Der Dünenteufel - R.P. Hahn - E-Book
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R.P. Hahn

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Beschreibung

Ein fesselnder Rügen-Krimi – spannend bis zur letzten Zeile

Hochsaison auf Rügen. Da verschwindet Anneliese, eine junge Einheimische, vom Badestrand. Am nächsten Tag taucht sie wieder auf, verstört, sprachlos und ohne Erinnerung an das, was mit ihr geschehen ist. In ihrem Blut werden Spuren einer starken Droge gefunden. Polizeihauptmeister Mike Kramer, der Leiter der Polizeistation in Putbus, tut die Sache als einen weiteren Fall jugendlichen Übermuts ab. Sein Kollege Jens Lackner jedoch hat Vorbehalte, insbesondere weil Annelieses ältere Schwester an eine Vergewaltigung glaubt. Da verschwindet eine zweite Frau vom belebten Badestrand. Auch sie erscheint am nächsten Tag verwirrt und nicht ansprechbar wieder auf der Bildfläche. Jens Lackner beginnt entgegen der klaren Anweisung seines Vorgesetzten in der Sache zu ermitteln und bald bewahrheitet sich seine schlimmste Befürchtung: Auf Rügen geht ein Serientäter um ...

»Ich liebe Krimis, die auf Inseln spielen. Die Geschichte ist so spannend und fesselnd, dass ich das Buch schwer weglegen konnte.« ((Leserstimme auf Netgalley))

»Nichts für schwache Nerven, eine harte Geschichte mit einigen überraschenden Wendungen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1. Kapitel – Pension Seerose

2. Kapitel – Ein neuer Fall

3. Kapitel – Ein unerwartetes Angebot

4. Kapitel – Gerichtsmedizin

5. Kapitel – Chrom

6. Kapitel – Gesa

7. Kapitel – Teambesprechung

8. Kapitel – Paula

9. Kapitel – DNA

10. Kapitel – Hunger

11. Kapitel – Justin

12. Kapitel – Die Profilerin

13. Kapitel – Der Brief

14. Kapitel – Das Dossier

15. Kapitel – Sagard

16. Kapitel – Die alte Zeit

17. Kapitel – Esther

18. Kapitel – All in

19. Kapitel – Konsequenzen

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1. KapitelPension Seerose

Die Polizisten Jens Lackner und Mike Kramer waren auf dem Weg nach Puddemin. Sie boten ein sehr gegensätzliches Erscheinungsbild. Während der ranghöhere Polizeihauptmeister eine athletische Statur hatte, muskelbepackt daherkam und seinen Partner um einen halben Kopf überragte, war der semmelblonde Jens Lackner eher schmächtig und strahlte eine sensible Natur aus.

Die Beamten hatten den Anruf eines Ferienhausbesitzers erhalten, es ging um einen Einbruch in der Nähe des Hafens. Der oder die Täter hielten sich offenbar noch im Haus auf. Deswegen hatten sich die Kontaktbeamten der Putbuser Polizeistation in voller Kampfstärke auf den Weg gemacht. Sie waren jedoch nicht sonderlich besorgt. Auf dieser verschlafenen Urlaubsinsel gab es in der Regel nur Ordnungswidrigkeiten oder Kleindelikte. Der Einbruch würde sich mit großer Wahrscheinlichkeit als Missverständnis oder die Verfehlung eines Betrunkenen herausstellen.

Jens Lackner war bester Stimmung. Seine Beförderung zum Polizeiobermeister war früher gekommen als gedacht. Natürlich war alles sehr schnell gegangen, seit seine Dienststelle den Serienmörder Georg Kattow aus dem Verkehr gezogen hatte. Obwohl das in erster Linie Richard Dreifürsts Verdienst gewesen war, hatte sich die Polizeistation Putbus im Glanz dieser Festnahme sonnen können. Stationsleiter Oetzmann war ein Jahr später befördert worden und arbeitete nun seit Längerem im Polizeipräsidium von Rostock, während Mike Kramer zum »vorläufigen« Chef in Putbus aufgerückt war. Jetzt führte er die Polizeistation schon fast zwei Jahre, so viel zum Thema »vorläufig«.

Kramer ließ es bei der Arbeit gerne ruhig angehen und hatte durchblicken lassen, dass er es so bis zur Pension würde aushalten können, wenn sein Gehalt nicht so niedrig gewesen wäre. Jens hatte einige Gespräche mit Vorgesetzten in der Stralsunder Polizeiinspektion gehabt. So, wie es gerade aussah, würde er in einem angemessenen Zeitraum in die gehobene Beamtenlaufbahn wechseln können. Man schätzte seine Gewissenhaftigkeit, sein besonnenes Auftreten und seinen wachen Geist. Seine Tage auf Rügen waren also gezählt.

Nicht, dass diese naturverbundene Beschaulichkeit ihm nicht gefallen hätte, nur war er hier als Kriminalist nicht gerade über Gebühr gefordert. Oft saß er einfach am Schreibtisch und schrieb seine Berichte und Protokolle. Und das eine Mal, bei dem es um einen wirklich dicken Fisch gegangen war, hatten Jens und seine Kollegen nicht geschaltet, und so waren sie bei der Festsetzung von Georg Kattow gefühlt nur Zaungast gewesen.

Diese Chance hatten sie verpasst und ansonsten passierte eben nicht viel auf der beliebten Ferieninsel. Kleine Diebstähle und Kinkerlitzchen waren der Alltag. Hin und wieder gab es Schlägereien unter Touristen, dann war meist Alkohol mit im Spiel. Manchmal verhafteten sie Leute, die Zahlungen schuldig geblieben waren oder wegen anderer Delikte in Gewahrsam genommen werden mussten. Jens fühlte sich ein wenig wie der Ordner eines Rolling-Stones-Konzerts, echte Kriminalarbeit stellte er sich jedenfalls anders vor.

Der silberblaue Streifenwagen hielt vor der Puddeminer Wiek. Hier gab es eine kleine Ferienhaussiedlung in der mittleren Preisklasse, die in der Hochsaison immer komplett ausgebucht war. Der Begriff Ortschaft war im Grunde übertrieben, denn außer dem Hafen und dem darin beheimateten Restaurant fand man hier keine Infrastruktur. Wer sich versorgen wollte, musste nach Garz fahren, und wem der Edeka dort nicht ausreichte, hatte keine andere Wahl, als die Tour nach Putbus auf sich nehmen, wo es immerhin einige Discounter gab.

Ein dicker Mittfünfziger im Blaumann kam auf die Polizisten zugelaufen. Das war, wenn Jens sich richtig erinnerte, der Verwalter Gottschall. »Es ist eine Frau!«, rief er kurzatmig. »Ein ganz ordinäres Luder! In der Nummer neun! Kommen Sie!«

Mike warf Jens einen gelangweilten Blick zu. »Ich wette zehn Mäuse, das ist wieder Ginger!«

»Wieso wettest du überhaupt? Sag doch einfach: Jens, schenk mir zehn Euro!«

Gottschall schloss die Tür auf und die Beamten betraten die Ferienwohnung. Auf der Couch im Wohnzimmer saß vor dem laufenden Fernseher eine ungepflegte junge Frau mit neonrot gefärbtem Schopf. Die Tönung musste eine Weile her sein, denn das naturblonde Haar der Frau war schon wieder ein ganzes Stück nachgewachsen. Das war »Ginger«, eine Streunerin wie aus dem Bilderbuch. Die Polizisten kannten sie. Sie hieß eigentlich Dagmar Kleinknecht, war zu Beginn der Saison aufgetaucht und schnorrte sich bei Einheimischen und Touristen durch.

Einmal hatte Kramer sie von der Binzer Strandpromenade weggeholt, wo sie mit weiß geschminktem Gesicht »Lebende Statue« gespielt hatte. So verdiente die Frau sich ein paar Kröten dazu. Wenn es nicht lief, holte sie ihr Essen in den Ferienorten eben aus den Abfallbehältern. Es gab genug Touristen, die ihre Würstchen mit Pommes nicht aufaßen.

Die struppigen Haare fielen der gertenschlanken Ginger ins Gesicht, sodass man auf den ersten Blick gar nicht sah, dass sie eine recht hübsche Person war. Sie stand bei Jens nicht im Verdacht, die hellste Kerze auf der Torte zu sein. Die Obdachlose war ganz klar im Überlebensmodus und es stand zu vermuten, dass sie auch anschaffte, wenn die Lage es erforderte. Polizeihauptmeister Kramer hatte beim letzten Mal ein Platzverbot gegen sie ausgesprochen und sie von der Insel geschafft, aber jetzt war sie wieder da.

»So, Ginger!«, rief Mike. »Gastspiel beendet! Komm mit!«

Die Frau mit den roten Haaren äugte zu den Polizisten hinüber und stöhnte: »Mensch, Jungs, lasst mich! Echt jetzt! Mir geht’s scheiße! Ich brauch mal ne Pause!«

Jens hob eine leere Flasche Weinbrand vom Teppich auf. »Könnte es sein, dass du über den Durst getrunken hast?«

»Leck mich doch!«, ätzte die junge Frau. »Ich hab das Zeug nur gesoffen, weil’s mir mies geht! Ihr wisst, ich find normal immer was zum Pennen. Ich brech nicht freiwillig in diese Touri-Kackbutzen ein. Aber ich muss mir was eingefangen haben, irgendeinen Drecksvirus oder so …«

Die Polizisten wechselten einen Blick.

»Darf ich mal?«, fragte Jens und da Ginger sich nicht widersetzte, fühlte er ihre Stirn. Die war recht heiß. »Hmm. Ich glaube doch, sie hat Fieber! Die ist wirklich nicht in Ordnung!«

»Genau!«, krakeelte Ginger. »Und jetzt lasst mich in Ruhe und sagt der Hackfresse da draußen, wenn sie noch mal ihren Zinken hier reinhält, gibt’s auf die Nüsse! Ich hab nicht ewig Geduld!«

Kramer lachte. »Komm, Süße, du weißt, dass das so nicht läuft. Ich bring dich jetzt nach Bergen in die Klinik und die schauen, was du hast!«

»Nein, hör auf! Ich will nicht in das Scheiß-Schlachthaus! Ich werd auch so wieder!«

Kramer packte sie am Arm. »Du kennst das Spiel, wenn du nicht mitmachst, werde ich grob und dann weinst du. Das wollen wir doch nicht.«

»Du Kackbulle! Du mieser Kackbulle!« Dabei beließ es die Frau, denn sie hatte schon bei früherer Gelegenheit festgestellt, dass es nicht so schön war, wenn Kramer unangenehm wurde.

Jens suchte ihre Habe zusammen und räumte alles in ihren Rucksack. Er vergaß auch ihren abgewetzten Strohhut mit dem regenbogenfarbenen Pride-Tuch nicht.

Wenig später fuhren sie zurück nach Putbus. Ginger hatte sich auf Rückbank neben Jens zusammengekauert und gab keinen Laut mehr von sich.

Ein Handy klingelte. Es war das von Jens. Am anderen Ende meldete sich Susanne Schröder, eine Pensionsinhaberin aus Neuendorf, nicht weit vom Putbuser Ortskern.

»Herr Lackner, könnten Sie bitte bei mir vorbeikommen. Wenn es geht, so bald wie möglich!«

»Was ist denn?«

»Es geht um meine Schwester Anneliese. Das möchte ich aber nicht am Telefon besprechen. Sie haben es ja nicht so weit. Wenn Sie kommen könnten, am besten sofort, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Es ist wichtig!«

Jens überlegte kurz und hielt das Mikro vom Handy zu. »Mike, lass uns einen Abstecher nach Neuendorf machen. Ich muss kurz bei Frau Schröder reinschauen.«

Kramer schaute irritiert. »Was will die Nervkuh denn jetzt schon wieder?«

»Ich weiß es nicht. Wir halten einfach kurz bei ihr. Ich handele das schnell ab.« Jens hob sein Smartphone wieder zum Ohr. »Frau Schröder? Ich bin in fünf Minuten da.«

»Vielen Dank! Das weiß ich sehr zu schätzen!«

Kurz darauf hielt der Streifenwagen an der Uferstraße vor der Pension Seerose und Jens stieg aus. Wer den ganz großen Trubel in Binz nicht wollte, der war hier in Neuendorf gut aufgehoben. Die Idylle hier hatte etwas Verschlafenes, etwas Ursprüngliches. Überlaufen war die Gegend nicht, weil viele Touristen den Algenbewuchs im Flachwasser nicht schätzten, dennoch konnte Neuendorf mit einem fantastischen Panoramablick über den Greifswalder Bodden punkten und so war hier bereits lange bevor die Saison begann alles ausgebucht.

Jens ging zum Haus hinüber und läutete. Susanne Schröder hatten er und Mike vor vier Wochen näher kennengelernt. Die achtundzwanzigjährige Unternehmerin führte mit ihrer jüngeren Schwester Anneliese gemeinsam die Ferienpension Seerose in Neuendorf. Die Ortschaft schloss sich an Lauterbach an und bestand im Wesentlichen aus einer Uferstraße, die den Greifswalder Bodden säumte. Vor einem Monat hatte Susanne Schröder Anneliese als vermisst gemeldet. Die Verschwundene war dreiundzwanzig Jahre alt und, wie Jens fand, eine ausgesprochene Schönheit. Sie war von einem Strandspaziergang nicht zurückgekommen, was, so ihre Schwester Susanne, überhaupt nicht ihre Art war. Die Putbuser Beamten hatten ihre Personalien aufgenommen und sofort die Kollegen in Bergen unterrichtet. Doch bevor die Großfahndung richtig hatte anlaufen können, war Anneliese wieder aufgetaucht. Das war einen Tag nach ihrem Verschwinden gewesen. Sie hatte einen verwirrten Eindruck gemacht und nur einsilbig auf Fragen geantwortet. Jens hatte selbst mit ihr gesprochen, aber die Frau war zerstreut, fahrig und unkonzentriert. Wenn man sie nach ihrem Befinden fragte, sagte sie nur: »Alles gut, alles gut!« Ihre große Schwester hatte sich sehr beunruhigt gezeigt.

Susanne kannte Jens schon länger. An die erste Begegnung konnte sich der junge Polizist noch gut erinnern. Er hatte, gemeinsam mit Mike Kramer auf Streife, einmal ihren Wagen auf der Straße angehalten. Susanne war nur die Beifahrerin gewesen, am Steuer hatte Carola gesessen, ihre damalige Freundin, alkoholisiert. Die Frauen waren ganz klein mit Hut gewesen und Kramer hatte seine »Sympathischer Bulle«-Nummer abgezogen. Er hatte sie laufen lassen, weil er die kurvige Blondine Carola heiß fand.

Jens für seinen Teil interessierte sich eher für Susanne. Sie passte in sein Beuteschema. Die Wirtin war ein burschikoser Typ mit kräftigem Körperbau, trug ihre schwarzen Haare raspelkurz und hatte eine eindrucksvolle Dominanz in ihren Augen. Sie war charismatisch, das stand außer Zweifel, und dabei nicht unattraktiv, doch sie zog es vor, ihre weiblichen Attribute nicht herauszukehren. Jens fand, dass sie Persönlichkeit hatte und nicht auf den Kopf gefallen war. Sehr bedauerlich, dass sie dem eigenen Geschlecht zuneigte, denn sonst hätte er seinen Mut zusammengenommen und sie angesprochen.

Das lag zwei Jahre zurück. Erst als Susanne Schröder die Vermisstenanzeige gestellt hatte, war sie wieder auf Jens’ Radar aufgetaucht. Es hatte dann im Rahmen der Ermittlungen ein paarmal Kontakt gegeben. Die Wirtin war über das Verschwinden von Anneliese sehr beunruhigt gewesen, denn sie fühlte sich für die Jüngere verantwortlich. Sowohl Susanne als auch Jens hatten ihr Glück versucht und Anneliese befragt. Ohne Erfolg. Es war im Dunklen geblieben, wo sie in den vierundzwanzig Stunden ihres Verschwindens gesteckt hatte.

Beim Durchsuchen ihrer Handtasche hatte man dann einen unerwarteten Fund gemacht: kleine perforierte Papierquadrate, auf denen Popeyes abgebildet waren. Jens hatte sofort den Verdacht, dass es sich um LSD handeln musste oder eine andere Designerdroge. Die verdächtigen Papierschnipsel waren in Stralsund untersucht worden und die Chemiker hatten seinen Verdacht bestätigt. Es handelte sich bei der Droge um Dextromethorphan, kurz DXM. Diese Substanz war ursprünglich ein Hustenmittel gewesen, das man in jeder Apotheke hatte erwerben können. Inzwischen war es verboten, da es schwere Vergiftungen und Halluzinationen auslösen konnte. Annelieses Verwirrtheit jedenfalls passte zu dem Rauschmittel.

Susanne hatte es aber nicht dabei belassen wollen. Sie war sich sehr sicher, dass Anneliese niemals freiwillig zu Drogen gegriffen hätte. Jens’ Versuche, Licht ins Dunkel zu bringen, blieben vergeblich. Sehr gerne hätte er im warmen Licht eines aufgeklärten Falles vor ihr gestanden. Doch er fand nicht den geringsten Ansatzpunkt. Hier in Neuendorf und im angrenzenden Lauterbach gab es nur eine Handvoll Lokale und keines war verdächtig, dubioses Publikum anzuziehen. Wer sich mit Drogen versorgen wollte, der orientierte sich besser nach Bergen, oder gleich zum Festland hinüber, nach Stralsund. Das Dextromethorphan gab Rätsel auf. Wie war die Verschwundene in dessen Besitz gelangt? Anneliese war in keiner Clique und auch am Vereinsleben nahm sie nicht teil, das hatte ihre Schwester versichert. Das Wahrscheinlichste war, dass sie bei ihrem Spaziergang jemandem begegnet war, der ihr die Droge zugesteckt hatte.

Jens hatte im Anschluss überall herumgefragt, aber keinem war etwas Verdächtiges aufgefallen. Lauterbach und Neuendorf waren typische Touristenorte. Fremde waren hier zwar an der Tagesordnung, doch das hielt sich in einem übersichtlichen Rahmen. Man hatte hier ein Blick für die Urlauber. In der Regel waren das Familien oder Paare, oft auch Stammgäste. Nein, das Rätsel um Anneliese Schröders Verschwinden hatte Jens nicht lösen können. Auch die Droge, das Dextromethorphan, war an keiner anderen Stelle noch einmal aufgetaucht. Man hätte vermuten können, dass das DXM auf der Insel vielleicht gerade angesagt war, aber als Jens beim zuständigen Kriminalkommissariat in Bergen angefragt hatte, konnte man ihm nicht weiterhelfen. Dafür lagen keinerlei Hinweise vor.

Irgendwann hatte auch Susanne Schröder resigniert und so war der Fall der Vermissten wieder aus Jens’ Bewusstsein verschwunden. Bis heute. Dem jungen Beamten war nicht klar, worauf das hinauslaufen sollte, aber etwas in Susannes Stimme brachte ihn dazu, sie ernst zu nehmen. Oder redete er sich das nur ein, weil die spröde Wirtin so eine Faszination auf ihn ausübte? Wie dem auch war, er konnte sich schlechtere Arten vorstellen, seine Dienstzeit abzureißen …

Susanne führte Jens in ihre Lobby. Sie war etwas kleiner als der blonde Polizist, wirkte drahtig und machte den Eindruck, als würde sie regelmäßig ihre Muskulatur trainieren. Ihr sonst so apartes Gesicht wirkte heute müde. Die enormen Anstrengungen, die sie täglich aufwenden musste, um ihre Pension auf dem Vier-Sterne-Level zu halten, hatten in ihren Zügen Spuren hinterlassen. Vielleicht setzte aber auch die Sache mit ihrer Schwester ihr noch zu. Es war für Jens nicht eindeutig auszumachen. Susanne erschien ihm freudlos, unstet und erschöpft. Sie hatte ihr Päckchen zu tragen, eindeutig.

Die Innenausstattung der Pension Seerose sah aus wie aus einem Bilderbuch. Alles war neu, man hatte unlängst renoviert. Wie die meisten Gasthäuser hier pflegten sie hier ein maritimes Image, bauchige Glaslichter standen auf den Tischen, daneben aus Holz geschnitzte Seemöwen in Lebensgröße, auf blau-weiß karierten Tischdecken. An den Wänden fand man ebenfalls klassische Elemente der Küstenregionen, ein altes Steuerrad aus Holz, Flaggenwimpel, Kollektionen von Schiffsknoten und aufgespannte Fischernetze. Es war sauber hier, jede Falte war glattgezogen und der Gastraum wirkte wie ein Tempel der Symmetrie. Ein Blickfang waren die Bilder. Nicht dass die Motive sich von denen anderer maritimer Fischlokale unterschieden hätten, aber sie hatten einen ganz eigenen, zarten Touch. Der Künstler arbeitete mit getupften Pastelltönen, die aus der Nähe grob und wild wirkten, von weitem aber erstaunlich perfekt aussahen. Jens hätte sich so ein Bild sofort selber an die Wand gehängt.

»Setzen Sie sich doch bitte!«, forderte Susanne ihren Gast auf. Jens sah hinüber zu Anneliese, die still in einer Ecke saß. Sie sah sich eine Illustrierte an, ohne jedoch umzublättern. Er starrte die Frau erschrocken an. Sie hatte sich verändert. Seit Jens sie vor vier Wochen das letzte Mal gesehen hatte, musste sie mindestens zehn Kilo zugenommen haben. Wenn das reichte. Sie machte den gleichen teilnahmslosen Eindruck, den man bereits von ihr kannte. Anneliese war deutlich femininer als ihre Schwester, mit ihren vollen roten Lippen, den langen blonden Locken und einer üppigen Oberweite.

Die Hausherrin nahm sich einen Stuhl und setzte sich dem Polizisten gegenüber.

»Sie machen’s ja richtig spannend!«, flachste Jens und hatte gleich das Gefühl, dass das unpassend war.

Susanne ging nicht weiter auf seine Bemerkung ein. Sie faltete etwas abwesend ihre Hände und sammelte sich. Dann blickte sie ihm ins Gesicht. »Als meine Schwester verschwunden war und dann in ihrem … veränderten Zustand wieder aufgetaucht ist, hatte ich gleich dieses Gefühl, dass da etwas vor sich gegangen ist. Ich habe anfangs gedacht, sie fängt sich wieder, aber sie ist irgendwie gar nicht richtig da.« Sie sah zu ihrer Schwester hinüber, die gerade geschälte Pistazien in sich hineinschaufelte. Nach wie vor starrte sie auf ihre Illustrierte und schien sich an der bunten Doppelseite gar nicht sattsehen zu können. »Irgendetwas ist ihr zugestoßen, etwas Schlimmes! Da bin ich mir jetzt ganz sicher!« Die Wirtin sah Jens nicht ohne Bitterkeit an.

Er wusste nicht genau, was er darauf antworten sollte. Es passierte schon mal, dass Leute von derartigen Schicksalsschlägen getroffen wurden. Die Polizei konnte in den meisten Fällen nur wenig daran ändern. »Sie sagten am Telefon, Sie wollten mich persönlich treffen«, begann er, »Das hörte sich so an, als hätten sie irgendeine Erkenntnis gehabt, neue Hinweise oder Beweise. Oder habe ich Sie da falsch verstanden?«

»Neue Erkenntnisse. Ja, die habe ich. Aber erst würde ich gerne wissen, ob Sie etwas unternommen haben, wegen Annelieses Allergie.«

Jens stand auf dem Schlauch. »Allergie?«

Susanne stöhnte ungeduldig. »Sie hatte Ausschlag im Gesicht.«

»Ach, richtig!« Er erinnerte sich jetzt wieder. »Es waren Rötungen! Man hat sie kaum gesehen.«

»Meine Schwester hat eine Katzenhaarallergie. Und die Rötungen, wie Sie sie nennen, waren genau so ein Ausschlag!«

Das Thema hatten sie schon gehabt. »Frau Schröder, ich habe Ihnen gesagt, dass es dafür viele Erklärungen geben könnte. Ich hatte auch noch mal einen Veterinär deswegen angerufen. Er sagte, es reicht, wenn einem eine Katze einmal kurz an den Beinen vorbeistreicht.«

»Aber Anneliese hatte den Ausschlag im Gesicht. Sie ekelt sich vor Katzen. Sie fasst sie nicht einmal an. Wie kommen die Katzenallergene in ihr Gesicht? Vielleicht hat der Mann, der sie entführt hat, eine Katze. Und er hat ihr ins Gesicht gefasst! Das wäre doch eine plausible Theorie, oder?«

Jens beschloss, dem ein Ende zu machen, denn draußen wartete Kramer auf ihn und Geduld hatte noch nie zu dessen Tugenden gehört. »Frau Schröder, Sie haben mich angerufen, ich bin gekommen. Wenn Sie nur noch einmal mit mir die Katzenthese besprechen wollen, dann habe ich mich umsonst herbemüht.«

Susanne merkte, dass Jens langsam die Geduld verlor. »Also gut! Es war nur der Vollständigkeit halber. Ich habe tatsächlich Neuigkeiten.« Sie machte eine kurze Pause und sortierte sich innerlich. »Ich bin mit Anneliese heute nach Stralsund gefahren, zu unserem Frauenarzt. Er hat sie untersucht und bei ihr einen Befall von Pthirus pubis festgestellt!«

»Pthirus pubis? Verzeihung, der Begriff ist mir nicht geläufig.«

»Schamläuse. Oder Filzläuse, wie Sie es gerne möchten!« Ihr Tonfall war nun leicht aggressiv.

»Filzläuse? Hmm … Und was schließen Sie daraus?«, fragte Jens vorsichtig.

»Ich schließe daraus, dass sie mit irgendjemandem intim war. Dass sie Sex hatte.« Es schimmerte feucht in Susannes Augen.

Jens konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen, auf was die Frau hinauswollte. »Und Sie glauben, das hat etwas mit ihrem Verschwinden vor vier Wochen zu tun …?«

»Ja, genau das glaube ich! Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass irgendjemand sie vergewaltigt hat.«

»Vergewaltigt …?« Jens ging das zu schnell. »Moment! Wie können Sie sich da so sicher sein?« Er blickte zu Anneliese hinüber, deren Verhalten zu keiner Zeit Anlass für einen derartigen Verdacht gegeben hatte.

»Sie hat Schamläuse! Der Arzt hat gesagt, dass sie in der Regel beim Sex übertragen werden. Sie werden natürlich auch übertragen, wenn man die Bettwäsche nicht wechselt und in unhygienischen Verhältnissen lebt. Das ist aber bei uns nicht der Fall. Ergo wurde Anni vergewaltigt!«

Jens hob die Hand. »Bitte helfen Sie mir kurz, dass ich das verstehe. Anneliese hat keinen Freund?«

»Nein, hat sie nicht.«

»Was ist mit einem Ex oder einer losen Beziehung, die sich vielleicht angebahnt hat?«

Susanne schnaubte. »Herr Lackner! Wir beide, Anni und ich, führen eine Pension mit sechzehn Zimmern. Wir sind eine der ersten Adressen auf Rügen! Das hier ist ein Fulltime-Job, an sieben Tagen in der Woche. Wir haben überhaupt gar keine Zeit für Romanzen oder Abenteuer. Meine Schwester und ich leben gewissermaßen in einer Symbiose. Ich weiß alles über sie und sie weiß alles über mich. Ich behaupte mal, ich kann in ihr lesen wie in einem Buch. Wenn Sie eine Beziehung hätte, und ich würde ihr das gönnen, wüsste ich das. Aber da war nichts. Mit siebzehn hatte sie einen Freund. Seitdem war da gar nichts mehr. All die Jahre nicht. Dann, plötzlich, verschwindet sie für vierundzwanzig Stunden, ist völlig wesensverändert und hat nun einen Schamlausbefall. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich da nicht zur Tagesordnung übergehe.«

Jens lächelte freundlich. »Das tue ich ganz sicher nicht. Ich will nur sagen, dass es aus vielerlei Gründen zu so etwas kommen kann. Vielleicht hat sie in der bewussten Zeit jemanden kennengelernt. Manchmal schlägt es ein wie der Blitz. Oder man trinkt zu viel und lässt sich hinreißen. Sexualität kann jede Vernunft außer Kraft setzen. Das haben wir oft genug erlebt. Ich will gar nicht ausschließen, dass sie mit jemandem intim war, aber gerade fällt es mir noch schwer, an eine Vergewaltigung zu glauben …« Jens sah zu Anneliese hinüber. Das Gespräch drehte sich um sie, es schien sie jedoch nicht im Geringsten zu kümmern. Es war, als wäre sie völlig abwesend.

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Schauen Sie, wie seelenruhig sie dasitzt. Nicht, dass ich viel Erfahrung mit solchen Fällen hätte, aber in der Regel sind Opfer von Sexualdelikten verstört und traumatisiert. Ihre Schwester, Frau Schröder, scheint mir jedoch ganz ruhig zu sein.«

Susanne stieß frustriert die Luft aus. »Das ist es ja! Wieso ist sie so ruhig? Nehmen wir mal an, es stimmt. Sie hat jemanden kennengelernt, einen ganz tollen Typen, sie hat den Kopf verloren und sich mit ihm in den Dünen vergnügt. Dabei hat sie sich die Läuse eingefangen. Hätte sie mir das dann nicht erzählt? Doch, das hätte sie und dabei am ganzen Leib gezittert vor Aufregung. Sie war immer überaus emotional. Sie trug ihr Herz auf der Zunge. Aber jetzt ist sie ganz anders. Es ist, als würde sie unter Schock stehen. Was würde dazu führen, dass sie in so einen Zustand gerät? Leidenschaftlicher Sex mit einem Fremden? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.«

»Was ist mit den Drogen? Wir haben Dextromethorphan bei ihr gefunden. Das könnte für ihren Zustand verantwortlich sein!«

Susanne schüttelte energisch den Kopf. »Anneliese hat keine Drogen angerührt. Im Gegenteil, sie hatte eine Heidenangst davor!«

»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen? Jeder Jugendliche probiert doch mal was aus …!«

»Ja genau, das hat sie auch. Sie hat mal Haschkekse gegessen, als sie jünger war. Dabei hat sie eine Überdosis abbekommen und es ist ihr ein paar Stunden lang ziemlich dreckig gegangen. Seitdem hatte sie den Kanal voll. Wie es so schön heißt, gebranntes Kind scheut das Feuer!«

»Da sind Sie sich ganz sicher?«

Susanne sah ihn fest an. »Ich bin ihre Schwester, ich weiß immer, was mit ihr ist. Oder besser, ich wusste es. Nur jetzt … neuerdings … weiß ich es nicht mehr. Ich habe nur einen gewaltigen Kloß im Hals, weil ich glaube, dass etwas ganz Schreckliches mit ihr passiert ist!« Nun liefen Tränen über ihr Gesicht. Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte sie trotzig fort.

Jens rieb sich das Kinn und sah nachdenklich zur Anneliese hinüber. Die Worte ihrer älteren Schwester hatten Eindruck auf ihn gemacht. Der eigenen Wahrnehmung trauen … Hatte Richard Dreifürst nicht damals vor vier Jahren genau darauf alles gesetzt? Und hatte er am Ende nicht recht behalten? Jens war das eine Lehre gewesen. Den Menschen wurde es früh beigebracht, ihre Wahrnehmung ständig zu hinterfragen. Aber das war falsch. Deshalb nahm der Polizeibeamte Susanne Schröder ernst.

Es war nur alles gar nicht so eindeutig. Er konnte nicht ausschließen, dass Anneliese die Drogen gegen ihren Willen verabreicht worden waren, dass man sie ihr etwa mit einem Getränk untergejubelt hatte. Er konnte spekulieren, wie er wollte, die Gemengelage war speziell. Jens hatte seine Anfängertage lange hinter sich und inzwischen sogar ein bisschen Erfahrung gesammelt. Jetzt jedoch fühlte er sich überfordert. Was konnte er schon tun? Man wusste nichts über den Verbleib von Anneliese Schröder in der bewussten Zeit. Es gab also keinen Ort, an den man hätte gehen können, um Spuren sicherzustellen. Weder existierten Zeugen, noch hatte die Frau relevante Aussagen zu Protokoll geben können.

Hätte er von dem Läusebefall vor vier Wochen gewusst, wäre er mit Anneliese Schröder nach Stralsund gefahren, hätte sie in die Obhut der Gerichtsmedizin gegeben und dann möglicherweise einige Hinweise erhalten. Jetzt aber wusste Jens nicht so recht, wo er ansetzen sollte. Seine Ohnmacht verbarg er jedoch vor Susanne. Er wollte ihr das Gefühl vermitteln, dass er Anteil nahm und sich in der Sache engagierte. Deswegen nickte er.

»Ich verstehe in jedem Fall ihre Situation, Frau Schröder! Ich werde mit meinem Kollegen sprechen und wir sehen, ob wir den Fall noch einmal aufrollen können.«

»Kann ich keine Anzeige erstatten? Es liegt doch auf der Hand, dass jemand gegen ihren Willen mit ihr geschlafen hat. Irgendein Dreckskerl hat sie mit den Drogen gefügig gemacht!«

Nun hatte Susanne Jens in Verlegenheit gebracht. »Ich muss leider zugeben, dass ich nicht weiß, ob hier eine rechtliche Grundlage dafür vorliegt. Dass ihre Schwester vergewaltigt wurde, ist im Moment eine Annahme, auch wenn es sicher Argumente gibt, die dafür sprechen. Ich denke dennoch, dass die Beweislage unklar ist. Ich habe so einen Fall noch nie gehabt, ich muss mich rückversichern.«

Susannes Blick war kalt. »Also nehmen Sie jetzt keine Anzeige auf?«

Jens überlegte kurz. »Geben Sie mir etwas Zeit! Ich komme auf Sie zurück. Ich persönlich würde mich Ihrem Verdacht sogar anschließen. Die Umstände des Verschwindens und die Tatsache, dass Drogen mit im Spiel waren, könnten auf eine Straftat hinweisen! Nur sind das noch keine konkreten Hinweise. Die bräuchten wir aber. Ich werde mich trotzdem um die Sache kümmern.«

Jens’ Blick wanderte erneut zu Susanne Schröders Schwester hinüber. Wenn sich jemand an ihr vergangen hatte, wieso war sie so still und zeigte keinerlei Anzeichen, die auf einen Übergriff hinwiesen? Konnte ein Schock so tief sitzen, dass er ein Opfer wochenlang beeinträchtigte? Darüber musste er Erkundigungen einziehen.

Jens wandte sich noch einmal an Susanne. »Gehen wir mal davon aus, dass es sich wirklich um eine Vergewaltigung gehandelt hat. Gibt es irgendjemanden, den Sie kennen oder ihre Schwester, der dafür eventuell infrage käme?«

Susanne verneinte das. »Manchmal gibt es Urlauber, die denken, sie könnten bei uns landen. Natürlich eher bei Anni als bei mir. Sie flirtet ganz gerne, oder besser gesagt, sie hat es getan. Ich mache so was überhaupt nicht. Was bringt mir eine Affäre mit jemandem, der nach zwei Wochen wieder abreist? Aber gut, die Saison beginnt erst und die letzten Monate haben wir hier umgebaut. Das haben wir alles selbst gemacht, nur eine Tante von uns hat dabei mitgeholfen. Anneliese besitzt zwar einen Führerschein, aber sie fährt nicht gerne. Das heißt, wenn wir auswärts etwas zu erledigen hatten, sind wir in der Regel zusammen unterwegs gewesen. Also mir fällt jetzt kein Mann ein, bei dem ich das Gefühl hätte, dass er ein auffälliges Interesse an meiner Schwester gezeigt hätte.«

Jens nahm es zur Kenntnis. Zwar hatte er sich in seinem Inneren einen richtigen Fall gewünscht, irgendetwas, was seinen kriminalistischen Intellekt forderte, es wäre jedoch schön gewesen, halbwegs verwertbare Anhaltspunkte zu haben. Die gab es hier nicht.

Der Polizist erhob sich. Susanne Schröder begleitete ihn zum Ausgang.

»Sie hören von mir!« Er versuchte, sie mit einem Lächeln aufzumuntern.

Sie zeigte keine Reaktion darauf. »Ja, darum bitte ich auch! Halten Sie mich über Ihre Schritte auf dem Laufenden!«

»Natürlich, Frau Schröder, Sie können sich darauf verlassen!«

Als Jens die Pension verließ, waren Mike und der Streifenwagen fort. Er stöhnte genervt. Sicher, die Unterredung mit Susanne hatte länger gedauert als gedacht, aber dass Kramer einfach so abhaute, war nicht nur eine Frechheit ihm gegenüber, es war auch ein Verstoß gegen die klare Vorschrift, eine weibliche Zivilperson nicht alleine durch die Gegend zu fahren.

Von Neuendorf war es nicht weit zum Putbuser Rathaus, also ging Jens zu Fuß. Sein Handy klingelte und seine Mutter war am Apparat. Er sah sie nicht mehr so oft, weil sie nun in Rostock lebte. Sie wollte sich nur nach seinem Befinden erkundigen und plaudern. Gewöhnlich tat Jens das ganz gerne, aber heute war er mit den Gedanken woanders, also beendete er das Gespräch mit dem Hinweis, dass er gerade im Dienst war.

Auf dem Weg zurück zur Polizeistation beschäftigte ihn das, was Susanne Schröder gesagt hatte. Wie man es auch drehte, die Wahrscheinlichkeit, diesen Fall zu lösen, ging prozentual gegen null. Er glaubte ihr, dass ihre Schwester sich nicht freiwillig auf ein schnelles Abenteuer eingelassen hätte. Wenn sie unter Drogen gesetzt worden war, hatte das DXM womöglich noch eine fatale Nebenwirkung gehabt und zu einer Persönlichkeitsveränderung geführt. Glück für den Täter, denn nun waren alle Spuren verwischt. Jens war ehrgeizig und hatte den Anspruch an sich, überdurchschnittlich gute Polizeiarbeit abzuliefern. Nur hatte er in diesem Moment keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Als Kramer später am Tag wieder ins Büro zurückkam, war Jens immer noch ziemlich sauer. »Vielen Dank, dass du so geduldig gewartet hast! Bist ein echter Freund.«

Kramer legte den Kopf schief. »Jetzt mach nicht so eine Welle, Kleiner. Ich bin immerhin Stationsleiter hier, und ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, auf dich zu warten, während du einen kleinen Schwatz mit Zuckerschnütchen hältst. Außerdem ging es Ginger schlecht, die musste nach Bergen in die Klinik.«

Jens hätte gerne mit einem Verweis auf die Dienstvorschriften aufgetrumpft, aber er verkniff es sich. Stattdessen unterrichtete er seinen Kollegen und Vorgesetzten über das, was er in Neuendorf erfahren hatte. Wie zu erwarten, lösten die neuen Aspekte des Falles bei Kramer keinen großen Enthusiasmus aus. Im Gegenteil, er zeigte sich belustigt. »Filzläuse? Nicht dein Ernst! Was denken sich die Weiber eigentlich? Was kommt als Nächstes? Jemand hat meinen Nachttopf geklaut!? Come on!«

Aber Jens gab nicht so schnell auf. »Du warst nicht mit dabei. Susanne Schröder war ziemlich mit den Nerven runter. Die ist sonst eher der nüchterne, bodenständige Typ. Ich glaub nicht, dass die hysterisch ist oder sich das alles nur einbildet. Und ihre Schwester ist wirklich komisch. Wir haben die ganze Zeit über sie geredet, aber sie hat überhaupt nicht reagiert. Das ist unnormal. Ich finde nicht, dass wir da so einfach zur Tagesordnung übergehen können.«

»Und was willst du tun, wenn die Alte den Mund nicht aufmacht?«

Jens überlegte kurz. »Vielleicht können wir ihr Handy genauer untersuchen. Mit wem sie Kontakt hatte …«

Kramer stöhnte. »Das hab ich doch gemacht. Ich bin ihre Anrufe durchgegangen, ich hab Ihre Mails gecheckt. Da war nichts!«

Jens war nicht überzeugt. »Du hast dich drei Minuten mit dem Handy beschäftigt, wenn’s hochkommt. Man müsse das intensiver machen. Vielleicht einen externen Dienstleister hinzuziehen. Kann sein, es geht was mit der Handyortung. Außerdem würde ich mich in Annelieses Zimmer genauer umsehen. Möglich, dass sie Geheimnisse hatte, obwohl ihre Schwester das nicht glaubt.«

Kramer sah ihn fast mitleidig an. »Mensch, Lackner, mach dich nicht immer so verrückt. Da ist nichts. Lass dir das von einem alten Hasen sagen!«

»Ach ja? Noch vor gar nicht so langer Zeit hast du bei einer anderen Sache genauso geredet, du alter Hase, und dann war da doch was und zwar heftig!«

»Ausnahmen bestätigen die Regel!«, erwiderte Kramer ungerührt. »Wenn du unbedingt ermitteln willst, dann mach’s. Aber aufgemerkt: Erstens wird nichts dabei rauskommen und zweitens wird es dir am Ende nicht gedankt! Oder glaubst du, die Lesbe lässt sich von dir bekehren?« Der Stationsleiter schnappte sich seine Jacke und warf sie sich über die Schulter. »Ich zieh Leine! Und du vergiss nicht, dass du deine Berichte noch schreiben musst!«

Jens spürte, wie er langsam sauer wurde. »Das sind nicht meine Berichte, mein Lieber, das sind deine! So sieht’s mal aus!«

Mike Kramer lachte. »Und wenn schon. Ich bin nun mal dein Vorgesetzter und ich gebe dir die Anweisung, sie zu schreiben. So, hab ich noch irgendwas vergessen? Ach ja, schönen Abend wünsch ich noch! Tschüssikowski!«

»Die Autoschlüssel!«, rief Jens.

Kramer griff in die Tasche und warf ihm den Schlüssel des Dienstwagens zu. Dann schloss sich die Tür hinter ihm und Kramer war in seinen Feierabend verschwunden.

Die Hochstimmung, die Jens zum Termin nach Puddemin begleitet hatte, war vergangen. Der alte Stationsleiter Oetzmann hatte ein Auge darauf gehabt, dass Kramer die Drecksarbeit nicht immer an den jungen Polizeimeister weiterleitete. Aber seit er befördert worden war, machte Mike Kramer, was er wollte. Jens nahm sich einen Stapel Papiere aus der Ablage und fuhr den Computer hoch. Dann begann er zu tippen.

Es war gegen einundzwanzig Uhr, die Berichte waren fast abgearbeitet, als das Diensttelefon klingelte. Der junge Polizist hob ab.

»Jens? Ist Mike noch da?«, meldete sich eine weibliche Stimme. Er erkannte sie sofort. Das war Dina Zellhöfer von der Zentrale, ihres Zeichens ebenfalls Polizeiobermeisterin.

»Dir auch einen schönen Abend, Dina! Nein, Kemal Pascha hat sich bereits in den Feierabend verabschiedet.«

»Das ist blöd!«

»Was ist denn los?«

»Wir haben hier gerade einen Anruf aus Baabe reingekriegt. Es geht um eine Frau, die von einem Strandspaziergang nicht zurückgekommen ist. Ihr Mann hat sie als vermisst gemeldet. Sie ist jetzt seit mehreren Stunden überfällig, über Handy ist sie nicht erreichbar und auch sonst unauffindbar. Könntest du dich auf den Weg machen und das überprüfen?«

Jens nickte, obwohl sie das nicht sehen konnte. »Kein Ding. Adresse?«

Dina gab eine Adresse durch. Jens war beunruhigt. Schon wieder eine Vermisstenmeldung? So wie bei Anneliese Schröder. Es gab die verrücktesten Zufälle. Und natürlich war es ein Zufall. Es konnte nicht anders sein.

Wenig später war er im Streifenwagen unterwegs.

2. Kapitel Ein neuer Fall

Es war jetzt drei Jahre her seit den dramatischen Ereignissen auf dem Kattowhof. Richard Dreifürsts Leben hatte sich von Grund auf verändert. Entgegen seiner anfänglichen Planung war er nicht in das Bonifaz-Seniorenzentrum zurückgekehrt. Er hatte am Ende doch beschlossen, in Garz zu bleiben. Dafür hatte es zwei gute Gründe gegeben. Zum einen waren seine Mitbürger nicht gewillt gewesen, den frischgebackenen Helden aus ihrer Mitte ziehen zu lassen, und zum anderen hatte er sich schnell wieder mit den Freiheiten angefreundet, die er, anders als im Heim, in der Poggenburgstraße hatte.

Sein neuer Status als Mann von höchstem Ansehen war für Richard eine große Genugtuung. Man hatte ihn vor zwei Jahren in einem großen Festakt zum Ehrenbürger gekürt und ihm den Schlüssel der Stadt überreicht. Hätte er sich entschlossen, für das Amt des Bürgermeisters zu kandidieren, er wäre jetzt in Amt und Würden. Der Balsam für seine Seele floss reichlich. Jeder wollte sein Freund sein und er war überall willkommen. Wie schnell sie doch gehen konnte, die Entwicklung von einer Persona non grata zu einem Volkshelden.

Die Zuneigung und Wärme seiner Mitmenschen waren die Voraussetzung dafür gewesen, dass Richard sich zusammengerissen hatte. Anfangs war sein Zustand desolat gewesen, besonders körperlich. Der Verlust seiner Hand hatte in der Folge heftige Phantomschmerzen mit sich gebracht, die Traumatisierung seines Gemüts durch die Nahtoderfahrung war noch nachhaltiger gewesen. Er hatte einige Rehas durchlaufen und zwei Therapien gemacht. Das war nicht schlecht gewesen, da hatte er immer Gesellschaft gehabt. Wenn er alleine war, wuchs nämlich das Verlangen nach einem Drink.

Es war sein Glück gewesen, dass der Genuss von Alkohol sich jetzt häufig rächte. An manchen Tagen genügten zwei Flaschen Bier, damit er sich miserabel fühlte, an anderen machte es ihm weniger aus. Aber es ging jedes Mal auf seine Kondition, denn jeder Schluck hatte seinen Preis. So war es ihm nicht schwergefallen, Gerstensaft und Schnaps außen vor zu lassen. Meistens.

Er hatte nun eine bionische Handprothese, die auf seine Gedanken reagierte. Die Erfahrung, sich einhändig durchs Leben schlagen zu müssen, war zuerst deprimierend gewesen. Er hatte einige Zeit gebraucht, sich an die Prothese zu gewöhnen. Jetzt dachte er nicht mehr viel darüber nach, sie war selbstverständlich geworden.

Seine Tochter Annika sah Richard nicht mehr so oft. Sie studierte in Tübingen einen Bachelor-Studiengang, der sich »Hospitality, Tourismus und Event« nannte. Annika hatte es ihrem Vater einmal genau erklärt, worum es dabei ging, aber er hatte das Meiste vergessen. Es ging um Tourismus, viel mehr musste er nicht wissen. Das Verhältnis zu seinem Bruder Manuel war im Schlafmodus. Nicht, dass irgendetwas vorgefallen wäre, aber es lebte sich für beide viel leichter ohne intensiven Kontakt.

Die größte Veränderung hatte es bei Marion gegeben. Richards Exfrau war hart mit sich ins Gericht gegangen, weil sie bei der Ergreifung Georg Kattows eine denkbar schlechte Figur gemacht hatte. Das war ihr auch von ihrer Tochter nachhaltig klargemacht worden. Sie hatte Richard verteufelt, verletzt und gekränkt. Dabei war Marion eine gute Lehrerin, mit einem feinen Auge für die Seelenlage ihrer Schüler. Sie hielt viel auf ihre Menschenkenntnis, deshalb war es umso erschütternder für sie, wie falsch sie ihren Exmann und die ganze Lage eingeschätzt hatte. Marion hatte sich geschämt.

Eines Tages waren sie und Annika nach Garz gekommen und hatten gemeinsam vor Richards Tür gestanden. Marion wollte sich mit ihm aussprechen. Es hätte die Moderation ihrer Tochter nicht gebraucht, denn Richard war jetzt ebenfalls einen Schritt weiter. Er nahm seiner Exfrau die Vergangenheit nicht mehr krumm und konnte sie ruhen lassen. Und er fand sogar die richtigen Worte: Was immer bei ihnen beiden schiefgelaufen war, auf der Habenseite gab es Annika, ihre gemeinsame Tochter, auf die sie beide sehr stolz waren.

Diese Aussprache war ein glücklicher Moment gewesen, der harmonischste Augenblick, an den sich die kleine Familie erinnern konnte. Irgendein kluger Mensch hatte einmal gesagt, dass Menschen sich nicht änderten, aber das stimmte nicht. Marion fiel nicht mehr in alte Verhaltensweisen zurück, zumindest nicht, was Richard betraf. Sie hielt Kontakt, lud ihn hin und wieder zu sich nach Bergen ein und kochte für ihn und ihre Familie. Und dann hatte sie ihm sogar einen unerwarteten Brief geschrieben.

Es war Marions zehnte Klasse, die sich gewünscht hatte, Richard Dreifürst persönlich kennenzulernen. Daraufhin hatte seine Exfrau ihn einfach in die regionale Schule am Grünen Berg eingeladen, in der sie nun Schulleiterin war. Und so saß er nun im Kreis mit einundzwanzig Schülern und Schülerinnen aus der Oberstufe und ließ sich befragen. Es gab keine Tabuthemen, aber Richard ging nicht ins Detail, wenn es darum ging, wie sich der Showdown auf dem Kattowhof abgespielt hatte.

»Hatten Sie denn keine Angst?«, wollte Julia wissen, eine Schülerin mit wachen Augen hinter einer dicken Brille.

»Oh doch, ich hatte Angst! Die Angst ist sogar das, an was ich mich am besten erinnere. Wenn ich damals gewusst hätte, was auf mich zukommt, weiß ich nicht, ob ich losgezogen wäre. Eher nicht.«

Die Schüler nickten, sie konnten seine Worte gut nachvollziehen.

Ein türkischstämmiger Junge meldete sich. »Für mich sind Sie ein verdammter Held, Mann! Wir hier, wir machen uns gar keine Gedanken. Wo ist am Wochenende Party, welche Braut werd ich mir klären, gehen wir nach Hause oder machen wir durch und stürzen ab? Aber Sie, Mann, vor Ihnen hab ich voll den Respekt! Ehre!« Er nickte seinen Worten bekräftigend hinterher.

Richard sah seinen halbwüchsigen Bewunderer freundlich an. Er wollte das nicht unkommentiert stehen lassen. »Danke! Das höre ich gerne. Ich muss aber auch gestehen, ich hatte vor mir selbst gar keinen Respekt. Ich hatte jeden Respekt verloren. Ich war zu dieser Zeit ein schwerer Alkoholiker. Vielleicht war es heldenhaft, was ich getan hab, aber zu keiner Zeit habe mich wie ein Held gefühlt. Es war, wie wenn ich in einem Sumpf steckte und jede Bewegung, die ich machte, zog mich tiefer hinab. Dazu kann ich dir zwei Dinge sagen: Ich tauge nicht als Vorbild und Alkohol ist gefährlich. Bei mir fing die Trinkerei ganz harmlos an, aber sie hat ganz schnell die Kontrolle über mein Leben übernommen. Ich erinnere mich auch an Phasen, in denen ich abstinent war, da habe mir vorgemacht, dass ich keiner bin, der trinkt. Wenn ich jedoch heute zurückblicke, habe ich die Weichen für meine Alkoholkrankheit sehr früh gestellt. Ich will niemandem vorschreiben, ob und wie viel er trinken soll, aber es ist gut, ein Auge darauf zu haben.« Richard grinste. »Dann raucht lieber zwischendrin mal einen Joint!«

Die Klasse lachte, während Marion, die an der Wand lehnte, entsetzt die Augenbrauen hob.

Richard macht eine entschuldigende Geste in ihre Richtung. »Bitte streicht das aus dem Protokoll! Ich hab das nie gesagt! Ich weiß gar nicht, was ein Joint ist …« Erneutes Gelächter.

Marion trat vor. Sie blickte in die Runde. »Ich möchte auch noch etwas zu dem Thema beitragen. Ihr kennt mich, seit ihr in der fünften Klasse hier angefangen habt. Ich denke, ihr alle habt ein Bild als Autoritätsperson von mir, die diese Schule im Griff hat. Doch das stimmt nicht. Mein Exmann kam zu mir und bat mich um Hilfe, denn er war sich sicher, dass er Zeuge eines Verbrechens geworden war. Aber ich habe ihm nicht geholfen. Ich habe ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ich habe in ihm das gesehen, was ich sehen wollte, meinen Exmann, der mich verlassen hat, der mich gekränkt hat, der meine Familie kaputt gemacht hat. Alles Schlechte in meinem Leben, das hat er für mich verkörpert.« Marion sah Richard an.

»Nur war ich nicht objektiv. Ich habe nicht eine Sekunde daran gedacht, dass ich falsch liegen und er recht haben könnte. Über andere zu urteilen, das geht schnell, besonders, wenn man von sich, so wie ich, eine zu hohe Meinung hat.« Sie sah zu dem türkischstämmigen Schüler.

»Ich stimme dir zu, Yusuf, er hat Respekt verdient. Auch ich denke, wenn er kein Held ist, wer ist dann einer? Aber wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass jeder Respekt verdient hat. Egal aus welchem Land, egal welcher Hautfarbe, egal welcher Religion. Ich glaube, dass keiner von uns es sich leisten kann, auf andere herabzublicken.«

Sie deutete auf Richard und lächelte. »Und jetzt bitte ich um einen besonders herzlichen Applaus für meinen geschiedenen Mann und, ich hoffe, ich kann das sagen, meinen Freund!« Die ganze Klasse applaudierte herzlich und Richard dankte es ihnen mit seinem nettesten Lächeln.

 

Der Anruf von Jens Lackner war am Vormittag gekommen. Er hatte Richard um ein Gespräch gebeten. Das hörte sich so an, als ginge es um etwas Dienstliches. Es kam schon mal vor, dass sein ehemaliger Schüler sich mit ihm über seine Polizeiarbeit unterhielt. Aber dieses Mal glaubte Richard, mehr aus dem Telefonat herauszuhören. Jens schien ein ernstes Problem zu haben. Sein Besuch war für achtzehn Uhr angekündigt und Richard hatte eine Brotzeit vorbereitet und zwei Biere kalt gestellt. Wenn Sie mehr brauchen würden, würde er eben zum Imbiss hinüberlaufen.

Wenn Richard es überdachte, fand er, dass sich seine Freundschaft zu Jens auf überaus krummen Pfaden entwickelt hatte. Einst war er der Lehrer des Jungen gewesen. Aber seine Versuche, den Schüler zu fördern, waren fehlgeschlagen. Vor einigen Jahren, beim Fall Georg Kattow, waren sie sich zum zweiten Mal begegnet. Jens war erwachsen geworden und arbeitete nun als Polizeibeamter. Im Grunde hatten sie wieder ganz von vorne angefangen. Nach Kattows Verurteilung hatte Jens den Kontakt nicht abreißen lassen, sie waren Freunde geworden und das durchaus auf Augenhöhe. Jens Lackner hatte eine beeindruckende Entwicklung hingelegt, war ein heller Kopf geworden und ein hochinteressanter Gesprächspartner. Richard hätte niemanden mehr schätzen können. Jens und seine Besuche waren ein weiterer Grund gewesen, dass er nach Garz zurückgekehrt war.

 

Jens kam auf den Glockenschlag, und Richard sollte recht behalten. Ihm lag etwas auf der Seele. Er kam aber nicht sofort zur Sache, sondern beklagte sich zuerst über seinen Kollegen Kramer.

»Sicher, mit dem alten Stationsleiter war es auch nicht leicht. Oetzmann hat mich nicht für voll genommen. Aber er hat immerhin zugehört. Und wenn man wirklich etwas hatte, dann hat er sich auch um einen gekümmert. Aber mit Mike ist es eine Katastrophe. Der macht, was er will. Wenn ich den Kerl nur sehe, krieg ich Pickel!« Jens trank von seinem Bier und hatte es bereits fast gelehrt.

Richard schenkte ihm aus seiner Flasche nach. »Was soll ich dazu sagen? Mir hat er schon mal einen Knüppel über den Kopf gezogen, ich weiß also nicht, ob ich als Pflichtverteidiger tauge.«

Jens lachte. Es war mehr Freundlichkeit als Amüsement.

»Aber gut!« Richard klatschte in die Hände. »Komm mal zum Punkt! Wo drückt der Schuh?«

Jens massierte sich die Nasenwurzel. »Ja, natürlich.« Er überlegte, wie er am besten anfangen sollte. »Du erinnerst dich doch an die Frau, die verschwunden ist. Die eine von den Schröder-Schwestern, die aus Neuendorf unten am Bodden?«

»Das hast du erzählt. Das war ja das Einzige, was hier in letzter Zeit vorgefallen ist.«

»Genau. Ich wollte in dieser Sache noch mal einen ermittlungstechnischen Anlauf versuchen, aber Kramer hält das ja für vertane Zeit.«

»Verstehe. Und?«

»Jetzt gibt’s einen weiteren Fall!«

Richard blickte erstaunt auf. »Wie?«

»In Baabe. Urlauber aus Stuttgart. Die Gronauers. Wolfgang und Dorothee. Er Mitte Fünfzig, sie höchstens Dreißig. Ich habe selten einen so hässlichen Mann gesehen mit einer so hübschen Ehefrau. Er hat sie vor einigen Tagen als vermisst gemeldet. Sie war in Baabe am Strand unterwegs und ist spurlos verschwunden. Dieselben Umstände wie bei Anneliese Schröder. Ich bin also zu Wolfgang Gronauer gefahren, der ein Hotel in Sellin gebucht hatte. Der Typ war merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, der macht sich keine Sorgen um seine Frau, der ist einfach nur wütend. Ich hab ihn darauf angesprochen, da hat er dann abgewiegelt. Selbstverständlich würde er sich Gedanken wegen seiner Dorothee machen. Viel beigetragen hat er aber nicht. Seine Frau ist vom Strand weg, weil sie zur Toilette wollte. Sie ist nicht zurückgekommen und war auch nicht beim geparkten Auto.«

Jens befeuchtete seine Kehle einmal mehr. »Ich habe dann in Absprache mit der Dienststelle in Bergen eine Fahndung rausgegeben. Und dann war es das gleiche Szenario wie bei Anneliese Schröder. Am nächsten Vormittag kommt Wolfgang Gronauer aus der Ferienwohnung, da sitzt seine Frau auf der Bank vor der Tür. Sie ist völlig apathisch und glotzt nur so vor sich hin. Er verständigt uns. Kramer und ich fahren also hin. Aber die Frau steht völlig neben sich. Die hat kein vernünftiges Wort rausgebracht …«

Richard runzelte die Stirn. »Genau wie bei Anneliese Schröder. Stand sie auch unter Drogen?«

»Das war mein erster Gedanke. Deshalb hab ich Gronauer gefragt, ob wir sie durchsuchen können. Aber da war nichts. Keine Pillen, kein Pulver, nichts.«

»Gab es denn Hinweise auf ein Verbrechen?«

Jens seufzte. »Susanne Schröder meinte, ihre Schwester sei vergewaltigt worden. Denn Anneliese hatte nach ihrem Verschwinden einen Schamlausbefall, den ihre Schwester sich nicht anderes erklären kann. Deswegen hätte ich Frau Gronauer gerne von unserem Gerichtsmediziner in Greifswald untersuchen lassen, aber ich hab auf dieser Station ja nicht das Sagen. Kramer meinte, das wär ja wohl übertrieben. Er hat Herrn Gronauer dann beiseite genommen, mit ihm gequatscht und der – jetzt kommt’s – verzichtet daraufhin auf eine Anzeige.«

Richard setzte sein Glas, das er gerade zum Mund geführt hatte, wieder ab. »Wie bitte? Seine Frau verschwindet und er tut gar nichts?«

»Ich wette, Kramer hat es ihm ausgeredet, um den Papierkram zu umgehen.« Jens sah vor sich auf die Tischplatte. »Ich komme trotzdem nicht über Wolfgang Gronauer weg. Wieso war der die ganze Zeit so geladen? Der hat seine Frau angeguckt, als wäre sie an allem schuld. Irgendwann kam dann so eine abfällige Bemerkung über sie, da konnte ich es mir zusammenreimen. Er dachte wohl, dass sie sich einfach rumgetrieben hat. Dass sie auf Abenteuersuche war, mit Männern.«

»Und sie hat sich gar nicht dazu geäußert?«

»Hat sie nicht. Es war exakt so wie bei Anneliese Schröder. Frau Gronauer blieb die ganze Zeit völlig teilnahmslos. Ich hab ihren Mann auf ihr seltsames Gebaren aufmerksam gemacht, da hat er gesagt, die markiert doch nur. Er meinte dann, eine Anzeige gegen unbekannt bringe nichts. Ihr Urlaub wäre sowieso kurz vor dem Ende, er wolle jetzt nur noch nach Hause fahren.«

Richard überlegte. »Ich bin ja nun wirklich kein Polizist, aber ich wäre da nicht zur Tagesordnung übergegangen.«

Jens zuckte nur mit den Achseln. »Ich hätte die Anzeige aufgenommen. Aber da ist ja noch Kramer. Und der ist nun mal der Boss. Jedes Formular, das er nicht ausfüllen muss, ist für ihn ein gutes Formular. Weißt du, in den USA gibt es ja immer wieder Ärger mit Polizisten, die sich anderen gegenüber viel zu viel rausnehmen. Logo, nicht alle sind hasenrein. Man hat rausgefunden, dass vierzig Prozent der Serienmörder sich vorher oder im Laufe ihrer Täterentwicklung bei der Polizei bewerben. Ja, die wollen Macht, die wollen ihr Mütchen kühlen. Die haben alle einen schweren Schaden, und glaub mir, nicht jeder von denen wird abgelehnt, siehe den Typen, der George Floyd auf dem Gewissen hat. Und wenn ich mir jetzt Kramer angucke, dann ist er wahrscheinlich nicht verhaltensgestört, aber trotzdem für den Polizeidienst völlig ungeeignet. Na ja, breite Schultern hat er. Wenigstens die Optik stimmt.« Jens hob verdrossen sein Glas und leerte es.

»Bei dir klingeln also gerade sämtliche Alarmglocken. Und ich sage dir: mit Recht! Wenn ich eins und eins zusammenzähle, dann würde ich sagen, wir haben hier auf Rügen einen Mann, der Frauen verschleppt, unter Drogen setzt und sie dann vergewaltigt. Das ist jetzt zweimal passiert, und da stellt sich doch die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Mann jetzt genug hat?«

Jens hob den Blick und lächelte müde. »Ich bin froh. Ich hatte gehofft, dass du das sagst. Kramer will mir immer einreden, dass ich nicht alle Latten am Zaun hab.«

»Und was tust du jetzt?«

»Das ist es ja! Ich weiß mir keinen Rat«, gab Jens zu. »Ich hab überhaupt keine Handhabe, irgendwas zu tun. Wenn es hier wirklich so einen Serienvergewaltiger gibt, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis er das nächste Mal zuschlägt.«

Richard schüttelte energisch den Kopf. »Hör auf! Da muss es doch was geben, was man tun kann. Ich denke jetzt mal laut: Wenn das mit den Drogen die Masche dieses Serientäters ist, dann trifft es Frauen, die unbegleitet unterwegs sind. Anneliese Schröder und diese Frau Gronauer haben selber nichts von einer Vergewaltigung gesagt. Was immer dieser Mistkerl den Frauen verabreicht, es hinterlässt sie völlig desorientiert. Dadurch könnte es doch Fälle geben, die der Polizei gar nicht gemeldet werden. Möglicherweise sieht so mancher gar keinen Grund, das Verschwinden einer Person zu melden, wenn sie nur eine Nacht wegbleibt. Darauf, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt, ist bisher nur die Schwester von Anneliese Schröder gekommen. Und das auch nur wegen des Schamlausbefalls. Ich lehn mich mal aus dem Fenster und sage, dass wir hier das Potenzial für eine beachtliche Dunkelziffer haben.«

»Oh Mann!«, stöhnte Jens. »Gibt’s noch ein Bier?«

Richard lachte. »Musst du nicht noch nach Hause fahren?«

»Ja, muss ich noch. Aber ich werd mich wohl nicht selbst kontrollieren. Und Kramer hat auch noch keinen Kollegen angezeigt.«

Trotz dieser provokativen Aussage begnügte Jens sich fortan mit Limonade. Er konnte eben den braven Jungen in sich nicht verleugnen.

»Was denkst du?«, seufzte er. «Was kann ich denn machen? Soll ich bei der Inspektion in Stralsund Krach schlagen? Ich weiß nicht, ob die so aufgeschlossen sind wie du. Ich mach mir auch Gedanken wegen meiner Karriere. Im Moment halten sie mich geeignet für die gehobene Laufbahn. Ich hab ein bisschen Angst, dass ich mich lächerlich mache und mir die gute Ausgangsposition versaue.«

»Meine Erfahrungen mit Meldungen bei der Polizei sind etwas durchwachsen«, begann Richard. »Ich denke aber, hier kann man die Sache nicht totschweigen. Mich würde zuerst diese Substanz interessieren, diese Droge, die er den Frauen gibt. Habt ihr das untersucht?«

»Das ist DXM, Dextrometorphan. Das ist nicht unbekannt. Früher war es ein Hustenmittel, inzwischen ist es auf der Liste der verbotenen Substanzen«, erklärte Jens.

»Wenn ich mich richtig erinnere, habt ihr das bei Anneliese Schröder gefunden. Sie wurde aber nicht untersucht. Ich meine, vielleicht waren ja noch andere Drogen im Spiel.«

»Wir wissen es nicht. Zu dem Zeitpunkt, als wir den Fall Schröder zu den Akten genommen haben, gab es keinen Hinweis auf ein Verbrechen. Also gab es auch keine Untersuchung.«

Richard grübelte. »Gehen wir mal davon aus, dass es noch andere Fälle gibt. Da verschwindet jemand und taucht wieder auf. Die Person ist verwirrt, erzählt nichts. Was tut man in so einem Fall?«

Jens hob den Kopf. »Ich würd mal sagen, man geht zum Arzt. Ich hab auch schon daran gedacht. Man könnte die Mediziner hier natürlich befragen.«

»Wie viele Allgemeinärzte kann es auf Rügen schon geben?«

»Zu viele. Allein in Bergen sind es schon an die dreißig. Ich schätze, insgesamt sind es fünfzig oder sechzig. Und wenn es diesen Täter gibt, wissen wir nicht einmal, ob er sich nur auf Rügen beschränkt.«

Richard zuckte die Achseln. »Das hört sich nach aufwendiger Polizeiarbeit an … Gut, dass es Telefone gibt!«

Jens lachte auf. »Wirklich? Ich soll all diese Ärzte abtelefonieren? Ich werd den Rest meines Lebens in einer Warteschleife zubringen. Aber nehmen wir mal an, ich komme gut und zügig durch, was ist mit der Schweigepflicht? Was dürfen die mir überhaupt sagen?«

Richard winkte ab. »Stell dir vor, du bist Arzt. Nun kommt eine Patientin, die du schon seit Jahren kennst, mit der irgendwas nicht stimmt. Dann ruft die Polizei an und schildert einen anderen Fall, der ganz ähnlich ist. Da wirst du doch hellhörig. Du musst ja keinen Namen nennen, du berichtest von deinem Patienten X und was ihm widerfahren ist. Warum sollte ein Arzt das nicht tun? Vor allen Dingen, wenn es sich um ein Verbrechen handelt!«

»Ja, warum sollte er das nicht tun?« Jens hatte nun auch seine Limonade leer getrunken und drehte in Gedanken das Glas auf dem Tisch. »Kramer wird das mitkriegen und dann bin ich in Erklärungsnot.«

Richard nickte. »Also, wenn du willst, helfe ich dir mit den Anrufen.«

»Du weißt, dass das nicht geht. Ich muss das alleine tun. Wenn Kramer mir draufkommt, soll er mich doch anschwärzen. Ist mir jetzt auch schon egal.« Jens erhob sich. »Ich mach mich mal auf den Weg! Danke für die freundliche Aufnahme. Und den Zuspruch.«

»Dafür nicht!« Richard war ebenfalls aufgestanden und schüttelte seinen ehemaligen Schüler mit einem Lächeln die Hand. Dann war der junge Polizist gegangen.

 

Gegen neun beschloss Richard Dreifürst, noch einmal hinüber ins Raja zu gehen. Sein junger Freund Lackner hatte das Bier im Kühlschrank fast alleine getrunken und Richard so gut wie nichts abbekommen. Die Ereignisse vor drei Jahren hatten den Frührentner verändert. Das Leben hatte wieder Farbe bekommen, es gab neue Prioritäten. Richard trank manchmal, manchmal sogar über den Durst, aber er stürzte nicht mehr ab. Er wusste, dass das keine Garantie für die Zukunft war, bisher jedoch hatte er es ganz gut im Griff.

Auf seinem Schrank im Wohnzimmer stand eine halb volle Flasche Schliwo. Addi, der Mechaniker, brachte ihm jedes Jahr eine vorbei, denn seine Verehrung für den Helden von Garz war ungebrochen. Es war schon ein feiner Tropfen und Richard hob sich die Spezialität für besondere Momente auf. Heute war kein solch spezieller Moment, obwohl es ihm, wie immer, große Freude bereitet hatte, sich mit Jens Lackner auszutauschen. Heute würde eine Flasche Bier aus Erols Raja-Kühlschrank reichen.

Als Richard in das Hinterzimmer des Imbisses trat, gab es wie immer ein freudiges Hallo. Er reichte jedem Anwesenden die Hand und machte den üblichen Small Talk. Dann setzte er sich zu Bruno Abtmann, der alleine an einem Tisch saß. Wenn Richard Bruno zu einer »Lüttje Lage« einlud, dann hatte er meist seine Ruhe. Das war eine Vereinbarung zwischen ihnen, die ganz gut funktionierte. Doch heute hatte er gegen eine kleine Plauderei nichts einzuwenden.

»Wie geht’s denn, Bruno?«

»Muss Richard, muss!« Bruno zwinkerte, das war sein Tick.

»Dann wollen wir wohl mal den Erol rufen!«

Der Wirt kam wenig später und nahm die Bestellung auf. Seit Georg Kattow aus dem Verkehr gezogen worden war, hatte Richard im Raja nie wieder etwas zahlen müssen. Was immer er bestellte, ging aufs Haus. Wenn er allerdings jemanden einlud, dann war das etwas anderes. Erol nahm die Bestellung auf und wenig später brachte sein Sohn Mohammed das Gewünschte. Bruno kam gebürtig aus Hannover, was sein Faible für die traditionelle Lüttje Lage erklärte. Traditionell trank man das, indem man eine Bierflasche ansetzte und zwischen Zeige- und Mittelfinger ein Fläschchen Kornbrand hielt, dessen Inhalt man gleichzeitig in den geöffneten Mund plätschern ließ. Aber so traditionsbewusst war Bruno nicht. Er kippte den Korn direkt in die Bierflasche, nachdem er etwas abgetrunken hatte. Der Mann war kein Genusstrinker, er wollte den schnellen Effekt. Er leerte die Flasche fast in einem Zug.

»Musst mich nicht mehr lange freihalten, Richard«, sagte er. »Ich war beim Arzt. Hab nicht mehr lange. Dann ist es geschafft, dieses Scheißleben!«

Richard sah zu ihm hinüber. Er wusste erst nicht, was er sagen sollte, aber da redete Bruno schon weiter. »Bauchspeicheldrüse. Es ist die Bauchspeicheldrüse. Wenn du Hautkrebs hast, oder Knochenkrebs, geht vielleicht noch was, aber bei der Bauchspeicheldrüse kannst du schon anfangen zu graben, das geht fix. Weißt du was, ich hab mich gefreut, als er es mir gesagt hat. Ist doch wenigstens eine Perspektive.«

Richard sagte nichts. Und Bruno schien auch nichts zu erwarten. So saßen sie nebeneinander und die Zeit verging.