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Als der aus Frankfurt strafversetzte Polizeimeister Waldo Rafalski im Hauptrevier Bergen eintrifft, beginnt eine unheimliche Mordserie in der Rügener Inselhauptstadt. Mit seinem neuen Partner Chris Sienkiewicz wird Rafalski der neugebildeten "Soko Kirche" zugeteilt, die von der ehrgeizigen Hauptkommissarin Hanfstaengl geleitet wird ... und von Jens Lackner, dem angehenden Profiler. Als es einen weiteren Mord gibt, eskaliert der schon lange schwelende Konflikt zwischen dem jungen Kommissar und seiner Vorgesetzten. Dem hochintelligenten Serienmörder, dem "Laternenfisch", spielt das in die Karten und er ist der Polizei immer einen Schritt voraus. Doch er hat nicht mit den Landpolizisten Rafalski und Sienkiewicz gerechnet. Die ungleichen Partner wollen den Killer aufhalten, koste es, was es wolle ...
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Seitenzahl: 460
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1. Zombie-Walk
2. Chaos
3. Das verschwundene Fahrrad
4. Das Täterprofil
5. Eine verirrte Seele
6. Auge in Auge
7. Der Tag der Schwimmbrillen
8. Beunruhigende Nachrichten
9. Verhöre
10. Maren
11. Fünf fehlende Minuten
12. Kaskade
13. Panzerwesten
14. Fluch und Segen
15. Rügenbrückenlauf
Epilog
Mein Dank geht an Hauptkommissar Gerhard Gulden von der Kripo Ansbach, der diese Reihe seit "Der Dünenteufel" begleitet, an Oberkommissarin Uta Blum und Hauptkommissar Karsten Lange von der Stralsunder Bundespolizei und an den Ersten Polizeihauptkommissar Mario Ullrich, der mich durch das Polizeihauptrevier Bergen geführt hat, was einen wichtigen Grundstein für diesen Roman gelegt hat.
Mein weiterer Dank gebührt den Beamten, die in den letzten Jahren die Polizeistation Putbus geleitet haben, Polizeioberkommissar Wolfgang Bulmann und Polizeihauptmeister a. D. Bernd Mahlow, die mich sehr unterstützt haben.
Ebenso danke ich meiner Frau Sibylle, die für mich und meine Arbeit immer ein offenes Ohr hat, mich jederzeit unterstützt und liebevoll aufbaut, wenn die Zeiten mal schwerer sind. Außerdem steuert sie als Krimi-Podcast-Hörerin nicht selten wertvolle Ideen bei.
Diese Rügen-Krimi-Reihe würde es nicht geben ohne meinen ehemaligen Agenten Tim Rohrer und die damalige Piper-Chefredakteurin Eliane Wurzer, die letztendlich den steinigen Weg für diese Reihe geebnet haben. Dafür danke ich.
Nicht zuletzt bedanken möchte ich mich bei Anja und Tino von der Kaffeerösterei Springer in der Bergener Bahnhofstr. 71, die ich bei meinen Recherchen besucht habe und ich kann eine Einkehr dort nur wärmstens empfehlen.
Waldemar Rafalsky war der Neue im Bergener Polizeihauptrevier. Chris Sienkiewicz, ein einheimischer Polizeiobermeister von siebenundzwanzig Jahren, führte den neuen Kollegen durch das mehrstöckige Gebäude in der Wasserstraße 15b, in dem die Bergener Landespolizei seit zweitausendachtzehn residierte. Chris wunderte sich etwas über Waldo, wie der Neuzugang aus Hessen gerne genannt werden wollte. Der Kollege kombinierte struppige schwarze Haare mit einem dunklen Teint und ging bereits auf die Dreißig zu. Sonderbar, dass er nur den Rang eines einfachen Polizeimeisters hatte. Aber vielleicht war er ein Späteinsteiger. Waldo hatte eine hagere Gestalt und wies ein fast indianisch geschnittenes Gesicht auf. Dabei strahlte der Neue aber keineswegs diese gewisse Entschlossenheit aus, die die meisten der Polizisten hier wie eine zweite Haut trugen.
"Das ist Dinah Zellhöfer, unsere Schichtleiterin", stellte Chris die fünfzigjährige Hauptkommissarin vor, die vis-a-vis vom Eingang saß und über mehrere Bildschirme ihre Insel-Streifen überwachte und so alle Einsätze auf Rügen koordinierte. Dinah war ein Urgestein im Hauptrevier und verband warmherzige Nahbarkeit mit unmissverständlicher Autorität. "Rafalski, einen Hessen hatten wir hier noch nicht. Schätze, du wirst uns bereichern. Also dann: Willkommen!" Mit einem Lächeln reichte sie Waldo die Hand.
"Danke!", sagte der Neue.
Chris zog ihn weiter. Die Schichtleitung war ein anspruchsvoller Job und Dina konnte sich größere Plaudereien nicht leisten.
Als nächstes zeigte der POM Waldo die Gefangenen-Zellen. Es waren Räume, die nüchterner kaum sein konnten. Es gab eine Luftmatratze an der linken Seite, die auf einem niedrigen Sockel lag. Ansonsten war die Zelle leer. Sie gingen zum nächsten Raum.
"Das hier sind die Waschräume für die Jungs, die bei uns die Nacht verbringen", erklärte Chris und präsentierte einen Raum mit einer Toilette, einer Dusche und einem Waschbecken. "Die Spülung für das Klo ..."
"... ist draußen neben dem Lichtschalter. Ich weiß. Ist ja nicht so, als ob wir in Frankfurt keine Zellen gehabt haben hätten", fiel Waldo ihm gelangweilt ins Wort.
"Dann weißt du auch, dass jedes Geschäft kontrolliert werden muss. Wir wollen ja nicht, dass unsere Gäste kompromittierende Dinge einfach im Lokus runterspülen."
"Können wir das hier vielleicht abkürzen? Ich meine, bei Adam und Eva müssen wir ja wohl nicht anfangen."
"Gut", sagte Chris, "Dann überspringen wir den Waffenraum. Der ist da vorn. Hier ist der Schlüssel für dein Schließfach. Du bekommst eine SFP9 Heckler und Koch. Bei Dienstende muss sie sofort zurück in den Tresor. Halt dich dran! Der Alte versteht da keinen Spaß."
"Ist klar." Waldo sah zum Treppenhaus. "Vier Stockwerke. Recht groß der Kasten. Braucht ihr wirklich so einen kolossalen Klotz für dieses verschlafene Provinzkaff?"
Chris schmunzelte, obwohl es ihm nicht gefiel, dass der neue Kollege Bergen so runtermachte. "Ist nicht alles Landespolizei. Wir haben noch eine Dependance der Kripo aus Stralsund, die belegt den ersten Stock. In der zweiten Etage gibt es einen Konferenzraum und ganz oben sind die Umkleiden, die Spinde und der Fitnessraum."
"Einen Fitnessraum habt ihr? Wow!" Waldo schien interessiert.
In diesem Moment donnerte es. Es war wie ein fernes Grollen. Chris runzelte irritiert die Stirn. "Hast du das gehört?"
"Das war eine Explosion. Schätze, da wurde ein altes Gemäuer gesprengt."
"Nein!" Der POM schüttelte den Kopf. "Das wüsste ich. Komm mit!"
Wenig später standen die beiden Polizisten bei Dinah Zellhöfer und erfuhren, was passiert war. Die Sparkasse Vorpommern im Einkaufszentrum in der Ruschwitzstraße war von einer organisierten Gangster-Bande überfallen worden. Dabei hatten die Täter binnen weniger Minuten den Geldautomaten gesprengt und die darin enthaltenen Banknoten an sich gebracht. Dinah löste sofort eine Fahndung aus. Die Streife mit Kommissarin Cora Bergstedt und Polizeiobermeister Said Cetin, die gerade von Ralswiek zurückkam, nahm die Verfolgung des Audi 8 der Täter auf.
"Glückwunsch, Rafalski!", bemerkte die Schichtleiterin trocken, "Du hast dir für deinen Dienstantritt einen perfekten Tag ausgesucht."
Als Richard und Paula Dreifürst die Pension Seerose betraten, um Jens und Susanne abzuholen, sahen sie in frustrierte Gesichter. "Nanu?", wunderte sich die hochschwangere Paula, "Ich dachte, wir sind in Feierlaune."
"Es ist wieder mal Yslei. Sie hat keine Lust, mitzukommen und sich in ihr Zimmer eingesperrt", erläuterte Jens, der suspendierte junge Kommissar, der aus Schwerin gekommen war und einige Tage Urlaub in Lauterbach verbrachte. Während er die Launen ihrer gemeinsamen Adoptivtochter mit einem gewissen Gleichmut trug, zeigte sich Susanne, seine Frau, deutlich frustrierter. "Ich hatte wirklich gedacht, mit der Zeit wird es einfacher mit dem Mädchen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sperrt sich gegen alles, was von mir kommt. Manchmal könnte ich wirklich heulen.
Paula legt ihre Umhängetasche ab. "Ich rede mal mit ihr."
Wenig später klopfte Paula an die Tür des Teenagers. "Yslei, ich bin es, Paula. Lässt du mich rein?"
Kurze Zeit darauf ging innen der Schlüssel. Ein dünnes Mädchen von vierzehn Jahren öffnete die Tür. Yslei stammte aus Syrien und ein schweres Schicksal hatte sie und ihre Familie zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen, eine Flucht, die nicht tragischer hätte verlaufen können und zur Auslöschung ihrer ganzen Familie geführt hatte. Yslei war die einzige Überlebende gewesen.
"Ich komme nicht mit auf den Scheißausflug!", eröffnete das Mädchen das Gespräch trotzig.
"Versteh ich", sagte Paula und setzte sich aufs Bett, ungelenk und umständlich, denn ihre Babykugel verhinderte normale Bewegungsabläufe. Die Drehbuchautorin, die über dreißig Jahre jünger war als ihr Mann Richard, schenkte dem Teenager ein Lächeln. "Ich kenn das. Ich wäre am liebsten schon mit zwölf bei meinen Alten ausgezogen. Die gehörten damals zu den ersten Helikopter-Eltern. Haben es gut gemeint, die zwei, aber mich dabei in den Wahnsinn getrieben."
"Ach ja, wirklich?" Yslei schaute sie mäßig interessiert an.
"Ich werd' dich auch nicht überreden, mitzukommen, Süße", versicherte Paula, "Ich hatte mich nur gefreut, dich zu sehen. Schade. Ich sag den anderen, dass es ohne dich gehen wird."
Yslei schaut sie pikiert an. "Jetzt fühle ich mich schlecht. Ich bin immer die, die alles kaputtmacht. Alle hassen mich."
Paula lachte. "Yslei, du Drama-Queen! Susanne hasst dich nicht. Und das weißt du auch. Ihr seid zwar nicht verwandt, aber ihr habt beide einen Hang zum Selbstmitleid. Naja, ist okay für mich." Paula wuchtete sich wieder vom Bett hoch.
"Du denkst, ich sollte mitkommen", vermutete Yslei, "So ist es doch, oder?"
"Du hast die Wahl. Grab dich hier ein, stream Disney und nähr' deine Depressionen, oder komm mit und gib dem echten Leben eine Chance. Und den Leuten, die dich lieben. Und da oute ich mich mal, da gehöre ich dazu."
Yslei stöhnte resignierend und schnappte ihre Jacke. "Gott, das ist so eine Gehirnwäsche hier!" Damit stapfte sie hinaus.
Chris war jetzt schon einige Jahre bei der Polizeitruppe in Bergen und der Dienst gefiel ihm, auch wenn es sich oft um die gleiche Routine handelte. Dass hochspezialisierte Ganoven jetzt bereits den dritten Geldautomaten auf der Insel gesprengt und ausgeraubt hatten, war jedoch etwas Neues.
Der POM und Waldo Rafalski nahmen an der extra angesetzten Mittagsbesprechung im Konferenzraum der Zentrale teil. Revierleiter Bert Rusnak, ein bulliger Veteran in den späten Fünfzigern, hatte zehn Kollegen um sich versammelt. Die Beamten Cora Bergstedt und Said Cetin erstatteten Bericht. Eigentlich redete nur die blonde Kommissarin, die, wie Chris fand, trotz ihrer vierzig Jahre die attraktivste Kollegin auf der Dienststelle war. Mit ihrem herben und asketischen Aussehen hätte sie in jedem Superheldenfilm eine nordische Göttin spielen können. Sie berichtete, dass der Versuch der Streife, die Automatensprenger zu stellen, gescheitert war. Man hatte zwar kurz Sichtkontakt mit dem Fluchtwagen gehabt, doch an dessen Steuer hatte ein Fahrkünstler gesessen, der mit einem gewagten Manöver gewendet und Vollgas gegeben hatte. Cora Bergstedts Versuch, an den Tätern dranzubleiben, war kein Erfolg beschieden. Die PS-starke Audi-Limousine hatte die Streife innerhalb kürzester Zeit abgehängt. Trotz eines für Insel-Verhältnisse starken Polizeiaufgebotes blieben die Bankräuber wie vom Boden verschluckt.
"Die Täter waren gut vorbereitet", berichtete Cora, "Keine Amateure. Mir ist nicht begreiflich, wie sie auf unseren Straßen so schnell fahren konnten. Die sind volles Risiko gegangen. Und unser VW-Touareg hat sich im Vergleich zu ihrem Audi wie ein Traktor angefühlt. Wir hatten keine Chance."
Hauptkommissar Bert Rusnak nickte der Kollegin zu. "Kein Vorwurf, Cora. Diese Bande hat das nicht zum ersten Mal durchgezogen. Die haben von der Sprengung bis zu ihrer Flucht nur wenige Minuten gebraucht. Wir haben sogar die Brücke zum Festland gesperrt, hat nichts gebracht."
Chris blickte zu Waldo hinüber, der nicht den Eindruck machte, als wäre er hier mit Feuereifer bei der Sache. Auf die Nachfrage, wieso er, der gebürtige Hesse mit einem Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern die Dienststellen getauscht hatte, war nur eine ausweichende Antwort gekommen. Chris wurde aus Waldo Rafalski nicht schlau.
"Was den gesprengten Geldautomaten angeht, ist die Spusi in der Ruschwitzstraße vor Ort. Die Beweissicherung gestaltet sich wohl schwierig. Die Täter haben den Geldautomaten und die Türen mit Salpetersäure besprüht." Rusnak seufzte, "Dieses Vorgehen ist schon aus NRW und den Niederlanden bekannt. Den Ganoven fallen immer neue Maschen ein.“
"Ich versteh nicht, wieso diese Leute ausgerechnet hier auf Rügen zuschlagen. Das ist eine Insel, da könnten sie doch schnell mal festsitzen, oder?", warf der kahle Polizeihauptmeister Willie Olsen ein, der neben seiner Partnerin Esther Marx saß, einer kleinen Frau mit Zöpfen und leichtem Überbiss. Die Beamtin stand im selben Rang wie Olsen und war die Einzige im Revier, die mit dem Grantler einigermaßen auskam. Charmewunder waren sie beide nicht. Chris hatte in seiner Zeit auf dem Revier mit keinem von ihnen richtig warm werden können.
"Sollte man meinen ...", gab Rusnak zurück, "Andererseits ist das hier auch tiefste Provinz. Wahrscheinlich haben die Täter keine sonderlich hohe Meinung von der Polizei hier. Vielleicht sogar zu Recht, mit organisierter Bandenkriminalität hatten wir bisher wenig Berührung. Dazu kommt, dass wir chronisch unterbesetzt sind, das spielt sicher auch eine Rolle." Der Hauptkommissar klappte einen Ordner zu und griff nach dem nächsten. "Wie dem auch sei, die Bankräuber sind jetzt das Problem der Kripo. Entwarnung bedeutet das aber nicht. Wir haben hier andere Baustellen!" Er sah betrübt auf die Schriftstücke in seiner Hand. "Also! Wir können uns glücklich schätzen, dass Bergen eine neue Touristen-Attraktion hat", grinste er süffisant in die Runde, "Freuen wir uns auf den 1. Bergener Zombie Walk!"
Schmunzeln bei den Kollegen.
"Der Zombie Walk läuft ab wie eine Demo und beginnt um 14 Uhr unten an der Bundesstraße. Die starten vom Edeka aus. Die Teilnehmer laufen die Königstraße hoch in die Vieschstraße und dann über Rugardstraße, gehen am Ernst-Moritz-Arndt-Turm vorbei und der ganze Zauber endet bei der Waldbühne, wo sie dann feiern. So weit, so ungut." Rusnak schaute herum. "Hat vielleicht irgendjemand schon mal Erfahrung mit so einem ... Zombie Walk gemacht?"
Die Mannschaft sah herum. Da hob Waldo die Hand.
"Ah, unser neuer Kollege Waldemar Rafalski aus Frankfurt am Main. Erstmal willkommen auf unserer Dienststelle!"
Ein freundlicher Applaus der Kollegen.
"Moment, Sie ziehen 'Waldo' vor", erinnerte sich Rusnak, "Also, was kommt da mit diesem Zombie Walk auf uns zu?"
"Das ist nicht so wild. Ich habe so einen Walk in Frankfurt mitgemacht. Das ist so die Generation Netflix, Leute, die Walking Dead gesuchtet haben und sich gerne als Zombies verkleiden. Zugegeben, die sehen in ihren Masken ziemlich heftig aus, aber es ist vergleichsweise harmlos. Die sind nicht mit Hooligans zu vergleichen, die Untoten wollen keinen Krawall. Ist einfach eine andere Art von Fasching."
"Beim Fasching werfen die Funkenmariechen wenigstens die Beine hoch. Aber wozu soll denn dieses Zombiezeug gut sein?", fragte Willie Olsen verständnislos.
"Verstört dich wohl, wenn Frauen nicht deinem sexistischen Weltbild entsprechen, was, Willie?" Die spöttische Bemerkung kam von Dina Zellhöfer. "Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass der Lebensinhalt von uns Frauen nicht allein darin besteht, Blindgänger wie dich zum Sabbern zu bringen?" Sie hatte die Grinser auf ihrer Seite.
"Ach, rutsch mir doch den Buckel runter, Dina!" Olsen verschränkte trotzig die Arme, Humor ging ihm ab.
"Contenance bitte, Herrschaften!", gebot Rusnak und sah in seine Mappe. "Also, hier kommen die Spielregeln: Unsere Zombies dürfen keinen Alkohol trinken, sich nicht von der Prozession entfernen und es ist ihnen auch untersagt, kleine Kinder zu ängstigen oder gar zum Weinen zu bringen ..."
"Aber sie dürfen auf Erwachsene zuschlurfen und sie anfauchen", ergänzte Waldo, "Ein bisschen Spuk gehört dazu."
"Gut", resümierte Rusnak, "Ersticken wir trotzdem jeden Ärger im Keim. Der einfache Rüganer könnte vielleicht doch etwas verstört auf so viele lebende Tote reagieren. Die Veranstalter haben über zweihundert Teilnehmer gemeldet. Das heißt, alle verfügbaren Kollegen werden vor Ort sein. Wir werden präsent sein, aber halten uns zurück. Zeigt etwas Humor, Leute, lächelt! Wir sind weltoffen und mögen Zombies, okay? Ist eine gute Chance, uns volksnah zu präsentieren. Verstanden?"
Zustimmendes Nicken in der Truppe.
"Dann haben wir das auch. Waldo, POM Chris Sinkiewicz wird Ihr neuer Partner. Ich denke, Sie werden sich hier schnell akklimatisieren. So, die neue Besatzung von Strela 30 wäre damit komplett", verkündete der Revierleiter.
"Kann ich fahren?", erkundigte sich der Neue.
"Sicher nicht!", bellte Rusnak, "Ist ja nicht so, als wären uns unsere Dienstfahrzeuge hier gleichgültig. Der Chris fährt!"
Der Ausflug der zwei befreundeten Paare nach Sassnitz war lange geplant gewesen. Paula Dreifürst, die Mutterfreuden entgegensah, lebte noch nicht lange auf Rügen, aber sie und Susanne Lackner waren schnell sehr gute Freundinnen geworden. Das hatte auch seinen Grund darin, dass Jens bei der Operativen Fallanalyse im Schweriner LKA sehr eingespannt und meist abwesend war. So fehlte er nicht nur als Gesprächspartner, er konnte auch wenig Einfluss auf die Erziehung ihrer Pflegetochter Yslei nehmen. Das syrische Mädchen hatte erstaunlich schnell Deutsch gelernt, sie redete nun wie ein Buch, wenn auch mit einem harten Akzent. Ansonsten aber tat sie sich schwer, in ihrem neuen Leben Kontakte zu finden. Ob es die Schule betraf, die hiesige Kultur oder ihre Pflegeeltern, sie sperrte sich allem, zeigte sich störrisch und verschlossen. Sie und Susanne stritten oft und die Luft zwischen ihnen war meist zum Schneiden dick. Solche Probleme gab es zwischen Paula und Yslei nicht, weswegen der schwierige Teenager oft in Garz zu Besuch war.
Richard und Jens standen abseits, als die Frauen bei den Sassnitzer Imbissschiffen maritime Leckereien erwarben.
"Paula sieht aus, als würde es nicht mehr lange dauern mit der Geburt, oder?"
Richard nickte. "Stimmt. Übermorgen ist der errechnete Termin. Ob sich das Baby dran hält, ist eine andere Frage."
"Aber ihr zwei seht ganz entspannt und glücklich aus."
"Oh ja. Im Vergleich zu meiner Zeit mit Marion ist es mit Paula die reine Wellness. Ich weiß immer noch nicht, womit ich sie verdient habe." Er sah Jens von der Seite an. "Aber ich hab das Gefühl, dass es bei euch etwas knirscht, oder?"
Jens schaute sparsam. "Naja ... ich würde sagen, Susanne und ich verstehen uns, aber dadurch, dass ich meine Profiler-Ausbildung in Schwerin mache und es sich andererseits mit Yslei nicht gut entwickelt, sind wir belastet. Ich würde Susanne gerne mehr unterstützen, aber die Lehrgänge und Fälle bei der LKA schlucken all meine Energie."
Richard wollte ihm Mut machen, doch da kamen Paula, Susanne und Yslei vom Räucherkutter Heimat zurück, bepackt mit allerlei Fischbrötchen, die sie flugs verteilten.
"Kommt!", sagte Susanne, "Paula und Yslei waren noch nie im Panorama-Café. Und das ändern wir jetzt!"
"Na prima!", demonstrierte Jens Tatendrang, "Auf geht's!"
Auf dem Parkplatz des Edeka an der Bundesstraße 196 hatten die Organisatoren des 1. Rügener Zombie Walks ein großes Zelt aufgebaut, in dem sich die Teilnehmer schminken konnten. Viele der Verkleidungen waren aufwändig und es dauerte oft Stunden, bis die Masken perfekt waren. Kreativität war Trumpf, grausig musste die Maske sein, möglichst blutig und vor allen Dingen sehr realistisch.
Alice Ott und Bernadette Kuderer waren aus Weimar angereist. Die Gymnasiastinnen waren noch nicht lange achtzehn und wollten die Volljährigkeit mit einem Trip an die Ostsee feiern. Während Alice eine blonde Löwenmähne trug und ihre üppigen Formen gerne durch sexy Kleidung unterstrich, versteckte die zierliche Bernadette ihre weiblichen Attribute unter weiten Kleidern. Die Freundinnen hatten ihre Verkleidung simpel gehalten. Sie schminkten sich einfach Totenschädel und achteten vor allem darauf, Sexappeal auszustrahlen. Dabei sah Alice zwar lasziver aus, aber Bernadette war die bessere Schauspielerin.
Mit fortschreitender Zeit stellte sich Lampenfieber ein, dem die jungen Frauen mit einigen Gläsern Aperol Spritz begegneten. Dann endlich, die Freundinnen aus Weimar hatten sich bereits einiges an guter Laune angetrunken, sollte es losgehen. Gut zweihundert Schreckensgestalten formierten sich diszipliniert in einer langen Reihe ...
Chris hatte die Zeit genutzt, Waldo Rafalski im Streifenwagen etwas mit dem Bergener Areal vertraut zu machen. Sehr lange hatte das nicht gedauert, denn so groß war die Inselhauptstadt nicht.
"Ich weiß, dass ist deine Heimat", resümierte Waldo, "Aber das ist ein seltsames Kaff, dieses Bergen. Das reine Chaos, kein Haus gleicht dem anderen, durch das Gefälle ist auch keines auf der gleichen Höhe wie das vom Nachbarn und dann die Straßen: Eng, kurvig, hier noch normal geteert und dann kommt direkt Kopfsteinpflaster aus dem Mittelalter."
"Zugegeben, ist ein wilder Mix. Aber früher war hier noch DDR. Das Straßennetz der Insel war für den Trabi ausgelegt, nicht für die Protz-SUV's der Touris. Es wurde viel modernisiert seit der Wende, aber manches ist eben noch alt."
"Das muss man mögen."
"Was machst du überhaupt hier, wenn du lieber da bist, wo der Bär tanzt?" Chris ließ nicht gerne etwas auf seine Insel kommen.
"Ich bin nicht freiwillig hier, Kumpel, so sieht's mal aus."
"Ach!" Chris horchte auf. "Und was heißt das genau?"
"War was Disziplinarisches. So eine Art Strafversetzung."
Chris zeigte sich beeindruckt. "Was hast du angestellt?"
Waldo seufzte. Dann sagte er: "Es war wohl keine gute Idee, etwas mit der Frau eines Polizeirats anzufangen."
"Wie? Das hast du gemacht? Mann, du traust dich was!"
"Naja, das Bundesverdienstkreuz erwarte ich nicht dafür. Und den ganzen Ärger hat es nicht gelohnt. Aber selbst schuld. Manchmal habe ich meinen Charme einfach nicht im Griff."
Chris selbst hatte keine Freundin und Unterhaltungen, in denen andere Männer ihre Aufreißer-Skills ins Schaufenster stellten, nervten ihn. "Der Zombie Walk startet in einer halben Stunde. Wir sollten uns mal allmählich auf unsere Position begeben."
Während Chris wendete, reckte sich Waldo auf dem Beifahrersitz. "Hast du was dagegen, wenn ich einen Joint anzünde?"
"Bitte?" Der POM glaubte, sich verhört zu haben.
"Wenn wir einen quarzen, kommt der Walk viel besser!"
"Das werden wir ganz bestimmt nicht tun, Mann!" Chris blickte seinen neuen Partner empört an.
Der zeigte nun ein spöttisches Grinsen. "Chill mal, Sienkiewicz! Ich verarsch dich nur! Denkst du wirklich, ich komm mit einer Bong zum Dienst?"
Chris war sich da nicht so sicher. Er beschloss, seinen neuen Partner gut im Auge zu behalten.
Während Richard, Paula und Yslei sich beim Eisstand in der Nähe des Rügenhotels mit sündhaft teuren Amarenakugeln eindeckten, hatte Susanne Jens zur Seite gezogen.
Er sah hinüber zu Yslei, die etwas abseits von Richard und Paula stand, freudlos und, in den Händen das tropfende Eis, abwesend auf den Boden vor sich starrte.
"Zerreißt einem echt das Herz", sagte Jens. "Wenn nicht mal die Aussicht auf eine Leckerei einem Kind ein Lächeln entlocken kann ..."
"Ich versuche mich nicht so sehr davon runterziehen zu lassen", entgegnete Susanne nüchtern, "Meine Therapeutin hat mir gesagt, es bringt niemandem etwas, wenn wir uns schuldig fühlen."
Jens schaute fragend zu ihr. "Du wolltest doch mit mir reden. Geht es dabei nicht um Yslei?"
"Nein. Es geht es um dich, Jens. Ich mache mir Sorgen. Du siehst schlecht aus. Du wirkst ausgelaugt und erschöpft."
Jens blieb einen Moment still. "Wieso wundert dich das? Ich bin beim LKA in Schwerin. Da muss ich Vollgas geben."
"Ja, sicher. Aber ich kenn dich. Du bist, was deine eigenen Nöte angeht, oft recht blind. Und dir gehts nicht gut."
"Sanni, ich kann dir versichern ..."
Sie knuffte ihn ärgerlich. "Hör auf, mir irgendwas zu versichern! Denk über das nach, was ich dir gerade gesagt habe. Wenn du irgendwann zusammenklappst, ist niemandem damit geholfen, deinen beruflichen Ambitionen am allerwenigsten."
Jens wusste, dass seine Frau recht hatte, er tat sich seit einiger Zeit schwer. Im letzten Jahr hatte er sich nicht geschont, um eine makellose Visitenkarte bei der OFA abzugeben. Doch jetzt baute er spürbar ab. Susanne hatte nicht unrecht. Was, wenn er etwas von dem Urlaub einforderte, der ihm noch zustand? Die Vorstellung, zwei Wochen in der Pension Seerose die Beine hochzulegen, hatte etwas Verlockendes.
"Was ist denn da los?" Susanne reckte den Hals, denn irgendetwas ging vorne auf der Hängebrücke vor sich. Es waren zwei Polizisten vor Ort und Menschen strömten herbei. Jens und Susanne stießen zu Richard und Paula, die mit Yslei an einer Stelle standen, wo eine Polizistin die Brücke vor den Schaulustigen absperrte. Weiter vorne redete Hauptmeister Willie Olsen auf einen großen Mann ein, der über das Geländer der Fußgängerbrücke geklettert war und offenbar im Begriff stand, zu springen. Die Sassnitzer Hängebrücke war mit knapp zweihundertfünfzig Metern Länge kein Monstrum, hatte aber an ihrem Scheitelpunkt eine Höhe von fünfzehn Metern. Wer immer sich hier hinabstürzte, hatte kaum Chancen, das zu überleben.
"Kommt nicht näher! Ich springe! Ich springe!", rief der Mann, der sich außen am Geländer festklammerte und angstvoll zum Polizisten blickte.
"Jetzt beruhigen Sie sich! Alles wird gut!", beschwichtigte Olsen den großen Mann, der Ende dreißig sein musste und von ungewöhnlich kräftiger Statur war.
Paula sah Jens an. "Der Polizist da ist ja vollkommen überfordert. Kannst du das nicht übernehmen?"
"Für so ein Krisenmanagement habe ich keine Qualifikation", sagte Jens, "Und Kommissar bin auch nicht mehr."
Richard schnappte nach Luft. "Wartet mal! Ich kenne diesen Mann!"
"Wie? Du kennst ihn?"
"Das gibt es ja nicht: Das ist Albert Kattow!"
Paula schob sich nach vorne. "Wer ist Albert Kattow?"
"Das ist der Bruder von Georg Kattow", antwortete Jens.
Die schwangere Frau begriff und starrte bestürzt hinüber. "Von Georg Kattow, dem Massenmörder? Dem Fluch von Rügen?"
"Ja, genau! Dem Fluch von Rügen."
Pünktlich um vierzehn Uhr setzte sich der Zug des Zombie Walks in Bewegung. Nicht alle, die für den Lauf gemeldet hatten, waren gekommen, aber die Zweihunderter-Marke hatte man geknackt. Vom Einfallsreichtum der Teilnehmer konnte man nur beeindruckt sein. Ein junger Mann aus Berlin hatte sich als Jäger gestylt, dem ein Armbrustpfeil im linken Auge steckt, die Spitze trat am Hinterkopf wieder aus. Zwei Schwestern waren als siamesische Zwillinge verkleidet, die bereits in Verwesung übergegangen waren. Eine japanische Kabuki-Leiche stand bestens gelaunt neben einem Horror-Clown, dessen Lachen in einem blutigen Schnitt von einem Ohr zum anderen ging. Manchen derer, die sich zu diesem Lauf angemeldet hatten, war es nicht so sehr auf eine spektakuläre und originelle Optik angekommen, sondern eher auf einen besonders realistischen Touch. Sie hatten den Schwerpunkt auf die Maskenbildnerei gelegt und sich an dem Aussehen tatsächlicher halb verwester Leichen orientiert. Ihrer Erscheinung zum Trotz waren die Toten ein friedliches Völkchen. Es wurde gelacht und die Stimmung hätte nicht besser sein können.
"Voll geil!", rief Alice begeistert, "Hättest du gedacht, dass es so gut wird?"
"Bestimmt nicht", rief Bernadette, "Aber dieser Zombie Walk soll ja nicht der letzte gewesen sein."
Auch wenn die Inselbevölkerung nicht verdächtig war, absolut auf der Höhe zu sein, was Hollywood- und Filmstandards betraf, hatten sich doch viele Neugierige versammelt, um diesen Zombie Walk persönlich in Augenschein zu nehmen. Ein Teil des älteren und konservativeren Publikums zeigte sich angesichts dieses Spektakels befremdet, aber die Mehrheit der Zuschauer amüsierte sich über die Parade der blutigen Gestalten, die da schrecklich röchelnd des Weges kam. Immer wieder scherten Teilnehmer aus dem Pulk aus und wankten in bedrohlicher Pose auf die Zuschauer zu, um dann doch wieder abzudrehen. Diese kleinen Eskapaden wurden durchgehend mit Humor genommen und manchmal sogar beklatscht.
Alice und Bernadette, die im hinteren Drittel des Zuges liefen, sahen, dass auch die Polizei präsent war, sich aber sehr diskret im Hintergrund hielt. Im Grunde schauten die Beamten genauso neugierig zu wie der Rest des Publikums.
Bernadette, für die Schüchternheit ihre zweite Natur war, wurde immer ausgelassener, was sicher auch dem Konsum des Aperol Spritz geschuldet war. Es machte ihr Spaß, mit den Menschen zu interagieren, die die Königstraße säumten. Immer wieder sprang sie auf einzelne Zuschauer zu und warf fauchend vor ihnen die Arme in die Höhe, während ihr Körper sich in konvulsivischen Zuckungen erging.
Daran, dass Übermut selten guttut, wurde Bernadette erinnert, als sie sich provozierend vor einer Gruppe von jungen Männern aufbaute, die gerade eine Wodkaflasche herumgehen ließ. Ein Bursche mit langen blonden Haaren sprang plötzlich nach vorne und packte sie. "Na, Totengirl, was geht?", rief er und drückte ihr einen Kuss auf. Seinen Körperkräften hätte Bernadette nichts entgegenzusetzen gehabt, aber einige beherzte Zuschauer griffen ein und rissen den angetrunkenen Rüpel von ihr weg.
Bernadette war der Schreck gehörig in die Glieder gefahren, aber sie hatte ihre Lektion gelernt. Ernüchtert beschloss sie, die Prozession der "lebenden Toten" nicht mehr zu verlassen und vermied es, die Zuschauer weiter mit Annäherungen zu schocken...
Auf der Fußgängerbrücke in Sassnitz spitzte sich die Lage mit dem selbstmordgefährdeten Albert Kattow zu. Die Verstärkung, auf die Jens Lackner gehofft hatte, wollte nicht in der Hafenstadt eintreffen. Polizist Willie Olsen besprach sich mit seiner Partnerin Esther Marx, die aber auch ratlos war. Jens wusste, dass es sich bei Albert, dem Bruder des Serienmörders Georg Kattow, um einen Autisten mit Asperger-Syndrom handelte. Sich mit ihm zu verständigen, wäre selbst für einen Psychologen nicht leicht gewesen. Willie Olsen und Esther Marx fanden gar keinen Ansatz, mit ihm zu kommunizieren.
Jens trat zu ihnen. "Verzeihung! Jens Lackner vom LKA Schwerin. Kann ich Sie vielleicht irgendwie unterstützen?"
Olsen starrte ihn verdutzt an. "Lackner? Sie wurden doch suspendiert, oder irre ich mich?"
Jens gestikulierte hilflos und suchte nach einer Antwort.
In diesem Moment passierte etwas, das alle überraschte. Die vierzehnjährige Yslei lief plötzlich unter dem Absperrungsband durch und hob ein Stofftier vom Boden auf, einen Hasen mit langen Schlappohren. Bevor es jemand verhindern konnte, marschierte sie damit zu der Stelle auf der Brücke, wo Albert Kattow stand und drohte, sich in die Tiefe zu stürzen.
"Yslei! Komm zurück! Sofort!", rief Susanne erschrocken.
Olsen und seine Partnerin drehten sich perplex um und sahen, wie der syrische Teenager sich über das Geländer beugte und dem Lebensmörder die Puppe hinhielt.
"Ich springe!", rief Albert angstvoll, als er registrierte, dass ihm da jemand gefährlich nah auf die Pelle rückte. Doch dann sah er das Stofftier in der Hand Ysleis. Das Mädchen verstellte nun seine Stimme und verlieh dem Hasen ein Eigenleben. "Albert, ja sag mal!", quäkte der Hase, "Was ist denn heute los mit dir, Kumpel?"
Der Bruder von Georg Kattow sah das Stofftier, das seinen Kopf synchron zu den Worten bewegt hatte, verblüfft an.
"Ja, was guckst du denn so? Kennst du mich denn nicht mehr? Weißt wohl nicht mehr, wer ich bin, oder?"
Alberts starrte. "Du bist die Babett", sagte er dann.
"Die Babett? Ich bin doch nicht einfach nur die Babett", ließ Yslei den Hasen empört klingen, "Ich bin die liebreizende Babett!"
Albert schaute hypnotisiert auf sein Kuscheltier, das ihm gerade eine unerwartete eigene Persönlichkeit zu offenbaren schien.
Da alle der Herumstehenden sahen, dass der Lebensmüde auf die kleine Puppenspielerin einging, griff erst einmal niemand ein.
"Oder findest du mich nicht schön, Albert? Sei ehrlich!", quiekte das Häschen. "Aber sag bloß nichts Falsches! Wer ist die Schönste hier?"
Der Autist überlegte kurz. "Du bist die Schönste."
"Olala!", kicherte Babett, "Du Charmeur! Aber du hast recht. So, und jetzt komm von der Brücke runter. Ich hab noch zwei Euro, davon kaufen wir dir ein Eis, ja?"
"Ein Eis ...?" Der Autist geriet nun ins Grübeln.
"Ja, was ist jetzt, Albert?" Der kleine Hase war nicht mit großer Geduld gesegnet, "Kommst du jetzt oder was? Ich hab meine Zeit schließlich nicht gestohlen!"
Im nächsten Moment kletterte der Autist über das Geländer zurück auf die sichere Brücke.
"Na endlich! Ich dachte schon, du willst da Wurzeln schlagen!" seufzte Babett. Dann streckte Yslei ihm ihre andere Hand hin, die die Eiswaffel hielt. "Willst du schon mal einen Vorgeschmack? Wenn du möchtest, darfst du probieren!"
Albert zögerte, beugte sich dann vor und leckte von Ysleis Eis. Die Schaulustigen, die die Szenerie säumten, begannen spontan zu applaudieren.
POM Chris Sienkiewicz lehnte gemeinsam mit Polizeimeister Waldo Rafalski am Streifenwagen und sah der gespenstischen Parade zu, die schlurfend an ihnen vorbeiwankte. Der Rüganer konnte es nicht leugnen, er war angetan vom 1. Bergener Zombie Walk, das war mal eine originelle Abwechslung zum sonstigen Dienst.
Chris sah zu Waldo, der mit seinem Handy zugange war und drauf herumtippte. "Ich will dir ja nicht zu nahetreten, aber schon mal was von Achtsamkeit im Dienst gehört?"
Waldo blickte nicht mal auf. "Ich hab alles im Griff, Mann. Wenn wirklich was passiert, bin ich der Erste, der's peilt!"
"Oh, du bist ein Checker", spottete Chris, dem das Gebaren des neuen Partners schon jetzt auf den Senkel ging.
Waldo steckte sein Telefon weg und musterte Chris. "Was hast du für ein Problem? Ich meine, selbst für einen Musterschüler bist du schon ein krasser Paragraphensklave. Oder macht es dir einfach nur Spaß, stramm zu stehen?"
"Spaß? Nein. Aber ich sag dir mal, was keinen Spaß macht: Wenn nämlich der Alte sieht, mit welchem Eifer du hier deinen Dienst versiehst. Dann nämlich verpasst er dir einen Einlauf, da erzählst du noch deinen Enkeln von."
Waldo kramte wenig beeindruckt in seinen Taschen. "Sag, wie läuft das hier oben auf Lummerland? Kann man mal kurz verschwinden und sich mit einem Döner versorgen?"
"Doch nicht während einem Einsatz!" Chris musste sich sehr wundern. "Auch hier in 'Lummerland' bleiben wir schön auf dem Posten!"
"Wie soll ich mich konzentrieren, wenn ich Schmacht habe?", maulte Waldo, "Ich bin nicht ich mit leerem Magen! Und gerade brauch ich wirklich was Herzhaftes!"
"Du bleibst schön da! Ende der Durchsage!"
Immerhin gab Waldo nun Ruhe. Gemeinsam betrachteten die Beamten nun die vorbeiflanierenden Zombies.
Es langweilte den Neuen bald und er hatte bereits wieder sein Smartphone am Wickel. Chris überlegte, ob er ihn zurechtweisen sollte, er war ranghöher. Andererseits wirkte Waldo nicht so, als würde er sich Autoritäten ohne Weiteres beugen. So eine Konfrontation konnte dann leicht mal nach hinten losgehen. Chris entschied, dass er seinen Partner erst noch besser kennenlernen musste, bevor er ihn maßregelte.
Der Zombie-Walk war wirklich aufregend. Man konnte in diesem Umzug eine interessante Gruppendynamik erleben, eine Form von kreativer Massenhysterie, der sich kaum einer entziehen konnte, der mittat. Man bewegte sich wie ein einziger großer Organismus vorwärts, der ständig Grunz-, Röchel- und Schmatzlaute ausstieß, der heulte und knurrte, kurz, es war ein echtes Ereignis.
Was Bernadette aus dem Konzept brachte, war ihre Blase. Alice und sie hatten es mit dem Sekt wohl übertrieben.
"Alice!", raunte Bernadette und zog der Freundin am Ärmel.
"Was?"
"Ich muss Pipi."
"Pipi? Jetzt? Kannst du nicht noch einhalten?"
"Nein, ich muss jetzt, ich puller mich sonst ein."
Alice sah sich um. Eine der Regeln besagte, dass "Zombies" sich nicht vom Zug entfernen oder gar Läden betreten durften. Aber gegen die Natur konnte man keine Gesetze machen. "Komm, dahin!" Alice deutete auf eine Gasse, die rechts abging. "Wir sind ruckzuck wieder zurück!"
Die beiden jungen Frau lösten sich von der Gruppe und liefen in die Querstraße. Da sie nicht zurückschauten, sahen sie nicht, dass die fünfköpfige Gruppe ihnen folgte, die angetrunkenen Halbstarken, die von dem Blonden angeführt wurden, der Bernadette bereits einen Kuss geraubt hatte...
Chris sah auf der anderen Straßenseite die Mütze eines massigen Kollegen. Das war Bert Rusnak, der diesen Einsatz leitete. Er kam zu ihm herüber. Chris nahm sofort Haltung an, weil er stets bemüht war, Vorgesetzten gegenüber korrekt aufzutreten.
„Na, Chris, wie sieht es aus?“
„Keine besonderen Vorkommnisse, Chef, die Toten sind friedlich.“
Rusnak runzelte die Stirn. "Wo ist denn dein Partner?"
Chris sah verdutzt zur Seite. Waldo, den er direkt neben sich wähnte, war fort. Wie hatte er sich nur so lautlos vom Acker machen können? Chris überlegte schnell, was er sagen sollte. "Ähm, er... er hatte eine Kolik! Er musste mal kurz wohin." Chris war diese Notlüge als erstes in den Sinn gekommen und er ärgerte sich schon im nächsten Moment darüber. Waldo Rafalski konnte nicht erwarten, dass Kollegen für ihn den Kopf hinhielten, wenn er Regeln ignorierte, trotzdem hatte Chris genau das getan.
Hauptkommissar Rusnak hatte die Info aber sofort akzeptiert, sich nun der Zombie-Karawane zugewandt und schaute ihr zu. „Ich verstehe den Sinn einfach nicht!“, gestand er dann, „Die kommen aus der ganzen Republik, einige sogar aus Polen oder Schweden, nur um hier zwei Stunden lang rumzugeistern. Für was ist das gut, Chris? Erklär mir das doch mal bitte!“
„Ist so ein Junge-Leute-Ding würde ich sagen“, meinte der POM, "Ich glaub, das macht richtig Spaß, wenn man selbst mitläuft. Da kann man sich bestimmt total reinsteigern.“
Rusnak schüttelte den Kopf. "Also, wenn ich jemals so geschminkt rumlaufe und solche Laute von mir geben, erschieß mich bitte!"
Chris lachte. "Das wird dann aber ein Kopfschuss, Chef, wir wollen ja nicht, dass Sie wiederkommen!"
Rusnak klopfte ihm lachend auf die Schulter und ging dann weiter. Chris sah ihm nach. Er mochte den Revierleiter, der selten die Ruhe verlor und jeden Mitarbeiter mit Respekt behandelte. Dass er für Zombie Walks zu alt war, dafür konnte er nichts. Mit Waldo Rafalski war das was anderes, Chris merkte, dass er ihn und seine selbstgefällige Art nicht ausstehen konnte. Besser kennenlernen hin oder her, wenn der Neue jetzt gleich dönermampfend zurückkam, würde er eine Ansage kriegen, die sich gewaschen hatte ...
Alice und Bernadette waren bei ihrer Suche nach einem diskreten Plätzchen hinter einem Busch gelandet, hatten sich hingehockt und ließen ihrem Wasser freien Lauf.
"Gib mal Gas, Süße, am Ende handeln wir uns noch Ärger ein", drängelte Alice und zog ihre Strumpfhose hoch.
Dann war auch Bernadette fertig und richtete sich auf. Da versteifte Alice sich neben ihr. Vor ihnen standen plötzlich die fünf Jugendlichen, denen sie bereits begegnet waren.
„Zombies, die pinkeln! Mal ganz was Neues, oder Jungs?“ Die Körpersprache des langhaarigen Blonden, der breitbeinig vor den Mädchen stand, verhieß nichts Gutes. Aber auch die restliche Meute erweckte kein Vertrauen. Neben dem Langhaarigen stand ein mickriger Bursche, der eine gebogene Narbe unter dem linken Auge und ein debiles Funkeln im Blick hatte. Die jungen Frauen wichen zurück, während die jungen Männer sich in Bewegung setzen und sich lachend anschickten, sie einzukreisen. Dass sie alle einen im Tee hatten, war offensichtlich.
„Lauf!“, rief Alice und rannte los. Bernadette benötigte eine Schrecksekunde, um zu reagieren, dann lief auch sie los.
Die Meute setzte den Mädchen mit vergnügtem Johlen nach. Eine kleine Jagd war ganz nach ihrem Geschmack.
Alice hatte einen Vorsprung und konnte schneller rennen als ihre Freundin. Einem Impuls folgend, bog sie nach links ab und sprintete auf ein Privatgrundstück. Bernadette konnte ihr nicht folgen, da links neben ihr der kleine Giftzwerg mit der Narbe rannte. Doch während er versuchte, nach ihr zu greifen, glitt er auf dem Kopfstein aus und stürzte. Als zwei der Verfolger Alice auf das Privatgrundstück nachsetzen wollte, blieb der Anführer kurz stehen, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. „Lasst die Alte! Die interessiert mich nicht. Ich will die Kleine!" Seine Kumpane lachten und nahmen die Verfolgung wieder auf.
Bernadette war in nackter Panik, denn hinter sich hörte sie das übermütige Gelächter ihrer Verfolger. Eine ältere Frau mit einer Einkaufstasche kam ihr entgegen.
"Bitte, helfen Sie mir!", rief Bernadette angstvoll.
Die ältere Frau hob den Kopf, blickte in die Fratze des Zombiemädchens und erschrak. Bernadette begriff, dass die Alte ihr keine Hilfe sein würde und hetzte weiter. Tränen liefen ihr über das Gesicht. "Hilfe! Hilfe!" War es wirklich ihre Stimme, die sich da so schrill überschlug?
Doch die Fünfergruppe holte auf und trieb sie in die Enge. Der einzige Weg, der dem Mädchen noch blieb, war ein verwildertes Grundstück mit Warnschildern. Hier stand eine alte Kirche, die offenbar vom Einsturz bedroht war. Bernadette sah keinen anderen Ausweg, sie lief auf das Portal zu und hoffte inständig, dass die Tür nicht verschlossen war. Sie hatte Glück und konnte das alte Holzportal aufdrücken. Als sie innen abschließen wollte, fand sie weder einen Riegel noch einen Schlüssel. Die Verfolger ließen sich von den Verbotsschildern nicht abschrecken, drückten die alte Flügeltür auf und drangen ebenfalls in die Kirche ein. Sakrale Kunst oder die üblichen Heiligen-Figuren fehlten in der Ruine, dieses Gebäude wartete nur noch auf seinen Abriss.
Bernadette rannte auf die Tür zu, die zur Sakristei führen musste, doch diese ließ sich nicht öffnen. Ob sie verschlossen war oder sich einfach nur verzogen hatte, konnte man nicht sagen. Bernadette rüttelte verzweifelt an der Klinke, mit all ihrer Kraft, vergebens.
"Gib auf, Zombiegirl!", rief der langhaarige Wortführer, während er mit wiegendem Schritt näherkam. "Kannst ruhig ein bisschen netter zu uns sein, die Rügener Gastfreundschaft ist berühmt! Und wir mögen Beißer! Echt! Besonders so kleine Frechdächse wie dich! Oder was meint ihr, Jungs?"
"Lasst mich in Ruhe", rief Bernadette, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Der widerliche Kleine mit der Narbe unter dem Auge sprang heran und packte sie mit festem Griff am Arm. "Na komm, Süße, wieso hast du Angst? Wir sind 'ne richtig coole Truppe! Wir wollen nur ein bisschen Party machen!", rief er mit unangenehmer Fistelstimme, "Komm, trink einen Schluck, dann entspannst du dich!" Damit versuchte er ihr die Wodkaflasche anzusetzen, während seine Freunde das mit Gejohle begleiteten.
"Bitte!", weinte Bernadette, "Bitte ..."
"Komm, Nucki, lass sie mal. Ich glaub, sie will lieber mit mir zusammen sein." Der Langhaarige drückte den Mickerling zur Seite und packte Bernadette mit seiner großen Hand am Genick. "Ich glaub, wir sind vorhin unterbrochen worden, Baby ..."
Bernadette konnte seiner Kraft nichts entgegensetzen, sie wimmerte, als seine Lippen sich den ihren näherten.
"Du lässt sie jetzt augenblicklich los, du kleiner Pisser!"
Die fünf jungen Männer drehten sich um und sahen einen mageren Polizeibeamten mit zotteligen schwarzen Haaren im Mittelgang stehen. Es war Waldo Rafalski. Er schlenderte auf die Gruppe zu. "Okay, Leute, die Messe ist gelesen!“
Die Mobber hatten einen Moment gebraucht, ihre Überraschung zu verdauen, doch Waldo war allein und er sah von seinem Äußeren eher wie die Karikatur eines Gesetzeshüters aus, als eine wirkliche Bedrohung darzustellen.
"Anderer Vorschlag, Bulle! Du verzupfst dich einfach. Das hier ist eine Privatparty! Geschlossene Gesellschaft, wenn du verstehst. Könnte sich sonst zu einer bösen Erfahrung für dich auswachsen!", drohte der blonde Anführer der Meute.
"Genau, Marvin, der Grünspecht verzupft sich besser!", fistelte Nucki, „Du schaffst uns nicht alle. Außer du ziehst deine Knarre. Aber das kannst du nicht bringen, oder?"
Bernadette, die zu Atem kam, starrte angstvoll auf Waldo, der mit gleichgültiger Miene näherkam und sich unerschrocken vor Marvin, dem Wortführer aufbaute, der ihn um einen halben Kopf überragte. "Für euch arme Wichte brauch ich keine Pistole", stellte Waldo fest, "So viel ist mal sicher!“ Dann drehte er sich mit einer nicht übermäßig hastig wirkenden Bewegung zu Nucki und gab ihm eine Ohrfeige. Das passierte so unvermittelt, dass die Gruppe überrumpelt war und unfähig, darauf zu reagieren. Nucki rieb sich geschockt die Wange und blickte dann zu Marvin an seiner Seite, der auch nicht recht zu wissen schien, was er jetzt tun sollte.
Waldo griff zum Funktelefon an seiner Brust. „Rafalski hier für Zentrale, bitte kommen! Erbitte Verstärkung bei der Kirchenruine in der Nähe Clementstraße! Tätlicher Angriff von alkoholisierten Jugendlichen auf eine weibliche Person!“
Der struppige Polizist strahlte gerade eine solche Souveränität aus, dass keiner der Jugendlichen es wagte, die Hand gegen ihn zu erheben. Waldo baute sich vor der Gruppe auf. "Okay, ihr Idioten. Ich habe keine Böcke, wegen euch heute noch Scheiß-Berichte zu schreiben. Ich werd' euch also laufen lassen. Ihr habt ..." Er schaute kurz auf seine Armbanduhr, "... zwei Minuten, bis die Kollegen hier sind und da gibt's welche, die sind ganz wild darauf, Protokolle aufzunehmen. Sexuelle Nötigung, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt, da kommt schon was zusammen. Also, eure Entscheidung ...!"
Verunsicherte Blicke der fünfköpfigen Gruppe.
"Okay, wenn ihr nicht wollt...", lächelte Waldo und löste Handschellen von seinem Gürtel. "Dann nehme ich euch jetzt fest!"
"Scheiße! Kommt, Männer!", rief Marvin, "Wir hauen ab!"
"Der Alk bleibt da!", klirrte die Stimme des Polizisten.
Nucki stellte hastig die halbvolle Flasche Wodka ab und gab dann mit dem Rest der Gruppe Fersengeld.
Waldo eilte zu Bernadette, die hinten an der Wand lehnte und schluchzte. "Hey, alles gut, Mädchen! Diese Penner tun dir bestimmt nichts mehr."
Die junge Frau drängte sich schutzsuchend an ihn. Ihre Schminke verlief zusehends unter ihren Tränen. Waldo legte behutsam seinen Arm um sie, um sie zu beruhigen.
In diesem Moment gab es ein Geräusch. Es war ein metallisches Geräusch gewesen. Der Polizeimeister hob den Kopf. Das war von nebenan gekommen. Von jenseits der Tür.
Waldo zog seine Dienstwaffe und löste sich von Bernadette. „Eine Sekunde! Rühr dich nicht!“ Dann huschte er zur Sakristei-Tür. Er versuchte, wie das Mädchen wenige Augenblicke zuvor, die Tür zu öffnen. Aber sie war abgeschlossen. Ein weiteres Geräusch auf der anderen Seite. Waldo Rafalski machte ein paar Schritte nach hinten und trat dann mit einem kurzen Anlauf die Tür ein. Mit vorgehaltener Waffe sprang er in die Sakristei. Was er hier sah, traf ihn wie eine Faust in den Magen. Da lag eine Frau auf einer Holzplatte, entkleidet bis auf die Unterwäsche. Ihr Hals war eng umschlossen von einem Kabelbinder aus Edelstahl, während ihre weit aufgerissenen Augen blutend an die Decke starrten. Jemand hatte der Frau die Augenlider abgeschnitten. Waldo trat geschockt näher. Er wollte helfen, doch dann erkannte er, dass er hier nichts mehr tun konnte. Die Frau atmete nicht mehr. Sie war tot.
Hauptkommissar Bert Rusnak hatte nicht lange gebraucht, mit den Kollegen Willie Olsen und Esther Marx vor Ort zu sein. Ebenso wie der Revierleiter war Chris Sienkiewicz über Funk informiert worden, dass sein Partner in der baufälligen Marien-Kirche in ein Wespennest gestochen hatte. Waldo hatte sich also keineswegs wegen eines Döners abgesetzt. Im Kielwasser Rusnaks und der zwei Hauptwachtmeister war der POM der vierte, der die Kirche betrat. Sie sahen zuerst die junge "Zombie"-Frau, die weinend auf dem Boden kauerte, während Waldo bemüht war, ihr Beistand zu leisten.
"Wo?", fragte der Hauptkommissar.
Waldo strich Bernadette beruhigend über die Schulter. "Ich bin gleich wieder da. Alles wird gut!" Dann stand er auf und führte die Kollegen in die alte Sakristei. Der Anblick, der sich Rusnak und den anderen hier bot, sollte sich ebenso tief in ihre Seelen brennen wie ihrem Kollegen zuvor. Auf einem behelfsmäßigen Tisch, der aus einer großen Spannplatte und zwei hölzernen Böcken bestand, lag das Opfer, etwa fünfzig Jahre alt. Mit dem Kabelbinder aus Metall war die Frau offensichtlich erdrosselt worden. Ihre blutverkrusteten Augen blickten nach wie vor an die Decke, als gäbe es dort etwas, was sie völlig in den Bann schlug. Als Chris nähertrat, sah er, was der Täter mit den Augenlidern der Toten angestellt hatte. Es war ein verstörender Anblick.
"Haben Sie die Spurensicherung angefordert?", fragte Rusnak mit rauer Stimme in Waldos Richtung.
"Ja, das ganze Programm: Revier, KDD und die Kripo Stralsund sind unterrichtet. Ich weiß nicht, wie schnell ihr hier im Norden seid, aber normal würd' ich sagen, dass sie in zehn, zwanzig Minuten eintreffen müssen."
"Sienkiewicz und Rafalski, ihr geht beide geht nach draußen und sichert den Tatort", ordnete Rusnak an, "Wenn das Mädchen da in Begleitung war, kommen vielleicht Freunde, die nach ihr suchen und ich will nicht, dass Spuren vernichtet werden."
"Was ist mit dem Mädchen hier?", fragte Olsen.
"Esther kümmert sich. Dina soll eine psychologische Betreuung schicken. Willie, wir beide sichern hier den Tatort."
"Alles klar, Chef!"
Hauptkommissarin Dina Zellhöfer schickte Cora Bergstedt und Said Cetin, um die unter Schock stehende Bernadette Kuderer unter ihre Fittiche zu nehmen und abzuholen. Wenig später erschien die aufgelöste Alice Ott, die bereits verzweifelt nach ihrer Freundin gesucht hatte. Chris nahm ihre Personalien auf und beschrieb ihr den Weg zum Revier, dass fußläufig in wenigen Minuten zu erreichen war.
"Hat das Mädchen die Tote gesehen?", wollte Chris wissen.
Waldo rieb sich die Nasenwurzel. "Ließ sich nicht vermeiden. Sie tauchte plötzlich hinter mir auf, während ich über Funk Meldung gemacht habe. Erst kommt sie hier bei ein paar Rowdies unter die Räder und dann noch der Anblick eines Ritualmordes. Die Kleine ist durch, sage ich dir."
Chris schnaufte. "Glaub ich. Das ist ein Albtraum hier." Er sah zu seinem Partner. "Was ist da denn eigentlich passiert? Eben standest du noch neben mir und plötzlich tauchst du in einer Kirche neben einer frischen Leiche auf ..."
"Ich sag doch, ich halte die Augen offen", erinnerte Waldo, "Zwei Mädchen vom Walk haben sich in die Büsche geschlagen und ich hab gesehen, dass fünf Halbstarke denen nachgesetzt haben. Mir war klar, dass sich da Ärger anbahnt."
Chris runzelte die Stirn. "Und auf die Idee, deinen Partner zu informieren, bist du nicht gekommen?"
"Nichts für ungut, Sienkiewicz, aber so wie ich dich einschätze, hättest du erst mal den Dienstweg diskutiert. Die Zeit war aber nicht. Sorry!"
"Oh, jetzt fühle ich mich gesehen. Es ist Gefahr in Verzug und ich, der tumbe Landpolizist, steh dann natürlich auf der Bremse."
"Komm, ist nicht persönlich gemeint."
Auch wenn Chris Waldos Aussage missbilligte, kam sie der Wahrheit doch ziemlich nahe. Er hätte nicht einfach seinen Posten verlassen, nur weil sein Partner es gerade mal für geraten hielt. "Fürs Protokoll! Ich würde es begrüßen, wenn du mich das nächste Mal in deine Pläne einweihst. Kaum hattest du dich in Luft aufgelöst, da stand schon der Revierleiter vor mir und wollte wissen, wo du dich rumdrückst."
Waldo nickte wissend. "Und dann hattest du keine andere Wahl, als mich anzuschwärzen. Sei's drum. Du wusstest es nicht besser."
"He! Ich hab dich nicht angeschwärzt, Mann!", brach es aus Chris heraus, "Irgendwo ist auch mal Schluss."
Nun war der Neue verblüfft: "Wie? Du hast nicht gepetzt? Was hast du dem Alten denn erzählt?"
"Dass du Darmkoliken hast ... und aufs Klo musstest."
"Darmkoliken?" Waldo wusste einen Moment nicht, ob er verärgert sein sollte oder amüsiert. Dann aber machte er sich locker. "Naja, kreativ bist du. Dachte ich jetzt nicht. Dann sag ich mal danke."
"Oh, da nicht für", knurrte Chris mit finsterem Gesicht. Sie blickten sich noch einen Moment böse an, konnten aber die Pose nicht halten und mussten dann beide grinsen.
Kriminalhauptkommissarin Catrin Hanfstaengl erschien in Begleitung der Kommissare Freddy Gromball, Markus Reiter und Tanja Brandt am Tatort in der Marienkirche. Die Mittvierzigerin Hanfstaengl war eine blasse, etwas blutleer wirkende Person. Doch hinter ihrer anämischen Fassade verbargen sich großer Ehrgeiz und Scharfsinn. Die kalte Autorität, mit der die Hauptkommissarin auftrat, kam ohne jeglichen Charme aus. Sie galt als humorlos und spröde und legte wenig Wert auf Verbindlichkeit. In der Polizeiinspektion Stralsund pflegte sie kaum freundschaftliche Beziehungen zu Kollegen. "Welche Informationen haben wir über das Opfer?", erkundigte sie sich bei Kommissar Gerry Konermann. Der Beamte von der Spurensicherung stand direkt neben dem Kollegen Rusnak.
"Bislang keine", antwortete Konermann, "Sie hatte keine Papiere bei sich. Kein Handy, keinen Ehering, nicht mal eine Tätowierung. Im Moment wissen wir noch überhaupt nichts über sie. Auch die Auswertung der Fingerabdrücke hat in den Datenbanken keinen Treffer gegeben."
Catrin Hanfstaengl sah zum uniformierten Bert Rusnak hinüber. "Sie waren schnell vor Ort, Herr Kollege. Ist Ihnen nichts aufgefallen? Ich meine, wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Mörder doch bei der Tat gestört worden."
Der Leiter des Bergener Reviers wand sich etwas. Die Situation war ihm unangenehm. "Die Sache ist die ...", begann er, "Einer meiner Leute hatte mich hierher gerufen, da war noch nicht klar, dass es um Mord ging. Der Beamte formulierte es in etwa so, dass hier eine ganz üble Sache passiert sei und ich es mir selber ansehen sollte. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Worauf ich hinauswill: Als ich vor der Kirche ankam, stand da links neben dem Eingang ein Fahrrad mit einem Lastenanhänger ..."
Rusnak brach ab und sammelte sich. Catrin Hanfstaengl warte geduldig auf die Fortsetzung des Berichtes.
"Als wir die Leiche gefunden haben, war es natürlich sofort klar, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte. Ich erteilte dann die Anweisung, auch das Fahrrad vor der Kirche sicherzustellen. Leider ... ist es dazu nicht mehr gekommen."
"Das verstehe ich nicht", runzelte Catrin Hanfstaengl die Stirn, "Wieso nicht?"
"Nun ... ehm ... weil es nicht mehr da war."
Die Hauptkommissarin blickte den Bergener Revierleiter ungläubig an. "Das Fahrrad mit dem Anhänger? Es war nicht mehr da?"
"Korrekt", bestätigte Rusnak, "Sieht so aus, als sei der Mörder in der Nähe geblieben ist. Und dann hat er sich das Fahrrad in einem günstigen Moment einfach geholt."
"Er hat es sich einfach geholt?", wiederholte Catrin fassungslos, "Während Sie und ihre Kollegen hier waren? Wie kann das sein? Sie haben den Tatort doch nicht unbewacht gelassen, oder?"
"Natürlich nicht. Aber es gab einen Moment, kurz nach unserem ersten Eintreffen, da waren wir alle hier in der Kirche. In dieser Zeit muss der Täter das Fahrrad wieder in seinen Besitz gebracht haben." Der Revierleiter wirkte zerknirscht. "Wer immer das war, er hat das verdammt kaltblütig durchgezogen, da gibt's nichts."
Catrin Hanfstaengl sah ihm in die Augen und sagte nichts. Der Vorwurf stand deutlich zwischen den Zeilen und Rusnak schämte sich für den Lapsus.
"Gut", sagte Kriminalbeamtin, "Ich brauche Sie dann nicht mehr."
Der Hauptkommissar rührte sich nicht.
"Ist noch etwas, Herr Kollege?"
"Naja, ich weiß nicht so richtig, wie ich das erklären soll. Aber hier... an diesem Ort ... irgendetwas ist hier ..."
"Bitte, Herr Hauptkommissar, sprechen Sie es aus!"
"Hier stimmt was nicht. Es liegt ein seltsamer Geruch in der Luft ..."
Catrins Blick wurde ungeduldig. "Ein seltsamer Geruch? Was heißt das? Könnten Sie bitte auf den Punkt kommen?"
"Es ist wie ein modriger ferner Leichengeruch." Rusnak war sich jetzt, wo es gesagt war, nicht mehr sicher, ob er seinen Gedanken wirklich hätte aussprechen sollen.
"Ich verstehe nicht. Wir haben ein Mordopfer gefunden. Ist es da nicht logisch, dass Leichengeruch in der Luft liegt?"
"Das ist ein anderer Geruch!", widersprach Rusnak, "Hier haben wir eine ganz frische Leiche. Das, was ich in der Nase habe, ist anders. Das ist Verwesung in Verbindung mit Chemikalien. Es ist eher so Instinkt. Und jahrelange Erfahrung, ... wenn ich das anfügen darf."
Die Hauptkommissarin sah ihn wenig begeistert an. "Nun, ich will Ihre feine Nase mal nicht in Frage stellen, Herr Kollege. Dann fordere ich die Hundestaffel aus Rostock an."
"Nein!", wehrte Rusnak ab, "Die Kläffer aus Rostock, die richten hier gar nichts aus. Was wir jetzt brauchen, ist eine speziell geschulte Suchhundstaffel aus Serbien. Tiere, die extra dafür ausgebildet wurden, Leichen zu finden, die schon länger tot sind. Und das sollten wir sofort in die Wege leiten!"
"Sagt Ihr Instinkt?" Etwas Spott klang in der Stimme Catrin Hanfstaengls durch.
Doch Bert Rusnak hielt ihrem Blick stand. "Das sagt mein Instinkt."
Als Richard und Paula Dreifürst wieder daheim waren und Kaffee tranken, gab es nur ein Thema und das war die merkwürdige Errettung des Autisten Albert Kattow durch Yslei Lackner-Schröder.
"Glaubst du, der hatte es ernsthaft vor, zu springen?" Paula strich gedankenverloren über ihren gewölbten Babybauch.
"Albert Kattow? Richard dachte nach. "Ich weiß es nicht. Aber ich wäre nicht böse gewesen, wenn er es getan hätte."
"Wieso sagst du das?" Paula schaute irritiert.
"Weil er der Bruder von einem wahnsinnigen Massenmörder ist und wir bis heute keine Ahnung haben, ob Albert nicht zu dessen Tun beigetragen hat. Vielleicht hat Georg ihn als Werkzeug benutzt, um all die Opfer zu ermorden."
"Jetzt bitt ich dich aber, Dickie, der sieht vielleicht von weitem aus wie ein Mann, aber in Wahrheit ist das ein Kind! Dieser Autist ist für niemanden eine Gefahr, das sieht man doch!"
"So, sieht man das?" Richard kam sich nun selbst etwas borniert vor. "Wenn du es sagst, okay. Ich bin da leider kein Experte."
"Was aber feststeht, ist, dass Yslei fabelhaft war, findest du nicht? Die Idee mit seinem Stofftier war brillant. Wie sie Albert damit sofort im Griff hatte und von der Brücke gelotst hat, das war eindrucksvoll."
Richard lachte. "Das ist Yslei. Die kann man nicht mit normalen Maßstäben messen. Die ist eben speziell."
"Manchmal denke ich, du magst sie nicht", sagte Paula.
"Da liegst du völlig falsch", widersprach ihr Mann, "Ich könnte nicht mehr Respekt vor irgendjemandem haben als vor ihr. Es gibt nur eines, was zwischen uns steht, und das ist, dass ich nicht schlau aus ihr werde. Sie ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich."
Paulas Mundwinkel kräuselten sich spöttisch. "Bin ich das nicht auch?"
"Äh, richtig. Du auch."
"Und jede andere Frau auf diesem Planeten."
"Und ... jede andere Frau auf diesem Planeten."
Richard konnte nicht sagen, wie sehr er es genoss, dass Paula nun fest an seiner Seite war. Nicht nur, dass er auf ganz Rügen wie ein Held gefeiert wurde, der das Land von einem Drachen befreit hatte, jetzt hatte sich auch noch eine zauberhafte junge Frau für ihn entschieden, eine kluge Zierde ihres Geschlechts, die ihm das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Er hatte diese Verbindung beileibe nicht forciert, das war eher Paulas Liebes-Offensive geschuldet gewesen. Richard hatte kein Optimismus innegewohnt, was die Dauer der Beziehung anging, doch nun konnte er es sich nicht mehr anders vorstellen. Sie wohnten seit fast elf Monaten in der Poggenburgstraße, waren bereits unmittelbar nach der Hochzeit zusammengezogen. Jetzt, wo sich der Nachwuchs ankündigte, waren sie bereits auf der Suche nach einem neuen Domizil, denn nun brauchten sie bald etwas Größeres. Paula beanspruchte ein eigenes Arbeitszimmer, da sie mit ihren Drehbüchern die Versorgerin der Familie war. Richard hatte sich nicht dagegen gesperrt, ein Tapetenwechsel wäre sicher auch für ihn ein positiver Schritt.
"Es war gut, dass Yslei bei Albert geblieben ist, damit er ohne Stress zurück ins Heim der Lebenshilfe gelangt."
"Das stimmt", bestätigte Richard, "Ich komme kaum drüber weg: Ich kenne Yslei ja eher als still und in sich gekehrt, sie ist oft genug bei uns. Aber das, was sie da heute mit der Puppe durchgezogen hat, war ein komplett anderes Kind. Richtig frech und vorwitzig!"
"Ja, das war ungewohnt", stimmte Paula ihrem Mann zu, "Erstaunlich, wie sie die Initiative ergriffen hat. Sie will sogar, dass Susanne Albert in die Pension Seerose einlädt."
"Wirklich?" Richard schüttelte ungläubig den Kopf. "Das kommt mir nun doch etwas übertrieben vor."