Der Duft von Orangen - Megan Hart - E-Book

Der Duft von Orangen E-Book

Megan Hart

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Beschreibung

Wahrheit oder Traum? Emm kann es nicht mehr unterscheiden. Mehrmals am Tag verfällt sie in Trance und tritt eine erotische Zeitreise an - direkt in die Siebzigerjahre. Auf wilden Partys taucht sie ein in das Flower-Power-Gefühl, erlebt Lust und freie Liebe mit dem göttlichen, aufregenden Johnny. Dann trifft sie Johnny auch im wahren Leben. Er ist ihr neuer Nachbar, ein Künstler mit erotischer Vergangenheit. Ein Zufall? Oder steckt mehr hinter Emms erotischen Träumen, als sie ahnt?

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Seitenzahl: 520

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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Megan Hart

Der Duft von Orangen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Collide Copyright © 2011 by Megan Hart erschienen bei: Spice Books, Toronto

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Bettina Lahrs Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-86278-795-1

www.mira-taschenbuch.de

1. KAPITEL

Orangen.

Der Duft von Orangen stieg mir in die Nase. Ich legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls, der mir am nächsten stand, und ließ meinen Blick auf der Suche nach einem Obstkorb über den Tresen gleiten. Nach irgendetwas, das den Geruch erklärte, der in diesem Coffeeshop so fehl am Platz war wie ein Weihnachtsmannkostüm am Strand. Ich konnte jedoch nichts entdecken und atmete tief ein. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, dass es sinnlos war, den Atem anzuhalten.

Es ist leichter, wenn ich einfach weiteratme … es hinter mich bringe …

Der Geruch verschwand schnell wieder. Ein paar Sekunden lang konnte ich ihn noch wahrnehmen, dann wurde er von dem starken Duft von Kaffee und Gebäck verdrängt. Ich hatte an einer Stuhllehne Halt gesucht, aber ich brauchte die Stütze nicht mehr. Bevor ich den Stuhl losließ, sah ich mich kurz um und ging dann die wenigen Schritte bis zur Ecke des Tresens, wo ich Sahne und Zucker in meinen Kaffee gab.

Meine letzte Episode war schon lange her.

Episoden, so nannte ich die Blackouts, die mich seit Kindertagen ganz plötzlich und unerklärlich überfielen. Oft waren sie begleitet von Halluzinationen, kleinen Traumsequenzen, die mir in dem Moment jedoch meistens vollkommen real erschienen. Die letzte Episode vor zwei Jahren war auch nur sehr oberflächlich gewesen, aber die Tatsache, dass diese hier kaum mehr als einen Wimpernschlag gedauert hatte, beruhigte mich nicht. Es hatte Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen die Episoden mich schnell und oft übermannt und vollkommen handlungsunfähig gemacht hatten. Es wäre zu viel verlangt, zu hoffen, sie würden ganz verschwinden. Aber auf keinen Fall wollte ich diese Zeiten noch einmal erleben.

„Hey, Süße! Hallo!“, rief Jen aus der Nische direkt neben der Eingangstür. Sie winkte. „Hier bin ich!“

Ich winkte zurück und schnappte mir einen Löffel zum Umrühren, bevor ich mir einen Weg durch die Stühle und Tische suchte und mich Jen gegenüber setzte. „Hey.“

„Oh, was hast du da?“ Jen beugte sich vor, um in meinen Becher zu schauen, als wenn sie dadurch sehen könnte, was ich bestellt habe. Sie schnupperte. „Swiss Chocolate?“

„Nah dran. Chocolate Delight.“ Das war eines der beiden Tagesangebote des Coffeeshops. „Mit einem Schuss Vanillesirup.“

Jen schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Mhhm, klingt lecker. Mal sehen, was ich heute nehme. Ach ja, was hast du zu essen?“

„Einen Blaubeermuffin. Eigentlich wollte ich den Schoko-Cupcake nehmen, aber dann dachte ich, das ist vielleicht etwas zu viel des Guten.“ Ich zeigte ihr meinen Teller mit dem Muffin.

„Zu viel Schokolade meinst du? Das gibt es gar nicht. Bin gleich wieder da.“

Ich rührte in meinem Kaffee, um den Sirup, den Zucker und die Sahne zu verteilen, nippte daran und genoss die extreme Süße, die nur wenige Menschen mochten. Jen hatte recht: Ich hätte den Cupcake nehmen sollen.

Jen hatte den falschen Moment gewählt, um sich in die Schlange einzureihen. Die Kunden standen in Viererreihen bis zur Eingangstür. Sie warf mir einen genervten Blick zu und zuckte dabei mit den Schultern. Ich konnte nur mitfühlend lächeln.

Bei meiner Ankunft war der Coffeeshop noch ziemlich leer gewesen, weil sich viele Gäste erst einmal einen Tisch gesucht hatten, bevor sie sich anstellten. Ich winkte Carlos zu, der in einer Ecke saß, aber er hatte seinen Laptop vor sich, trug Kopfhörer und reagierte nicht. Carlos arbeitete an einem Roman. Er saß jeden Morgen von zehn bis elf Uhr hier im Mocha, bevor er sich zu seiner Arbeit aufmachte. An Samstagen wie heute blieb er auch gerne einmal länger.

Lisa, deren Rucksack zum Bersten mit Büchern vollgestopft war, setzte sich ein paar Tische entfernt von mir hin und winkte mir zur Begrüßung kurz zu, während Jen mir mit hektischen Bewegungen zu verstehen gab, dass ich sie ignorieren solle. Lisa verdiente sich ihr Jurastudium mit dem Verkauf von Spicefully Tasty-Produkten. Mir machte es nichts aus, dass sie ab und zu versuchte, uns etwas zu verkaufen, aber Jen konnte sie auf den Tod nicht ausstehen. Heute schien Lisa jedoch beschäftigt zu sein. Sie konzentrierte sich ganz darauf, ihre Bücher und einen Block herauszuholen, und spielte bereits nervös mit ihrem Kuli, während sie noch den Mantel auszog.

Wir waren die Stammkunden des Mocha. Es war fast wie eine Art Club. Wir trafen uns morgens vor der Arbeit, abends auf dem Weg nach Hause und an den Wochenenden. Dieser Coffeeshop war mit das Beste daran, in diesem Viertel zu wohnen, und obwohl ich erst seit wenigen Monaten hier lebte, liebte ich es jetzt schon.

Als Jen endlich zu unserem Tisch zurückkehrte, in der Hand einen großen Becher mit einem Getränk, das sowohl nach Minze als auch nach Schokolade roch, und in der anderen einen Teller mit einem saftigen Brownie, hatte sich die Schlange an der Kasse aufgelöst, und es war ein wenig Ruhe eingekehrt. Die Kunden, die öfter herkamen, hatten ihre üblichen Plätze eingenommen, und diejenigen, die nur etwas zum Mitnehmen haben wollten, waren mit ihren Pappbechern schon wieder verschwunden. Das Mocha war jetzt gut gefüllt. In der Luft lag das Summen der Unterhaltung und das Klackern der Laptoptastaturen der Leute, die sich das kostenlose WLAN zunutze machten. Mir gefiel die Geräuschkulisse. Sie machte mir bewusst, dass ich da war. In diesem Moment. In diesem Augenblick, bei vollem Bewusstsein.

„Hat sie heute gar nicht versucht, dir irgendeinen Schmelzkäse oder so zu verkaufen? Vielleicht hat sie den Wink verstanden.“ Jen reichte mir eine Gabel, und auch wenn ich widerstehen wollte, konnte ich nicht anders, als ein Stück von ihrem Brownie zu probieren.

„Ich mag die Sachen von Spicefully Tasty eigentlich ganz gerne“, sagte ich.

„Pffffft!“ Jen lachte. „Hör auf.“

„Nein, wirklich“, beharrte ich. „Sie sind teuer, aber praktisch. Wenn ich jemals wirklich kochen würde, wäre es noch besser.“

„Wem sagst du das. So viel Geld für ein paar Gewürze, die ich mir für zwei Dollar im Laden kaufen und selber zusammenmixen kann. Nicht dass ich das tun würde“, fügte Jen an. „Aber ich könnte.“

„Vielleicht nächsten Monat.“ Ich nippte an meinem sich schnell abkühlenden Kaffee und genoss das reichhaltige, weiche Gefühl der Sahne auf meiner Zunge. „Nachdem ich ein paar Rechnungen bezahlt habe.“

„Du hast Wichtigeres zu tun … oh. Sehr schön. Endlich.“ Jen senkte ihre Stimme beinahe zu einem Flüstern.

Ich wandte den Kopf, um zu sehen, wohin sie schaute. Ich erhaschte einen Blick auf einen langen schwarzen Mantel und einen rotschwarz gestreiften Schal. Der Mann, der beides trug, hatte eine dicke Zeitung unter dem Arm klemmen, was in den Zeiten von Smartphones und Internet ein so seltener Anblick war, dass ich zweimal hinschauen musste. Er sprach mit dem Mädchen an der Kasse, die ihn zu kennen schien, und nahm dann seinen leeren Becher mit zu dem langen Tresen, auf dem die Kaffeekannen zur Selbstbedienung standen.

Im Profil war er einfach hinreißend. Sandblondes, ein wenig zerzaustes Haar, eine scharf geschnittene Nase, die sein Gesicht aber nicht zu sehr dominierte. Kleine Fältchen in den Winkeln seiner Augen, die ich nicht sehen konnte, von denen ich aber vermutete, dass sie blau waren. Sein Mund – die Lippen konzentriert geschürzt, während er sich Kaffee einschenkte und Milch und Zucker dazugab – war gerade voll genug, um verführerisch zu sein.

„Wer ist das?“, fragte ich.

„Süße!“, hauchte sie heiser. „Du weißt nicht, wer das ist?“

„Würde ich dann fragen?“

Der Mann in dem schwarzen Mantel ging so nah an uns vorbei, dass ich seinen Duft wahrnehmen konnte.

Orangen.

Ich schloss meine Augen gegen die zweite Welle des Geruchs. Der Geschmack des Kaffees auf meiner Zunge war so stark, dass er eigentlich alles andere hätte übertönen müssen, doch das tat er nicht. Ich hätte Kaffee und Schokolade riechen müssen, doch ich roch Orangen. Wieder einmal. Ich beugte den Kopf und drückte meine Fingerspitzen auf den magischen Punkt zwischen meinen Augen, der hervorragend gegen Kopfschmerzen half, aber bei einer Episode leider überhaupt nichts bewirkte.

Doch als ich meine Augen wieder öffnete, wirbelten keine Farben am Rand meines Sichtfelds herum, und der Duft von Orangen wurde schwächer, je weiter der Mann sich entfernte. Ich schaute zu, wie er sich an einen Platz am anderen Ende des Coffeeshops setzte. Er klappte die Zeitung auf, breitete sie auf dem kleinen Tisch aus, stellte seinen Kaffeebecher ab und zog den Mantel aus.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Jen beugte sich in mein Blickfeld vor. „Ich weiß, er ist verdammt heiß, aber mein Gott, Emm, du sahst aus, als wenn du gleich ohnmächtig werden würdest.“

„PMS“, sagte ich. „Manchmal wird mir um diese Zeit des Monats ein wenig schwindelig.“

Jen runzelte die Stirn. „Das ist nicht schön.“

„Wem sagst du das.“ Ich grinste, um ihr zu zeigen, dass alles wieder gut war, und zum Glück war es das auch. Kein noch so kleines Zeichen eines erneuten Anfalls, wie er mich vorhin erwischt hatte. Ich roch Orangen, weil der Mann nach ihnen duftete und nicht wegen irgendwelcher falsch geschalteter Nervenzellen in meinem Gehirn. „Wie auch immer. Wer ist er?“

„Das ist Johnny Dellasandro.“

Meine Miene musste meine vollkommene Unkenntnis verraten haben, denn Jen lachte.

„Müll? Das Horror-Kloster? Haut? Komm schon, das sagt dir gar nichts?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Oh Süße, wo bist du nur gewesen? Hattest du in deiner Kindheit kein Kabelfernsehen?“

„Natürlich hatte ich das.“

„Johnny Dellasandro hat in all diesen Filmen mitgespielt. Sie liefen oft im Nachtprogramm. Also wirklich, die Filme gehörten zu jeder guten Pyjamaparty dazu.“

Meine Mom hatte sich stets zu viele Sorgen um mich gemacht, als dass sie mich irgendwo hätte übernachten lassen. Ich durfte immer bis zu meiner üblichen Bettgehzeit auf die Partys, dann kam sie und holte mich ab. Allerdings hatte ich einige Pyjamapartys bei uns zu Hause veranstaltet. „An die Sendung erinnere ich mich. Aber das ist ja schon Ewigkeiten her.“

„Leere Räume?“

Das klang ein wenig bekannter, aber auch nicht wirklich. Ich zuckte mit den Schultern und schaute wieder zu dem Mann. „Hab ich noch nie gehört.“

Jen seufzte und schaute über ihre Schulter hinweg zu ihm. Dann beugte sie sich vor, senkte die Stimme und bedeutete mir, näherzukommen. „Johnny Dellasandro, der Künstler? Er hat diese Porträtserie erstellt, die in den Achtzigern weltberühmt wurde. Leere Räume. So ein bisschen die Mona Lisa der Warhol-Ära.“

Mein Verständnis von Kunst reichte vielleicht gerade mal aus, um ein Bild von Warhol zu erkennen, wenn es neben einem van Gogh oder einem Dalí hing. Aber sicher war ich mir da nicht … „Warhol? Der Typ mit den Suppendosen? Marilyn Monroe?“

„Ja, das ist er. Dellasandros Arbeit war nicht ganz so kitschig, dafür ein wenig mehr Mainstream. Leere Räume war sein Durchbruch.“

„Du sprichst in der Vergangenheitsform. Ist er kein Künstler mehr?“

Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor, und ich tat es ihr gleich. „Nun, er hat eine Galerie in der Front Street: The Tin Angel. Kennst du die?“

„Ich bin schon mal daran vorbeigegangen, ja, aber nie drin gewesen.“

„Das ist seine Galerie. Er arbeitet immer noch selber, stellt aber auch viele lokale Künstler aus.“ Sie deutete auf die Wände des Mocha, an denen ebenfalls Bilder von ortsansässigen Künstlern hingen. Einige davon waren von ihr. „Das, was er in seiner Galerie zeigt, ist wesentlich besser als das hier. Ab und zu hat er sogar mal einen großen Namen darunter. Aber eigentlich geht er es sehr ruhig, sehr unprätentiös an. Zumindest hier in der Gegend. Woraus man ihm kaum einen Vorwurf machen kann.“

„Hm.“ Ich musterte ihn. Er blätterte die Seiten der Zeitung so langsam um, als würde er wirklich jedes einzelne Wort lesen. „Ich frage mich, wie das wohl ist.“

„Was?“

„Berühmt zu sein und dann … nicht mehr.“

„Er ist immer noch berühmt. Nur auf andere Art. Ich kann nicht glauben, dass du nie von ihm gehört hast. Er wohnt übrigens in dem Backsteingebäude unten an der Straße.“

Ich riss meinen Blick von Johnny Dellasandros Rücken los und schaute meine Freundin an. „Welches meinst du?“

„Welches meine ich wohl.“ Jen verdrehte die Augen. „Das hübsche.“

„Was? Wirklich? Wow.“ Ich schaute ihn erneut an. Ich hatte eines der Backsteinhäuser an der Second Street gekauft. Meins war jedoch vom vorherigen Besitzer nur teilweise renoviert worden, und ich würde noch eine Menge Arbeit hineinstecken müssen. Das Haus, von dem Jen sprach, war wunderschön. Das Mauerwerk war perfekt restauriert worden, die neuen Regenrinnen aus Messing blitzten in der Sonne, und akkurat geschnittene Hecken umgaben den parkähnlich angelegten Garten.

„Ihr seid praktisch Nachbarn. Ich kann nicht glauben, dass du ihn nicht kennst.“

„Ich weiß ja kaum, wer er ist“, erwiderte ich, obwohl mir der Titel Leere Räume jetzt, wo ich ein wenig darüber nachgedacht hatte, irgendwie doch bekannt vorkam. „Ich bin mir nicht sicher, dass der Makler ihn als Verkaufsargument erwähnt hat.“

Jen lachte. „Vermutlich nicht, weil er ziemlich zurückgezogen lebt. Er kommt öfter hierher, obwohl ich ihn jetzt schon länger nicht mehr gesehen habe. Aber er spricht mit niemandem und bleibt gerne für sich.“

Ich trank meinen Kaffee aus und überlegte, mir einen kostenlosen Nachschlag zu gönnen. Dann würde ich direkt an ihm vorbeigehen müssen und könnte endlich einmal sein Gesicht sehen. Jen schien meine Gedanken zu lesen.

„Er ist einen zweiten Blick wert“, sagte sie. „Gott weiß, alle Frauen hier haben schamlos die fadenscheinigsten Ausreden bemüht, um immer wieder an seinem Tisch vorbeizugehen. Genau wie Carlos. Ich glaube sogar, Carlos ist der Einzige, mit dem er je gesprochen hat.“

Ich lachte. „Wirklich? Wieso? Steht er auf Männer?“

„Wer, Carlos?“

Ich war mir ziemlich sicher, dass Carlos hetero war, so wie er jeder Frau auf den Hintern starrte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. „Nein, Dellasandro.“

„Ach, Süße!“, seufzte Jen.

Ich mochte es, wenn sie mich so nannte. Als wenn wir schon lange Freundinnen wären und nicht erst seit ein paar Monaten. Es war schwer gewesen, hierher nach Harrisburg zu ziehen. Neuer Job, neue Wohnung, neues Leben – die Vergangenheit lag vermeintlich hinter mir, und doch konnte ich sie nie ganz vergessen. Jen war einer der ersten Menschen, den ich hier kennengelernt hatte. Und zwar genau hier, im Mocha. Sofort hatte sich zwischen uns eine tiefe Freundschaft entwickelt.

„Ja?“ Ich musterte ihn erneut.

Dellasandro befeuchtete die Spitze seines Zeigefingers, bevor er die Zeitungsseite umblätterte. Das hätte nicht so sexy sein dürfen, wie es mir in diesem Moment vorkam. Jens Aufregung schien auf meinen Eindruck von ihm abzufärben, anders konnte ich mir die Faszination nicht erklären, die er auf mich ausübte. Ich hatte ja bisher nur sein Profil gesehen und starrte ihm seit einer Viertelstunde auf den Rücken.

„Wir müssen uns mal zusammen seine Filme anschauen. Dann wirst du schon sehen, was ich meine. Johnny Dellasandro ist … eine Legende.“

„So eine große Legende kann er nicht sein, sonst würde ich ihn ja kennen.“

„Okay“, gab Jen zu. „In gewissen Kreisen ist er eine Legende. Bei den künstlerischen Typen.“

„Ich schätze, ich bin nicht künstlerisch genug.“ Ich lachte und nahm ihr ihren Kommentar nicht übel. Ein paarmal war ich in New York im Metropolitan Museum of Modern Arts gewesen, aber ich gehörte eindeutig nicht zur Zielgruppe.

„Das ist eine Schande. Wirklich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Johnny-Dellasandro-Filme mich für normale Männer versaut haben.“

„Das ist nicht gerade ein Kompliment“, sagte ich. „Und außerdem bezweifle ich, dass es überhaupt so etwas gibt wie einen normalen Mann.“

Jen lachte und brach mit ihrer Gabel ein weiteres Stück von ihrem Brownie ab, wobei sie kurz einen Blick über die Schulter warf. Sie wedelte mit der Gabel herum. „Komm heute Abend zu mir. Ich habe die komplette DVD-Kollektion und zusätzlich einige seiner früheren Filme. Und was ich nicht habe, laden wir uns aus dem Internet herunter.“

„Oh, wie modern!“

Sie grinste und steckte sich den Happen Brownie in den Mund. „Süße, ich werde dich in eine verdammt coole Welt einführen.“

„Und er wohnt gleich hier um die Ecke?“

„Oh ja. Ist das nicht super?“ Jen schaute noch einmal über ihre Schulter.

Falls Dellasandro auch nur ahnte, dass wir ihn mit prüfenden Blicken musterten, so zeigte er es nicht. Er schien niemanden um sich herum wahrzunehmen, las seelenruhig seine Zeitung und trank seinen Kaffee. Langsam blätterte er Seite für Seite um und nutzte manchmal seinen Zeigefinger, um die Zeilen entlangzufahren.

„Ich war mir nicht sicher, dass er es ist, weißt du? Doch eines Morgens kam ich hier rein, und er stand direkt vor mir … Johnny Dellasandro.“ Jen stieß einen glücklichen, vollkommen verknallten Seufzer aus. „Süße, ich bin hier beinahe auf einer Welle meiner eigenen Körpersäfte hinausgesurft.“

Ich hatte gerade einen Schluck getrunken, als sie das sagte, und fing an zu lachen. Eine Sekunde später erstickte ich beinahe, als der Kaffee in meiner Luftröhre anstatt in meinem Magen landete. Keuchend, hustend, mit tränenden Augen hielt ich mir die Hand vor Mund und Nase, aber es war unmöglich, keinen Laut von mir zu geben.

Jen lachte ebenfalls. „Hände hoch! Du musst die Hände hochnehmen, dann hört der Husten auf.“

Meine Mutter hatte das auch immer gesagt. Ich schaffte es, eine Hand ein Stück zu heben, und der Husten wurde schwächer. Ich erntete ein paar neugierige Blicke von anderen Gästen, aber Gott sei Dank keinen von Dellasandro. „Nächstes Mal warne mich bitte vor, bevor du so etwas sagst.“

Sie blinzelte unschuldig. „Bevor ich was sage? Welle meiner eigenen Körperflüssigkeiten?“

Ich lachte wieder, dieses Mal jedoch, ohne zu ersticken. „Ja, genau das.“

„Vertrau mir. Nachdem du seine Filme gesehen hast, verstehst du, was ich meine.“

„Okay, gut. Du hast mich überzeugt. Und ich habe heute Abend auch peinlicherweise noch keine Pläne.“

„Hey, wenn man ein Loser ist, nur weil man an einem Samstagabend nicht ausgeht, dann bin ich auch einer. Wir können gemeinsam Loser sein, Eiscreme essen und über alte Softcore-Kunstfilme in Ekstase geraten.“

„Softcore?“ Ich schaute an ihr vorbei zu Dellasandro, der am Ende seiner Zeitung angekommen war.

„Warte nur ab“, sagte Jen. „Freie Sicht auf alles, Baby.“

„Oh wow. Kein Wunder, dass er mit niemandem sprechen will. Wenn ich dafür berühmt wäre, auf der großen Leinwand meinen Zauberstab geschwungen zu haben, würde ich auch wollen, dass keiner Notiz von mir nimmt.“

Nun war es an Jen, laut zu lachen. Es drehten sich mehr Köpfe um als bei mir, aber Dellasandros war immer noch nicht dabei. Sie fuhr mit dem Finger durch die Schokolade auf ihrem Teller und leckte sie ab.

„Ich glaube nicht, dass es daran liegt. Also ich meine, er protzt nicht damit oder so, aber er schämt sich auch nicht dafür. Wieso sollte er auch. Er hat Kunst produziert.“ Sie meinte es ernst. „Ehrlich. Er und seine Freunde waren als die Enklave bekannt. Man sagt, sie hätten die Art und Weise verändert, wie die Öffentlichkeit Kunst wahrnimmt. Sie haben Kunstfilme gedreht, die in normalen Kinos gelaufen sind. Kinos für Erwachsene, aber trotzdem.“

„Wow.“ Ich hatte keine Ahnung von Kunst, aber was Jen sagte, klang beeindruckend.

Und ich musste zugeben, dass Dellasandro etwas an sich hatte. Vielleicht waren es der lange Mantel und der Schal. Ich stehe auf Männer, die wissen, wie man sich so anzieht, als würden sie keinen großen Wert darauf legen, und dabei unglaublich gut aussehen. Vielleicht war es auch sein Duft nach Orangen, als er an mir vorbeigegangen war. Ein Geruch, den ich normalerweise nicht mochte – ehrlich gesagt, hasste ich ihn sogar, weil er meist eine Episode ankündigte. Vielleicht waren es auch die Nachwirkungen der Halluzination selber, so kurz sie auch gewesen war. Mir ging es danach oft so, dass die Wirklichkeit mir eine Weile lang leuchtender erschien, irgendwie detaillierter als sonst. Es war seltsam, aber selbst wenn die Episode von Halluzinationen begleitet wurde, war aus ihr aufzutauchen oft das intensivere Erlebnis. So eine schlimme Attacke hatte ich seit langer Zeit nicht einmal mehr ansatzweise gehabt, aber mein aktuelles Gefühl war dem sehr ähnlich.

„Emm?“

Erschrocken merkte ich, dass Jen mit mir sprach. Und ich hatte nicht einmal eine Episode als Entschuldigung für meine Unaufmerksamkeit. „Tut mir leid.“

„Also heute Abend bei mir. Ich mache Margaritas, und wir können uns eine Pizza bestellen.“ Sie hielt inne und wirkte ein wenig beunruhigt. „Das klingt irgendwie armselig, oder?“

„Weißt du, was armselig ist? Sich zurechtzumachen und von einer Bar zur anderen zu ziehen, um sich von irgendeinem Typen in einem gestreiften Hemd, der stark nach billigem Aftershave riecht, anmachen zu lassen.“

„Du hast recht. Gestreifte Hemden sind so 2006.“

Wir lachten. Ich war schon ein paarmal mit Jen durch die Bars der Stadt gezogen. Gestreifte Hemden waren immer noch sehr beliebt, vor allem bei jungen Verbindungsstudenten, die Jello-Shots – Wackelpudding mit Wodka – von spärlich bekleideten Promoterinnen kauften, weil sie hofften, die Mädchen würden sie dann für harte Typen halten …

Jen schaute auf die Uhr. „Mist. Ich muss los. Ich treffe mich heute mit meinem Bruder. Wir wollen mit unserer Grandma zusammen Lebensmittel für sie kaufen. Sie ist zweiundachtzig und sieht nicht mehr gut genug, um selber zu fahren. Wenn wir uns nicht um sie kümmern, treibt sie unsere Mutter in den Wahnsinn.“

Ich grinste. „Viel Spaß.“

„Ich liebe sie, aber sie ist echt anstrengend. Deshalb muss mein Bruder mitkommen. Ich sehe dich heute Abend bei mir. So gegen sieben? Es sind eine Menge Filme, da sollten wir nicht zu spät anfangen.“

Ich konnte mir nicht vorstellen, mehr als einen oder zwei der Filme sehen zu wollen, aber ich nickte trotzdem. „Okay. Ich bringe Nachtisch und was zum Knabbern mit.“

„Super. Bis dann.“ Jen stand auf und beugte sich noch einmal vor. „Los, jetzt trau dich endlich, dir nachzuschenken. Schnell, bevor er geht.“

Dellasandro hatte seine Zeitung bereits zusammengefaltet und stand gerade auf. Er zog seinen Mantel an. Ich konnte sein Gesicht immer noch nicht sehen.

„Ich würde dir empfehlen, unauffällig noch ein kleines Weilchen zu warten und direkt hinter ihm hinauszugehen, damit er dir die Tür aufhalten muss“, sagte ich.

„Guter Plan“, meinte Jen. „Zu blöd, dass ich nicht länger warten kann. Ich muss los. Mach du es doch.“

Wir lachten beide, dann ging Jen. Ich schaute ihr hinterher. Dann wanderte mein Blick zu Dellasandro, der gerade seinen leeren Becher zum Tresen zurückbrachte. Mit der Zeitung unter den Arm geklemmt ging er schnurstracks auf die Toiletten im hinteren Bereich des Coffeeshops zu. Das war ein guter Augenblick, um mir Kaffee zu holen, zumal ich dafür bezahlt hatte, aber ich war nicht wirklich in der Stimmung für noch mehr Koffein. Ich hatte keine Pläne – der Tag erstreckte sich vor mir, und nichts drängte mich, das Mocha zu verlassen, und doch hatte ich vergessen, mir etwas zu lesen mitzubringen oder meinen Laptop, um ein wenig im Internet zu surfen. Es gab für mich keinen Grund zu bleiben. Im Gegenteil, mich erwartete ein ganzes Haus voll unausgepackter Umzugskisten. Vermutlich hatte ich auch eine Nachricht von meiner Mutter auf dem Anrufbeantworter …

Ich brachte meine Tasse zum Tresen und ließ meinen Blick lustvoll über die Gebäckauslage schweifen. Ich würde zu Hause einfach ein paar Brownies backen. Selbst gemacht schmeckte immer besser, auch wenn die Brownies im Mocha eine extra dicke Toffeeglasur hatten, von der ich keine Ahnung hatte, wie man sie machte. Trotz des Blaubeermuffins knurrte mein Magen. Kein gutes Zeichen.

„Darf es noch etwas sein?“ Das war Joy, eine der am kürzesten angebundenen Personen, die ich je getroffen hatte. Sie machte ihrem Namen definitiv keine Ehre.

„Nein danke.“ Ich rückte den Riemen meiner Tasche auf meiner Schulter zurecht und dachte, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen und mir ein Sandwich zu machen, bevor ich vollkommen unterzuckerte. Hunger zu haben machte mich nicht nur unleidlich, sondern es begünstigte auch das Entstehen einer Episode. Nachdem ich heute Morgen schon eine durchgestanden hatte, wollte ich nichts tun, was eine weitere Attacke begünstigte. Koffein und Zucker halfen, sie in Schach zu halten, aber ein leerer Magen machte den Effekt wieder zunichte.

Dellasandro erreichte die Tür des Mochas nur Sekunden nach mir. Ich drückte die Glastür auf, was die Glöckchen zum Klingeln brachte, und spürte ihn hinter mir. Ich drehte mich um, eine Hand immer noch an der Tür, damit sie nicht wieder zufiel, und da war er. Schwarzer Mantel. Gestreifter Schal. Blondes Haar.

Seinen Augen waren nicht blau.

Sie waren von einem tiefen, grünlich schimmernden Braun. Sein Gesicht war perfekt, trotz der feinen Fältchen um seine Augen und dem Hauch von Silber, den ich an seinen Schläfen entdeckte. Ich hätte ihn auf Ende dreißig geschätzt, ein paar Jahre älter als ich, aber wenn er seine große Zeit in den Siebzigern gehabt hatte, musste er älter sein. Doch ich hätte es ihm nicht angesehen, nicht einmal jetzt, wo ich es wusste. Sein Gesicht war wunderschön.

Johnny Dellasandros Gesicht war Kunst …

Und ich ließ die Tür direkt hineinfallen.

„Meine Güte“, sagte er und trat einen Schritt zurück.

Seine Stimme – New York pur.

Die Tür schloss sich zwischen uns. Die Sonne spiegelte sich in dem Glas, verbarg ihn im Inneren des Coffeeshops. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, aber ich konnte mir denken, dass er wütend auf mich war.

Ich zog in dem Moment am Türgriff, als er von innen drückte. Der plötzliche Schwung ließ mich ein paar Schritte rückwärts stolpern. „Oh, wow, ich … es tut mir leid.“

Er schaute mich nicht einmal an, sondern ging mit einem unterdrückten Fluch kopfschüttelnd an mir vorbei. Die Kante seiner zusammengefalteten Zeitung schlug gegen meinen Arm. Dellasandro achtete nicht darauf. Der Saum seines Mantels flatterte in einer plötzlichen Windbö, und ich keuchte auf, atmete tief ein, noch tiefer.

Der Duft von Orangen.

„Mom, wirklich, es geht mir gut.“ Ich musste ihr das nicht sagen, weil sie sich dann weniger Sorgen machen würde, sondern weil sie sich definitiv noch mehr aufregte, wenn ich es nicht sagte. „Großes Ehrenwort. Alles ist gut.“

„Ich wünschte, du wärst nicht so weit weggezogen.“ Die Stimme meiner Mutter am anderen Ende der Leitung klang gereizt. Das war normal. Erst wenn sie anfing, ängstlich zu klingen, musste ich mir Sorgen machen.

„Vierzig Minuten sind überhaupt nicht weit weg. So wohne ich näher an meiner Arbeit, und außerdem habe ich ein tolles Haus.“

„In der Stadt!“

„Oh, Mom.“ Ich musste lachen, auch wenn ich wusste, dass das ihre Stimmung nicht verbessern würde. „Harrisburg ist nur theoretisch eine Stadt.“

„Und dann noch mitten im Zentrum. Ich habe in den Nachrichten gehört, dass es nur wenige Straßen von dir entfernt eine Schießerei gegeben hat.“

„Ach ja? Und in Lebanon hat es letzte Woche einen Mord mit anschließendem Selbstmord gegeben. Wie weit ist das noch mal von dir entfernt?“

Meine Mom seufzte. „Emm. Sei bitte ernst.“

„Ich bin ernst, Mom. Ich bin einunddreißig Jahre alt. Es war an der Zeit für mich, diesen Schritt zu gehen.“

Sie seufzte. „Ich schätze, du hast recht. Du kannst nicht immer mein Baby sein.“

„Ich bin schon seit ziemlich langer Zeit nicht mehr dein Baby.“

„Ich würde mich nur wohler fühlen, wenn du nicht alleine wärst. Es war besser, als du und Tony …“

„Mom“, unterbrach ich sie genervt. „Tony und ich haben aus vielen guten Gründen Schluss gemacht, okay? Hör bitte auf, ihn andauernd wieder zum Thema zu machen. Du hast ihn nicht mal sonderlich gemocht.“

„Nur weil ich fand, dass er sich nicht gut genug um dich gekümmert hat.“

Damit hatte sie tatsächlich recht gehabt. Nicht dass ich so viel Fürsorge benötigte, wie sie glaubte. Aber ich wollte nicht mit ihr über meinen Exfreund sprechen. Nicht jetzt … und eigentlich niemals.

„Wie geht es Dad?“, fragte ich stattdessen, damit sie über den anderen Menschen in ihrem Leben sprechen konnte, über den sie sich auch mehr Sorgen machte, als nötig war.

„Oh, du kennst doch deinen Dad. Ich sage ihm immer, er soll zum Arzt gehen und sich gründlich durchchecken lassen, aber er tut es einfach nicht. Er ist jetzt neunundfünfzig, weißt du.“

„Du tust gerade so, als wäre das uralt.“

„Zumindest ist es nicht jung“, erwiderte meine Mom.

Ich lachte und klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr ein, während ich eine der großen Umzugskisten öffnete, die ich in einem der ungenutzten Zimmer untergestellt hatte. Ich war dabei, Bücher auszupacken. Ich wollte aus diesem Raum meine Bibliothek machen und hatte alle meine Bücherregale aufgestellt und abgestaubt. Jetzt musste ich sie nur noch füllen. Das war eine Aufgabe, von der ich wusste, dass ich froh wäre, wenn ich sie erledigt hatte, und doch schob ich es seit Monaten vor mir her.

„Was tust du?“, wollte meine Mom wissen.

„Bücher auspacken.“

„Oh, sei vorsichtig, Emm. Du weißt, das kann Staub aufwirbeln.“

„Ich habe kein Asthma, Mom.“ Ich legte die Lage Zeitungspapier beiseite, die auf den Büchern gelegen hatte. Ich hatte die Bücher nicht so eingepackt, wie sie nachher auf dem Regal stehen sollten, sondern so, wie sie am besten in die Kiste passten. Dieser Karton hier sah aus, als wenn er hauptsächlich Coffeetable-Books enthielt, die ich günstig erworben oder geschenkt bekommen hatte. Bücher, die ich immer schon mal hatte anschauen wollen, aber dann doch nie dazu kam.

„Nein. Aber du weißt, dass du vorsichtig sein musst.“

„Mom, komm schon. Es reicht.“ Langsam wurde ich wütend.

Meine Mom war schon immer eine Glucke gewesen. Mit sechs Jahren bin ich auf dem Spielplatz der Schule vom Klettergerüst gefallen. Das war noch zu einer Zeit, in der die Schulen keinen Mulch oder ein anderes weiches Material zur Polsterung des harten Bodens auslegten. Andere Kinder brachen sich bei so etwas einen Arm oder ein Bein. Ich brach mir den Kopf.

Beinahe eine Woche lang lag ich im Koma – die Ärzte waren sich nicht einig, ob ein Gehirnödem oder eine Gehirnschwellung dafür verantwortlich war. Meine Eltern standen kurz davor, einer experimentellen Operation am offenen Hirn zuzustimmen, als ich meine Augen öffnete, mich aufsetzte und nach einem Eis verlangte.

Die gestörte Koordinationsfähigkeit, die die Ärzte vorhergesagt hatten, trat genauso wenig ein wie der Verlust von Gefühlen in einer oder mehreren Extremitäten. Ich litt auch nicht unter Gedächtnisverlust oder erkennbaren Gehirnschäden. Wenn überhaupt hatte ich eher das Problem, etwas vergessen zu können, aber nicht, mich zu erinnern. Es gab keine langfristigen Nachwirkungen – zumindest keine körperlichen. Und an die Episoden gewöhnte ich mich sehr schnell.

Meine Eltern dachten, sie hätten mich beinahe verloren, und nichts, was ich ihnen über diese Zeit in der Dunkelheit erzählte, konnte sie von etwas anderem überzeugen. Es hatte nicht einmal ansatzweise die Gefahr bestanden, dass ich sterbe. Doch alle meine damaligen Versuche, meiner Mutter das zu erklären, damit sie sich wieder ein wenig entspannte, waren fruchtlos. Sie weigerte sich, mir zuzuhören. Ich schätze, ich konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen. Ich hatte keine Ahnung, wie es war, ein Kind zu lieben, geschweige denn, zu fürchten, es zu verlieren.

„Es tut mir leid“, sagte sie.

Das Gute war, dass meine Mutter wusste, wenn sie zu weit ging. Sie hatte ihr Bestes gegeben, damit ich nicht zu einem ängstlichen Kind heranwuchs, selbst wenn sie dazu ihre Fingernägel bis auf die Nagelhaut abkauen musste und weit vor ihrem vierzigsten Geburtstag graue Haare bekommen hatte. Sie erlaubte mir, alles zu tun, was für meine Unabhängigkeit wichtig war, obwohl sie jede Sekunde davon hasste.

„Du könntest ab und zu herkommen, weißt du. Es ist wirklich nicht so weit. Wir könnten zusammen Mittagessen gehen oder so. Nur du und ich. Ein Mädelstag.“

„Ja, klar. Das könnten wir machen.“ Sie klang schon ein wenig fröhlicher.

Ich glaubte allerdings nicht, dass sie meine Einladung wirklich annehmen würde. Meine Mom mochte es nicht, alleine lange Strecken mit dem Auto zu fahren. Wenn sie käme, würde sie meinen Dad mitbringen. Was nicht heißen soll, dass ich meinen Dad nicht mochte oder ihn nicht sehen wollte. Auf manche Weise kam ich sogar besser mit ihm klar, weil er seine Ängste für sich behielt. Aber mit ihm zusammen wäre es kein Mädelstag, und außerdem wurde er immer schnell unruhig, wenn der Besuch seiner Meinung nach zu lange dauerte und er lieber zu Hause in seinem gemütlichen Sessel vor dem Fernseher säße. Ich habe bis heute kein Kabelfernsehen.

„Ich habe ihn vor ein paar Tagen gesehen, Emm.“

Ich erstarrte in der Bewegung, ein großformatiges Buch über Kathedralen in der Hand. Ich würde die Regalbretter neu anordnen müssen, wenn ich dieses Buch hochkant hineinstellen wollte. Es war dazu gemacht, auf dem Couchtisch zu liegen, gesehen zu werden. Ich blätterte durch die Seiten, überlegte, ob ich es wieder verkaufen sollte. „Wen?“

„Tony“, sagte meine Mom ungeduldig. „Um Himmels willen, Mom!“

„Er sah gut aus. Und er hat nach dir gefragt.“ „Das glaub ich gerne“, sagte ich ironisch.

„Ich hatte das Gefühl, er wollte wissen, ob … ob du dich mit jemandem triffst.“

Ich unterbrach das Auspacken für einen Moment, in der Hand ein weiteres schweres Buch. Ein Flohmarktfund. Ich konnte Schnäppchen einfach nicht widerstehen. Und Bücherschnäppchen schon gar nicht. Selbst wenn es um Themen ging, die mich nicht im Geringsten interessierten. Ich dachte immer, dass ich die schönsten Bilder heraustrennen und rahmen lassen könnte, um sie in meiner Wohnung aufzuhängen. Was der ultimative Beweis dafür war, dass ich wirklich über keinerlei Kunstverständnis verfügte.

„Wie kommt er auf die Idee?“

„Ich weiß es nicht, Emm.“ Pause. „Und, hast du jemanden?“

Ich wollte gerade Nein sagen, da blitze vor meinem inneren Auge das Bild eines schwarzen Mantels und eines gestreiften Schals auf. Der Boden unter mir neigte sich ein wenig. Ich umfasste den Telefonhörer fester. Das Buch war plötzlich zu schwer für meine verschwitzte Hand. Ich ließ es fallen.

„Emm?“

„Alles gut, Mom. Ich habe nur gerade ein Buch fallen lassen.“

Keine wirbelnden Farben, kein Zitrusgeruch, der in meinen Nasenhöhlen brannte. Mein Magen zog sich ein wenig zusammen, aber das konnte von dem italienischen Essen kommen, dass ich vorhin zu mir genommen hatte. Es war schon ein bisschen zu lang im Kühlschrank gewesen.

„Das wäre gar nicht schlecht. Also wenn du jemanden kennengelernt hättest. Ich finde, es ist an der Zeit.“

„Ja, ich werde jeden Mann, den ich treffe, wissen lassen, dass meine Mom meint, ich solle kein Single mehr sein. Das ist bestimmt ein guter Weg, um eine Verabredung zu bekommen.“

„Sarkasmus ist kein attraktiver Wesenszug, Emm.“

Ich lachte. „Mom, ich muss jetzt Schluss machen, okay? Ich will noch diese Kisten auspacken und Wäsche waschen, bevor ich heute Abend zu meiner Freundin Jen gehe.“

„Oh? Du hast eine Freundin?“

Ich liebte meine Mutter. Wirklich. Aber manchmal hätte ich sie erwürgen können.

„Ja, Mutter. Ich habe eine echte Freundin.“

Sie lachte und klang mit einem Mal viel besser als zu Anfang unseres Gesprächs. Das war doch wenigstens etwas. „Gut. Ich bin froh, dass du deine Zeit mit einer Freundin verbringst, anstatt alleine zu Hause zu sitzen. Ich … ich mache mir nur Sorgen um dich, Honey. Das ist alles.“

„Ich weiß. Und ich weiß, dass du nie damit aufhören wirst.“

Wir verabschiedeten uns, indem wir einander sagten, dass wir uns liebten. Ich hatte Freunde, die ihren Eltern nicht sagten, dass sie sie liebten, die diese Worte nach Beendigung der Grundschule nie mehr in den Mund genommen hatten. Ich war froh, dass ich dem nie entwachsen war und dass meine Mutter darauf bestand. Ich wusste, das lag an ihrer Angst, wenn sie es nicht sagte, hätte sie vielleicht die letzte Chance versäumt, ihrem Kind zu sagen, dass sie es liebte. Mir gefiel das.

Das zu Boden gefallene Buch, Cinema Americana, war irgendwo in der Mitte aufgeschlagen, die Bindung so weit aufgebrochen, dass ich einen unglücklichen Seufzer ausstieß. Ich beugte mich hinunter, um es aufzuheben, und stockte. Das Kapitel, das aufgeschlagen war, trug die Überschrift: „Kunstfilme der Siebziger“, darunter erblickte ich das großformatige, hochglänzende Schwarz-Weiß-Porträt eines wahnsinnig schönen Mannes.

Johnny Dellasandro.

2. KAPITEL

Welchen willst du zuerst anschauen? Wonach steht dir der Sinn?“ Jen öffnete die Tür eines Schranks, der ihre umfangreiche DVD-Sammlung beherbergte. Sie fuhr mit der Fingerspitze über die Plastikhüllen, hielt an einer an und schaute über ihre Schulter zu mir. „Willst du es langsam angehen lassen oder dich gleich kopfüber hineinstürzen?“

Ich hatte Cinema Americana mitgebracht, um es ihr zu zeigen, und nun lag das Buch, aufgeschlagen auf der Seite mit Johnnys schönem Gesicht, auf dem Couchtisch. „Aus welchem Film stammt dieses Foto?“

Jen warf einen Blick darauf. „Zug der Verdammten.“

Ich betrachtete das Foto genauer. „Das Bild ist aus einem Horrorfilm?“

„Ja. Der gehört nicht zu meinen liebsten Filmen von ihm. Er ist nicht sonderlich gruselig. Aber“, fügte sie hinzu, „er tritt darin nackt auf.“

Ich hob fragend die Augenbrauen. „Wirklich?“

„Ja. Allerdings ist er leider nicht von vorne zu sehen.“ Sie grinste und beugte sich vor, um einen Film aus dem Regal zu nehmen. „Aber mal ehrlich, diese Siebzigerjahre-Filme aus dem Ausland sind teilweise wirklich ziemlich brutal. Mit viel Blut und Innereien und so – stört dich das?“

Ich hatte so viel Zeit in Krankenhäusern und Notaufnahmen verbracht, dass mich nichts mehr störte. „Nein.“

„Dann also Zug der Verdammten.“ Jen nahm die DVD aus der Hülle, schob sie in den DVD-Player, stellte den Fernseher auf den richtigen Kanal ein und schnappte sich die Fernbedienung, bevor sie sich neben mir auf die Couch fallen ließ. „Die Qualität ist nicht sonderlich gut, tut mir leid. Ich hab die DVD als Schnäppchen in einem Ein-Dollar-Shop geschossen.“

„Du bist ein ziemlich großer Dellasandro-Fan, oder?“ Ich setzte mich etwas anders hin, damit die Popcornschüssel nicht umfiel, und beugte mich vor, um mir noch einmal das Foto anzusehen.

Ich hatte Jen weder erzählt, dass ich Johnny die Tür gegen den Kopf hatten fallen lassen, noch dass ich eine Stunde damit zugebracht hatte, sein Foto anzusehen und mir jede einzelne Linie und Kurve, jedes Grübchen und jede Rundung einzuprägen. Auf dem Bild hatte er sein Haar, das wesentlich länger war als heute, im Nacken zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden. Er sah auf dem Foto jünger aus, was wenig verwunderte, war es doch vor gut dreißig Jahren aufgenommen worden. Aber andererseits wirkte er auch heute nicht besonders alt.

„Er hat sich gut gehalten.“ Jen schaute über meine Schulter, als die ersten leiernden Töne der Filmmusik über die Fernsehlautsprecher ertönten. „Er ist ein klein wenig kräftiger, hat ein paar mehr Fältchen um die Augen. Aber ansonsten sieht er immer noch gut aus. Du solltest ihn mal im Sommer sehen, wenn er nicht diesen langen Mantel anhat.“

Ich lehnte mich auf der Couch zurück und zog meine Knie an mich. „Hast du je mit ihm gesprochen?“

„Oh nein, Süße. Davor habe ich zu große Angst.“ Ich lachte. „Wovor denn genau?“

Mit der Fernbedienung stellte Jen den Ton ab. Bislang waren auf dem Fernseher erst der in Blut tropfender Schrift geschriebene Titel zu sehen gewesen sowie ein Zug, der im Dunkeln über sich zwischen zerklüfteten Bergen hindurch windende Schienen fuhr. „Ich würde sofortigen Sprechdurchfall bekommen.“

„Sprech… igitt.“

Sie lachte und legte die Fernbedienung beiseite, um sich eine Handvoll Popcorn zu nehmen. „Ehrlich. Ich habe mal Shane Easton getroffen. Weißt du, der Sänger von den Lipstick Guerrillas?“

„Äh, nö?“

„Sie haben in dem Jahr im IndiePalooza in Hershey ein Konzert gegeben, und mein Freund hatte Backstagepässe ergattert. Zehn oder fünfzehn Bands traten damals auf. Es war heiß wie in der Hölle. Wir haben Bier getrunken, weil der Becher nur eins fünfzig gekostet hat und Wasser vier Dollar die Flasche. Sagen wir einfach, ich war ein wenig betrunken.“

„Und? Was hast du zu ihm gesagt?“

„Es könnte sein, dass ich ihm gesagt habe, ich würde ihn gerne reiten wie einen Zuchthengst. Oder so was in der Art.“

„Oh, wow.“

„Ja, ich weiß.“ Sie seufzte dramatisch und öffnete eine Dose Cola light. „Nicht mein hellster Moment.“

„Ich bin sicher, es hätte noch schlimmer kommen können.“

„Ja, und ich weiß auch, wie. Nämlich anstatt ihn nie wieder zu sehen, ihm alle naslang im Coffeeshop und im Supermarkt über den Weg zu laufen“, sagte Jen und schaltete den Ton des Fernsehers wieder ein. „Deshalb hüte ich mich davor, in Johnny Dellasandros Nähe auch nur ansatzweise den Mund zu öffnen.“

Der Zug – ich nahm an, es war derjenige der Verdammten – stieß einen schrillen Pfiff aus, dann folgte ein Schnitt ins Innere, wo eine Gruppe Menschen zusammensaß, die nach der Mode der Siebziger gekleidet waren. Eine Frau mit einem beigefarbenen Catsuit, toupierten Haaren und einer Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht verdeckte, winkte mit einer Hand, deren Finger sie vor lauter Ringen kaum bewegen konnte. Der Kellner folgte ihrer Aufforderung und schenkte ihr ein Glas Wein ein. Der Zug wackelte, er verschüttete den Wein. Der Kellner war Johnny.

„Sieh doch hin, was du tust, du Dummkopf!“ Die Frau sprach mit einem schweren Akzent. Vielleicht italienisch? Ich war mir nicht sicher. „Du hast meine Lieblingsbluse bekleckert.“

„Tut mir leid, Ma’am.“ Seine Stimme war tief und volltönend und … durch ihren New Yorker Akzent in diesem Film vollkommen fehl am Platz.

Ich kicherte. Jen warf mir einen bösen Blick zu. „Es wird besser, wenn er sie mit in den Schlafwagen nimmt und ordentlich durchvögelt.“

Nun kicherten wir beide, aßen Popcorn, tranken Cola und machten uns über den Film lustig. Soweit ich das beurteilen konnte, wurde der Zug verflucht, als er in einen Tunnel fuhr, der irgendwie ein Eingang zur Hölle war. Es gab keine Erklärung, warum das passierte – zumindest keine, die sich mir erschloss. Aber da der Film ab und zu unerklärlicherweise ins Italienische mit ganz schlecht übersetzten Untertiteln wechselte, wobei Johnny seltsamerweise eine sehr hohe Synchronstimme hatte – war es gut möglich, dass ich den entscheidenden Punkt verpasst hatte.

Es war aber auch egal. Der Film war unterhaltsam, mit viel Blut und Innereien, wie Jen versprochen hatte. Aber auch mit vielen ansehnlichen Szenen. Johnny entledigte sich zum Schluss seiner Kellneruniform, um gegen mit Latex bekleidete Dämonen zu kämpfen. Ohne Hemd und in Blut gebadet, das Haar glatt aus der Stirn gestrichen, war er einfach atemberaubend.

„‚Fahrt zur Hölle‘, sagte ich!“

Es war eine klassische Zeile, die Johnny mit seinem starken Akzent sprach und mit einem Schuss aus seinem Gewehr begleitete, der die Dämonen in winzige, tropfende Einzelteile zerlegte. Danach folgte eine ausführliche Liebesszene zwischen ihm und der Frau in dem Catsuit, zu der schwülstige Pornomusik spielte. Der Film endete damit, dass die Frau mit einem Dämonenbaby schwanger war, das ihre Innereien zerriss und versuchte, seinen Vater anzugreifen.

„Also … Johnny war … der Teufel?“

Jen lachte und kratzte mit den Fingernägeln über den Boden der leeren Popcornschüssel. „Ich glaube schon. Oder der Sohn des Teufels oder so.“

Der Abspann lief. Ich trank meine Cola aus. „Wow. Das war mal was.“

„Ja. Ganz schön schlecht, oder? Aber die Sexszene war heiß.“

Das stimmte. Trotz der Pornomusik, der dummen Spezialeffekte und dem geschickt platzierten Kissen, das jeglichen Blick auf Johnnys Geschlechtsteil blockierte, den unrasierten Urwald der Frau jedoch in voller Größe zeigte. Er hatte sie geküsst, als schmecke sie unglaublich köstlich.

„Gut gespielt“, sagte ich.

Jen schnaubte und stand auf, um die DVD aus dem Player zu nehmen. „Ich glaube nicht, dass es gespielt war. Ich meine, er ist als Künstler sehr viel besser, als er je als Schauspieler war. Und so wie er küsst … in beinahe jedem seiner Filme fickt er jemanden. Ich glaube nicht, dass da viel geschauspielert wird. Das ist alles einhundert Prozent Johnny.“

„Wann hat er überhaupt all die Filme gedreht?“ Ich stand ebenfalls auf und streckte mich. Der Film war nicht lang gewesen, etwas über eine Stunde, aber er hatte sich wesentlich länger angefühlt.

„Weiß nicht.“ Jen zuckte mit den Schultern. „In den Siebzigern hat er eine ganze Reihe gemacht und dann aufgehört. War wie vom Erdboden verschwunden. Später kehrte er als Künstler zurück und hat seitdem nur bei ein oder zwei Sachen mitgemacht, soweit ich weiß. Gastauftritte in Fernsehserien und so. Er ist sogar in einer Folge von Familienbande aufgetreten. Kannst du dir das vorstellen?“

„Hat er jemanden gefickt?“

„Ja, tatsächlich.“ Jen lachte. „Aber ich glaube, sie haben seinen Schwanz nicht gezeigt. Wenn du den sehen willst, musst du dir … das hier anschauen.“

Sie holte eine DVD hervor, die ein schlichtes schwarzrotes Cover hatte, auf dem nur ein Wort stand. Müll. Während sie weitersprach, schob sie sie in den Player.

„Okay, ich werde dir im Vorfeld nichts über diesen Film verraten. Ich will dir die Erfahrung nicht kaputt machen.“

„Das klingt schlimmer als Zug der Verdammten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Schau ihn dir einfach an. Du wirst schon sehen.“

Und so schauten sie den zweiten Film.

Müll hatte noch weniger Handlung als der vorige Film. Grob gesagt ging es um eine Gruppe Außenseiter, die in einem Apartmenthaus lebten – ähnlich wie bei Melrose Place. Es war der typische Gebäudekomplex, wie man ihn aus so vielen Filmen kannte, die in Kalifornien gedreht worden waren – ein paar bläulich oder grün gestrichene Häuser, die einen Pool umrahmten. In dem Film hieß diese Anlage Cove. Die Leitung hatte eine Hausmeisterin, von der ich sicher war, dass sie von einem dreihundert Pfund schweren Kerl in Frauenkleidern gespielt wurde. Die anderen Bewohner waren die schlampige, heroinabhängige Sheila, der geistesgestörte Porzellanpuppensammler Henry, die unverheiratete Mutter Becky und ein paar andere Nebencharaktere, die keine Namen hatten, aber ständig ein und aus gingen.

Und natürlich Johnny.

Er spielte … Johnny. Männliche Prostituierte. Das Tattoo auf seinem Arm war krumm und schief, wie selbst gemacht: Johnny.

„Ich frage mich, ob er in jedem seiner Filme Johnny heißt“, überlegte ich laut und erntete ein sofortiges „Pst“ von Jen.

Vom Drehbuch und den Schauspielern her war es kein guter Film. Ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt ein Drehbuch gegeben hatte. Mir kam das alles sehr improvisiert vor, was bedeutete, dass auch nicht sonderlich viel geschauspielert wurde. Es wirkte eher wie eine Gruppe von Freunden, die sich eines schönen Samstagnachmittags mit einer Videokamera und einer Tüte voll Gras hingesetzt hatten, um einen Film zu machen.

„Ich denke, das kommt der Wahrheit ziemlich nahe“, meint Jen, als ich ihr meine Theorie erläuterte. „Aber mein Gott, sieh dir diesen göttlichen Hintern an.“

Johnny war die meiste Zeit über nackt. Irgendetwas war da mit einem Deal, der falsch lief, einer Überdosis, einer Fehlgeburt. Eine Leiche lag im Pool und wurde dann in den Müll gesteckt – daher der Name des Films, Garbage. Ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, worum es wirklich ging.

Das Einzige, was ich sah, war Johnny Dellasandro. Sein Arsch. Sein Sixpack. Seine Brustmuskeln. Seine göttlichen Brustwarzen. Er war gebaut wie ein Adonis, muskulös und schlank … und goldbraun. Wow. Er war nackt und sonnengebräunt, hatte gerade genug Haare, um männlich zu wirken, aber nicht so viele, dass es aussah, als müsste erst der Gärtner kommen, um den Weg zu seinem Schwanz frei zu schneiden.

Und er fickte wirklich jeden in diesem Film.

„Sieh dir das an“, murmelte Jen. „Ich wette, er vögelt sie wirklich.“

Ich neigte den Kopf, um besser sehen zu können. „Ich denke … wow. Das ist … Ist er steif? Krass! Er hat einen Steifen. Guck dir das an!“

„Ich weiß“, quiekte Jen und umklammerte meinen Unterarm.

Ich war beim Anblick seiner Erektion so aufgeregt gewesen wie nicht mehr seit meiner ersten Party in der achten Klasse, wo ich bei dem Spiel Wahrheit oder Pflicht mit Kent Zimmerman im Schrank verschwinden durfte. Mein Magen kribbelte wie vor dem ersten Anstieg in der Achterbahn. Hitze brannte in meiner Brust und meiner Kehle, stieg in meine Wangen.

„Wow“, sagte ich. „Das ist … einfach wow.“

„Süße, ich weiß, was du meinst. Beeindruckend, oder? Und warte … da! Jaaaaa.“ Jen ließ sich rückwärts in die Kissen sinken. „Voll von vorne.“

Die Szene war kurz, aber eindrucksvoll. Johnnys Schwanz in all seiner Pracht. Er sprach im Gehen, und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich versuchen wollte, zu verstehen, was er sagte, oder ob ich einfach meine perverse Seite akzeptieren und gebannt auf seinen Steifen starren sollte.

„Das ist mal ein Penis“, sagte ich voller Bewunderung.

„Du sagst es.“ Jen seufzte glücklich. „Der Mann ist so verdammt schön.“

Ich riss meinen Blick vom Fernseher los und schaute sie an.„Ich kann nicht glauben, dass du so sehr auf ihn stehst und noch nie mit ihm gesprochen hast. Sprechdurchfall hin oder her. Es muss doch auf jeden Fall den Versuch wert sein.“

Jen schüttelte den Kopf. Johnny war im Moment nicht im Bild, also verpassten wir gerade nichts Wichtiges.

„Was soll ich denn sagen? ‚Hey Johnny, ich bin Jen und übrigens, ich liebe deinen Schwanz so sehr, ich habe ihn auf meinen Weihnachtswunschzettel geschrieben‘?“

Ich lachte. „Was? Glaubst du etwa, das würde ihm etwas ausmachen?“

Sie verdrehte die Augen. „Ist er verheiratet?“

„Nein. Ich glaube nicht. Ehrlich gesagt, abgesehen von den Filmen weiß ich gar nicht so viel über ihn.“ Jen runzelte die Stirn.

Ich konnte nicht aufhören zu lachen. „Na, du bist mir ja eine Stalkerin.“

„Ich bin keine …“, sie warf ein Kissen nach mir, „Stalkerin. Ich weiß nur einen schönen Körper zu schätzen. Ist das so verkehrt? Und ich mag seine Kunst. Ich habe mir eine seiner Arbeiten gekauft“, fügte sie hinzu, als würde sie ein Geheimnis preisgeben.

„Echt?“

Sie nickte. „Ja, echt. Seine Galerie ist echt cool. Viele nette kleine Sachen, nicht zu teuer. Und im Hinterzimmer hat er verschiedene Sammlungen. Vor ein paar Jahren hat er seine Arbeiten gezeigt. Das tut er nicht immer. Ich meine, seine Sachen sind normalerweise zwischen den ganzen anderen, aber er stellt sie ganz selten gesondert aus, weil er nicht den Eindruck erwecken will, dass sie etwas Besonderes sind.“

Ich war noch nie in einer Kunstgalerie gewesen, also hatte ich keine Ahnung, aber ich nickte trotzdem. „Kann ich es sehen?“

„Sicher. Es ist in meinem, äh, Schlafzimmer.“

Ich lachte wieder. „Warum? Ist es anrüchig?“

Ich kannte Jen noch nicht so lange, nur die paar Monate, seitdem ich in die Second Street gezogen war. Ich hatte sie bisher noch nie peinlich berührt oder schüchtern erlebt. Sie war mit allem ziemlich locker, was mit ein Grund war, warum ich sie so toll fand. Als sie mir nun also nicht in die Augen schauen konnte und dieses kleine, schamhafte Kichern von sich gab, hätte ich beinahe gesagt, dass sie es mir nicht zeigen musste, wenn sie es nicht wollte.

„Nein, es ist nicht anrüchig“, sagte sie.

„Okay.“ Ich stand auf und folgte ihr den kurzen Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer.

Jens Wohnung war im Ikea-Stil eingerichtet. Viele gerade, moderne Möbel, die alle zusammenpassten und das Beste aus dem wenigen vorhandenen Platz herausholten. Ihr Schlafzimmer war genauso. Weiß gestrichen mit passenden petrolfarbenen und limonengrünen Akzenten auf Bett und Vorhängen. Ihre Wohnung befand sich in einem alten Gebäude, dessen Wände alle nicht sonderlich gerade waren. Eine war sogar gebogen und hatte Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten und auf die Straße hinausgingen. An einer Wand hingen einige ihrer eigenen Gemälde. Auf der anderen Seite gab es mehrere gerahmte Poster, die selbst ich, der Kunstmuffel, erkannte – Sternennacht, Der Schrei.

In ihrer Mitte hing ein kleines Schwarz-Weiß-Foto, vielleicht zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter, in einem schmalen roten Rahmen. Der Künstler hatte das Bild mit dicken, dreidimensionalen Pinselstrichen nachgemalt, was die Umrisse des Gebäudes, das ich als die John Harris Mansion von der Front Street wiedererkannte, hervorhob. Ich hatte viel Zeit damit verbracht, mir anzuschauen, was Menschen als Kunst bezeichneten, und mich immer gefragt, warum zum Teufel sie das so empfanden, aber bei diesem Bild musste ich keine Sekunde darüber nachdenken.

„Wow.“

„Ich weiß. Cool, oder?“ Jen ging zur Wand und stellte sich direkt vor das Bild. „Ich meine, man schaut es an, und es ist eigentlich nichts Besonderes. Aber trotzdem hat es etwas an sich …“

„Ja.“ Das hatte es definitiv. „Und es ist noch nicht mal pornografisch.“

Sie lachte. „Stimmt. Ich habe es hierhin gehängt, weil es mir gefällt, es morgens als Erstes zu sehen. Klingt das komisch? Oh mein Gott, das klingt total komisch.“

„Nein, tut es nicht. Ist es das einzige Bild, das du von ihm hast?“

„Ja. Echte Kunst ist teuer, auch wenn er hierfür einen ziemlich moderaten Preis verlangt hat.“

Ich wusste nicht, was in diesem Zusammenhang moderat war, und es kam mir ein wenig zu indiskret vor, sie danach zu fragen. „Es ist ein wirklich schönes Bild, Jen. Und er ist als Künstler echt gut.“

„Ja, das ist er. Siehst du … das ist noch ein Grund, warum ich nicht mit ihm spreche.“

Ich neigte den Kopf und lächelte sie an. „Warum? Weil du nicht nur seinen Hintern, sondern auch seine Kunst magst?“

Jen kicherte. „Ja, so ungefähr.“

„Ich verstehe das nicht. Du findest ihn super heiß, du bist ein großer Fan … warum sagst du nicht einfach mal etwas?“

„Weil es mir lieber wäre, dass er einen Blick auf eine meiner Arbeiten wirft und sie gut findet, ohne dass er mich als die Frau kennt, die nicht aufhören kann, von ihm zu schwärmen. Ich möchte von ihm als Künstlerin respektiert werden, aber das wird nicht passieren.“

Ich trat an die Wand, an der ihre Bilder hingen. „Warum nicht? Du bist auch gut.“

„Und du hast keine Ahnung von Kunst, weißt du noch?“ Diese Bemerkung klang nicht bösartig, sondern eher liebevoll. Sie trat neben mich. „Meine Werke werden niemals in einem Museum hängen. Ich denke auch nicht, dass jemals jemand einen Wikipedia-Eintrag über mich erstellen wird.“

„Das kann man nie wissen“, erwiderte ich. „Glaubst du, Johnny Dellasandro hat beim Dreh der Filme damals gewusst, dass er eines Tages berühmt dafür sein würde, seinen Hintern in die Kamera zu halten?“

„Es ist ein ziemlich einmaliger Hintern. Komm, sehen wir uns noch einen Film an“, sagte sie.

Um zwei Uhr morgens hatten wir es geschafft, noch genau einen Film anzuschauen. Das lag daran, dass wir bei so vielen Szenen angehalten und zurückgespult hatten, um sie uns ein zweites und drittes Mal anzusehen.

„Warum haben wir diesen hier nicht als Erstes geguckt?“, wollte ich wissen, nachdem wir das dritte Mal zugesehen hatten, wie Johnny mit seiner Zunge am nackten Körper einer Frau hinunterglitt.

Jen drohte mir mit der Fernbedienung. „Süße, man muss sich da langsam herantasten. Du kannst nicht einfach mit so etwas hier anfangen. Davon kannst du im Zweifel einen Hirnschlag erleiden.“

Ich lachte, wobei die Tatsache, dass ich eventuell tatsächlich ein Aneurysma hatte, das mich jederzeit töten konnte – egal was die Ärzte sagten – den Witz einen Tick weniger lustig machte. „Zeig das noch mal.“

Sie spulte eine halbe Minute zurück und ließ die Szene erneut ablaufen. Johnny nannte die Frau eine dreckige Hure, was mit seinem Akzent eher süß als böse klang.

„Das ist so falsch“, sagte ich, wobei ich wie gebannt zuschaute, wie Johnny auf dem Bildschirm mit seinem Mund wieder über ihren nackten Körper fuhr, über ihre Schenkel, sich dann aufrichtete, sie an den Haaren packte und sie herumdrehte. „Das sollte mir nicht gefallen, oder?“

„Süße, ergib dich einfach“, sagte Jen träumerisch.

Im Film nannte er sie erneut eine Hure, sagte ihr, sie wäre schmutzig, dreckig. Dass sie es verdiente, so gefickt zu werden. Dass es ihr doch gefiel, von ihm so hart rangenommen zu werden.

„Gott.“ Ich wand mich ein wenig. „Das ist …“

„Heiß, oder?“ Jen seufzte. „Sogar mit den abgefahrenen Siebzigerjahre-Koteletten.“

„Auf jeden Fall.“

Wir schafften es zum Ende des Films, und ich hatte mal wieder keine Ahnung, worum es gegangen war. Ich wusste nur, dass Johnny die Hälfte der Zeit über nackt gewesen war und mit den meisten anderen Darstellern Sex gehabt hatte – den weiblichen wie den männlichen. Und dass ich ganz dringend etwas Zeit für mich brauchte …

„Noch einen?“ Jen stand auf, und ich erhob mich ebenfalls.

„Ich muss nach Hause. Es ist schon spät. Und wenn wir morgen zu lang schlafen, schaffen wir es nicht rechtzeitig in den Coffeeshop und verpassen ihn womöglich.“

„Oh, Emm.“ Jen blinzelte feierlich. „Ich habe dich angesteckt, oder?“

„Wenn es eine Krankheit ist“, erwiderte ich, „dann will ich kein Gegenmittel dafür haben.“

Jen wohnte so nah, dass ich eigentlich zu Fuß zu ihr hätte gehen können. Tagsüber oder bei gutem Wetter war das auch kein Problem. Aber mitten in einem extrem kalten Winter und in einer Nachbarschaft, die nicht gerade zu den besten der Stadt zählte, war ich die paar Blocks lieber mit dem Auto gefahren. In meiner Straße angekommen, war mein üblicher Parkplatz besetzt, vermutlich von der Freundin des Typen, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Grummelnd fuhr ich die Straße hinunter, um jemand anderem den Parkplatz wegzunehmen. Ich hoffte, dass ich am nächsten Tag keine fiese Nachricht unter meinem Scheibenwischer finden würde. Da es hier nur eine sehr begrenzte Anzahl von Parkplätzen gab, konnte der Kampf um sie manchmal recht brutale Züge annehmen.

Das Schicksal meinte es aber anscheinend gut mit mir, denn als ich aus dem Auto ausstieg, erkannte ich, dass ich beinahe direkt vor Johnny Dellasandros Haus geparkt hatte. Im zweiten Stock brannte noch Licht. Die meisten Häuser in dieser Straße hatten den gleichen Grundriss. Wenn er im Inneren nicht umfassende Umbauten vorgenommen hatte, musste das eins der Schlafzimmer sein. Ich hatte vor, dieses Zimmer in meinem Haus irgendwann zum Hauptschlafzimmer mit angeschlossenem Bad umzubauen. Da er mit dem Umbau seines Hauses schon fertig war, nahm ich an, bei ihm war es schon so.

Johnny Dellasandro in seinem Schlafzimmer. Ich fragte mich, ob er wohl nackt schlief. Ich war mir nicht sicher, ob das, was ich fühlte, dem gleichkam, was Jen als Surfen auf ihren eigenen Körpersäften beschrieben hatte, aber ich verspürte definitiv ein leichtes Pochen in meiner Klit. Auf dem Weg zu meinem Haus gab ich mich fröhlich meinen Fantasien über Johnny hin.

Es gab keinen bestimmten Rhythmus oder Grund für eine Episode. Die Sachen, die bei anderen Leuten Anfälle, Migräne oder Narkolepsie auslösten, waren für mich nur zufällige Trigger. Was gut war, weil ich so nicht darauf achten musste, intensive Gefühle zu vermeiden oder keine Schokolade zu essen oder sonst irgendetwas. Schlecht war nur, dass ich eben nicht wusste, was genau eine Episode auslöste und so jedes Mal ohne Vorwarnung von ihr erwischt wurde. Ich konnte ihre Auslöser nicht vermeiden, selbst wenn ich es gewollt hätte.

Seit knapp zwei Jahren hatte ich keine Episode mehr gehabt. Doch jetzt verriet mir der Duft von Orangen, dass ich die dritte innerhalb von vierundzwanzig Stunden erleben würde.

Ab ins Badezimmer. Zähne putzen. Ich starrte mein Spiegelbild an, doch was ich sah, war Johnnys Gesicht, während er eine Frau liebte, die die gleiche Haarfarbe hatte wie ich. Die gleichen Augen. Meine Brüste unter seinen Händen, meine Klit unter seiner Zunge.

Ich starrte in den Spiegel und glitt dann, wie die Alice aus Lewis Carrolls Roman, … hindurch …

„Pass doch auf, was du tust. Du hast meinen Kaffee verschüttet.“ Ich sage das mit einem starken Akzent. Es ist nicht meine eigene Stimme, aber sie fühlt sich auch nicht fremd an. Sie passt bequem auf meine Zunge und meine Lippen und meine Zähne. Sie fühlt sich sexy an.

„Tut mir leid, Ma’am.“ Der Kellner tupfte meinen Oberschenkel mit einem weißen Handtuch ab. Seine Finger streifen zu nah an meinem Bauch entlang, verweilen dort einen Tick zu lang. „Lassen Sie mich das sauber machen.“

„Ich denke, dafür musst du mich entschädigen.“ Ich verziehe bei diesem Satz keine Miene und werfe mein dickes, dunkles Haar über die Schulter.

„Ma’am?“ Er ist nicht dumm, dieser junge Mann in der weißen Kellnerjacke.

Der Zug unter uns vibriert.

„Komm später in meine Kabine und sei darauf vorbereitet, mich angemessen zu entschädigen.“

Seine Antwort ist ein Lächeln. Ich beende mein Mahl ebenfalls lächelnd, was es etwas schwierig macht, das Essen zu genießen. Ich habe aber sowieso keinen Appetit mehr. Zumindest nicht auf Abendessen.

Deshalb stehe ich auf und begebe mich in meine Kabine, wo ich auf ihn warte. Es klopft. Als ich die Tür öffne, steht er davor. Nicht in seiner Kellneruniform, sondern in einer dunklen Hose und einem verwaschenen Leinenhemd. Die Bekleidung eines Bauern, aber das ist mir egal. Bauern sind großartige Liebhaber.