Die Seewespe - R.P. Hahn - E-Book
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Die Seewespe E-Book

R.P. Hahn

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Beschreibung

Jens Lackners schwerster Fall - Während Kommissar Lackner versucht, mit seiner neuen und schwierigen Partnerin Vivian Tennstedt warmzuwerden, geschieht in Bergen ein mysteriöser Mord. Sowohl der Täter, eine mysteriöse Kapuzengestalt, als auch das Opfer, ein international gesuchter Söldner, geben dem frischgebackenen Ermittlerteam Rätsel auf. Dann schlägt der Kapuzenmörder erneut zu. Gleichzeitig ermitteln die Polizisten Chris Sienkiewicz und Waldo Rafalsky in der Sache eines spurlos verschwundenen Mannes. Die Hinweise führen sie zum Schloss Lietzow, dem Neuschwanstein Rügens. Keiner der Polizisten ahnt, dass die Fälle verbunden sind und sie alle auf eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes zusteuern ...

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Inhaltsverzeichnis

Prolog Die Ruhe vor dem Sturm

1. Eine nächtliche Begegnung

2. Das Institut

3. Bagdad 2011

4. Ein ungewöhnlicher Plan

5. Im Jahre des Herrn 2016

6. Ein klärendes Gespräch

7. Geiselnahme

8. Feindberührung

9. Kurskorrektur

10. Das Ultimatum

11. Das Angebot

12. Der Angriff

13. Fluchtwege

1. Epilog

2. Epilog

3. Epilog

Danksagung

Mein herzlicher Dank geht an Hauptkommissar Gerhard Gulden von der Kripo Ansbach, der diese Reihe seit "Der Dünenteufel" begleitet und stets meine erste Anlaufstelle ist.

Des Weiteren möchte ich Hauptkommissar Karsten Lange von der Stralsunder Bundespolizei meinen Dank für seine besonders wertvolle Beratung für "Die Seewespe" ausdrücken, ebenso wie der Oberkommissarin Uta Blum.

Auch vom 1. Polizeihauptkommissar Mario Ullrich des Polizeihauptreviers in Bergen kamen viele wichtige Hilfestellungen. Dafür danke ich!

Zudem möchte ich mich recht herzlich beim Rügener Polizeioberkommissar Wolfgang Bulmann und dem Polizeihauptmeister a. D. Bernd Mahlow bedanken, die beide in der Polizeistation Putbus Dienst tun oder taten.

Danke auch für die freundliche Unterstützung der Firma FRS, die mir bei den Buch-Recherchen einen umfassenden Einblick gewährte!

Diese Krimi-Reihe würde es nicht geben ohne meinen ehemaligen Agenten Tim Rohrer und die damalige Piper-Chefredakteurin Eliane Wurzer, die letztendlich den steinigen Weg für diese Serie geebnet haben. Dafür danke ich herzlich!

Ein großes Dankeschön möchte ich auch meiner treuen Frau Sibylle sagen, meiner Muse, die alle meine Buch-Projekte mit Rat, Tat und eigenen Einfällen begleitet und mich stets mental aufrichtet, wenn ich mich mal wieder in eine Sackgasse manövriert habe.

Bedanken möchte ich mich bei Anja und Tino von der Kaffeerösterei Springer in der Bergener Bahnhofstr. 71, die ich bei meinen Recherchen besucht habe.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich den Mike vom Project-Archangel, dessen Erzählungen auf Youtube mich zu einem eigenen Kapitel im vorliegenden Roman inspirierten. Vielen Dank auch dafür!

Last but not least: Ganz lieben Dank an meinen treuen Freund Michael Möller für das finale Korrekturlesen!

Prolog: Die Ruhe vor dem Sturm

Waldo und Chris schlenderten die Bergener Bahnhofstraße hinauf. Sie hatten keinen Dienst und trugen ihre Zivilkleidung. Die Wochen, die gerade hinter den beiden Polizeibeamten lagen, waren ruhig gewesen. Zu ruhig vielleicht, denn Waldo schob Frust. "Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, mal gepflegt die Beine hochzulegen, aber jetzt ist schon seit Monaten gar nichts passiert auf dieser elenden Insel. Sogar die Taschendiebe in Binz sind dieses Jahr ausgeblieben. So ist schleichender Gehirntod vorprogrammiert."

Chris schmunzelte. "Komm, gib es doch zu, Waldo! Du bist nur deswegen so übellaunig, weil du bei Michaela Terjong, unserer schnuckeligen Oberstaatsanwältin abgeblitzt bist."

"Ach, halt doch die Klappe, Sienkiewicz!"

Der POM konnte sich das Lachen nicht verbeißen: "Ich meine, dein Masterplan war ja nicht schlecht, aber wieso behauptest du der Terjong gegenüber, du wärst Abstinenzler, wenn doch jeder Kollege im Bergener Hauptrevier weiß, dass du ganz gerne mal einen über den Durst becherst?"

Waldo sah verdrossen aus. "Das war eine äußerst unglückliche Verkettung von Umständen. Wenn ich mich nur nicht beim Dienstjubiläum von Bert Rusnak auf einen Zweikampf mit ihm eingelassen hätte ... ausgerechnet ein Wettsaufen."

"Ein Wettsaufen? Bert Rusnak? Ach, komm! Das hat er nicht gemacht!", zweifelte Chris, "Das sieht dem Chef nicht ähnlich ..."

Waldo hob den Zeigefinger. "Es war in erster Linie ein sportlicher Wettstreit: Wir haben nämlich Darts gespielt. Nach jedem zwölften Dart gab es einen brennenden Moorgeist für beide. Und nur mal so nebenbei: Ich hab den Alten mit fünf zu vier Legs abgezogen ...! Der gute Bert Rusnak hat so ein langes Gesicht gezogen, dass man einen Moment denken konnte, er sei ein Lipizzaner!"

"Lass mich einfach mal raten!", unterbrach Chris, "Und dann ist Oberstaatsanwältin Michaela Terjong reingeschneit."

Die beiden Beamten unterbrachen ihre Unterhaltung kurz und betraten die Bergener Kaffeerösterei der Springers. Sie setzten sich an den großen Tisch, an dem sie immer ihren Cappuccino nahmen. Tino, der Inhaber, kam auf sie zu. "Wollt ihr das Übliche, ihr zwei Langweiler?"

"Ja!", sagten Chris und Waldo unisono.

"Überlegt es euch. Ich habe eine neue Röstung: 'Arkonas Morgenröte'. Wenn ihr euch als Versuchskaninchen zur Verfügung stellt, geht das aufs Haus."

Die Polizisten wechselten einen Blick. Waldo schlug auf den Tisch. "Deal, Mann! Dann lass mal anrollen, dein neues Gebräu!"

Chris lehnte sich zurück und streckte sich. "Also, wir waren bei deiner Flamme Michaela Terjong. Wie hat sie reagiert? Klassische Ohrfeige?"

Waldo schaute betrübt drein. "Ist nicht ihr Stil. Ein sprödes Lächeln und dann konnte ich zusehen, wie sich im Zeitraffer ein Eispanzer um ihre zarte Gestalt gebildet hat. Und dabei war es prima gelaufen, bis zu diesem Moment. Sie war kurz davor, ihre Bedenken, sich mit einem kleinen Landpolizisten zu liieren, über den Haufen zu werfen."

"War das jetzt einfach nur Riesenpech oder hast du es dir selbst vermasselt?"

"Etwas von beidem. Wie konnte ich damit rechnen, dass der alte Rusnak sie eingeladen hat und die Alte dann auch noch wirklich aufkreuzt?"

Chris sah hinüber zum Tresen, wo Tino ihre Cappuccini mit Milchschaum toppte. "Hast du nicht versucht, mit ihr zu sprechen? Ich meine, vielleicht nimmt sie dir die Lüge ja gar nicht so krumm. Das muss doch nicht zwangsläufig heißen, dass Schluss ist, oder?"

"Was heißt schon Schluss? Wir waren ja noch nicht mal in der Kiste. Wo kein Anfang, da kein Ende. Und um deine Frage zu beantworten: Ich hab danach nicht mehr mit ihr geredet. Hab mich nicht getraut. Und von ihr kam auch kein Lebenszeichen mehr. Klarer geht's nicht. Das war's mit dem schönsten Gesicht Rügens."

Chris schlug dem Kameraden tröstend auf die Schulter. "Ist vielleicht nur ein kleiner Trost, aber wenigstens mich hast du erfolgreich verkuppelt. Tabea ist ein Hauptgewinn. Und ich bin happy wie eine Schneeflocke auf Safari!"

"Ja. Dieser Trost ist in der Tat sehr übersichtlich", grummelte Waldo.

Tino kam mit den heiß dampfenden Tassen und stellte sie vor den Polizisten ab. "Ich erwarte ein ehrliches Feedback!" Er lächelte verschmitzt und entfernte sich dann.

Chris Sienkiewicz probierte zuerst und machte einen spitzen Mund. "Wow! Gar nicht bitter. Und ohne Ende aromatisch. Das nenne ich einen verdammt guten Kaffee!" Er nahm noch einen genießerischen Schluck. "Und, was denkst du?"

Doch Waldo hörte nicht zu. Er starrte zur Tür, die gerade aufgegangen war. Eine schlanke, blonde Frau war eingetreten. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und bewegte sich anmutig wie ein Model auf dem Laufsteg. Die Dame ging zum Tresen und bat Tino um ein Paket Pea-berry Santos Espresso.

"Das gibt es nicht! Ich glaub, mich trifft der Schlag!", stieß Waldo hervor. Er sah zu Chris. "Weißt du, wer das ist?"

Der Kollege blickte zur Kasse hinüber, aber die blonde Frau stand mit dem Rücken zu ihm. "Nein. Ich seh sie ja gar nicht richtig!"

"Das ist Anna Maria Teller, die Schauspielerin."

"Teller?" Chris schaute verständnislos. "Nie gehört!"

"Mann, die musst du doch kennen. Sie war die Chefärztin Dr. Charlotte Thaens in der Serie 'Airport-Emergency'."

"Deutsche Serien gucke ich nicht. Die stehen für mich alle im Generalverdacht, kacke zu sein."

Waldo sah ihn mitleidig an. "Da hast du was verpasst. Anna Maria Teller ist grandios, das ist die deutsche Antwort auf Charlize Theron! Sie ist eine der letzten wahren Diven! Diese Frau war der Star am Wiener Burgtheater und die Österreicher hatten sie sogar auf der Shortlist für den Qualtinger-Ring. Sie ist ... outstanding!"

Die Blonde hatte ihren Kaffee eingepackt und wandte sich zum Gehen. Chris sah sie an und sie kam ihm bekannt vor.

Waldo sprang spontan auf und eilte der Schauspielerin nach, die soeben das Geschäft durch den Ausgang verließ. Der Polizeimeister versuchte, seine widerborstigen Locken mit der Hand etwas zu glätten und folgte der Frau.

"He!", rief Chris verdutzt, aber da war sein Partner bereits aus seinem Blickfeld verschwunden.

Auf der Straße holte Waldo die Schauspielerin ein. "Verzeihung, Frau Teller! Auf ein Wort!"

Die Blonde blieb stehen und drehte sich um. Ihre kühle Miene lud nicht zum Smalltalk ein.

Waldo ließ es sich nicht verdrießen. "Bitte verzeihen Sie, ich kann mir vorstellen, wie ätzend es ist, bei jeder Gelegenheit von Hinz und Kunz angequatscht zu werden und ich bin weit davon entfernt, Ihre Zeit stehlen zu wollen."

"Das sind gute Nachrichten", erwiderte die Frau knapp.

"Wissen Sie, die meisten Leute haben kein richtiges Leben, deshalb müssen sie Stars hinterherlaufen und denen auf den Keks gehen. Zu der Sorte gehöre ich aber nicht. Denn ich ...", Waldo strahlte sie an, "... bin Ihr allergrößter Fan! Ich habe jede einzelne Folge von 'Airport Emergency' gesehen. Und nicht nur einmal! Manchmal wache ich nachts auf und ertappe mich, wie ich Ihre Filmsätze nachspreche ..." Waldo machte eine große Geste und nahm eine dramatische Pose ein: "Wir müssen ein CT machen, um Ihre Lähmungserscheinungen abzuklären. Und wir brauchen ein Toxscreen! Jetzt!" Er lachte sie breit an.

Anna Maria Teller reagierte mit einem etwas salzigen Lächeln. "Nett. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich muss weiter!"

"Oh warten Sie, Frau Teller! Bitte!" Waldo nestelte sein Smartphone hervor. "Bitte! Ein Selfie! Por favor!"

Die Schauspielerin stöhnte hörbar und fügte sich, um die Sache schnell hinter sich zu bringen. Waldo stellte sich neben sie und streckte den Arm nach vorne aus, um das Foto zu machen. Doch nach einem Seitenblick hielt er inne. "Geht es vielleicht ohne die Sonnenbrille?"

"Nein", sagte die Frau bestimmt, "Die bleibt drauf."

Waldo verstand nicht. "Aber ein Selfie mit Ihnen und einer Sonnenbrille, das wär' doch ewig schade!"

"Okay, das reicht! Stecken Sie ihr Handy ein!" Sie drückte seine Hand herunter und drehte sich verstimmt zu ihm. "Bitte halten Sie mich nicht für unfreundlich, aber ich kann nicht zulassen, dass Sie das hier fotografieren ..." Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und Waldo sah, dass sie auf der linken Seite ein blaugrün schillerndes Veilchen hatte.

"Nun kennen Sie ein sehr intimes Detail von mir, das andere nicht kennen. Geben Sie sich damit zufrieden. Danke!" Damit drehte sich die Diva um und lief auf ihren Stöckelschuhen davon.

Waldo sah ihr bestürzt nach. Den Anblick von eben musste er erst einmal verdauen.

Es war Catrin Hanfstaengls letzter Tag in der Polizeiinspektion von Stralsund. Nach der Verhaftung des Serienmörders Vincent Hachmeister war sie die Treppe hinaufgefallen und zur Ersten Hauptkommissarin befördert worden. Kurz darauf hatte sie die Offerte erreicht, in die Direktion 11 der Bundespolizei nach Berlin zu wechseln, wo sie zum Team des leitenden Polizeidirektors Julius Skoff stoßen sollte, einem ehemaligen Kommandeur der GSG 9.

Dieses Angebot war völlig unerwartet gekommen und zu gut gewesen, als dass Catrin es hätte ablehnen können, auch wenn ihr hier in Stralsund alle Türen offen gestanden hätten. Aber natürlich steckte die Inspektion in der Hansestadt voller schmerzvoller Erinnerungen an den verstorbenen Konstantin Grewe, ihren langjährigen Geliebten, und das gab den letzten Impuls für die Hauptkommissarin, dieses Kapitel abzuschließen und zur Bundespolizei zu wechseln.

Jens Lackner bedauerte das. Acht Monate hatte er eng mit Catrin zusammengearbeitet und konnte sagen, dass er sich seiner Vorgesetzten freundschaftlich verbunden fühlte. Da Catrin sich für Jens eingesetzt hatte, war er mit seiner bunten Vorgeschichte in Stralsund gewissermaßen unantastbar. Aber auch jetzt, wenn Catrin fort sein würde, rechnete Jens nicht mit Schwierigkeiten. Er hatte zu fast allen hier in der Inspektion einen guten Draht.

Catrin hatte zum Abschied einen Ausstand gegeben, aber nur am Anfang einige Worte des Dankes an die Kollegen ausgesprochen. Dabei war es ihr sogar gelungen, einige Scherze einzuflechten und der Applaus am Ende ihrer Rede war herzlicher gewesen, als sie es erwartet hatte.

Aber Catrin wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie sich jetzt mit einem Drink in der Hand in finale Smalltalks mit Untergebenen gestürzt hätte. Stattdessen hatte sie Jens gebeten, ihr in ihr Büro zu folgen.

"Setz dich!" Die Hauptkommissarin wies auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch. In Catrins Büro deutete nicht viel darauf hin, dass dieses Zimmer einer Frau gehörte. Persönliche Fotografien, Bilder an den Wänden, Topfpflanzen oder etwa putzige Polizeischlümpfe suchte man in diesem Raum vergeblich. Catrin kam her, um zu arbeiten und legte keinen Wert auf Randverzierung. Sie nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.

"Mischst du dich nicht unters Volk?", erkundigte sich Jens, "Heute ist immerhin dein Ausstand."

Sie winkte ab. "Es gibt Garnelen-Schnittchen und Störtebeker-Bier. Glaub mir, da vermisst mich niemand."

"Ach, ich weiß nicht. Seit deiner Soko-Leitung hat sich einiges verändert. Ich habe den Eindruck, die Leute mögen dich inzwischen."

Catrin schaute kühl. "Ja, nur ich mag die Leute nicht. Wie du weißt, ertrage ich Menschenansammlungen nur schwer. Ich glaube, ich stehe nur deswegen besser bei allen da, weil ich das letzte Jahr sehr eng mit dir zusammengearbeitet habe. Und Jens Lackner ist hier ja irgendwie jedermanns Kuschelboy. Das hat dann auch auf mich abgefärbt."

Jens lehnte sich zurück, durchaus amüsiert. "Holst du jetzt deine Geheimflasche Grappa raus und trinkst noch einen mit mir oder wieso sind wir im Separee?"

Catrin zog eine Aktenmappe aus der Schublade. "Kein Grappa. Ich habe da etwas, was mir auf der Seele liegt. Und das ist die Kollegin Tennstedt. Bist du über sie im Bilde?"

Jens überlegte. "Nicht ganz so gut. Sie hat im Zusammenhang mit der Ergreifung des Laternenfisches einen schweren Zusammenbruch erlitten und war dienstunfähig. Dann ist sie in eine psychosomatische Klinik am Schweriner See gegangen. Dort ist sie wohl für eine längere Zeit gewesen ..."

"Vier Monate. In der Summe war sie für über ein halbes Jahr krankgeschrieben. Ich hatte ehrlicherweise nicht damit gerechnet, dass sie überhaupt zurückkommt. Aber genau das ist jetzt passiert." Catrin sah nachdenklich aus und machte eine Pause. Dann blickte sie auf. "Vivian Tennstedt will wieder einsteigen. Sie sagt, sie sei gesund und hat mir einige Atteste auf den Tisch gelegt, die das belegen sollen."

Jens sah die Vorgesetzte forschend an. "Aber du hast dennoch Bedenken?"

"Da fragst du noch? Natürlich habe ich das. Justina Evers und Vivian Tennstedt waren ein Ermittlerteam aus einem Guss. Und mehr als das. Dass Justina vom Laternenfisch brutal ermordet wurde, hat Vivian ins Mark getroffen. Die war doch völlig aus der Bahn geworfen. Und jetzt will sie wieder Kripoarbeit machen? Mit derartigen Altlasten?"

Jens zögerte, die Frage zu stellen: "Du sagst, Justina und Vivian waren ein Team ... 'und mehr als das'. Was meinst du damit? Heißt das, sie waren liiert?"

Catrin zuckte die Achseln. "Letzte Gewissheit gibt es nicht, aber es sieht sehr danach aus. Die beiden haben mit niemandem darüber gesprochen und sich im Dienst auch völlig unauffällig verhalten. Nichts hat auf eine Liaison hingedeutet. Doch Kollege Wollniak ist ihnen mal zufällig in der Zinnowitzer Bernsteintherme begegnet. Sie hätten dort nebeneinandergelegen und Händchen gehalten. Zählt man also eins und eins zusammen, kommt zwei heraus. Und wenn zwei Beamte keine Affäre miteinander haben, verbringen sie nicht zwingend ihre Freizeit gemeinsam und tätscheln sich dabei."

"Gut", räumte Jens ein, "Wahrscheinlich waren sie zusammen. Vivian hat also nicht nur ihre Partnerin verloren, sondern auch ihre Geliebte." Ihm kam ein Gedanke: "Warum lässt du sie nicht mal von Ebru Korkmaz durchchecken?"

"Hab ich schon gemacht. Ebru sagt, die Kollegin mache einen stabilen und aufgeräumten Eindruck auf sie ..."

"Aber ...?"

"Vivian saß vor zwei Tagen da, wo du jetzt sitzt, Jens. Und glaub mir, ich kenne sie besser als die meisten. Sie ist verändert. Früher war da immer ein ... Gott, wie sag ich das? ... da war so etwas zauberhaft Naives an ihr, eine Unbeschwertheit, die rührend war. Die ist jetzt weg. Jetzt ist sie kalt wie eine Hundeschnauze. Irgendein Teil in ihr ist abgestorben."

"Also ich kann deine Sorgen verstehen. Aber was soll ich jetzt dazu sagen? Ich kenne Vivian nur flüchtig. Du willst doch nicht im Ernst meinen Rat."

"Oh, ich will viel mehr von dir, mein Lieber. Weißt du, ich kann mich täuschen, vielleicht ist Kommissarin Tennstedt wirklich wieder einsatzfähig. Dann will ich nicht die Böse sein, die ihr Steine in den Weg legt. Aber ich möchte, dass jemand ein Auge auf sie hat."

Jens hob die Brauen. "Ein Auge auf sie hat? Wie jetzt? So Mentor-mäßig?"

Catrin schüttelte mit dünnem Lächeln den Kopf. "Keineswegs. Ich dachte eher an Partner-mäßig."

Jens brauchte einen Moment. "Oh, jetzt mal halblang, Catrin! Diese Wendung der Dinge habe ich nicht kommen sehen. Und ich kann jetzt nicht sagen, dass ich darüber sehr begeistert wäre."

"Ich bitte dich trotzdem darum, das für mich zu tun. Du bist ein ganz zartbesaitetes Menschenkind, Jens, und wenn ich Vivian irgendjemandem anvertrauen kann, dann dir. Für den Fall, dass sie ins Schleudern kommt, wirst du es erkennen und dann ergreifst du geeignete Maßnahmen, sprich, du tust, was immer deine Intuition dir eingibt."

Jens pustete die Luft aus. "Was meine Intuition mir eingibt? Wow, du hast ja ein Gottvertrauen ..."

"Falsch, Jens. Ich setze nur auf meine Menschenkenntnis. Gut, dich habe ich länger völlig falsch eingeschätzt, Schande über mein Haupt, aber inzwischen kenne ich dich ganz gut. Ich würde dich bestimmt nicht mit einem Sturmgewehr in einen Häuserkampf schicken, aber du bist ein helles Kerlchen und ein waches Auge für deine Mitmenschen kann dir auch niemand absprechen."

Jens hob die Hand. "Catrin, mal im Ernst: Warum kann das nicht Tanja machen? Die ist ein Geschoss! Und wäre da eine Frau nicht besser an Vivians Seite aufgehoben?"

Catrin schüttelte den Kopf. "Nein. Du machst es. Ist meine letzte Entscheidung hier. Und ich will, dass du es durchziehst. Ich erwähne das nur ungern, aber ich denke, du bist mir einen Gefallen schuldig."

Jens sah sie an und resignierte. "Ich werde dich wirklich vermissen, Catrin Hanfstaengl ..."

"Und jetzt raus hier, Lackner! Ich will nicht, dass wir auf die letzten Meter noch rührselig werden ..."

Die Osterferien waren vorbei und Yslei, die gerade ihren fünfzehnten Geburtstag begangen hatte, saß angeödet auf den Steinen neben dem neuen Anbau des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums. Sie war immer noch eine zierliche Person, wenn auch ihr Körper sich verändert hatte und nun sanfte weibliche Kurven aufwies. Auch wenn es ihr heute deutlich besser ging als noch vor einem halben Jahr, war sie ein verschlossenes Mädchen geblieben. Vielleicht hatten das Misstrauen und die Feindseligkeit, die sie anderen gegenüber wie einen Schild vor sich hertrug, abgenommen. Dennoch war sie nach außen vorsichtig und nichts in ihr verlangte danach, sich irgendjemandem außer ihren Eltern und der befreundeten Familie Dreifürst öffnen zu müssen. Sie dachte an den kleinen Willie Dreifürst, der schon Anstalten machte, zu laufen. Auch wenn Yslei sich Jens und Susanne, ihren Pflegeeltern, verbunden fühlte und sie "Mutter" und "Papa" nannte, war ihr der kleine Steppke mit seinen Knopfaugen der liebste Mensch auf der Welt.

"Yslei?"

Die junge Syrerin drehte irritiert den Kopf. Sie wurde selten angesprochen. Vor ihr stand nun ein Mädchen, das sie der Parallelklasse zuordnen konnte. Ihr Name war Aurora Katz, wie Yslei sich erinnerte. Viel Kreativität hatten die Mitschüler nicht verschwendet und sie einfach "Katzi" genannt. Aurora war mittelgroß und vollschlank, eine graue Maus mit einer viel zu großen Brille, eine Außenseiterin, die häufig in den Pausen für sich allein saß und strickte.

Yslei hatte keine Ahnung, was das Mädchen aus der 10c von ihr wollte. Außer im Turnunterricht hatte man noch keinerlei Berührung miteinander gehabt. "Was gibt's denn?"

Katzi wirkte unsicher, schien nicht recht zu wissen, wie sie anfangen sollte. "Also, es ist so, ich ... ich beobachte dich schon eine ganze Weile und na ja, du bist ja meistens immer sehr für dich ... da dachte ich mir ..."

"Was dachtest du?", fragte Yslei ungeduldig.

Die andere holte tief Luft: "Ich dachte, wir könnten vielleicht Freundinnen sein."

Yslei staunte das andere Mädchen an. Das kam unerwartet. "Freundinnen? Wir beide? ... Wieso?"

"Weil ich dich ziemlich gut finde."

"Ach ..."

"Ja, doch. Du bist cool. Du lässt dir nichts gefallen. Mit dir legt sich hier keiner an. Tja, ich würde mich mal als Fan outen wollen ..."

"Als Fan?" Yslei schüttelte den Kopf. "Aber so funktionieren Freundschaften nicht. Man geht nicht zu einem Wildfremden und fragt ihn nach einer Blutsbrüderschaft. Ich meine, wenn dir ein Junge gefällt, gehst du dann einfach hin und fragst ihn, ob er mit dir ausgehen will?"

"Oh, na ja ... das hab ich tatsächlich schon ein paarmal gemacht", sagte Katzi.

"Wirklich? Und wie ist es gelaufen?"

"Nicht so besonders", kam es kleinlaut zurück, "Aber andere Mädchen kriegen es auch hin. Vielleicht werde ich ja noch besser darin."

Yslei musterte sie voller Mitgefühl. "Also du interessierst dich für die Blindgänger hier an der Ernst-Moritz-Arndt? Sehr hohe Ansprüche scheinst du ja nicht zu haben."

"Keine Ahnung, ob ich selber so toll bin. Aber immerhin hab ich schon einiges über Jungen herausgefunden. Wenn sie nämlich mit ihren Kumpels zusammenstehen, ist absolut nichts mit ihnen anzufangen. Aber wenn man sie allein abpasst, kann man erstaunlich gut mit ihnen reden. In Wirklichkeit sind sie nämlich schüchtern."

Yslei legte den Kopf schief. "Wenn du so eine Expertin bist, hattest du wahrscheinlich schon einen Freund?"

"Nein, kann man nicht behaupten. Aber ich fühle mich innerlich absolut reif dafür. Vielleicht mache ich noch irgendetwas falsch, aber ich garantier dir, ich werde nicht übrigbleiben."

Yslei stand von ihrem Stein auf und sah sich die Mitschülerin genauer an. Dann deutete sie auf Katzis grauen Anorak, ihre alten Bluejeans und ihre ausgeleierten No-Name-Turnschuhe. "Am Outfit könntest du schonmal was ändern. Siehst aus, wie wenn du die Klamotten von deinem großen Bruder aufträgst. Und wo hast du deine Brille her? Aus einem Laden für Clowns-Zubehör ...?"

Katzi ertrug den Spott mit Gelassenheit. "Falls du es noch nicht gemerkt hast: Ich ziehe mich genauso an wie du!"

Yslei blickte an sich selbst hinunter. Ja, auch sie trug einen grauen Anorak, ausgewaschene Jeans und schlimm heruntergewirtschaftete Sneaker. Sie schaute wieder auf. "Jetzt, wo du es sagst, okay, der Punkt geht an dich. Aber es gibt einen Unterschied zwischen uns: Ich habe nämlich null Interesse an dem Jungens-Inventar der Ernst-Moritz-Arndt. Und das Letzte, was ich will, ist, dass einer von diesen kleinen Neandertalern sabbernd hinter mir herläuft." Es schauderte Yslei allein bei dem Gedanken.

"Also ich finde eigentlich, es funktioniert ganz gut!", konstatierte Katzi.

"Was funktioniert gut?" Yslei war für einen Moment aus dem Konzept gebracht.

"Na, wir zwei. Wir können uns unterhalten wie Freundinnen. Das ist doch schon ein guter Anfang, findest du nicht?"

"Nein!", widersprach Yslei, "Wir haben absolut nichts gemeinsam. Wir lassen das mal schön sein. Ich meine, guck dich an, du strickst! Das ist ... oberpeinlich."

Katzi war getroffen. "Ich finde es gar nicht peinlich. Und du bist ganz schön gemein, Yslei Lackner-Schröder! Ich nehm schon seit Wochen all meinen Mut zusammen, um dich anzusprechen. Das war gar nicht so leicht für mich. Und wie du jetzt über mich redest, tut ganz schön weh."

Yslei runzelte die Stirn und sah Katzi ins Gesicht. Das Mädchen aus der Parallelklasse hatte recht. "Also gut, sorry! Ich bin halt nicht so ein Schönwetter-Girlie, das mit jedem kann. Wehtun wollte ich dir nicht. Ich ziehe meine gemeinen Bemerkungen zurück."

"Gut", nickte Katzi zufrieden, "Dann kommt hier mein Vorschlag: Wir machen eine Probezeit aus. Vier Wochen! Wir treffen uns nur in den großen Pausen und plaudern. Ich darf dich in der Woche zweimal anrufen und bis zu zehn WhatsApp schreiben. Wenn du danach sagst, schieß in den Wind, Katzi, bin ich weg und lass dich in Ruhe. Ehrenwort!"

Yslei fand sich überrumpelt. Die Mitschülerin war recht zielstrebig in ihrer Art, Nägel mit Köpfen zu machen.

"Bitte, bitte, sag ja! Du bereust es nicht!"

"Oh Mann", stöhnte Yslei, "Du weißt aber schon, dass du eine Nervensäge bist, Aurora, oder?"

"Danke, dass du 'ja' sagst! Vielen Dank!" Katzi fiel der jungen Syrerin um den Hals.

Die wollte die Umklammerung schnell lösen, doch in diesem Augenblick fiel ihr Blick auf einen Jungen, der gerade heranschlenderte. Er war schlank und groß, hatte braune Haare und hinreißend schöne Augen. Yslei hatte ihn hier noch nie gesehen. Aber jetzt, als sie ihn anschaute, wurde ihr mit einem Mal heiß und kalt. Sie konnte den Blick nicht mehr von ihm abwenden. Sein Anblick war eine einzige Offenbarung. In diesem Moment war es nicht mehr zu leugnen: Bei Yslei hatte der Blitz eingeschlagen ...

Richard Dreifürst hatte allerbeste Laune. Paula war für drei Tage nach München gefahren, wo sie mit Herrn Holzer von der Constantin-Film eine Mini-Serie besprach, die sie für das ZDF entwickelt hatte. Den kleinen Willie hatte man für diese Zeit bei Susanne, Jens und Yslei im benachbarten Neuendorf geparkt. Richard wäre imstande gewesen, seinen Sohn auch allein zu betreuen, aber Paula hatte verfügt, dass ihr betagter Ehemann mal ein paar Tage Ruhe haben sollte.

Immer noch fühlte sich das Leben mit einer jungen, attraktiven Partnerin wie Paula unwirklich für ihn an. Die Drehbuchautorin war eine willensstarke Frau, die in ihrer Beziehung eindeutig am Ruder stand. Aber sie dominierte Richard nicht, sondern zeigte immer wieder ihre Wertschätzung für ihn. Die Situation zwischen dem Ehepaar war geordnet und sie verfügten beide über einen guten Sinn für Humor, weswegen es selten zu Streit kam.

Nun, da Richard eine sturmfreie Bude hatte, kam in ihm der Alkoholiker wieder aus seinem Verließ, mit seiner Narrenkappe auf dem Kopf, konnte kein Wässerchen trüben und schlug ein, wie er treuherzig versicherte, "äußerst dezentes Besäufnis" vor. Richard fand das in Ordnung. Paula war fort und damit gab es niemandem, vor dem man sich hätte rechtfertigen müssen, wenn man ausnahmsweise einen großen Trinktag einläutete, bei einem feuchtfröhlichen Fußballabend im Raja.

Das Pokal-Halbfinale zwischen dem Zweitligisten Hamburger Sportverein und dem inzwischen erstklassigen Lokalrivalen 1. FC St. Pauli versprach ein heißes Derby zu werden. Richard saß mit Addi, dem Mechaniker, und Erol, dem Wirt, zusammen am Tisch im Hinterzimmer des Raja, als das Spiel angepfiffen wurde.

"Das wird ein ruhiger Abend. Die Ferien sind vorbei, da kann ich endlich mal kürzertreten", freute sich Erol und machte drei Flaschen eiskaltes Bier auf, nicht ohne sich vorher bei Richard erkundigt zu haben, ob der sich den Umtrunk gut überlegt hatte. Und der Alte versicherte es.

"Also dann! Auf ein gutes Spiel!", rief Addi und die drei Männer stießen an.

Richard genoss den köstlichen Trunk, auch wenn es das Bier einer unbedeutenden Billigbrauerei war. Anders als Addi verzichtete er auf einen begleitenden Kräuterlikör. Mit Erol hatte er ausgemacht, dass er maximal vier Flaschen konsumieren wollte. Das war wichtig, denn ohne einen Kontrollmechanismus konnte es passieren, dass er sich selbst unter den Tisch trank. Und wenn Paula zurückkehrte, wollte er sie nicht in einer Verfassung empfangen, bei der sie sich einen Reim darauf machen konnte, wie er seine freie Zeit verbracht hatte.

Als St. Pauli in Führung ging, war Richard noch beim zweiten Bier. Addi hingegen leerte bereits die dritte Flasche und vergaß dabei auch seinen Kräuterschnaps nicht.

"Ich beneide dich darum, wie gut du den Fusel verträgst, Addi!", bekundete Richard.

"Na komm, soviel trinke ich jetzt auch wieder nicht", wandte der Mechaniker belustigt ein und machte seine nächste Flasche auf. "Aber meine Julischka, die sollte sich wirklich mal Gedanken machen. Lange geht das nicht mehr gut, so wie die bei uns den Schliwo weghaut. Prost!"

"Mein lieber Addi, wenn du denkst, dass du weniger trinkst als deine Alte, lässt mich das vermuten, dass du schlicht und einfach nicht zählen kannst", spottete Erol.

Richard und Addi lachten.

"Bei den Naturvölkern ist das nicht viel anders gewesen", dozierte Richard, "Die Yanomami-Indianer im brasilianischen Urwald kennen nur die Zahlen 'Eins' und 'Zwei' und das Wort 'Viele'."

"Genau", stimmte Erol zu, "Dann können wir uns ja darauf einigen, dass Addi nicht 'so viele' Flaschen Bier trinkt."

"Das ist doch ein Wort!", kicherte der Mechaniker und stand auf, um sich aus dem Kühlschrank im Vorderbereich der Wirtschaft noch einen kalten Kräuterschnaps zu holen. Er sah, dass der Inhalt von Richards zweitem Bier sich neigte. "Soll ich dir noch eine Buddel mitbringen, Dreifürst?

Doch der alte Lehrer antwortete nicht. Er sah mit leicht irritierter Miene vor sich auf den Tisch.

"Richard? Alles klar?"

Der Angesprochene blickte auf.

"Noch ein Bier?"

Richard schüttelte den Kopf. "Nein, lass mal. Alles gut."

Addi zeigte sich kurz überrascht, trollte sich dann aber aus dem Hinterzimmer des Raja.

Obwohl Richard es behauptet hatte, war keineswegs alles gut. Von einem Moment zum anderen hatte sich sein Befinden geändert. War er eben noch in prächtiger Laune gewesen, fühlte er sich nun unvermittelt elend. Aber es war nicht nur ein vorübergehendes Unwohlsein, es war etwas anderes, das er spürte. Als er auf den Rest des Pilseners in seiner Flasche schaute, stieg Übelkeit in ihm auf. Doch er behielt die Kontrolle, weil Erol nicht sehen sollte, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

In der Halbzeitpause, beim Stande von 1 : 1 verließ Richard das Raja. Seinen Freunden gegenüber schob er Müdigkeit vor und konnte auf die Tatsache verweisen, dass zwei Flaschen in seinem Alter bereits ausreichten, um ihm eine Schlagseite zu verpassen. Also versuchten die anderen nicht, ihn umzustimmen. Addi ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihn noch die wenigen Schritte nach Hause in die Poggenburgstraße zu begleiten.

Richard saß dann daheim in seinem Sessel und schaute in die Dunkelheit. Er fühlte sich miserabel und er hatte keine Ahnung, woher das kam.

Als Paula anrief, ließ er sich nichts anmerken und plauderte eine Weile mit ihr, wie wenn nichts wäre.

Nachdem er sich bettfertig gemacht hatte, sah er in den Spiegel. Er erschrak, als er sein blasses Ebenbild sah. Ein gezeichneter alter Mann blickte ihn an, eine gebeugte Gestalt, die schlecht aussah. Und in diesem Moment wusste Richard, dass, was immer da in ihm nicht in Ordnung war, seine letzte Uhr zum Ticken gebracht hatte ...

1. Eine nächtliche Begegnung

Pierre Tobin war ein kantiger Mittvierziger, ein Schrank von einem Mann, der nur selten gute Laune hatte. Er litt unter einer chronischen Depression und Schlafstörungen. Obwohl er jeden Tag in das Gym ging, um seine ohnehin schon enormen Muskeln weiter zu trainieren, erlebte er nicht mehr das gute Gefühl, das das Stahlbad ihm im Anfang verschafft hatte. Also erzeugte er nun eine positive Grundstimmung mit Kokain. Das tat er schon einige Jahre, auch wenn er wusste, dass er im Kopf abbaute, dass er aggressiver war als früher und zudem allmählich paranoide Züge entwickelte.

Pierre hielt sich schon seit drei Tagen hier in Bergen auf und wartete auf den Startschuss für die Mission. Die Untätigkeit machte ihn verrückt. Es war nicht gut, wenn er Zeit bekam, über sich und sein Leben nachzudenken, das drückte immer schnell auf die Stimmung.

Nun hatte er den ganzen Abend im Altstadtkeller gesessen und unzählige Grimbergen getrunken, eine belgische Biersorte, die ihm nicht einmal sonderlich schmeckte. Doch die Wirkung war akzeptabel. Gegen elf Uhr war eine Mittdreißigerin aufgetaucht, eine einsame Rügenerin, die wohl Anschluss suchte. Über die Gebühr attraktiv erschien sie Pierre nicht, aber ihre große Oberweite machte sie dennoch zum Hingucker. Und so hatte der Franzose sich mit seinen guten Deutschkenntnissen an sie herangemacht. Sie stellte sich als Maxine vor und arbeitete als Verkäuferin in einem Binzer Buchladen, dem Beiboot. Das Gespräch war anfänglich auch nicht schlecht gelaufen; Maxine hatte freundlich auf die Einladung zu einem Drink reagiert. Doch Pierre war bei weitem nicht mehr nüchtern genug, preschte ohne richtiges Timing vor und legte viel zu früh seine Hand auf ihr Knie. Sie reagierte selbstbewusst und fegte seinen Arm resolut zur Seite. "Nicht anfassen, mein Bester!"

Pierre mochte es nicht, wenn Frauen sich zierten. "Wieso überspringen wir das Gequatsche nicht und kommen gleich zur Sache? Du siehst auch aus, als hättest du es nötig, Perle!"

Sie inhalierte von der Zigarette, die sie sich angezündet hatte, sah ihn an und knallte ihm eine. Wäre Pierre nüchtern gewesen, hätte sie ihn niemals treffen können, denn seine Reflexe waren jahrelang geschult.

"Schätze, das hat hier keinen Sinn. Egal, wie nötig ich es haben mag, ich steh nicht auf Machos." Damit stand sie auf und ging davon, demonstrativ mit dem Hintern wackelnd.

Pierre war die Galle hochgekommen. Der heiße Impuls stieg in ihm auf, die Frau zu verprügeln. Ja, ihr erst eine Tracht verpassen und wenn sie dann nur noch ein heulendes Stück Elend war, hatte man immer noch alle Optionen. Aber das blieb nur eine Gewaltfantasie. Pierre Tobin hatte nach ihrem Abgang versucht, seinen Ärger mit weiteren Bieren und Schnäpsen herunterzuspülen, aber egal, wieviel mehr er in sich hineinschüttete, die Wut ging nicht weg.

Der Barkeeper hatte gesehen, wie alkoholisiert Pierre bereits war, und ihn gegen Mitternacht aufgefordert, den Altstadtkeller zu verlassen; anderenfalls würde er die Polizei rufen. Die bizarren und düsteren Tattoos auf Pierres Armen erweckten den Eindruck, dass man es hier mit einer wenig sozialisierten Persönlichkeit zu tun hatte.

Pierre hätte den Barmann innerhalb von fünf Sekunden krankenhausreif schlagen können, aber Ärger mit der hiesigen Polizei durfte er sich nicht erlauben, jetzt, so kurz vor der Mission. Also hatte er die Arschbacken zusammengekniffen und war der Aufforderung, sich zu entfernen, kommentarlos nachgekommen.

Nun stand der bullige Franzose in der Bahnhofstraße und wusste nicht, was er tun sollte. So betrunken, wie er war, brauchte er eine Nase Koks, um wieder klar zu werden. Er nestelte ein kleines Plastikröhrchen aus der Brusttasche und schraubte es auf. Es wurden mehrere Schnupfer, die es benötigte, dass er sich einigermaßen okay fühlte. Er dachte wieder an die Buchverkäuferin, die er verprellt hatte und ärgerte sich, dass er zu gierig gewesen war. Mit etwas mehr Geduld hätte er die Frau klarmachen können. Damit war es jetzt vorbei.

Dann erweckte etwas die Aufmerksamkeit seiner umnebelten Sinne. Auf dem Trottoir näherte sich eine schmale Gestalt mit leicht unsicherem Schritt. Das war ein selten dünner Spargel mit einer Sweatjacke und einer über den Kopf gezogenen Kapuze. Die nächtliche Erscheinung hielt inne, als sie den breitschultrigen Pierre mitten auf dem Bürgersteig gewahrte. Der Kopf ging noch weiter nach unten und die schmale Gestalt wollte schnell an dem Franzosen vorbeihuschen. Den jedoch stach der Hafer und er stellte der Kapuze kurzerhand ein Bein. Das magere Kerlchen stürzte.

"Schon mal was von Vermummungsverbot gehört, Arschloch?"

Die Gestalt rappelte sich hoch und schickte sich an, Fersengeld zu geben. Doch Pierre packte die Kapuze mit eisernem Griff am Genick. "Du bleibst mal schön hier, Kleiner, und zeigst mir dein Gesicht!"

Es geschah viel zu schnell für Pierre. Erst blendete ihn ein Metallreflex und dann bohrte sich eine glühende Lanze in seinen Bauch. "Wa...?", machte er und wollte sich mit der freien Hand schützen. Doch der Giftzwerg in seinem Klammergriff hörte nicht auf, blitzartig zuzustechen. Wie der Nadelkopf einer Nähmaschine zuckte das Messer ein ums andere Mal vor und machte blutige Löcher in den Bauch des Franzosen. Dann endlich konnte Pierre den Mickerling wegstoßen und versuchte, eine Kampfposition einzunehmen. "Komm ... bloß her, du Scheißkerl ...", stieß er hervor. Er konnte immer noch nicht das Gesicht seines Gegners erkennen. Der rückte mit ausgestrecktem Arm auf ihn zu, ihn mit dem blutigen Messer bedrohend.

Trotz seiner eingeschränkten Reflexe gelang es Pierre, die Messerhand des Kontrahenten zu fassen. Er griff auch noch mit der zweiten Pranke zu und drehte die Hand brutal herum, so dass das Messer klirrend auf dem Boden landete. Doch sein Gegner war nun keinesfalls unschädlich gemacht. Pierre Tobin realisierte zu spät, dass er auf einen Köder hereingefallen war. Die Kapuze hatte ein zweites Messer in der anderen Hand und stieß nun mit unerbittlicher Wucht zu. Das Metall bohrte sich tief in den Hals des Franzosen. Der große Mann fiel mit Unverständnis im Gesicht auf die Knie und krümmte sich dann auf dem Boden, während das Blut wild aus seiner aufgeschlitzten Kehle spritzte.

Die Gestalt im Kapuzensweater hob hektisch das zweite Messer auf, drehte sich dann weg und lief in die Nacht.

Jens war um kurz vor eins angerufen worden. Als man ihm von einer bizarren Bluttat in Bergen berichtete und die näheren Umstände an ihn weitergab, hatte er sich nur wundern können, sich aber eiligst angezogen. Wenig später saß er in seinem Dienstwagen und fuhr in die Inselhauptstadt.

Kriminalkommissarin Vivian Tennstedt war bereits vor Ort, als Jens ankam, obwohl sie, die sie in Stralsund wohnte, den deutlich längeren Weg hatte. Sie hatte sich bereits über den Sachverhalt ins Bild gesetzt, als sie auf ihn zutrat.

Jens hatte, ebenso wie Catrin Hanfstaengl vor ihm, den Eindruck, dass die Endzwanzigerin sich verändert hatte. War sie früher eine unscheinbare, eher zurückhaltende Persönlichkeit gewesen, wirkte sie nun viel selbstbewusster. Sie hatte abgenommen und ihren Babyspeck verloren, was ihr Gesicht schmaler und attraktiver machte. Sie erschien Jens jetzt als aparte Schönheit, trotzdem umgab sie dabei eine düstere Ernsthaftigkeit, was von einer kraftvollen Körpersprache unterstrichen wurde.

"Seinem Pass nach ist das Opfer Kanadier", begann Vivian ihren Bericht, "Ruben Brasco aus Syracuse. Er logiert im Parkhotel. Ist vor drei Tagen angekommen, vorgeblich touristisch unterwegs. Kollege Konermann von der Spusi untersucht noch, aber Todesursache ist die Halsverletzung. Dazu kommt natürlich der immense Blutverlust. Der Mann hat neben der Kehlkopfverletzung noch ein gutes Dutzend tiefer Einstiche im Bauchbereich."

Jens verzog das Gesicht, als er die Leiche des Mannes mit dem Messer im Hals sah. Das war ein entsetzlicher Anblick. Auf diese Momente in seinem Beruf hätte der Kommissar gut verzichten können. "Gibt es Zeugen?"

"Die Reuters, ein Rentnerehepaar aus Thüringen", berichtete Vivian nach einem Blick in ihr Notizbuch, "Touristen. Sie waren auf einem späten Spaziergang und haben eine dünne Gestalt mit Kapuze davonlaufen sehen. Der Mann war früher Hausarzt und hat versucht, erste Hilfe zu leisten, aber er konnte nichts mehr tun. Außer, dass er vielleicht beim Öffnen des Hemdes Spuren verwischt hat ..."

Jens überlegte. "Wir haben die Papiere des Mannes, ist seine Brieftasche auch noch da? Ich frage wegen des Geldes."

"Die Brieftasche war gut gefüllt. Dieser Ruben Brasco hatte sogar viel Geld bei sich, fast zweitausend Euro in Scheinen."

"Dann können wir Raubmord ausschließen ..."

Vivian überlegte. "Ich für meinen Teil würde es nicht tun. Was, wenn der Täter einfach gestört wurde, durch die Reuters, bevor er die Leiche durchsuchen konnte?"

"Hmm ...", machte Jens und sah sich um. "Der Kapuzenmann bringt jemand mit einem Messer um, ziemlich drastisch sogar und türmt dann, weil er Schritte hört? Ich weiß nicht. Mein Gefühl sagt mir, der Mörder war im Tunnel. Ich glaub, der hat nicht viel um sich herum mitgekriegt ...!"

Vivian dachte darüber nach. "Okay. Das will ich nicht ausschließen. Aber was wäre dann der Grund für die Tat? Mord aus einem persönlichen Motiv?"

Jens trat näher an den Tatort heran.

Kommissar Konermann von der Spurensicherung fotografierte den Leichnam gerade von allen Seiten.

Jens beugte sich etwas nach unten, um eine Tätowierung auf dem Arm des Toten zu betrachten.

"Sieht aus wie ein Spinnennetz", stellte Vivian fest, die neben ihn getreten war.

"Könnte auf einen ehemaligen Strafgefangenen hindeuten", vermutete Jens.

"Ein Spinnennetz-Tattoo am Arm deutet auf einen Gefängnisaufenthalt hin?"

Jens nickte. "Das Spinnennetz überzieht den ganzen Ellbogen, ist ziemlich groß. Unter Knackis ist das oft ein Zeichen, dass man lange im Bau war. Aber so etwas besagt nicht viel. Jeder, der Lust darauf hat, kann sich das stechen lassen."

Konermann, der über den Leichnam gebeugt war, richtete sich auf und machte den Blick auf die Brust des Toten frei. Jens pfiff durch die Zähne, als er dort die Tätowierungen des Mannes erblickte. Da waren zwei riesengroße Augen, die links und rechts unter das Schlüsselbein gestochen waren.

Vivian hatte allerdings eher Augen für die extrem definierten Muskeln des Toten. "Junge, Junge! Kein Gramm Fett und Muckis vom anderen Stern! Aber auch jede Menge Narben! Ein kampferprobter Mann, würde ich sagen."

Jens nickte. "Wer immer sich mit dem hier angelegt hat, hatte mehr Glück als Verstand, lebend davongekommen zu sein ..." Er drehte sich zu ihr. "Die Zentrale sagte, es gab einen Ringalarm. Hat das was eingebracht?"

"Bis jetzt ist keine Meldung gekommen", erwiderte Vivian, "Aber wir haben auch nur eine sehr vage Beschreibung des Täters."

"Gut! Fahren wir zurück nach Stralsund. Ich würde gerne ein bisschen in den Datenbanken stöbern." Jens nickte den Kollegen von der Spusi zu, drehte sich um und ging.

An ihrem neuen Arbeitsplatz im gemeinsamen Büro klemmten die Beamten sich gleich an den Computer. Jens überprüfte die sozialen Netzwerke nach Ruben Brasco. Dann ließ er die Regula App über das Foto des Reisepasses laufen und rief danach die relevanten Datenbanken von Interpol auf.

Vivian sah ihm eine Weile lang schweigend zu. "Lässt du mich eventuell mal an deinen Ideen teilhaben, Kollege?", fragte sie nicht ohne einen ungeduldigen Unterton.

"Oh, entschuldige!", sagte Jens, "Ist eine ebenso alte wie schlechte Angewohnheit. Wenn ich grübele, wirke ich immer so, als hätte ich eine ganz heiße Spur, dabei ist es innerlich eher ein Chaos bei mir. Aber folgende Gedanken treiben mich um: Höchstwahrscheinlich haben wir es bei dem Opfer mit einem Schwerverbrecher zu tun, denn wie ich schon vermutet habe, sind seine Ausweispapiere gefälscht."

"Das heißt, die Prüfziffern im Pass stimmen nicht?"

"Laut 'Regula App' nicht. Es gibt auch in den sozialen Netzwerken und den Interpol-Datenbanken keinen Ruben Brasco aus Syracuse. Der Tote muss eine andere Identität haben. Aber sobald die Fingerabdrücke ausgewertet sind, sind wir klüger. Der Kerl ist polizeibekannt, da wette ich drauf."

Vivian überlegte. "Sagtest du nicht, das Spinnennetz am Ellbogen muss nicht zwingendermaßen auf einen Gefängnishintergrund hindeuten?"

"Das stimmt. Aber du hast sicher die beiden großen Augen gesehen, die auf seine Brust tätowiert waren. So etwas haben Leute, die im Zuchthaus die Taktgeber sind, die großen Nummern. Das sind definitiv Insider-Zinken!"

"Wow! Ist das so? Da habe ich wohl gefehlt, als sie das an der Polizeischule gelehrt haben."

"Nein", schmunzelte Jens, "Ich hatte in Schwerin bei der 'Operativen Fallanalyse' eine Menge Vorträge und Fortbildungen. Da bleibt natürlich so einiges hängen. Und wie du siehst, kann man manches davon sogar gebrauchen."

"Okay", konstatierte Vivian nachdenklich, "Der Mann war ja recht groß, ziemlich muskulös dazu und wie du sagst, wird er wohl eine lange Vorgeschichte haben. Aber was genau ist da letzte Nacht passiert? Meinst du, dieser falsche Kanadier hatte Feinde und jemand hat einen Auftragskiller auf ihn angesetzt?"

Jens war überfragt. "Ist zu früh, um das zu sagen. Aber gegen einen Berufskiller sprechen die Verletzungen des Toten. Wenn du so einen gefährlichen Burschen umlegen willst, gehst du nicht zu nahe an ihn heran, wenn du schlau bist. Da nimmst du ein Gewehr oder eine Pistole mit Schalldämpfung. Oder wenn du dich doch auf ein Messer verlassen willst, versuchst du als erstes, die Halsschlagader zu treffen. Da musst du gut sein, denn wenn er dich mit den Riesenhänden zu fassen kriegt, macht er dich platt."

"Aber das Messer im Hals hat sein Schicksal besiegelt."

"Das kann man sagen. Von so was kommst du nicht mehr zurück."

Vivian knetete ihr Ohrläppchen, eine Marotte, die Jens schon früher bei ihr beobachtet hatte. "Dann müssen die Stiche in den Bauch vorher passiert sein, richtig?"

"Höchstwahrscheinlich. Unsere unbekannte Leiche hatte Schnittverletzungen an den Fingern. Er wird versucht haben, die Messerattacke auf seinen Bauch mit bloßen Händen abzuwehren."

"Vielleicht kannten die beiden sich und sind in Streit geraten. Konermann meinte, der Tote hat ziemlich nach Alkohol gerochen."

Jens sann über Vivians Worte nach. "Ich bezweifle, dass sie sich kannten. Der Kapuzenmann war der Zeugen-Beschreibung nach deutlich kleiner als der andere, dennoch hat er den Großen überrascht. Meinem Gefühl nach sind die sich da auf der Straße das erste Mal begegnet. Aber dass sie durch irgendeinen Umstand in Streit geraten sein könnten, muss man im Auge behalten."

Es gab einen Signallaut des Computers. "Die Fingerabdrücke sind ausgewertet! Das ging ja mal zügig", sagte Jens und rief die Ergebnisse auf. Das Gesicht des Ermordeten erschien in vielfältigen Versionen. Es gab Passfotos, Mug shots und Fahndungsplakate.

"Sein wirklicher Name ist Pierre Michel Tobin. Er ist ein Private Security Contractor!", stellte der Kommissar fest.

"Private Security Contractor?" Vivian beugte sich vor, "Das sind doch Personenschützer ..."

"Ja. Populärwissenschaftlich gesagt, er hat sich als Söldner verdingt."

"Ein Söldner. Na, das würde passen." Vivian las sich interessiert in die elektronische Akte ein. "Angefangen hat Pierre Tobin bei der Fremdenlegion. Da war er fünf Jahre lang. Nach seinem Ausscheiden mehrere Straftaten. Mann, was ist das für eine ellenlange Liste! Und in der Folge mehrere Gefängnisaufenthalte. Die letzte Haftstrafe ist neun Jahre her, Interpol sucht ihn seit fast acht Jahren. Mehrfacher Mord, Raubüberfälle und Entführungen. Dazu Kriegseinsätze in Gabun, im Kongo und im Irak."

Jens lächelte dünn. "Man könnte fast sagen, ein Segen, dass der aus dem Verkehr gezogen ist."

"Ich versteh es nicht!", rätselte die Kommissarin, "Was will so ein Mann auf Rügen? Mehr als Urlaub machen kann man hier doch nicht."

"Ja, Vivian, ich stimme dir zu. Dass der im schönen Bergen 'ne Auszeit genommen hat und nur mal die Seele baumeln lassen wollte, glaube ich nicht. Der hatte einen anderen Grund, hier zu sein. Und mein Gefühl sagt mir, dass wir den besser herausfinden!"

Vivian sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an. Jens entging das nicht. "Was ist?"

"Na ja", begann sie, "Du bist Jens Lackner und alle haben einen Mordsrespekt vor deinen Fähigkeiten, ich auch ..."

"Aber ...?"

"Offensichtlich drehen sich deine Gedanken allein um den Toten. Vielleicht bin ich ja zu paragraphenorientiert, aber sollten wir uns nicht in erster Linie um den Täter kümmern? Einen Täter, der Leute mit Messern massakriert und frei hier auf Rügen rumläuft?"

Als Chris Sienkiewicz an diesem Morgen seinen Dienst im Bergener Hauptrevier antrat, kam er mit einem dicken Hals. Und wie meistens, wenn er sauer war, ging es um seinen Partner Waldo Rafalski. Der saß bereits an seinem Platz in ihrem gemeinsamen Büro und steckte in Computerarbeit.

"Moin, Herr Kollege!"

"Ei gude, wie?" Waldo blickte nicht mal auf.

"Kannst du mich eventuell mal angucken?"

Waldo sah verwirrt herüber. "Ist was passiert? Siehst aus, als wär dir eine Laus über die Leber gelaufen ..."

"So ähnlich. Ich hol mal etwas weiter aus, okay?" Chris setzte sich. "Wie du weißt, führen meine Freundin Tabea und ich eine Beziehung, die mir sehr wichtig ist. Wir haben sogar einen Hund adoptiert, Butch, und fühlen uns beide miteinander erstaunlich wohl. Das ist deswegen so, weil wir Zeit miteinander verbringen und viel reden."

"Viel reden. Ja, kauf ich sofort."

"Dann kommst du und sagst, mach nicht zu viel mit 'der Alten', sonst gibt es eine 'Nähevergiftung'. Geh mal raus aus deinem Bau und unternimm auch was mit Freunden."

"Viele gute Ratschläge gebe ich vielleicht nicht, Sienkiewicz, aber das war einer."

Chris nickte geduldig. "Ich habe den Rat auch angenommen. Da du dich angeboten hast, wollten wir zusammen abhängen und, na ja, Männergespräche führen ..."

"Apropos führen, führt das hier noch zu irgendwas?"

"Oh, ganz sicher!" Die Stimme des POMs wurde eine Spur schärfer, "Wie du dich sicher erinnerst, haben wir uns getroffen, eine Tasse Cappuccino getrunken, wir reden dabei von einer Spanne von etwa zehn Minuten gemeinsam verbrachter Zeit, und dann, plötzlich, siehst du eine Schauspielerin, springst wie von einer Hornisse gestochen auf und rennst davon. Ich hab dann noch eine halbe Stunde bei Springers gesessen und ein dummes Gesicht gemacht. Mein einziger Trost war dein Geldbeutel, den du auf dem Tisch hast liegen lassen. By the way ..." Chris griff in seine Tasche und schob Waldo sein Portemonnaie hinüber.

"Oh, Gottseidank! Ich dachte, das Ding wär' mir irgendwo aus der Tasche gefallen. Super, dass du so auf Zack warst!"

"Gern geschehen. Und jetzt hätte ich gerne eine Erklärung! Du bist Waldo, der Verschwinder! Immer wieder löst du dich in Luft auf und keiner weiß, weshalb. Also: Warum hast du mich gestern sitzen lassen wie einen Idioten?"

Waldo blickte zur Tür des Büros, die Chris offengelassen hatte. Der Frankfurter stand auf, schloss sie und kehrte zu seinem Platz zurück. "Chris, erst einmal: Ich muss mich entschuldigen, wirklich! Du hast vollkommen recht, so geht man nicht mit seinem Partner um, noch weniger mit einem Freund. Ich erlaube mir, dich als einen solchen zu sehen."

"Was ... ist ... passiert?", knurrte Chris ungeduldig.

Waldo sammelte sich. "Bitte, gib mir einen Moment! Das war eine absolute Ausnahmesituation! Diese Frau, die da plötzlich im Café aufgetaucht ist, Anna Maria Teller, die Schauspielerin, verehre ich seit Jahren. Ich weiß, das kommt jetzt wie ein total armseliges Fanboy-Verhalten rüber und dessen schäme ich mich auch ganz aufrichtig ..."

"Du willst sagen, du bist ihr nachgelaufen, um sie heimlich anzustaunen?", fragte Chris, "Du weißt schon, dass Stalking strafbar ist und auch nicht wirklich in das Profil eines Schutzpolizisten passt."

"Jetzt nicht übertreiben, mein Freund!", mahnte der Partner, "Selbst ein Waldo Rafalski sinkt nicht unterhalb eines gewissen Niveaus. Ich gebe zu, ich habe sie um ein gemeinsames Selfie gebeten. Doch sie hat es verweigert. Und weißt du, warum?"

"Weil dieses Aftershave, das du benutzt, nicht nur bei mir Atemnot hervorruft?"

"Sie hatte ein blaues Auge!"

"Sie hatte ein blaues Auge?" Chris konnte die Antwort nicht einordnen. "Und wieso?"

Waldo stöhnte. "Ich hab sie nicht gefragt. Aber das war ein Veilchen, das ihr jemand mit der Faust verpasst hat. Neunundneunzig Prozent Gewissheit!"

Chris sah seinen Partner an. "Okay. Ein Faustschlag. So weit verstanden. Und was ist dann passiert?"

"Dann habe ich sie, wie du vermutet hast, gestalked."

"Warum denn, Herr im Himmel?"

"Chris, Mann! Diese Frau ist für mich wie Leia Morgana aus dem Krieg der Sterne. Eine Königin, der ich bedingungslos gefolgt wäre. Wäre sie eine Pharaonin, hätte ich mich mit ihr klaglos in eine Grabkammer einschließen lassen."

"Dass du ein Fanboy bist, sagtest du schon. Aber das erklärt immer noch nicht, wieso du hinter ihr her bist ..."

"Ich musste wissen, wo sie wohnt."

Chris wurde ungeduldig. "Mann, du kennst ihren Namen. Das hättest du als Polizist auch anders rauskriegen können."

Waldo schüttelte den Kopf. "Wie naiv du doch bist, Sienkiewicz. Promis wollen nicht, dass man weiß, wo sie wohnen. Und sie wissen es zu vermeiden, dass aufdringliche Fans das herausfinden und ihnen auf die Pelle rücken ..."

"Gut, das konnte ich nicht ahnen. Du bist ihr also nach und weißt jetzt, wo sie wohnt?"

"Absolut!"

"Wozu?"

"Liegt das nicht auf der Hand?

"Äh ... nein!"

"Ich will wissen, wer ihr das angetan hat. Wer es war, der dieser Frau so brutal ins Gesicht geschlagen hat!"

Hauptkommissar Bert Rusnak saß hinter seinem Schreibtisch und blickte abwesend ins Leere, als die Schichtleiterin Dina Zellhöfer mit der Post in der offenen Tür erschien. Der Revierleiter war so in seine Gedanken versunken, dass die Kollegin mit einem Klopfen an den Türstock seine Aufmerksamkeit erwecken musste.

"Dina! Verzeih, ich war gerade ganz woanders ..."

"Die Post!" Sie reichte ihm ein gutes Dutzend Briefe. "Ist irgendwas passiert? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen ..."

Bert Rusnak lachte. "Das trifft es ziemlich genau. Ich hatte gerade einen Anruf von Heinz Rickmers, du weißt schon, der Kollege von der Insel Poel ..."

"Rickmers? Was sagt er denn?"

"Er hat in Kirchdorf einen Mann gesehen, der ihm bekannt vorkam. Heute morgen unter der Dusche, der Klassiker, ist es ihm wieder eingefallen. Er ist sich sicher, dass es mein Bruder Johnny gewesen ist ..."

Dina machte große Augen und setzte sich in den Besucherstuhl. "Das ist ja ein Ding. Hattest du nicht vermutet, dass er sich schon längst ins Ausland abgesetzt hat?"

"Das habe ich, ja. Andererseits ist das nicht so einfach, ganz ohne Papiere. Und Kommissar Rickmers ist keiner, der leichtfertig Alarm schlägt. Wenn Johnny sich irgendwo versteckt, ist Poel vielleicht kein schlechter Ort dafür ..."

"Und jetzt? Was hast du vor?"

Rusnak pustete Luft aus. "Genau darüber denke ich nach. Poel ist eine kleine Insel, sicher, aber trotzdem zu groß, um schnell jemanden zu finden, der nicht gefunden werden will. Außerdem missfällt mir der Gedanke, dass ich es bin, der Johnny wieder in den Knast zurückbringt. Kurz, ich stecke in einem moralischen Dilemma ..."

"Also machst du gar nichts."

Der Revierleiter setzte ein falsches Grinsen auf. "Weit gefehlt. Der Vizekanzler trifft heute zu einem Flüssiggas-Symposium in Binz ein. Du weißt selbst am besten, dass wir jetzt Arbeit haben ohne Ende. Und Johnny, der Unglücksrabe ... der mag von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst."

Katzi hielt sich gewissenhaft an ihre Vereinbarung. In jeder großen Pause war sie zur Stelle, um Yslei auf dem Schulhof abzupassen, und dann quatschten sie. Es war nicht so öde, wie Yslei erst befürchtet hatte. Katzi vermied es, sie pausenlos zuzutexten, und wenn sie etwas sagte, war es selten etwas Dummes. Sie hatte jedoch die Angewohnheit, überall ihr Strickzeug rauszuholen und Schals zu produzieren. Aber nach einer Zeit hatte Yslei sich auch daran gewöhnt.

Nun saßen sie auf den Steinen vor dem Anbau der Schule, wo Yslei sich bevorzugt aufhielt und sahen zu dem Neuen hinüber, dem Gutaussehenden mit den braunen Haaren und den schönen Augen, der bei den Schülern in seiner Altersstufe bereits Anschluss gefunden hatte.

"Simon Graf Yorck von Wartenburg. Das ist mein neuer Klassenkamerad", erklärte Yslei ihrer Freundin zur Probe.

"Er ist adelig? Wow!", rief die, "Also ich persönlich habe ja eine Schwäche für den Adel."

"Sein Vater ist Politiker in der Meck-Pomm-Landesregierung. Ein Minister, wie man hört, ein wichtiger dazu."

Katzi betrachtete den schlanken Jüngling, der im Kreise der anderen Schüler schon die Körpersprache eines Alphatieres aufwies. "Aber ein bisschen affig kommt er mir vor."

"Affig?", wiederholte Yslei irritiert. "Wo ist denn der affig? Er ist nur selbstbewusst. Und ausgesprochen intelligent. Unser Mathe-Lehrer hat gesagt, er verrät uns seinen IQ nicht, um uns nicht zu deprimieren."

Katzi musterte Yslei nun interessiert. "Mal Hand aufs Herz: Ist er dein Typ?"

"Was? Wie?" Yslei war auf dem falschen Fuß erwischt. "Mein Typ? Simon? Ehm ... wie meinst du das?"

"Wie kann ich das wohl meinen? Ich will wissen, ob du auf ihn stehst!"

Yslei zog ein Gesicht. "Was für eine blöde Frage! Ich kenn ihn ja kaum."

"Aber ich kenne dich!", lachte Katzi, "Wenn du über die Jungen vom Ernst-Moritz-Arndt redest, dann sind das alles 'Cringe-Bots', 'Akne-Fressen' oder 'Nullchecker der Kategorie extra-lost'. Allein der junge Herr Graf, der scheint irgendwie aus dem Raster zu fallen ..."

Ysleis Gesicht wurde finster. "Kannst dir deinen Sarkasmus sparen, Aurora. Und wenn schon. Ja, vielleicht finde ich ihn wirklich ganz interessant. Aber deswegen ziehe mir kein Blümchenkleid an und mal mir die Lippen rot."

"Apropos, du hast gesagt, du würdest mir bei meinen Klamotten und meinem Styling helfen. Steht das noch?"

"Wenn ich was sage, dann tue ich es auch", gab Yslei zurück, "Und ich wüsste schon, was man bei dir machen könnte. Als allererstes brauchst du eine andere Brille. Und die Frisur muss auch neu."

Katzi schaute nun etwas beunruhigt drein, denn der Gedanke daran, sich komplett Ysleis Vision anzuvertrauen, bereitete ihr Unbehagen. "Also gut. Dann mache ich schon mal einen Termin beim Friseur klar."

"Musst du nicht!", lächelte die junge Syrerin, "Deine Haare schneide ich dir. Glaub mir, das ist besser!"

Der Erste Hauptkommissar Rainer Jung blickte Jens und Vivian an, die ihm soeben Bericht erstatteten. "Der Kapuzenmörder ist also wie vom Erdboden verschluckt."

"So kann man es sagen. Es gibt nirgendwo einen Hinweis auf ihn", sagte die Kommissarin, die einen ausführlichen Bericht geschrieben hatte. "Wir haben nur das Messer, das im Hals des Toten gesteckt hat."

"Und natürlich keine Fingerabdrücke. Das alte Lied ...", vermutete Jung.

"Oh nein!", hielt Vivian dagegen, "Wir haben mehrere glasklare Abdrücke."

"Ach ja?"

"Okay, da enden die guten Nachrichten. Es gibt nämlich kein Match in den Datenbanken. Zu wem immer diese Abdrücke auch gehören, er ist bisher polizeilich noch nicht auffällig geworden."

Rainer Jung sah zu Jens Lackner. "Damit können wir einen Profikiller doch im Grunde ausschließen, oder?"

"Das ist wenig wahrscheinlich, ja", bestätigte der Kommissar, "Schon allein, wie die Tat in unserer Rekonstruktion abgelaufen ist, spricht nicht dafür."

"Wir tappen also im Dunkeln. Das ist nicht gut. Frau Terjong, unsere Oberstaatsanwältin, hat mich schon angerufen und würde gerne für ihre politischen Kontakte irgendwelche Ergebnisse vermelden."

"Sagen wir mal so", kam Jens ihm entgegen, "Was den Ermordeten betrifft, können wir einiges sagen, was für die Öffentlichkeit vielleicht beruhigend wirkt. Dass er ein Schwerverbrecher war, mit einer ellenlangen Liste an Delikten und mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wurde."

"Und bei der Tatwaffe, dem Messer, können wir mit einem sehr vagen Ansatz aufwarten", ergänzte Vivian, "Es gibt eine Prägung auf dem Griff: MdI ..."

"MdI?", fragte Jung nach, "Sollte mir das etwas sagen?"

"Das steht für 'Ministerium des Inneren', erläuterte Jens, "Dieses Besteck gehörte zu alten DDR-Beständen, die womöglich billig aufgekauft wurden. Aber hier auf Rügen gibt es kein Amt, das wir damit in Verbindung bringen können."

"Also gut!", kürzte Jung die Erklärung ab, "Was haben wir sonst?"

Vivian sah in ihre Notizen. "Der Bericht der Spurensicherung besagt, dass es sich bei der Tatwaffe um kein hochwertiges Besteck handelt, also kein Chrom-Nickel-Legat ..."

"Und woran sehen die das?"

"Die Klinge lässt sich verbiegen und das Messer hat Patina angesetzt. Das kommt, wenn ich den Kollegen Konermann zitieren darf, davon, dass das Besteck sehr oft in einem Geschirrspüler gewaschen worden ist. Dabei wurde offenbar ein scharfes Industriewaschmittel verwendet, das überwiegend in Großküchen und Kantinen eingesetzt wird."

Der Erste Hauptkommissar rieb sich das Kinn. "Und das soll die Ermittlung weiterführen? Das klingt ja mächtig kompliziert."

Jens sah das anders. "Kommissar Konermann hat seine Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Möglicherweise findet er heraus, welchem Waschmittel genau das Messer in dem Industrie-Geschirrspüler ausgesetzt war. Dann könnten wir die Verwender des Produkts auf Rügen sicher auf eine überschaubare Zahl eingrenzen."

Rainer Jung klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch. "Dann machen Sie das in Gottes Namen. Die Bevölkerung in Bergen ist dünnhäutig seit der Laternenfisch-Affäre."

"Sollen wir auch über die Hintergründe des Opfers Pierre Tobin weiter ermitteln?", erkundigte sich Vivian plötzlich.

"Über den Söldner? Wieso?", fragte Jung verdutzt, "Reicht es nicht, dass da ein weiterer Schakal weg vom Fenster ist?"

"Herr Hauptkommissar, wenn Sie erlauben, besprechen die Kollegin Tennstedt und ich das intern", schlug Jens vor, "Das sind keine Themen, mit denen Sie sich belasten müssen."

Damit hatte sich der Hauptkommissar zufriedengegeben.

Draußen im Korridor stellte Jens die Kollegin zur Rede. "Sag mal, hab ich was verpasst? Hast du ein Problem mit mir?"

"Wieso?", tat Vivian ganz unschuldig.

"Anders gefragt, passt dir irgendetwas nicht daran, wie ich die Sachen anfasse?"

Die Kommissarin hielt seinem Blick stand. "Was mir passt oder nicht, steht hier doch wohl kaum zur Debatte. Ich meine, die Frage ist doch: Sind wir ein Team oder bist du der Leitwolf und ich dein treu ergebener Harry?"

Jens sah sie enerviert an. "Okay, in Anbetracht meines Alters und meiner Erfahrung habe ich mich vielleicht hinreißen lassen, die Führung zu übernehmen. Und ich gebe zu, mir hat es auch nie gefallen, wenn ich früher von Partnern oder Vorgesetzten nicht richtig einbezogen wurde."

"Und mir gefällt es ebenfalls nicht", bezog Vivian Stellung.

"Eine Partnerschaft funktioniert nicht von jetzt auf gleich", merkte Jens an, "Das muss sich einspielen. Aber dazu sollte man sich vielleicht etwas mehr austauschen."

"Finde ich gut. Dann fange ich mal an: ich verstehe nicht, warum wir uns nicht auf den Kapuzenmörder konzentrieren und du stattdessen so viel Zeit damit verbringst, herauszufinden, was der tote Söldner hier wollte. Sorry, das krieg ich nicht in meinen Kopf."

Jens merkte, wie Ungeduld in ihm aufstieg. Das waren alte Verhaltensmuster, die schon Catrin Hanfstaengl bei ihm moniert hatte. Er sollte sich nicht wieder zu Alleingängen hinreißen lassen. "Es ... es ist intuitiv", sagte er schließlich.

"Intuitiv?", wiederholte Vivian, "Immer, wenn ich mich auf meine Intuition berufen habe, sind meine Ausbilder an der Polizeischule auf mich losgegangen. Die meinten, ich solle mich an Fakten halten, nicht an Hirngespinste."

Jens gefiel nicht, wie das Gespräch sich entwickelte. "Wäre ich Ausbilder an der Polizeischule, würde ich dem Nachwuchs sagen, dass Intuition ein Teil der Polizeiarbeit ist. Manchmal erfassen wir bei Ermittlungen Sachverhalte nicht bewusst, aber wir spüren einen Impuls aus dem Unterbewusstsein, der uns eine bestimmte Richtung weist. Deswegen halte ich es für zielführend, dieser Idee nachzugehen, auch wenn die Faktenlage das vielleicht nicht unterstützt."

Vivian überlegte. "Ich verstehe das", sagte sie dann, "Im Moment macht mir aber der Kapuzenmann mehr Sorgen. Wir wissen rein gar nichts über sein Motiv. So wie er Pierre Tobin zugerichtet hat, könnte es ein Psychopath sein. Deswegen schlage ich vor, dass wir den Söldner und den Grund für sein Hiersein hintenanstellen und alle Kräfte auf den flüchtigen Mörder konzentrieren."

Jens wusste gegen ihre Argumentation nichts einzuwenden. Seltsamerweise klingelten seine inneren Alarmglocken beim Kapuzenmörder nicht so laut wie bei dem getöteten Söldner mit den Tätowierungen. Doch die Erinnerung an seine Fehleinschätzungen bei der Laternenfisch-Ermittlung waren noch frisch. Auch wenn Vivian jung war und kürzlich ein schweres Trauma durchlebt hatte, trumpfte sie gerade mit der schlüssigeren Strategie auf. "Also gut. Ich will mich dem, was du sagst, nicht verschließen."

"Das heißt, wir konzentrieren uns auf die Kapuze?"