Der Korndämon - R.P. Hahn - E-Book
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Der Korndämon E-Book

R.P. Hahn

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine Momentaufnahme von panischer Angst - ein vermeintlich unzuverlässiger Zeuge: ein atmosphärisch dichter und psychologisch spannender Rügen-Krimi
Die kleine Stadt Garz auf Rügen. Es ist nur ein kurzer Augenblick. Ein Auto bremst vor einer roten Ampel. Auf dem Beifahrersitz kauert ein etwa zehnjähriger Junge. Und in seinen Augen steht blanke Angst. Doch der einzige Zeuge dieser Momentaufnahme ist der alkoholkranke Frührentner Richard Dreifürst. In dem ehemaligen Pädagogen wächst die Überzeugung, dass der kleine Junge im Auto Opfer einer Entführung geworden ist. Doch als er die Polizei alarmiert, glaubt man dem notorischen Trinker nicht. Niemand glaubt ihm. Richard Dreifürst jedoch lässt der Vorfall keine Ruhe. Er beschließt, sich alleine auf die Suche nach dem Kind zu machen ...

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Seitenzahl: 405

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Djanna

Nicht schlecht

Der Korndämon ist ein Rügen-Krimi der sich in einem Rutsch schnell lesen lässt, ich konnte nicht schlafen bevor ich es durch hatte. Es beginnt mit einer riten Ampel, an der ein Auto hält. Und in dem Auto sitzt ein verängstigter Junge. Der einzige Zeuge, Richard Dreifürst wird von der Polizei nicht ernst genommen. Der Pädagoge ist Frührentner und Alkoholiker und somit kein glaubwürdiger Zeuge. Aber Richard ist sich sicher, dass der Junge entführt wurde. Er macht sich also selbst auf die Suche. Ich wurde gut unterhalten und empfehle "den Korndämon " gern weiter
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Inhalt

Cover & Impressum

1. Kapitel:Ein azurblaues Auto

2. Kapitel: Der Weg nach Putbus

3. Kapitel: Bergen

4. Kapitel: Vor dem Edeka

5. Kapitel: Sackgasse

6. Kapitel: Eine neue Allianz

7. Kapitel: Annika

8. Kapitel: Der Schuppen

9. Kapitel: Allein

10. Kapitel:Manuel

11. Kapitel:Jens

12. Kapitel: Die Scheune

13. Kapitel: Sliwowitz

14. Kapitel: Überraschungsei

15. Kapitel:Betreuung

16. Kapitel: Der Besuch

17. Kapitel: Stralsund

18. Kapitel: Schmerhof

19. Kapitel: Rot rot tot

20. Kapitel: Richard

Danksagung

2. Kapitel: Der Weg nach Putbus

Es konnte nicht bis zum Montag warten. Wenige Minuten nach seiner Erkenntnis hatte Richard das Raja verlassen und war nach Hause zurückgekehrt.

Er zitterte am ganzen Körper, denn seine Beobachtung hatte ihn nachhaltig aufgewühlt. Im blauen Ford war ein Junge gesessen, dem die blanke Furcht im Gesicht gestanden hatte. Dass ihm dies als erfahrenem Pädagogen nicht gleich aufgefallen war, erstaunte ihn. Und er wurde den Gedanken nicht los, dass es sich dabei nicht um die Angst handelte, die ein ungezogener Jungen zeigte, der väterlicher Züchtigung entgegensah. Es war eine andere Form der Angst gewesen. Eine existenziellere. Richard dachte an Todesangst.

Nach seiner Erkenntnis war sein erster Gedanke gewesen, dass es sich um ein entführtes Kind handelte. Er musste sich erst sammeln und zur Ruhe kommen. Dann griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Polizei. Es dauerte nicht lange, bis sich am anderen Ende eine männliche Stimme meldete.

»Polizeinotruf! Was kann ich für Sie tun?«

Richard musste sich räuspern, denn er krächzte. »Mein Name ist Richard Dreifürst. Ich wohne hier in Garz, Rügen. Ich habe gerade ein Auto gesehen. Möglicherweise ist da ein Kind entführt worden! Ich wollte das sofort melden!«

Am anderen Ende war ein Moment Stille. »Ein Kind ist entführt worden. Wie? Ist es in ein Auto gezerrt worden?«

»Nein, es saß im Auto, auf dem Beifahrersitz! Es war ein Junge, etwa zehn Jahre alt …!«

»Mal ganz langsam: Sie sagten, der Junge wäre entführt worden. Woran machen Sie das fest? Hat er um Hilfe geschrien?«

»Nein«, stammelte Richard, »um Hilfe geschrien hat er nicht, aber ich … ich habe gesehen, dass er Angst hatte …!«

»Wie, Sie haben gesehen, dass er Angst hatte?«, wiederholte die Stimme am Telefon skeptisch.

»Es war an der Straße. Der Wagen war sehr schnell. Er hätte mich beinahe angefahren. Aber dann hat er gebremst, und ich habe das Kind gesehen. Es war so ein Ausdruck in seinem Gesicht … Wenn Sie mich fragen, war es Todesangst!«

Wieder war da Schweigen in der Leitung. »Haben Sie die Autonummer?«

»Bedauerlicherweise nicht. Die ganze Sache ist mir erst später klar geworden.«

»Welche Sache?«

»Ich habe den Ausdruck im Gesicht des Jungen erst eine ganze Weile später deuten können!«

Ein unwilliger Laut drang zu Richard. »Sagen Sie mal, was ist denn das für eine Geschichte?«

»Hören Sie, es ist mir ganz ernst damit …« Richard kam nicht weiter, denn der Beamte schnitt ihm das Wort ab.

»Das hier ist eine Notrufleitung! Sie machen sich strafbar, wenn Sie die missbräuchlich nutzen!«

»Herrgott, das tue ich nicht! Ich habe den Jungen wirklich gesehen …«

»Ach wirklich? Und was soll das jetzt werden? Sie haben keine Autonummer, Sie haben keinerlei klare Hinweise auf eine Entführung beobachtet, und dass der Junge Angst gehabt haben könnte, ist Ihnen auch erst später klar geworden. Was soll ich denn damit anfangen?«

»Es war ein blauer Ford …«, stammelte Richard, aus dem Konzept gebracht. »Und er fuhr durch Garz in nördlicher Richtung!«

»Also gut. Hören Sie zu: Wir kümmern uns drum! Ist sonst noch was?«

Richard glaubte, nicht richtig zu hören. Wurde er hier gerade einfach abgespeist? »Sie kümmern sich drum? Was soll denn das heißen?«

»Dass wir uns drum kümmern. Machen Sie sich einfach keine Sorgen. Und nun bitte ich Sie, die Leitung wieder freizumachen. Vielen Dank für Ihre Meldung, Herr ehm … Dreifürst!« Damit legte er auf.

Richard saß einen Moment bewegungslos da, bevor auch er auflegte. Das war ja nicht so gut gelaufen. Ein Stück weit konnte er den Beamten sogar verstehen. Viel vorzuweisen hatte er wirklich nicht.

Aber er konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Es war wohl unumgänglich, dass er persönlich bei der Polizei vorsprach. Ja, wenn er wollte, dass man ihm glaubte, musste er dem zuständigen Beamten in die Augen sehen.

Richard zog sich hastig um. Er nahm eines seiner beiden weißen Hemden und die gebügelte Stoffhose. Der Anzug aus reiner Schurwolle wies bereits kleine Mottenlöcher auf, ausgerechnet im Schritt der Hose. Aber der kleine Makel fiel nicht auf, wenn man stand und herumlief.

Er zog sein Tweedsakko an und warf den Gore-Tex-Anorak über. Es war zwar Hochsommer, aber mit Regen musste man immer rechnen. Die nächste Polizeidienststelle war in Putbus. Dorthin war es ein gutes Stück, wenn man zu Fuß ging.

Wäre es unter der Woche gewesen, hätte Richard den 30er-Bus nehmen können, aber an Samstagen verkehrte der nicht. Wer dann auf der Insel unterwegs sein wollte, benutzte ein Auto, einen Roller oder ein Fahrrad. Er besaß ein Rad, das allerdings kaputt war. So blieb ihm nur der Fußweg.

 

Richard hatte an diesem Tag bereits einiges getrunken, für seine Verhältnisse zwar in Maßen, dennoch war er alles andere als nüchtern. Über die Alleenstraße waren es zwei Stunden strammer Marsch bis nach Putbus. Den Rückweg würde er in keinem Fall zu Fuß schaffen. Er konnte aber in Putbus ein Taxi rufen. Seine Geldmittel waren begrenzt, weshalb er auf keinen Fall beide Wege fahren wollte.

Angesichts der Strecke brach er zügig auf. Während er vor sich hin schritt, stand ständig das Gesicht des kleinen Jungen aus dem Auto vor seinem inneren Auge. Er erinnerte sich an die Blässe des Knaben, an den schmalen kleinen Mund, an das schwarze Haar. Und dann diese unergründliche Not, die stumm aus den Augen schrie. Keine Frage, da lag definitiv etwas im Argen!

 

Rügen war zu dieser sommerlichen Jahreszeit ein Idyll mit sanft wogenden Feldern, schnurgeraden Alleen mit Bäumen, deren Kronen über der Straße zu behütenden Gewölben zusammenwuchsen, einem fast allgegenwärtigen Wind und einer Zeit, die langsamer abzulaufen schien als anderswo. Die Insel hatte etwas Paradiesisches, und nicht nur die Touristen liebten den Zauber des Ortes, sondern auch die Einheimischen.

Richard indes hatte sich schon lange daran sattgefreut. Denn was nutzte einem die schönste Kulisse, wenn der Verdruss über ein freudloses Leben an einem nagte?

Er lief, so zügig er konnte, auf der Alleenstraße dahin. Er versuchte wieder und wieder, sich das Gesicht des Kindes im blauen Auto zurück ins Gedächtnis zu rufen. In seiner Zeit als Gymnasiallehrer waren seine Sinne geschärft worden, was das Lesen seiner Schützlinge anging. Früher hatte er in der Regel gewusst, wann ein Kind log oder die Wahrheit sagte, ob es Kummer hatte oder aggressiv war. Oder ob es Angst hatte. Seine Antennen waren damals fein gewesen. Jetzt mochten sie etwas eingerostet sein, aber ihren Betrieb eingestellt hatten sie noch nicht. Seine Instinkte hatten ihm signalisiert, dass etwas faul war, bevor er es mit dem Verstand hatte nachvollziehen können. Das passierte ihm schließlich nicht jeden Tag. Nein, es war eine klare Wahrnehmung gewesen, und er neigte dazu, ihr zu vertrauen.

Richards Überzeugung verfestigte sich zunehmend. Seine weiteren Gedanken drehten sich um den Fahrer des blauen Autos. Welchen Grund konnte eine derartige Furcht auf dem Gesicht eines Kindes haben, wenn es sich bei dem Mann am Steuer nicht um einen Kidnapper handelte? Richard spielte alle Möglichkeiten durch, kam aber zu keiner anderen Erklärung. Für ihn sprach alles dafür, dass der Junge im Kombi verschleppt worden sein musste.

Sein rechtes Knie begann leicht zu schmerzen, als etwa die Hälfte der Strecke nach Putbus geschafft war. Solche Beschwerden traten immer mal auf, wenn er länger unterwegs war. Normalerweise verging der Schmerz über Nacht. Manchmal aber, nach einem falschen Auftreten etwa, konnte das Knie dick werden, und selbst in der Wohnung wurde dann jeder Gang zur Tortur. Das dauerte dann ein, zwei Wochen, bis sich das wieder gab. Richard hoffte, dass es nicht so weit kommen würde.

Es hatte zu tröpfeln begonnen. Einige Urlauber kamen ihm vom Wreechener See entgegen, offenbar von der aufziehenden Bewölkung vertrieben. Von der Alleenstraße aus konnte man zum blanken rügischen Bodden hinausblicken, aber Richard hatte keine Augen für die Reize der Ostsee. Fieberhaft ging er im Kopf immer wieder durch, was er auf der Polizeiwache sagen wollte. Auf keinen Fall sollte sein nächstes Gespräch so enden wie das am Telefon.

Dummerweise war er vor nicht allzu langer Zeit schon einmal auf dem Putbuser Revier gewesen. Das war noch kein Jahr her. Er hatte sich bei einem Polterabend über die Maßen betrunken und dann die Kontrolle verloren. Er war bei einer Frau zudringlich geworden. Irgendein Gockel hatte sich dann als ihr Ritter aufgespielt und ihn geohrfeigt. Richard war zornig geworden und hatte dem selbst ernannten Beschützer eine verpasst. Er war kein Schläger, aber wenn er im Suff ausrastete, kannte er keine Verwandten mehr. Nach seinem Schwinger war schnell die Polizei aufgetaucht und hatte ihn zum Ausnüchtern mitgenommen. Auch das war leider nicht ganz ohne Randale von seiner Seite abgegangen. Die Beamten schienen Kummer gewohnt zu sein und wollten keine große Sache daraus machen. Im Gegenteil, sie hatten sogar zwischen den Parteien vermittelt und nachdem Richard sich bei den Geschädigten offiziell entschuldigt hatte, war auch keine Anklage erhoben worden.

Noch zwei weitere Vermerke dieser Art hatten sich mit den Jahren in seiner Polizeiakte angesammelt. Er galt nicht als Krimineller, wohl aber als Alkoholiker und Querulant mit Aggressionspotenzial.

Richard versuchte, sich nicht im Vorfeld zu demotivieren. Obwohl Rügen weit vom Schuss lag, waren die Polizisten hier nicht weniger gut geschult als anderswo. Wenn sie ihm ins Gesicht sahen, würden sie seiner Beobachtung von heute das richtige Gewicht beimessen. Es war eine Kindesentführung, und sie würden nicht zögern, zu handeln.

 

Um kurz vor neunzehn Uhr betrat Richard mit leicht geschwollenem Knie das Putbuser Polizeirevier am Markt. Er hoffte, dass Polizeihauptmeister Oetzmann keinen Dienst hatte. Er war von den Beamten, die Richard bei seinem letzten Aufenthalt hier kennengelernt hatte, das unangenehmste Kaliber gewesen. Es handelte sich bei diesem Mann um einen Polizeiveteran, der unter dem Gewicht seiner Schulterklappen zu unnatürlicher innerer Größe gewachsen war und auftrat, als sei er das letzte Faustpfand der Zivilisation gegen Chaos und Verbrechen.

Richard wartete an der Sperre und hielt nach Oetzmann Ausschau. Er hatte Glück, denn ein anderer Beamter trat ihm entgegen, ein junger blonder Mann mit Hamsterbacken und Bauchansatz, den die beiden Sterne auf seinem blauen Rangabzeichen als Polizeimeister erkenntlich machten.

Der Beamte blieb abrupt stehen und schaute Richard mit großen Augen an. »Herr Dreifürst? Mensch, das ist aber eine Überraschung!«

Eine Überraschung? Wieso? Richard kannte den Mann nicht.

»Ich bin Jens Lackner!«, klärte der Polizeimeister ihn auf. »Ich hatte Sie in Deutsch und Geschichte! Hansa-Gymnasium!« Er streckte Richard breit lächelnd die Hand entgegen.

Der ergriff sie und erinnerte sich nun. Er hätte Jens Lackner nicht wiedererkannt. Damals, in der Schule, war er ein dicker Junge gewesen, ein scheuer Leisetreter, der nicht aus der Herde herausgestochen war. Er war immer ganz ordentlich mitgekommen im Stoff, hatte befriedigende Noten erzielt und sich dabei überwiegend unter dem Radar von Richards Aufmerksamkeit bewegt. Dann aber war Jens Lackner zu einer der größten Enttäuschungen in Richards pädagogischer Laufbahn geworden. Das jedoch war eine andere Geschichte.

Richard brachte dennoch ein Lächeln zustande und ergriff die Hand seines ehemaligen Schülers. »Ich erinnere mich. Wie geht es Ihnen, Herr Lackner?«

Lackner grinste verlegen, blickte sich um und zuckte die Achseln. »Ich arbeite auf einem Polizeirevier auf Rügen. Es ist definitiv noch Luft nach oben!« Er lächelte verschmitzt und hoffte wohl auf ein Zeichen der Erheiterung, aber Richard war von ausgelassener Wiedersehensfreude weit entfernt.

»Ich möchte eine Beobachtung melden!«, begann er, »Ich habe Anlass zu glauben, dass hier in der Gegend ein Kind festgehalten wird. Ein Kind, das von irgendwoher hierher verschleppt worden sein muss!«

Das Leuchten in Jens Lackners Gesicht erlosch. Er straffte sich, und seine Körpersprache strahlte nun einen Gesetzeshüter aus. Dennoch stand in seiner Miene Skepsis: »Ein verschlepptes Kind? Wie kommen Sie darauf? Ich meine, sind Sie sicher?«

Richard nickte knapp. »Ich bin zu Fuß den ganzen Weg von Garz rübergekommen deswegen. Glauben Sie mir: Ich bin mir sicher!«

Lackner überlegte einen kurzen Moment. Dann lächelte er knapp. »Kommen Sie doch bitte mit, Herr Dreifürst!«

 

Polizeimeister Jens Lackner hatte mit zwei Fingern auf die Tastatur eines antik wirkenden Computers eingehackt und gute zwanzig Minuten gebraucht, den Sachverhalt aufzunehmen. Dann war Hauptmeister Oetzmann erschienen, vom Kollegen herbeigerufen. Er ging auf die Sechzig zu, war einen guten Kopf kleiner als sein junger Mitarbeiter und trug einen pflegeleichten grauen Bürstenschnitt. Im feisten Gesicht von Lackners Vorgesetztem stand die ungesunde Röte eines Feierabendtrinkers. Der Revierleiter hatte Dreifürst gleich wiedererkannt und mit einem vielsagenden Blick gemustert.

Oetzmann setzte sich auf Lackners Platz, las dessen Bericht und lehnte sich zurück. Dann wendete er sich Richard zu. Er wirkte nun, da es sich um etwas anderes drehte, als er offenbar vermutet hatte, etwas weniger ungnädig. »Wie lange haben Sie dieses Kind gesehen?«

»Nicht lange. Es war nur ein Moment. Ein paar Sekunden vielleicht.«

Oetzmann schaute wieder auf den Computer. »Ein kurzer Blick in das Gesicht eines Kindes. Wie können Sie so sicher sein, dass es verschleppt wurde?«

Richard war auf die Frage nun besser vorbereitet, als Stunden zuvor am Telefon. »Wie Sie vielleicht wissen, war ich Lehrer. Ich habe lange Jahre mit Kindern gearbeitet und gelernt, ihre Mimik und Körpersprache gut einschätzen zu können …«

Oetzmann schaute auf und war, entgegen Richards Erwartung, keineswegs überzeugt. »Und was, wenn Sie sich irren?«

Man musste kein Geistesriese sein, um auch diesen Einwand vorhersehen zu können. »Was, wenn ich mich nicht irre?«

Polizeimeister Lackner sah von seinem ehemaligen Lehrer zu seinem Chef, neugierig, wie dieser wohl darauf reagierte.

Oetzmann ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen. »Herr Dreifürst, wie Sie wissen, führen wir hier eine Akte über Sie. Sie sind bereits mehrfach auffällig geworden. Alles Delikte in Verbindung mit Trunkenheit …!«

In Richard keimte nun Ungeduld auf. »Verzeihen Sie! Ich kenne meine Akte. Was hat sie mit dem kleinen Jungen in dem blauen Auto zu tun?«

»Erst einmal nichts. Aber bevor wir uns weiter mit diesem … ›Fall‹ beschäftigen, hätte ich doch gerne mal gewusst, ob Sie heute schon was getrunken hatten, als Sie …«, Oetzmann blickte auf den Bericht, »… als Sie um fünfzehn Uhr an der Ampel in Garz standen?«

Richard merkte, wie seine innere Balance kippte. Es trat nun das ein, was er insgeheim befürchtet hatte. Für Oetzmann war die Angelegenheit jetzt schon eine klare Sache. Er nahm den Trinker nicht für voll und stufte ihn als Spinner ein.

Richard bemühte sich, trotz dieser Entwicklung Ruhe zu bewahren. »Ich war nüchtern. Es war helllichter Tag!«

Oetzmann fixierte ihn aus seinen kleinen, wässrigen Augen. »Sie haben also bis fünfzehn Uhr definitiv nichts getrunken. Keinen Frühschoppen, kein kleines Schnäpschen, keinen Aperitif … um dem morgendlichen Zittern zu begegnen?«

Die Frage war unverschämt. Richard fiel es zunehmend schwer, seine Emotionen im Griff zu behalten. Gleichzeitig aber wuchs seine Verunsicherung. Er hatte heute bereits einiges getrunken. Wenn er dies nun leugnete, musste er damit rechnen, dass sie ihn ins Röhrchen pusten ließen. Der lange Marsch hatte ihn belebt, aber er hatte garantiert noch gehörig Restalkohol im Blut. Das würde ihn dann in jedem Fall kompromittieren.

Er beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen und die Wahrheit zu sagen. »Nun, ich hatte am Vormittag einen Magenbitter, aber das war wirklich nur …«

Oetzmann wartete nicht, bis Richard geendet hatte, sondern stand bereits auf. »Das reicht schon. Mehr muss ich nicht hören!«, sagte er und hatte den Mann vor sich damit ganz offensichtlich der Unglaubwürdigkeit überführt.

Der Revierleiter nickte Lackner knapp zu und schickte sich an zu gehen, doch Richard wollte sich nicht so schnell abfertigen lassen. »Warten Sie doch bitte mal!«, rief er und setzte sich unbewusst kerzengerade auf. »Vielleicht stimmt es ja, und ich habe ein Alkoholproblem. Aber meine Aussage wäre doch wohl eher dann problematisch, wenn ich meinen Pegel noch nicht gehabt hätte. Ich bin Trinker, aber ich war für meine Verhältnisse absolut klar! Ich habe etwas gesehen! Wenn Sie schon nicht meinetwegen aktiv werden, dann tun Sie es für den kleinen Jungen!«

Oetzmann war stehen geblieben und hatte seinen Blick auf Richard geheftet, ohne dabei sein Mitleid zu verhehlen. »Es ehrt Sie, dass Sie versuchen, anderen Menschen zu helfen, Herr Dreifürst, aber jetzt ist es besser, Sie gehen nach Hause!«

In Richards Kopf flackerte ein Gedanke auf. »Können Sie nicht wenigstens in ihren Datenbanken nachschauen? Die Polizei hat doch so was! Datenbanken für vermisste Leute! Kann man meine Aussage da nicht mal überprüfen? Vielleicht wird ja genau so ein Junge vermisst, wie ich ihn gesehen habe!«

In Oetzmanns Gesicht bewegte sich kein Muskel. Er sah zu Jens Lackner hinüber. »Der Mann wohnt in Garz! Fahren Sie ihn kurz rüber!« Dann ging er.

Richard kämpfte mit einem Mal mit einer innerlichen Leere.

Jens Lackner schaute betreten, während Richard sich beschämt und herabgesetzt fühlte. Er presste die Lippen zusammen. Es war die nackte Realität, er war ein Bürger zweiter Klasse, ein kranker Mann, dessen Aussagen keinerlei Bedeutung hatten.

»Kommen Sie, Herr Dreifürst!«, sagte Lackner.

 

Jens Lackner steuerte den Polizei-Passat, auf dessen Beifahrerseite Richard Platz genommen hatte und nun grübelnd vor sich hinblickte.

Sein ehemaliger Schüler sah zu ihm herüber. »Herr Oetzmann wollte Sie nicht beleidigen, Herr Dreifürst. Ich dürfte Sie überhaupt nicht nach Hause fahren, wenn es nach den Vorschriften ginge. Es ist eine Anerkennung Ihrer Bemühungen!«

Das, was aus dem Munde Lackners kam, war natürlich Unsinn. Aber Richard hatte kein Interesse, die Aufmunterungsversuche des Polizeinovizen zu würdigen. Ihm machte die Demütigung zu schaffen, die er gerade auf der Wache erfahren hatte. Dass er selbst mit sich nicht im Reinen war, sich Vorwürfe machte für die vielen falschen Entscheidungen in seinem Leben, das war eine Sache, aber dass ihm nun von Amts wegen quasi der Jagdschein ausgestellt wurde, das schmerzte tief.

Lackner fuhr in die Poggenburgstraße, hielt vor Richards Häuschen an und versicherte ihm, in jedem Fall die Augen offen zu halten. Der junge Beamte hatte immer noch den Status eines Schülers, der mit einer Respektsperson sprach, was Richard im gegenwärtigen Moment absurd vorkam. Er stieg aus, und Lackner fuhr nach einem letzten aufmunternden Lächeln davon.

 

Richard saß in seinem Wohnzimmer und hatte ein Pils getrunken. Ein Bier machte nichts. Es zeigte keine große Wirkung, aber es befriedigte gewisse innere Notwendigkeiten. Vor ihm auf dem Tisch wartete ein Glas mit Kräutergeist, das er sich automatisch eingegossen hatte. Er rührte den Schnaps aber nicht an, der Anblick reichte ihm. Seelisch ging es ihm wieder einmal dreckig, und an dieser Stelle war es besser, nicht weiterzutrinken. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, denn kein Hochprozenter dieser Welt hätte einen solchen depressiven Schub auffangen können. Richard kannte das Versinken im Selbstmitleid nur zu gut, es war ihm fast zur zweiten Natur geworden. Nun aber kam noch etwas anderes dazu, das Gefühl der Ohnmacht. Er konnte nichts tun. Dieses arme Kind in dem blauen Ford war einem ungewissen Schicksal entgegengefahren, und keinen hatte es interessiert.

Als Richard Lehrer geworden war, war er beseelt von dem Wunsch, dem einen oder anderen Schüler Hilfestellung geben zu können, ihn zu beflügeln oder gar zu fördern. Die Realität war eine andere gewesen. Die Schüler waren wie eine Meute von Wölfen, die aggressiv wurde, wenn sie Schwäche witterte. Mitgefühl, Interesse und Großmut wurden schamlos ausgenutzt. Der Lehrer war nur ein Wetzpfosten für die jungen Krallen, die sich hier ungeniert austobten und Erfahrungen für das Leben sammelten. Schon bald hatte Richard begriffen, dass er kräftemäßig dagegenhalten, den Stier bei den Hörnern packen musste. In seinem Fall ging das nur mit rigoroser Strenge. Je härter er seine Schützlinge anfasste, desto besser wurde sein Stand. Empathie hob er sich für die Momente auf, wenn er mit einem Schüler unter vier Augen sprach. In solchen Situationen konnte er manchmal wirklich zur Problemlösung beitragen. Allen zu helfen war jedoch unmöglich. Das ließ die Realität nicht zu. Richard sah auch keinen Sinn darin, sich für andere aufzureiben, wenn dabei das eigene Wohlergehen auf der Strecke blieb.

Schülern zu helfen wurde einem nicht gedankt. Mitgefühl machte einen bei den Kollegen und den Eltern eher verdächtig, ein Wolf im Schafspelz zu sein, auf der Pirsch nach verbotenen Früchten. Dennoch hatte Richard sich im Fall der zwölfjährigen Carmen engagiert. Sie war ein bildhübsches Mädchen gewesen, zierlich, mit langen schwarzen Haaren und einem betörenden Lächeln, das perfekte weiße Zähne aufblitzen ließ. Aber Carmen war auch verhaltensauffällig. Ihre Fingerkuppen bluteten ständig, weil sie zwanghaft Nägel kaute. Sie schlug andere, auch Jungen. In der Klasse war sie isoliert und ätzte jeden weg, der sich ihr näherte. Richard hatte sich mit seinem Kollegen, dem Lateinlehrer Julius König, über sie unterhalten. Der äußerte in einem Vieraugengespräch vorsichtig die Vermutung, dass Carmen von ihrem Vater missbraucht wurde. Unternommen hatte König nichts, denn solche Sachverhalte waren äußerst kompliziert. Die Ämter reagierten mit größter Zurückhaltung, wenn derartige Verdächtigungen ausgesprochen wurden, und in der Regel ließen sich solche Delikte auch nur schwer nachweisen. Die betroffenen Kinder mauerten, wenn es drauf ankam, deckten häufig ihre übergriffigen Angehörigen, und die Untersuchung verlief im Sande. Oft zogen diese Schüler und ihre dysfunktionalen Familien dann einfach fort und entzogen sich so einer weiteren Beobachtung der Ämter.

Richard wollte aber nicht resignieren und zur Tagesordnung übergehen, nur weil die Erfolgsaussichten schlecht standen. Er war nicht bereit, bei einem solch gravierenden Missstand tatenlos zusehen, schon gar nicht als Lehrkraft. Und so suchte er, im Schulterschluss mit dem Kollegen König, eines Tages nach dem Unterricht das Gespräch mit Carmen. Sie war überrumpelt und gab offen zu, dass ihr von der Mutter getrennt lebender Vater sie zu sich ins Bett holte, wenn sie am Wochenende bei ihm war. Dort zwang er sie zu sexuellen Handlungen, die bis zum Beischlaf gingen.

Diese Aussage war für die Pädagogen starker Tobak. Gleichzeitig konnten sie kaum glauben, wie leicht das gegangen war. Aber Richard und Julius König hatten sich zu früh gefreut. Als Carmen ihre bittere Geschichte einige Tage später vor der Schulleitung wiederholen sollte, stritt sie plötzlich alles ab. Obwohl gleich zwei Lehrer die ursprüngliche Aussage des Mädchens bezeugten, weigerte sich Direktor Dr. Blaschka, die Sache weiter zu verfolgen. Mit der lakonischen Aussage, dass man nicht alles Elend dieser Welt auf die eigenen Schultern nehmen konnte, erschöpfte sich, was er zum Thema zu sagen hatte. Richard hatte heftig gegen diese Gleichgültigkeit aufbegehrt, aber ohne Erfolg. Das Einzige, was er letztendlich mit seiner Initiative erreicht hatte, war, dass Dr. Blaschka die Attacke des Deutschlehrers persönlich nahm und fortan einen Unruhestifter in ihm sah.

Richard war dann auf die Idee gekommen, einen anonymen Brief an das Jugendamt zu schreiben und diesem so Meldung über den Fall Carmen zu machen. Eine Sachbearbeiterin hatte daraufhin, wie er später erfuhr, beim Vater des Mädchens angerufen und ihn mit den Vorwürfen konfrontiert. Der Mann war wütend geworden, hatte alles abgestritten und mit einer Verleumdungsklage gedroht. Damit war die Sache für das Amt dann erledigt. Nach den Sommerferien hatte Carmen die Schule nicht mehr besucht. Beide Eltern waren, so informierte später die Schulleitung, unbekannt verzogen.

Das lag alles weit zurück. Und es war keine Zeit, an die Richard sich gerne erinnerte. Er füllte den Kräuterlikör vom Glas in die Flasche zurück. Ihm war nicht nach weiterer Betäubung.

Obwohl er sich damals bei seiner Lehrtätigkeit nicht nur für Carmen, sondern auch für einige andere Zöglinge eingesetzt hatte, war nie viel dabei herausgekommen. Als er einer fünfzehnjährigen Schülerin beistehen wollte, die ungewollt schwanger geworden war und sich ihm anvertraut hatte, war er von Dr. Blaschka im Lehrerzimmer vor der versammelten Mannschaft zurechtgewiesen worden. Er möge seine Ritterlichkeit für hübsche Schülerinnen in Not besser zügeln und Abstand zu ihnen halten, damit niemand auf »komische« Gedanken käme. Diese zwischen den Zeilen stehende infame Unterstellung vor dem versammelten Kollegium hatte Richard den Zahn gezogen. Angesichts Dr. Blaschkas Geringschätzung ihm gegenüber löste sich sein eigenes Nervenkostüm allmählich in seine Bestandteile auf. Aus reinem Selbstschutz hatte er dann gekuscht und dem Vorgesetzten Demut bezeugt. Irgendwann war die Gleichgültigkeit gekommen, und am Ende schlich sich auf leisen Sohlen der Hass ein, Hass auf die Arbeit, Hass auf das Kollegium und Hass auf die Gymnasiasten. Viele ausgebrannte Lehrer entwickelten irgendwann Aggressionen gegen ihre Schüler, manche von ihnen merkten es nicht einmal. Richard war beileibe kein Einzelfall. Hätte er die Zeit zurückdrehen können, er hätte sich ebenso wenig für das Lehramt entschieden, wie für eine Ehe mit Marion.