias Pförtner hat in seinem 1942 veröffentlichten »Erlebnisbericht« von der »russischen Wanderung« eines einst begeisterten Kommunisten einen solchen unsichtbaren Übergang beschrieben:

»Der D-Zug Paris–Warschau–Stolpzy entließ auf dem Bahnhof Friedrichstraße den größten Teil seiner Fahrgäste. Berlin erschien mir als der Mittelpunkt einer Strecke, wo sich Westliches und Östliches scheiden. Die Menschen, die nunmehr den Zug bestiegen und nach Moskau reisten, begaben sich in eigener Stimmung und Schickung auf Fahrt. Zwischen Paris und Berlin war kein Unterschied im Wesentlichen. Europa war hier und war dort. Man konnte einander nichts nehmen, ohne den gleichen Wert zu geben. Stets war der Ausgleich, der Ergänzung bedeutete, vorhanden. Zwischen Berlin und dem östlichen Jenseits aber bestand kein Tausch des Gleichwertigen, da galt nur Eroberung oder Ergebung. Die unübersehbare Schar der Europäer, die seit Jahrhunderten nach Rußland gezogen war, hatte geraubt oder war beraubt worden. Dies war die Tatsache … Die Menschen, die auf dem Bahnhof Friedrichstraße den Zug bestiegen und für diese Zeit meine Gefährten wurden, waren mir fremd und fern: eine Jüdin aus Bjalystok in knalliger Aufmachung, ein polnischer Kaufmann von übertriebener Höflichkeit, eine Gruppe leise sprechender, zurückhaltender Russen in deutschen Konfektionsanzügen, grinsende japanische Studenten. All dieses Volk ging mich nichts an.

Auf dem Bahnhof wurden nicht nur Zeitungen verkauft, hier wurden auch Schlagzeilen gemacht. Momentaufnahme vom Schlesischen Bahnhof, um 1930.

Auf dem Schlesischen Bahnhof bekam ich Gesellen. Eine Schar deutscher Arbeiter, es mochten an die hundert Mann sein, drängte sich mit abgeschabten Koffern und verschnürten Pappschachteln in den Zug, belegte Plätze und machte sich mit fröhlichem Lärm in den Abteilen breit. Die Fenster wurden geöffnet. Auf dem Bahnsteig standen die Frauen, Kinder und Kameraden der Scheidenden. Aus ihren Zurufen und Wünschen ergab sich sofort, daß die Arbeiter nach Moskau verpflichtet waren. Sie waren zumeist ältere Männer, denen man ansah, daß sie zupacken konnten und was von ihrem Fach verstanden. Einige Frauen hatten Tränen in den Augen, aber die meisten hatten frohe Gesichter, und viele Vorübergehende blickten sehnsüchtig und neidisch zu uns hin. Es war die Zeit großer Not und allgemeiner Arbeitslosigkeit. Wir aber waren gesichert und hatten eine Aufgabe vor uns. In dieser Gewißheit nahmen die Männer Abschied. Als jemand ›Rot Front!‹ rief, stimmten alle begeistert ein, und während der Zug sich in Bewegung setzte, sangen wir und mit uns viele Menschen auf dem Bahnsteig mit übermächtiger Stimme: ›Völker, hört die Signale!‹ Noch lange streckten sich die geballten Fäuste aus den Fenstern, brausten die ›Rot-Front‹-Rufe den Zug entlang, den Fahrenden ein Bekenntnis, den Bleibenden eine Hoffnung.«19

Schon am Gepäck auf den Bahnsteigen läßt sich leicht erkennen, in welche Richtung die Reise geht. So heißt es über den Bahnhof Friedrichstraße, die ›große Verteilerzentrale‹ des Militärpersonals im Zweiten Weltkrieg: »Nicht am Bahnsteig, sondern am Gepäck und an der Ausrüstung wird das Reiseziel erkannt. Nach dem Westen gibt es Koffer, steife Dienstmützen und vielleicht sogar eine Aktentasche. Für den Osten kommen große Rollen mit Decken, Stallaternen und in Zeitungspapier eingewickelte Primuskocher in Frage. Nach dem Westen reist der Stiefel, in den Osten der Knobelbecher. Der U-Boot-Fahrer von der Atlantikküste hat einige eingewickelte Brote und Reisemarken bei sich, der Osturlauber schleppt in einer alten Munitionskiste Marschverpflegung für 8 Tage, eine Bratpfanne und eine Waschschüssel mit. Nach dem Westen überwiegt der Einzelfahrer, der hinter den neuesten Zeitungen sitzt. Der Osten fordert gebieterisch Gruppenbildung.«20

Durch die Zugfenster erblickten Reisende zuerst die Stadt und ziehen daraus, wie Ilja Ehrenburg, ihre philosophischen Schlüsse. »Als ich mich erstmals Berlin näherte, war ich noch ein kleiner Junge. Meine Mutter schlug damals ein dickes, unverständliches Buch auf, das mit einer Bibel oder mit einem Lehrbuch der Trigonometrie Ähnlichkeit hatte, und sagte zu mir: ›Wir werden um 9 Uhr 12 Minuten eintreffen.‹ Ich schenkte ihr keinen Glauben. Kannte ich doch damals nur die russischen Bahnhöfe mit ihren drei Glockenzeichen, mit den gemütlichen, Tee schlürfenden Fahrgästen, mit flirtenden Telegraphisten und duftenden Faulbaumblüten. Ich wußte, daß der Zug nicht abfahren wird, wenn ich fortlaufe, um einen Zweig Faulbaumblüten zu pflücken – der Zug würde verstehen, daß es ohne Faulbaumblüten nicht geht. Ich schwieg eine Weile und fragte dann: ›Nun, so ungefähr um 10 oder 11 Uhr werden wir doch ankommen? …‹ Darauf anwortete die Mutter lächelnd: ›Hier haben die Züge niemals Verspätung.‹ Ich entsinne mich, als der Zug sich tatsächlich dem Bahnhof Friedrichstraße näherte und ich, auf die Uhr blickend, sah, daß es 9 Uhr 12 Minuten war, da freute ich mich nicht – nein, ich erschrak. Ich konnte mich an jenem Tage auf keine Weise von dem Schreck über diese unfaßbare Pünktlichkeit erholen – weder durch Nußtorte noch durch Warenhäuser, wo man für eine Mark einen märchenhaften Federkasten kaufen konnte.«21

Bahnhöfe sind auch die Orte der Rückkehr nach langer Abwesenheit und gefahrvollen Odysseen. Am 29. August 1948 traf Susanne Leonhard, die Anfang der dreißiger Jahre ins sowjetische Exil gegangen und dort in Lagerhaft geraten war, endlich wieder in Berlin ein. »Wir näherten uns Berlin. Die Ruinen von Erkner und Rahnsdorf tauchten auf. Einzelne Hauswände mit zackigen Rißwunden. Ganze Häuser wie leere Gestelle. Innen alles ausgebrannt. Ich war erschüttert. Hirschgarten, Karlshorst, Rummelsburg; Ruinen und Trümmer, Geröllhänge und Schutthalden, teils schon überwuchert von Unkraut. Der Zug fuhr in den Schlesischen Bahnhof ein. Wie alle anderen gingen wir die große Treppe hinunter, und wo andere ihr Stadtbahnbillet abgaben, ließen wir uns unsere pompösen Fahrscheinhefte abnehmen. Der Fahrkartenkontrolleur zuckte nicht mit der Wimper. Als ob es etwas Alltägliches gewesen wäre, daß Leute aus Moskau hier ankommen! Dann standen wir da. Was nun?«22

Auf dem Bahnhof Friedrichstraße treten Diplomaten ihre Dienstreisen an, wie der erste deutsche Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau: »An einem kalten Oktoberabend des Jahres 1922 hatten sich alle Freunde Brockdorff-Rantzaus auf dem zugigen Friedrichstraßen-Bahnhof versammelt, um ihm Lebewohl zu sagen. Wir füllten den ganzen Bahnsteig und bildeten einen Halbkreis um das Abteil, in dem der neue Botschafter am heruntergelassenen Fenster stand. Abschiedsgrüße und Abschiedswitze flogen hinüber und herüber. Als das Zeichen zur Abfahrt gegeben wurde, trat Maltzan aus unserem Halbkreis und überreichte Brockdorff-Rantzau feierlich eine ehrwürdige Flasche ältesten französischen Cognacs. Der Botschafter ergriff sie lächelnd und rief mit der ihm eigenen Schlagfertigkeit: ›Sie wollen wohl damit sagen: In hoc signo vinces!‹ Alle Anwesenden brachen in ein schallendes Gelächter aus. Der Zug setzte sich in Bewegung und glitt langsam aus der Halle. Brockdorff-Rantzau aber winkte uns Zurückbleibenden mit der Cognacflasche die letzten Abschiedsgrüße zu.«23

Und auf dem Bahnhof Friedrichstraße begannen zwei Jahre später auch die beiden Studenten Karl Kindermann und Theodor Wolscht ihr großes Rußlandabenteuer, das mit diplomatischen Verwicklungen in den höchsten Höhen der Politik enden sollte. »Am 9. Oktober versammelten sich auf dem Bahnhof Friedrichstraße zahlreiche Studenten, die uns das Geleit beim Abschied gaben. Wir hatten uns vor dem Studentenheim aufgestellt und waren in geschlossenem Zuge zum Bahnhof marschiert. Einige Kameraden spielten frohe Lieder auf ihrer Geige, andere begleiteten sie auf der Laute dazu, und wir alle sangen in begeisterter Stimmung mit. Studentenlieder erklangen, als der überfüllte Schnellzug die Halle verließ!«24

Bahnhöfe als Geschichtsorte – was könnte dies alles bedeuten? Bahnhöfe, die Mittelpunkte des Güter- und Menschenverkehrs im modernen Zeitalter, liegen zwar abseits des Studiums der ›geschichtlichen Bewegungen‹, aber sie sind Zentren moderner Mobilität und Vergesellschaftung. Bahnhöfe werden selten mit ›europäischer Kultur‹ in Zusammenhang gebracht, und doch ist klar, daß es ein modernes Europa erst geben konnte, als das Netzwerk der Eisenbahnen geschaffen war. Eine so verstandene Geschichte interessiert sich nicht erst für die Begegnung von ›deutschem Geist‹ und ›russischer Seele‹, sondern zunächst für den Raum, in dem sie sich begegnen oder zusammenstoßen konnten. Verkehrsnetze sind das neutralste Medium, das sich denken läßt: Hier lassen sich Zivilisten genauso bewegen wie Truppen. Gerade deshalb sind sie die getreuesten Barometer für den Stand der Beziehungen.

Eisenbahnverbindungen folgen zuweilen strategischen Planungen, in der Regel aber eher den weit mächtigeren Strömen von Handel und Verkehr. An einer Geschichte der Bahnhöfe zählt nicht, daß dann und wann bei Staatsbesuchen der Rote Teppich entrollt wird, sondern die Routine und die Pünktlichkeit, mit der Züge eintreffen und abgefertigt werden, die Verläßlichkeit und Berechenbarkeit, auf der jeder intakte Austausch basiert. Die Eisenbahn macht aus unerreichbaren Räumen solche der Nachbarschaft, sie ist ein Mittel der Vergesellschaftung. In der Zusammensetzung der Passagiere zeigt sich der Mobilitätsgrad einer Gesellschaft, lange bevor mobil gemacht worden ist. An den Praktiken auf Grenzbahnhöfen zeigt sich das Mißtrauen gegen das Fremde oder aber Offenheit. Bahnhöfe vermitteln den ersten, flüchtigen, darum aber nicht weniger folgenreichen Eindruck. Auf den Bahnsteigen beginnen die Reisen im Raum, die zugleich Reisen im Kopf sind, mit denen sich vorzugsweise die Geistesgeschichte befaßt. In den weiten Strecken, die zwischen Abfahrt und Ankunft liegen, sieht die herkömmliche Geschichte nur leere Zeit, aber jeder weiß aus eigenem Erleben, daß in dieser Leere ›dazwischen‹ unvergeßliche und prägende Erfahrungen gesammelt werden: die Erfahrung von Verlangsamung und Beschleunigung, Erfahrungen mit neuen Gesichtern und Uniformen, mit Menschen, denen man in der stubenhockerischen Routine der täglichen Arbeit nie begegnet wäre.

Für die herkömmliche Geschichtswissenschaft kommen Bahnhof oder Eisenbahn nur als Tatort in Betracht, während die zivilisatorische Leistung, die in der pünktlichen und berechenbaren Überwindung einer Distanz liegt, ja die unsere moderne Zivilisation erst möglich macht, stillschweigend vorausgesetzt wird. Man muß das Ende der Selbstverständlichkeiten erlebt haben, um darin einen Stoff für Geschichte zu entdecken.

Kursbücher: Fahrplan und Geschichtszeit

Das verläßlichste Material für die Rekonstruktion des Verkehrs zwischen Berlin und Moskau sind Fahrpläne und Kursbücher. Die ihnen beigegebenen Pläne markieren den leeren geographischen Raum, der von den dick eingetragenen Linien der Fernzüge durchschnitten wird. Kursbücher beschreiben das Regelwerk, nach denen der große Mechanismus der europäischen Eisenbahnen abläuft. Sie bündeln die Ströme von Hunderttausenden von Einzelbewegungen zu großen Strömen und den großen Strom zum Punkt, an dem alles zusammen- und wieder auseinanderläuft. An ihrer bis auf die Minute genauen Präzision hängt das Ineinandergreifen der Bewegungen. Kursbücher sind die Choreographie einer aufs feinste abgestimmten Bewegung, sie sind die Matrix einer beispiellosen Vergesellschaftung. Nach ihnen bewegen sich jahraus, jahrein Tag für Tag Millionen von Menschen. Sie sind der Index für stilles Funktionieren einer eingespielten Routine. Verstöße gegen sie oder gar ihre Außerkraftsetzung deuten auf Unruhe, auf Störung der Gesellschaftsbeziehungen.

Kursbücher sind die aufschlußreichen Dokumente untergegangener Epochen. Zugfrequenzen sagen etwas über Lebhaftigkeit oder Stillstand von Austausch. Das Verschwinden von Destinationen zeigt uns, daß zu Friedenszeiten erreichbare Orte unerreichbar geworden sind. In den Kursbüchern sind neue Grenzen und neue Grenzstationen eingetragen. Sonderzeichen markieren jene Züge, die für den Transport von Militärpersonal reserviert und nur mit Spezialgenehmigungen zu benutzen sind. Blitzkriege sprengen die Ordnung von Kursbüchern. Und wenn der Krieg zu Ende ist, können nicht einmal die Flüchtlinge mehr auf den Eisenbahnlinien vorankommen. Der Treck geht dann zu Fuß oder zu Pferd neben den zerstörten Gleisen. All dies läßt sich an Kursbüchern ablesen. Kursbücher führen nicht nur Fahrpläne vor, sondern die Geschichtszeit selber. Jede geschichtliche Erschütterung hat in ihnen ihre Spur hinterlassen: der Beginn des Ersten Weltkrieges, die Turbulenzen der Nachkriegszeit, die Normalisierung der zwanziger Jahre, der Zusammenbruch allen europäischen Verkehrs im Zweiten Weltkrieg, der Genozid.

Im »Reichs-Kursbuch« und seiner »Übersicht der Eisenbahn-, Post- und Dampfschiff-Verbindungen in Deutschland, Österreich-Ungarn und in der Schweiz sowie der bedeutenderen Verbindungen der übrigen Teile Europas und der Dampfschiff-Verbindungen mit außereuropäischen Ländern«, bearbeitet im Kursbureau des Reichs-Postamts, erschienen im letzten Friedensjahr 1913 und herausgegeben vom Verlag von Julius Springer, eröffnet sich das Europa der ersten Vorkriegszeit. Zu diesem Europa gehörte der legendäre Nord-Expreß. Der Luxuszug der »Compagnie Internationale des Wagons-Lits« verkehrte seit 1896 und führte ausschließlich Schlaf-, Speise- und Gepäckwagen. »Er verkehrte zunächst einmal wöchentlich: Die Reisenden verließen samstags London um 10 bzw. Paris um 14.15 Uhr, erreichten Berlin am Sonntagmorgen um 8.43 Uhr und Eydtkuhnen um 20.40 Uhr. Nach dem Umsteigen in die russischen Breitspurwagen der CIWL trafen sie am Montagnachmittag um 15.30 Uhr in St. Petersburg ein. Um die Jahrhundertwende fuhr der Express westlich von Berlin täglich, östlich zweimal wöchentlich mit Umsteigen nach St. Petersburg und einmal in der Woche nach Warschau. Ein Luxuszug ›Warschau–Moskau‹ verkehrte, einem zeitgenössischen Bericht zufolge, vom Januar 1909 an.«25

Als im August 1914 die Zugverbindungen eingestellt wurden, endete eine Epoche. Was einmal europäische Routine gewesen war, galt nicht mehr: Es sollte bis zum Jahre 1926 dauern, bis der Nord-Expreß – zunächst bis Warschau und Riga – den Verkehr wieder aufnahm. Nun waren die Städte unerreichbar geworden, die bisherigen Grenzübergänge wurden zu Kriegsgebiet, die Eisenbahnen traten auf beiden Seiten in den Dienst der Mobilmachung.26 Was über die Grenze transportiert wurde, war Geheimsache von Generalstäben, Diplomaten und Revolutionären.

Die Ausgabe des Reichs-Kursbuches vom Frühjahr 1918 zeigt eine wiederum veränderte Szenerie. Rußland taumelte den Wirren des Bürgerkriegs entgegen mit seinen erbitterten Kämpfen um strategisch wichtige Linien und Knotenpunkte, mit Hunderten von Eisenbahnfriedhöfen, gesprengten Brücken und Tausenden von unbrauchbar gewordenen Lokomotiven. Ganz Osteuropa war Herrschaftsgebiet von ›Oberost‹ geworden. Im Reichs-Kursbuch firmieren nun die Zentren Ostmitteleuropas als Destinationen: Kiew, Wilna, Brest-Litowsk, Odessa, Pinsk, Pleskau, Riga und Reval. Eisenbahnknotenpunkte des Russischen Reiches – Orscha und Baranowitschi in Weißrußland etwa – sind dem Kursbuch des Deutschen Reiches einverleibt.27 Orscha hieß im Jargon vielreisender Kenner ›das Bebra des Ostens‹. Zusätze wie »Nur für Militär« oder »Nur für Militärurlauber« zeigen an, daß es sich um besetztes Gebiet handelte. Es gab keine Grenzkontrollpunkte mehr, wohl aber Entlausungspunkte und Quarantänezonen.

Die Staatenwelt Nachkriegseuropas findet Eingang in das Kursbuch mit neuen Grenzen und neuen Grenzübergängen. Das Regime der Pariser Friedensverträge lenkt nun auch die Züge. Wo vor dem Krieg nur eine Grenze zu überschreiten war, sind nun mehrere: die deutsch-polnische, die polnisch-sowjetische oder auf der nördlichen Route: die deutsch-polnische, nach der Fahrt durch den ›Korridor‹ die ostpreußisch-polnische und dann wiederum die Reichsgrenze zu Lettland oder Litauen. Die im Kursbuch vom Mai 1926 angegebenen Grenzübergangsstellen zeigen: Rußland und Deutschland haben keine gemeinsame Grenze mehr. Es gibt wieder einen polnischen Staat und mit ihm die neuen Übergänge Stolpce/​Negoreloje an der polnisch-sowjetischen Grenze.28 Der ›polnische Korridor‹ fordert Völkerrechtler, Verkehrsexperten und Eisenbahnbeamte heraus – und stimuliert zugleich die Entwicklung des Flugwesens, das hilft, unkontrolliert vom Reichsgebiet in die Exklave Ostpreußen zu gelangen. Die neugegründete Lufthansa legt die Strecke von Berlin über Danzig, Königsberg, Kowno und Smolensk nach Moskau in etwa zehn Stunden zurück.

Der Nord-Expreß, wie der Orientexpreß Symbol einer längst vergangenen Reisekultur, verband vor dem Ersten Weltkrieg London und Paris mit Sankt Petersburg. Dieses Plakat aus dem Jahre 1927 warb für den Luxuszug, der nach langer Unterbrechung wieder bis Warschau und Riga fuhr.

Das Kursbuch des Jahres 1933 zeigt, daß ein Machtwechsel eine Institution wie die Eisenbahn noch lange nicht aus dem Gleis wirft. Die Routine ist stärker als die wilde antibolschewistische Ideologie. Die Nazipropaganda gegen den Kommunismus ändert vorerst nichts daran, daß man vom Schlesischen Bahnhof aus auf mehreren Routen Leningrad und Moskau erreichen kann.29

Das letzte zu Friedenszeiten erscheinende Kursbuch wird vom Beginn des Polen-Feldzuges überholt. Der handliche Berliner »ABC-Fahrplan« für den Sommer 1939 soll bis zum 7. Oktober gültig sein. Noch ist ein Zug annonciert, der um 8 Uhr 44 von Berlin abgeht und nach 38 Stunden über Eydtkuhnen, Riga und Reval Leningrad erreicht. Noch ist die Verbindung Berlin–Moskau verzeichnet.30 Doch bevor die Gültigkeitsdauer dieses Kursbuches abgelaufen ist, sind die alten Grenzübergänge verschwunden. Die Reichsgrenze ist nach Osten vorgeschoben, die sowjetische Grenze nach Westen, dazwischen liegt das »Generalgouvernement«. Das alte Brest-Litowsk, wo einmal die Friedensverhandlungen geführt wurden, löst Negoreloje, das die Rußlandreisenden in den zwanziger Jahren passierten, als Grenzkontrollpunkt ab. Auch der verstärkte Güter- und Warenaustausch nach dem deutsch-russischen Wirtschaftsabkommen vom 11. Februar 1940 läuft über die neue, nun gemeinsame Grenze an. »Für den Umschlag von Breit- auf Normalspur wurden zwei leistungsfähige Umladebahnhöfe in Malascewice bei Brest und Zurawica bei Przemyśl gebaut, über die der überwiegende Teil der Transporte lief.« Durchschnittlich fünfzehn Züge werden pro Tag und Richtung abgewickelt.

Noch 1939 beginnt der am 28. September mit der Sowjetunion vereinbarte Bevölkerungsaustausch: Von Mitte Dezember 1939 bis Ende Januar 1940, mitten im strengsten Winter, werden rund 118 000 Volksdeutsche mit Pferden, Großvieh und Wagen aus Wolhynien, Podolien, der Bukowina und Bessarabien durch das Generalgouvernement geschafft und umgekehrt Polen aus den annektierten polnischen Westgebieten ›umgesiedelt‹. Die Eisenbahnen sind hierfür das entscheidende Verkehrs- und Transportmittel.31

Am 22. Juni 1941 wird auch diese Grenze überrannt. Ganz Ostmitteleuropa bis weit nach Rußland hinein wird nun in die Kursbücher und Umlaufpläne der Deutschen Reichsbahn aufgenommen.32 Im Zweiten Weltkrieg steigert sich die Reichsbahn mit der Generaldirektion der Ostbahn in Krakau (Gedob) und der Generalverkehrsdirektion Osten in Warschau (GVD) organisatorisch und technisch zu einer ›Leistungsexplosion‹. Eineinhalb Millionen Menschen arbeiten 1943 für die Reichsbahn, sie wird zum tragenden Verkehrsmittel für den Krieg im Osten und bewältigt bis zu achtzig Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens.33 Die Vorbereitungen für den Einmarsch in die Sowjetunion machen als »größte Eisenbahnmobilmachung der Welt« Technik- und Kriegsgeschichte.3417 000 Züge werden im »Unternehmen Barbarossa« eingesetzt. Brückenköpfe sollen genommen, Brücken gesprengt, Gleise umgespurt werden.

Die Bilder von der Eisenbahn im Osten gleichen sich. Behelfsbrücken, Palisadenschutz gegen Partisanenaktivitäten, Weichenposten an den Brücken, abgeholzte Sicherheitsstreifen. Zeichen des Krieges und der Militarisierung überall: daß die Speisewagen verschwinden, ist noch die harmloseste Änderung. Auch die neuen Uniformen sind eher eine Anekdote wert: »Die blaue Eisenbahneruniform eignete sich wegen ihrer großen Schmutzempfindlichkeit und Erkennbarkeit nur wenig für den rauhen Kriegsbetrieb, besonders im Osten. Ein großer Fehlschlag war die Einführung einer feldgrauen Eisenbahneruniform im besetzten Westen. Mit ihrem vielen Gold in den Rangabzeichen und Uniformknöpfen gab es bei der Truppe peinliche Verwechslungen, so daß sie bald wieder abgeschafft werden mußte. Von da ab wurden feldgraue Uniformen nur noch von Beamten im Führerhauptquartier und in militärischen Hauptquartieren getragen.«35

Die Eisenbahn ist Teil des totalen Krieges geworden. Noch in dem Jahresaufruf an die deutschen Eisenbahner Anfang 1945 heißt es: »Eisenbahner und Eisenbahnerinnen! Das vergangene Jahr hat von dem deutschen Eisenbahner und der deutschen Eisenbahnerin einen Einsatz gefordert, der in Worten kaum gewürdigt werden kann … Das neue Jahr bricht an unter den Zeichen der vorstoßenden deutschen Panzer, der stürmenden Front und der Erfolge der deutschen Flugzeuge. Es wird ein Jahr des deutschen Angriffs. Jetzt gilt es erst recht, zu fahren Rohstoffe für die Rüstung, Ernährung für unser Volk und Waffen und Munition für die stürmende Front.« Die Losung auf Plakaten lautet: »Erst siegen – dann reisen. Denke daran: Räder müssen rollen für den Sieg«.36