Der Riffgeist - R.P. Hahn - E-Book

Der Riffgeist E-Book

R.P. Hahn

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS. NUR FÜR KURZE ZEIT! Ein Katz- und Mausspiel auf hoher See – der dritte Rügen-Krimi von R.P. Hahn Es ist Urlaubssaison an der Ostseeküste, und Jens Lackner, inzwischen Kommissar bei der Kripo Stralsund, hat alle Hände voll zu tun. In Binz wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden, doch es scheint keine Spur vom Mörder zu geben. Dafür überschlagen sich die Ereignisse an einer anderen Front: Ein entführtes Flüchtlingskind liefert Beweise dafür, dass grausame Geschehnisse auf einem Schiff vor Kaliningrad vonstattengehen. Bevor der Rügener Kommissar etwas tun kann, wird er aufgrund einer Unachtsamkeit vom Dienst suspendiert. Er sieht keinen anderen Ausweg, als sich mit einem lebensmüden Segler und einem vorbestraften Mörder zu verbünden, um der Sache auf den Grund zu gehen … »Wer rasante Thriller liebt, ist hier bestens bedient.«  ((Leserstimme auf Netgalley)) »Die Schauplätze und die Charaktere sind sehr gut beschrieben und man konnte fast das Rauschen des Meeres hören. Der Schreibstil zieht einen mit seiner Spannung gleich in den Bann. Seine Protagonisten haben Ecken und Kanten. Sehr gut gemacht. De Autor spielt mit den Gefühlen des Lesers.«  ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Triggerwarnung

Teil 1

Mord ohne Spuren

Teil 2

Ungute Entwicklungen

Teil 3

Der Angriff

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält verstörende Inhalte und thematisiert Gewalt gegen Kinder.

Teil 1

Mord ohne Spuren

Rügen wohnte ein Zauber inne. Das sagte jeder. Vielleicht stimmte es, vielleicht nicht. Mike Kramer war das gleichgültig. Seit die Polizei ihn rausgeworfen hatte, verfluchte er diesen Ort. Er verstand immer noch nicht, was er eigentlich genau getan hatte, dass man ihm einfach sein Leben wegnahm. Als Polizeihauptmeister war er zufrieden gewesen, na, vielleicht nicht ganz zufrieden, aber doch hundertmal mehr als heute. Er trug zwar immer noch eine Waffe, wenn man das merkwürdige Ding so nennen wollte, aber die durfte er nur im Bereich des Mukraner Hafengeländes einsetzen. Vor zwei Jahren hatten sie ihn hier eingestellt, nach der unseligen Schutzgeldgeschichte, die ihm bei der Polizei das Genick gebrochen hatte. Er konnte heute nicht mehr sagen, was ihn geritten hatte, sich so ein Ei zu legen. Jetzt war er nicht mehr das Auge des Gesetzes, jetzt fristete er als popeliger Wachmann sein Dasein und unter ihm rangierte nur noch das Putzpersonal.

Mike sah auf seine Uhr. Es war halb zehn durch. Gleich würde noch ein Frachter aus Klaipeda hereinkommen und seine Ladung löschen. Danach war die Spätschicht vorbei. Dann würde er heimfahren und sich ein Essen vom asiatischen Imbiss holen. Etwas, was er sich eigentlich nicht mehr leisten konnte, aber er hasste Mikrowellengerichte. Eine Zeitlang hatte Ginger für ihn gekocht. Ihr Essen hatte er mit Maggi nachwürzen müssen, aber dann war es ganz gut gewesen. Sie hatte sich die Haare damals platinblond umgefärbt, sie achtete plötzlich auf ein gepflegteres Aussehen und redete von einer Brustvergrößerung. Nur führte da kein Weg hin, dazu verdiente Mike zu wenig. Ginger selber hielt es nicht lange in einem Job aus. Sie hatte einen richtigen Knall. Obwohl sie sich im Bett verstanden hatten, war die junge Frau unzufrieden gewesen und hatte unentwegt an Mike herumgenörgelt. Und dann, von einem Tag auf den anderen, war sie verschwunden. Es war ihm nur recht gewesen, sie nervte.

Der Frachter Sirius, der unter der litauischen Flagge fuhr,war inzwischen in der Ferne aufgetaucht. Ein Wagen von der Bundespolizei rollte heran, die hatte ihre Dienststelle direkt am Hafen. Mit Wehmut sah Mike auf die Kollegen, die das hereinkommende Schiff erwarteten. Früher hatte er sich über die Bundespolizei lustig gemacht, sie als aufgeblasene Wichtigtuer abgetan. Aber sie waren okay. Viel zu tun hatte er nicht mit ihnen, doch hin und wieder gab es Berührungspunkte und man sprach miteinander. Es blieb an der Oberfläche, denn jeder wusste, was er getan hatte, und keiner wollte bei Mike in »schlechte Gesellschaft« geraten.

Hermann Jokisch, dem vierzigjährigen Chef des Werkschutzes war es egal, dass Kramer, der ehemalige Polizist, eine viel bessere Ausbildung und Qualifikation für seinen Job hatte, er behandelte ihn genauso mies wie die anderen vom Werkschutz. Mike schlug sich die Gedanken an seine Arbeitsstelle schleunigst aus dem Kopf. Er kam noch mieser drauf als ohnehin schon, wenn er an seinen Vorgesetzten dachte. Besser, er ging seine Runde und sah gewissenhaft nach dem Rechten. Eine Abmahnung hatte er sich schon eingehandelt, weil er einen Flüchtling übersehen hatte, der als blinder Passagier auf einem belarussischen Schiff hergekommen war. Bei einer zweiten Abmahnung war er draußen, so viel stand fest. Auch wenn er diesen Job ätzend fand, würde es schwer werden, eine ähnliche Arbeit zu finden. Dann ginge es auf der Leiter weiter nach unten. Mike zog seine Maglite-Taschenlampe heraus und setzte sich in Bewegung.

 

Kriminalkommissar Jens Lackner saß an seinem Schreibtisch in der Polizeiinspektion Stralsund, hatte gerade den angefallenen Papierkram erledigt und wollte sich auf den Heimweg machen, als der sommersprossige Kollege Freddy Gromball den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Lackner, willst du schon in den Sack hauen? Das vergiss mal lieber, wir müssen los. Wir haben eine Tote in Binz!«

Jens sah Freddy, der unlängst zum Oberkommissar befördert worden war, irritiert an. »Schöner Mist! Ich bin mit meiner Frau zum Essen verabredet.«

Freddy grinste und kratzte sich ungeniert die Wampe. »Susanne wird’s schon verwinden.«

Jens seufzte und zog sich den leichten Anorak an. Das war das Angenehme bei der Kripo, keine steifen, kratzigen Uniformen mehr.

Sie fuhren über die neue Schnellstraße in Richtung Bergen. Der KDD und die Spurensicherung waren bereits in Binz und untersuchten den Tatort. Jens hätte sich freuen sollen, denn er war ja in den gehobenen Polizeidienst gewechselt, eben weil er an die großen Fälle heranwollte. Jetzt aber hatte er einen unangenehmen Druck auf der Brust. Tötungsdelikte gab es nicht oft auf Rügen und nun regte sich die altbekannte Angst in ihm, auf ganzer Linie zu versagen. Diese Ambivalenz war sein ständiger Begleiter. Er wollte ein erfolgreicher Ermittler sein, gleichzeitig drehten Kapitalverbrechen ihm den Magen um.

»Halt mal an, Freddy!«

Der zivile BMW hielt am Straßenrand, Jens sprang hinaus und entließ den Inhalt seines Magens in den Graben.

»Ich sag’s ja, du wärst besser Florist geworden, Lackner!«, sagte Freddy grinsend, als Jens wieder einstieg. »Können wir, oder soll ich dir die Stirn noch mit einem feuchten Lappen kühlen!«

»Jetzt fahr schon, du Idiot!«

 

Der Wagen hielt vor der Pestalozzi-Straße in Binz. Zwischen den Häusern sah Jens den Schmachter See glitzern. Er hatte gerade mit Susanne telefoniert und ihr mitgeteilt, dass aus ihrem gemeinsamen Dinner nichts werden würde. Viel gesagt hatte seine Frau nicht. Wahrscheinlich, weil sie wieder getrunken hatte und nicht wollte, dass er es an ihrer Aussprache merkte. Susanne hatte sich sehr verändert, seit sie ihr gemeinsames Kind im fünften Monat durch eine Frühgeburt verloren hatte. Es wäre gut gewesen, wenn Jens sich heute Abend um sie hätte kümmern können. Aber keiner hatte diesen Mordfall und die damit verbundenen Überstunden vorhersehen können.

Dass Jens jetzt Kommissar war, hatte nicht allein etwas mit günstigen Gestirnen zu tun, er hatte hart dafür gearbeitet. Sicherlich konnte man das auch auf die Förderung einiger einflussreicher Stralsunder Polizei-Granden zurückführen, doch im Endeffekt war er bei der Ausbildung hochmotiviert gewesen und hatte als Drittbester in seinem Jahrgang abgeschlossen. Was früher gewesen war, was er an Erfolgen zu verbuchen hatte, das war vorbei, er würde die Hoffnungen, die man in ihn setzte, nun neu bestätigen müssen. Seine Arbeitsstelle war jetzt die Polizeiinspektion in Stralsund. Mit KOK Gromball bildete er ein Team, mit Freddy, der Sommersprosse. Der war ein gut ausgebildeter Ermittler und konnte dazu mit überdurchschnittlicher Allgemeinbildung und einiger Erfahrung aufwarten. Dennoch war Freddy etwas tranig, er hatte einfach ein bisschen zu sehr die Ruhe weg.

Die beiden Ermittler stiegen die Treppe des Apartmenthauses in der Pestalozzistraße hoch in die dritte Etage. Ein strenger Geruch lag in der Luft. Die Männer der Spurensicherung waren bereits an der Arbeit. Hauptkommissar Gerry Konermann, ein fast sechzigjähriger Veteran bei der Spurensicherung, führte Jens und Freddy zum Tatort.

Es roch streng nach Verwesung, als sie das Zweizimmerapartment betraten. Der Anblick überraschte die Kommissare. Die Wohnung war ausgestattet wie ein Mini-Bordell. In der Ecke neben dem französischen Bett mit roséfarbenem Satin stand ein großes hölzernes X, ein Andreaskreuz. Es war mit rosafarbenen Plüschhandschellen versehen und diente offensichtlich für Sadomaso-Praktiken. Auf einer Kommode stand eine ganze Phalanx von Dildos, der Größe nach geordnet. Ein geprägtes Blechschild mit der Aufschrift Pinot Grigio und der Abbildung einer Weinflasche daneben lehnte dahinter an der Wand. Die Räumlichkeit machte einen überaus gepflegten und sauberen Eindruck, als wäre alles gerade frisch ausgestattet worden.

Das Mordopfer war unbekleidet bis auf einen Slip, hatte nussbraune Haare und lag bäuchlings auf dem Boden, das Gesicht zur Seite gedreht.

»Der Name der Toten ist Cordula Gaffel, zwanzig Jahre. Sie wurde stranguliert, mit einer Kordel vom Vorhang«, fasste Konermann zusammen, was er wusste. »Liegt hier schon seit einiger Zeit, locker zehn Tage, schätze ich. Die Nachbarn haben die Polizei angerufen, wegen des Verwesungsgestanks.«

»Wenn ich eins und eins zusammenzähle, sag ich mal, die hat hier angeschafft. Oder?«, überlegte Freddy.

»So weit sind wir noch nicht. Aber ich würde mal sagen, es sieht im Moment danach so aus …«

Jens bückte sich und sah in das Gesicht der Toten. Ihr Mund war halb geöffnet und man sah die fast schwarze Zunge. Trotz der langen Zeit, die sie hier schon gelegen hatte, glaubte er, erkennen zu können, wie hübsch sie einmal gewesen war. Jens blickte sich nachdenklich um. Diese Wohnung kam ihm merkwürdig vor. »Gewerbsmäßige Prostitution in Binz?«, überlegte er laut. »Das hatten wir doch früher hier nicht.«

Konermann nickte. »Ich hab schon die Kollegen von der Sitte kontaktiert. Die meinten, es wäre schon ein paarmal vorgekommen, dass eine Hure versucht, hier Fuß zu fassen. Das sind dann eher Frauen aus dem Osten, Polen, Rumänien oder Ungarn. Und keine von denen ist geblieben. Das ist Rügen, da mögen die Einheimischen es nicht, wenn Kratzer auf die Fassade kommen. Ist schließlich eine anständige Insel!«

Freddy lachte über die Ironie des Kollegen. »Schauen wir mal, ob sie in den Datenbanken auftaucht. Wenn sie tatsächlich angeschafft hat, kennt sie vielleicht das Gesundheitsamt«.

»Was, wenn sie grad erst damit angefangen hat?«, gab Jens zu bedenken. »Zwanzig ist doch noch kein Alter!«

»Wie auch immer …«, schnitt Freddy ihm das Wort ab und wandte sich erneut dem Spurensicherer zu. »Habt ihr Hinweise auf den oder die Täter gefunden?«

Konermann machte ein betrübtes Gesicht. »Bis jetzt gar nichts. Die Frau war zierlich, die hat ihrem Mörder nicht viel entgegenzusetzen gehabt, also hat es wohl auch keinen großen Kampf gegeben. In der Kommode haben wir Geld gefunden. Zweihundert Euro. Auch etwas Schmuck. Nicht gerade die Kronjuwelen, aber es gibt einen echten Diamantring. Also von Raubmord gehen wir nicht aus. Dafür fehlen Aktenordner aus dem Schrank im Flur. Das ist an den Staubresten gut zu erkennen.«

»Das heißt es, es gibt keine geschäftlichen Unterlagen?«

»Nicht soweit ich sehe. Vielleicht hat der Täter das mitgenommen.«

»Was ist mit dem Computer? Gibt’s ein Tablet? Das Handy nicht zu vergessen!« Jens kam gerade in Fahrt.

»Eins nach dem anderen! Kommt alles«, beruhigte ihn Konermann.

»Also gut. Befragen wir am besten die Nachbarn. Wenn die Ermordete hier Männer empfangen hat, wird das bestimmt aufgefallen sein«, sagte Jens.

»Genau«, stimmte Freddy zu. »Fang schon mal an. Ich rauch erst mal eine, dann stoße ich zu dir.«

Jens nickte und ahnte bereits, dass Freddy gerade nicht die geringste Lust hatte, ihm zu helfen. Aber das war egal. Je schneller eventuelle Zeugen interviewt wurden, umso besser war die Chance, dass sie noch nicht allzu viel vergessen hatten.

 

»Eine Prostituierte?« Ilene Trapp, die mondgesichtige Mittfünfzigerin, die direkt neben dem Opfer wohnte, sah Jens aus ihren rotgeweinten Augen groß an. »Die Cordu? Nein! Bestimmt nicht. Das war ein ganz liebes Ding. Die war doch dafür gar nicht der Typ!«

»Sie wissen es doch, Frau Trapp, man sieht es den Leuten nicht immer an. Aber die Zeichen sind recht eindeutig. Sicherlich hatte sie immer wieder mal Besuch von einzelnen Herren.«

Ilene Trapp starrte Jens an, als müsste sie das Gesagte in ihrem Kopf erst noch dechiffrieren. »Einzelne Herren? Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Nicht?« Nun war es an Jens, verblüfft zu sein. »Sie wohnen Wand an Wand und sagen, Sie haben nie Männer gesehen, die Frau Gaffel besucht haben?«

Ilene Trapp hatten offenbar Mühe, sich innerlich zu sortieren. Sie dachte nach und schüttelte dann den Kopf. »Also ich überwache den Flur ja nicht und deswegen kann ich nicht sagen, ob nicht doch Herren bei ihr waren, aber gesehen hab ich keine.«

»Versuchen wir’s anders: Hatte Cordula Gaffel einen Freund?«

»Einen Freund?« Die Frau war überfordert, stand noch sichtlich unter Schock.

Sie tat Jens leid und er wollte die Befragung bereits abbrechen. Freddy Gromball trat zu ihnen. »Das ist mein Kollege Oberkommissar Gromball«, stellte er seinen Partner vor. »Ich habe Frau Trapp gerade gefragt, ob Frau Gaffel einen Freund hatte …«

Die ältere Frau wirkte ratlos. »Ich weiß nichts von einem Freund. Ich glaube fast, das hätte sie mir gesagt. Obwohl …« Sie überlegte. »Ich weiß nicht genau. Cordu war zwar immer ganz reizend, aber wenn ich recht überlege, hat sie nur wenig von sich erzählt. Sie war, wie soll ich sagen … in sich gekehrt! Ja, das ist das richtige Wort.«

Bevor Jens eine weitere Frage stellen konnte, klingelte sein Handy. Auf dem Display leuchtete der Name von Polizeihauptkommissar Bert Rusnak auf. Jens war irritiert. Er hatte von dem Kollegen des Bergener Reviers schon seit Monaten nichts mehr gehört. Er lächelte Frau Trapp und Freddy entschuldigend zu. »Da muss ich ran!«

Er nahm das Gespräch an und ging auf den Flur hinaus. »Bert, hallo! Was kann ich für dich tun?«

»Es läuft umgekehrt: Ich werde was für dich tun. Nämlich beide Augen zudrücken.«

»Bitte?«

»Eine meiner Streifen hat den SUV deiner Gattin angehalten. Die Gute hatte über zwei Promille.«

Jens stöhnte. »Oh nein! So ein Mist!«

»Ist ja kein Weltuntergang!«, beschwichtigte Rusnak. »Sie hat euer Baby verloren, sie nimmt es schwer, glaub mir, das versteht jeder. Aber sie sollte sich besser fangen. Für heute belassen wir’s bei einer Ermahnung. Beim nächsten Mal ist der Lappen weg.«

»Bert, du musst das nicht machen. Ich will nicht, dass du dafür den Kopf hinhältst …«

»Jetzt mach mal halblang, Kleiner! Du bist mein Held, weißt du doch. Und ich entscheide, wann und wo ich den Kopf hinhalte. So, genug Small Talk. Nimm deiner Süßen die Autoschlüssel weg und schick sie zu einem Therapeuten. Okay?«

»Danke, Mann!«

»Da nicht für, Lackner. Unsere Streife hat sie nach Hause gefahren. Der SUV steht in Bergen in der Störtebeker-Straße vor dem KiK. Der Schlüssel ist bei uns auf dem Revier.«

Jens steckte sein Handy weg und setzte Freddy darüber ins Bild, dass er wegmusste. Er verabschiedete sich auch von Frau Trapp und eilte davon.

 

Mike leuchtete mit der starken Taschenlampe in jeden Winkel. Die Hafenanlage von Mukran war weitläufig. Und hier gab es für lichtscheues Gesindel durchaus einiges zu holen. Die Lagerhallen waren manchmal voll mit wertvoller Ware. Es kam nicht oft etwas davon weg, aber Mike wusste, dass auch Mitglieder der Schiffsbesatzungen gerne mal lange Finger machten. Er wollte keinem Strolch die Gelegenheit dazu geben, sich während seiner Dienstzeit zu bereichern.

»Herr Kramer!«

Mike fuhr herum. Eine strohblonde Kommissarin von der Bundespolizei hatte sich völlig lautlos genähert. Er kannte sie vom Sehen.

»Ich wollte mich mal vorstellen: Ich bin Linda Todt, ich arbeite für die Bundespolizei!«

»Natürlich. Ich weiß.«

»Ich wollte fragen, ob wir uns morgen mal unterhalten können. In meinem Büro.«

Mike starrte sie verwirrt an. Hatte er etwas falsch gemacht? Was er sich früher auf sein Gewissen geladen hatte, war kein Geheimnis, weshalb die meisten Uniformen seine Gesellschaft mieden. Für einen Moment überlegte er, ob das hier vielleicht eine Anmache war. Linda Todt war eine magere Bohnenstange, an der nicht viel dran war. Die Kerle standen höchstwahrscheinlich nicht gerade Schlange bei ihr. Andererseits wirkte sie nicht so verzweifelt, dass sie sich ausgerechnet bei der Belegschaft vom Mukraner Werkschutz ein Abenteuer suchen musste.

»Morgen? Um wie viel Uhr?«

»Wann beginnt denn Ihre Schicht?«

»Um vierzehn Uhr.«

»Könnten Sie dann um dreizehn Uhr bei mir sein?«

»Klar. Kein Ding!«

Sie lächelte und das verlieh ihr einen Hauch von Charme. »Dann freue ich mich, Herr Kramer!« Sie reichte ihm die Hand und er ergriff sie. Sie drehte sich um und ging zügig davon.

 

Susanne saß blass auf der Couch in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer, als Jens eintrat. Sie hatte eine geöffnete Flasche Shiraz vor sich stehen und trank nun, da er da war, fast demonstrativ von dem Rotwein in ihrem Kristallglas.

»Hallo, Schatz!« Jens war bemüht, Kritik und Vorwürfe gar nicht erst aufkommen zu lassen. Trotzdem war die gegenwärtige Situation schwierig und belastend. Er holte sich ein Glas aus dem Schrank und setzte sich zu ihr. »Krieg ich auch was?«

Sie sah ihn skeptisch an. »Soll das jetzt ein Trick sein? Du trinkst eifrig mit, damit weniger vom Feuerwasser für mich bleibt?«

Er seufzte und schob das Glas von sich weg. »Ich trink dir nichts weg. Und ich kontrollier dich auch nicht. Aber ich soll dir die Autoschlüssel wegnehmen. Sagt Bert.«

Susanne verdrehte die Augen. »Bert kann mich mal.« Sie griff nach der Flasche und goss sich das Glas so voll, dass es überlief.

»Susanne, lass uns darüber reden, okay?«

»Was wollen wir denn reden?«

»Seit wir das Kind verloren haben, hängst du durch. Aber so allmählich verlierst du die Kontrolle, merkst du das nicht auch?«

»Ja, merk ich. Kratzt mich aber nicht.«

Als sie nach dem Glas griff, platzte Jens der Kragen. Er schlug es ihr einfach aus der Hand. Der Rotwein verteilte sich im ganzen Zimmer und das Kristall zersplitterte auf dem Parkett. »Hör auf, Susanne! Ich halt es nicht mehr aus!«, stieß er hervor. »Denkst du, mich belastet das nicht alles?«

Susanne sah ihn kalt an. »Weiß ich nicht. Tut es das?«

»Ja, verdammt! Warum tust du so, als wäre ich plötzlich dein Feind? Mir kommt es fast so vor, als würdest du mir die Schuld geben.«

»Ich weiß«, räumte sie nach einer Weile ein. »Ich behandele dich mies. Aber ich hasse auch mich selber, wenn dir das ein Trost ist.«

Jens ging, um ein Kehrblech aus der Küche zu holen. Er kam kurz darauf zurück und sammelte die Scherben vom Boden. »Weißt du, was mein Therapeut letzte Woche zu mir gesagt hat?«

Sie beugte sich vor und angelte sich sein Glas, das sie mit Rotwein auffüllte. »Was?«

»Wenn ein Paar ein Kind verliert und es nicht gemeinsam betrauert, verliert es die Grundlage für ein Fortbestehen der Beziehung.«

Sie trank und sagte nichts darauf.

»Wenn du nur trinkst und nicht trauerst, dann bleibst du mitten im Prozess stecken.«

Sie stöhnte gequält. »Ich weiß nicht, was du von mir willst. Ich bin im Eimer. Erst verlier ich meine Schwester, dann das Kind. Und jetzt erwartest du von mir, dass ich das mal eben mit einer ordnungsgemäßen Trauerphase abhake und Pläne für eine bessere Zukunft schmiede?«

Jens sah sie an und zwang sich zur Ruhe. »Das erwarte ich nicht. Wir brauchen Zeit. Wir müssen das alles verdauen, aber es ist auch keine gute Idee, jetzt aufzugeben.«

Susanne sah ihn an und lächelte traurig. »Du bist ein netter Kerl, Jens, und du hast es nicht verdient, wie ich dich behandele. Ich hasse gerade die ganze Welt, inklusive mich selbst, ich hab es ja schon gesagt.«

Jens schloss die Augen und bemühte sich um innere Gleichmut. »Wir reden morgen weiter, okay? Ich bringe dich jetzt ins Bett.«

»Ich will noch ein paar Gläser trinken.«

»Eines. Ich bleib bei dir, bist du eingeschlafen bist. Und das verhandele ich nicht.«

Jens brachte Susanne, die schon schwer Schlagseite hatte, ins Schlafzimmer. Sie trank noch das Glas Roten halb aus, legte sich aufs Bett und war schnell eingeschlafen.

Jens sah sie traurig an. Er hatte sich genauso auf das Baby gefreut wie sie. Es war eine bittere Pille gewesen, das Kind zu verlieren. Nur drohte Susanne jetzt, ebenfalls seinen Händen zu entgleiten, und er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Sein Leben befand sich an seinem Tiefpunkt.

 

Die Sirius hatte ihre Ladung gelöscht und allmählich kam die emsige Geschäftigkeit zum Erliegen. Mike war froh darüber, denn das hatte alles viel länger gedauert als geplant. Er wollte endlich was zwischen die Kiemen bekommen. Die Beamten der Bundespolizei hatten ihre Arbeit erledigt und waren bereits wieder fort. Mike sah auf die Uhr. Uwe Panczak, seine Ablöse, war schon zehn Minuten überfällig. Eigentlich war der Hesse ein devoter Leisetreter, nachdem man die Uhr stellen konnte. Aber dann fiel Mike ein, dass die Überwachungsanlage spann. Panczak kannte sich etwas mit IT aus, vielleicht hatte Hermann Jokisch ihn abkommandiert, das Kamerasystem wieder zum Laufen zu bringen. Dem Chef des Werkschutzes war es egal, wenn Kramer deswegen Überstunden schieben musste.

Mike blieb stehen. Was war das? Drüben am Pier hatte er eine Bewegung gesehen. Er hob die Maglite und leuchtete das Areal ab. Nichts. Er musste sich getäuscht haben. Sicher war es nur ein Lichtreflex auf dem Wasser gewesen. Er wandte sich dennoch nicht ab. Der Polizist in ihm folgte seinem Instinkt. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Es konnte nicht schaden, wenn er rüberging und sich vergewisserte, dass da wirklich niemand war.

Während er ruhig zu der Stelle lief, wo er die Bewegung wahrgenommen hatte, legte er die Hand auf seine Waffe und löste den Sicherungsriemen. Er trat unter dem Kran zum Kai und leuchtete hinunter ins Wasser. Wer immer hier gewesen war, vielleicht hatte er beschlossen, die Flucht schwimmend anzutreten.

Ein Geräusch ließ Mike herumfahren. Er sah gerade noch jemanden um das Lagerhaus laufen. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Der große Mann spurtete los. Die wenigstens ahnten, dass Mike nicht nur ein Muskelpaket war, er konnte auch ein extremes Tempo entwickeln. Wenige Sekunden nur und er hatte die Ecke erreicht, um die der Schemen verschwunden war. Und dann sah er die Gestalt. Sie rannte davon. Mike setzte ihr nach. Die Person, die er verfolgte, war nicht sonderlich groß. Innerhalb kürzester Zeit hatte er sie eingeholt und packte sie am Hemd.

»Hiergeblieben, Freundchen!« Dann leuchtete er seinem Gefangenen ins Gesicht. Es war ein Kind, ein Mädchen, mit völlig verdrecktem Gesicht. Große verschreckte Augen sahen ihn an. Das Mädchen zappelte und versuchte, davonzukommen. »Vergiss es, Kleine, ich hab dich! Und jetzt …«

Weiter kam Mike nicht, es ging viel zu schnell. Etwas Metallenes blitzte, dann jagte ein heißes Brennen über seinen linken Unterarm.

»Verdammt!«, stieß er hervor und spürte, wie Blut über seine Hand strömte. Erneut stieß das Kind mit seiner Waffe nach ihm. Er sprang zurück und stolperte über die Schienen des beweglichen Krans. Er musste das Mädchen loslassen und schlug unglücklich auf seinem Ellbogen auf. Die Taschenlampe rollte über den Asphalt. Das patschende Geräusch von schnellen nackten Fußsohlen auf dem Boden entfernte sich. Mike rappelte sich auf und schnappte sich die Stablampe. Er leuchtete auf seine Wunde. Es war ein etwa fünf Zentimeter langer Schnitt, der heftig blutete. Mike fluchte laut und drückte ein Taschentuch auf die Verletzung.

Er sah dem Mädchen nach. Was, zum Teufel, war das gerade gewesen? Die Kleine war bestimmt nicht älter als zwölf und hatte ihn mit einem Messer angegriffen. War sie mit der Sirius aus dem litauischen Klaipeda gekommen? Nach ihren Gesichtszügen zu schließen, musste sie aus dem arabischen Raum stammen, er hatte sie aber nur kurz gesehen und sie war ziemlich verdreckt gewesen. Mike überlegte, ob er sie verfolgen sollte, entschied sich aber dagegen. Er wollte sich lieber um seine Schnittwunde kümmern. Was für einen Schaden konnte so ein Dreikäsehoch schon anrichten? Er drehte sich um und ging zurück zu den Räumlichkeiten des Wachpersonals.

Jokisch und Panczak saßen tatsächlich vor den Überwachungsbildschirmen und bastelten an der Elektronik herum. Die meisten Monitore waren schwarz und hätte es in diesem Moment einen Einbruch gegeben oder einen Großbrand, sie hätten nicht viel davon mitbekommen. Mike, der nicht verdächtig war, bei der Instandsetzung von Elektronik eine Hilfe zu sein, wurde von den Kollegen ignoriert. Also verzog er sich gleich ins Bad, wo er den Schnitt untersuchte. Das sah nicht gut aus. Es musste desinfiziert und genäht werden. Das war ein Fall für die Notaufnahme im Bergener Sana-Klinikum. Wenn die Klinge, mit der das Mädchen ihn verletzt hatte, genau so dreckig war wie ihr Gesicht, tat er gut daran, sich gleich noch eine Tetanus-Spritze verpassen zu lassen.

Mit Gewebeband verschloss er die Wunde behelfsmäßig und zog den Ärmel seiner Boston-Celtics-Jacke darüber. Dann ging er zu seinem Boss und meldete sich ab. Da die Kameras im Moment nicht liefen, erwähnte er seine Begegnung mit dem bewaffneten Kind nicht. Dass er sich fast von einer Rotznase hatte abstechen lassen, warf kein gutes Licht auf ihn. Davon brauchte keiner etwas wissen, vor allem nicht ein Blindgänger wie Hermann Jokisch. Dass das Mädchen größeren Schaden in der Hafenanlage anrichten konnte, vermutete Mike nicht, die war im Überlebensmodus und würde wahrscheinlich nur nach etwas zu essen suchen und einem trockenen Platz für die Nacht.

Wenig später saß Mike in seinem Auto mit Allradantrieb und hielt auf Bergen zu. Er trauerte seinem Motorrad nach, das er hatte verkaufen müssen. Immerhin hatte sein Onkel, der Polizeirat, ihm seinen alten Subaru Legacy für einen symbolischen Kaufpreis überlassen, was für den Job in Mukran wichtig gewesen war.

Mikes Gedanken drehten sich um das Kind. Wahrscheinlich war es ein unbegleiteter Flüchtling aus Syrien, der über die polnische Route nach Deutschland kommen wollte. Das Mädchen war so jung gewesen und trotzdem kaltblütig und entschlossen vorgegangen. Es rang Mike Respekt ab, wie es sich verhalten hatte. Wenn es wirklich mit dem Schiff aus Litauen gekommen war, würde es sich verstecken müssen. Die Mukraner Hafenanlage war gut gesichert und drumherum befanden sich keine Wohngebiete. Das Mädchen kannte sich hier bestimmt nicht aus, also würde es versuchen, irgendwo einen Unterschlupf zu finden. Wahrscheinlich irgendwo im Hafen.

 

Als Jens erwachte, war das Bett neben ihm leer. Das war nicht verwunderlich, weil Susanne Frühaufsteherin war. Aber das galt eigentlich nicht für solche Morgen, die auf feuchtfröhliche Nächte folgten. Und Susanne hatte letzte Nacht tief ins Glas geblickt. Jens war trotz seiner Ankündigung abstinent geblieben. Nicht, dass er nicht versucht gewesen wäre, aber er hatte gewusst, dass er den Schmerz über den Verlust seines Kindes so nicht würde ausknipsen können. Es würde noch ein langer und steiniger Weg der Trauer sein, der vor ihm und Susanne lag und so, wie es aussah, waren keine Abkürzungen in Sicht.

Anders als seine betäubte Frau hatte Jens keinen schnellen Schlaf gefunden und sich sinnloser Grübelei ergeben. Dabei hatte sich alles so vielversprechend entwickelt. Nach der Dingfestmachung des Dünenteufels waren die Türen für den damaligen Polizeiobermeister wie von selbst aufgesprungen. Dadurch, dass er die Hochschulreife in der Abendschule nachgeholt hatte, wurde er in die höhere Laufbahn übernommen und wechselte damit von der Schutzpolizei zur Kripo.

Eine neue Schulzeit begann. Die größten Schwierigkeiten hatte Jens mit der Nahkampfausbildung gehabt. Während er in allen theoretischen Fächern glänzen konnte, entpuppte er sich im Kampf Mann gegen Mann als wenig tauglich. Trotz des Übungscharakters der Tests zeigte er sich stets übernervös. Auch das Schießen lag ihm nicht. Er hasste die SFP9, die Pistole, die er ständig bei sich tragen musste. Gepunktet hatte er auf der taktischen Seite, von ihm geführte Teams hatten überdurchschnittlich performed. Schließlich hatte er es, trotz seiner Befürchtungen, gut zu Ende gebracht.

Zwei Tage nachdem er zum Kommissar befördert worden war, hatte Susanne ihm mitgeteilt, dass sie schwanger war. Das Baby war nicht geplant gewesen und die Eltern hatten die Nachricht erst einmal verdauen müssen. Doch der Schreck war schnell verflogen und sie sich beide einig gewesen, dass der Zeitpunkt, eine Familie zu gründen, nicht besser hätte gewählt sein können.

Jens erinnerte sich an die spontane Feier bei Richard Dreifürst, bei der auch Mike Kramer noch vorbeigeschaut hatte. Seit sie keine Kollegen mehr waren, hatten sich die Probleme zwischen ihnen aufgelöst und sie waren Freunde geworden.

Jens hatte sich glücklich und zufrieden gefühlt, denn all seine Wünsche waren wahr geworden. Er war so naiv gewesen, zu glauben, dass die Kurve weiter nach oben zeigen würde. Susanne und er hatten geheiratet, als sie bereits im dritten Monat war. Auf rosaroten Wolken hatten sie nicht lange geschwebt, dennoch gestaltete sich ihr Miteinander harmonisch. Seit dem Abgang des Fötus jedoch ging ein böser Riss durch das Leben des jungen Paares und Jens wusste nicht, wie er reagieren sollte. Bei der polizeilichen Ausbildung war Psychologie seine Joker-Disziplin gewesen und trotzdem fühlte er sich jetzt hilflos. Trauerbewältigung war ein wichtiger Prozess, nur ging es hier nicht um ihn allein. Susanne glänzte mit Tüchtigkeit und Pragmatismus, sie neigte jedoch dazu, unangenehme Emotionen zu verdrängen. Jens schob die Gedanken zur Seite. Seine Frau war in der Lage, selbst auf sich aufzupassen. Er stieg aus dem Bett, nahm seine Klamotten und ging ins Badezimmer.

Er fand Susanne im Lager, wo sie Inventur machte. Das tat sie immer, bevor sie zum Großhändler fuhr, um Vorräte für die Pension einzukaufen.

»Kann ich dich ansprechen?«

Sie sah ihn nicht an. »Sicher. Was liegt an?«

»Wenn ich jetzt zur Arbeit gehe, ist das okay? Ich meine, sie werden mir keine Steine in den Weg legen, wenn ich kurzfristig um Urlaub bitte. Ich kann auch bei dir bleiben, wenn du das möchtest.«

Sie drehte sich etwas erstaunt zu ihm. »Urlaub? Du hast doch gerade einen richtigen Fall! Dieser Mord in Binz! Da hast du doch drauf gewartet. Wenn du jetzt eine Auszeit nimmst, setzen sie einen anderen dran.«

»Ja, das werden sie. Aber meine Priorität bist du!«

Susanne sah ihn an und musste lachen. Das hatte sie lange nicht mehr getan. »Mein wackerer Prinz Eisenherz! Du bist einfach zu gut für diese Welt!«, spottete sie.

»Heißt das jetzt ja oder nein?«, kam es von Jens, schon ein bisschen säuerlich.

»Du gehst natürlich zur Arbeit!«

»Und du machst keinen Unsinn?«

Sie stand über seiner Papa-Frage. »Stand jetzt hab ich es nicht vor. Und gib dich damit zufrieden, was Besseres kommt nicht.«

Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Dann löste er sich und ging.

 

Freddy, Jens und noch einige weitere Kommissare teilten sich in der Stralsunder Inspektion ein Großraumbüro. Der Erste Hauptkommissar Jung hatte die Anregung dazu gegeben. Er war der Meinung, dass getrennte Büros zu weniger Transparenz führten, und setzte auf Miteinander und Kommunikation. Jens und Freddy hegten allerdings die Vermutung, dass es mehr darum ging, dem Schlendrian in der Truppe vorzubeugen. Wenn alle einem bei der Arbeit zusahen, war es hier im großen Raum schwerer, eine ruhige Kugel zu schieben als im eigenen Büro.

Jens ging zügig zu seinem Schreibtisch.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst.« Freddy musterte ihn prüfend. »Wie geht’s Susanne?«

»Sie tut sich schwer. Aber sie packt das schon.« Jens setzte sich auf seinen Bürostuhl. »Also, das Tötungsdelikt in Binz. Wo stehen wir?«

»Ist noch nicht viel passiert. Das Opfer ist jetzt in der Gerichtsmedizin. Frau Dr. Lange ist an ihr dran. Sie wollte sich gegen Mittag melden. Ach richtig, Konermann von der Spusi hat sich gemeldet. Sie haben im Inneren der Couch ein benutztes Brotmesser gefunden. Das muss durch die Ritze reingerutscht sein. Sie untersuchen es noch.«

»Was haben wir in der Datenbank über Cordula Gaffel?«

»Gibt nicht viel. Geboren wurde sie in Weimar. Blutgruppe null. Eltern sind beide verstorben. Einen Halbbruder gibt es. Führerschein hat sie seit zwei Jahren. Und sogar schon einen Punkt in Flensburg, weil sie mit ihrem Ferrari zu schnell gefahren ist. Was haben wir noch?« Freddy blätterte. »Hat bei den Tafeln gearbeitet auf Freiwilligenbasis. Fridays for future, da war sie eine Zeit wohl recht engagiert dabei. Konfession römisch-katholisch, ist aber vor einem Jahr aus der Kirche ausgetreten. Schufa, kein Eintrag. Der Schneidezahn links vorne ist ein Stiftzahn. Und das war’s schon.«

»Berühmt ist das nicht. Aber die Eltern sind beide tot? Die war doch noch ganz jung.«

»Ich weiß. Aber sie ist in der Beziehung blank, wie’s aussieht. Ihre Mutter, Carmen Gaffel hat sich vor drei Jahren das Leben genommen. Der Vater Hartwig ist an Krebs gestorben, da war Cordula elf Jahre alt. Ihr deutlich älterer Halbbruder Dietrich ist 2010 nach Fuerteventura ausgewandert. Aber da verliert sich seine Spur. Er ist in Spanien nicht gemeldet. Wir haben nach Telefonnummern oder Adressen gesucht, aber da ist nichts, was darauf hinweist, dass sie in Kontakt stehen.«

Jens pustete Luft aus den Backen. »Das ist ja sehr mager. Handyauswertung, Computer?«

Freddy machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bis dato Fehlanzeige. Das Smartphone öffnet sich nicht über biometrische Daten, sondern über Symbol. Der Computer hat eine USB-Stick-Sicherung. Das heißt: Nur mit der Software auf dem Stick fährt das System hoch.«

»Und den USB-Stick haben wir nicht?«

»Ganz recht, Herr Kollege, den haben wir nicht.«

Jens war genervt. Das waren eindeutig zu viel Sackgassen für seinen Geschmack. »Aber die Spurensicherung muss doch irgendwas gefunden haben. Wenn sie sich wirklich verkauft hat, waren Freier in der Wohnung. Und wenn sie Sex hatten, sollte es von Rückständen nur so wimmeln!«

Freddy griff nach einem anderen Ordner. »Wir haben ein paar Fingerabdrücke. Aber nicht sehr viele. Acht, die sich unterschiedlichen Personen zuordnen lassen.«

»Acht nur? Entweder war sie eine Hure, die nur selten gearbeitet hat, oder sie hatte eine sehr gewissenhafte Putzfrau«, grantelte Jens. »Acht Fingerabdrücke. Ich nehm an, wir haben keinen davon im System?«

»Du bist ein Fuchs, Lackner, hast es wieder mal genau erfasst.«

Freddy musste ihn immer wieder aufziehen, um zu demonstrieren, wer hier der Dienstältere war. Jens kratzte das nicht. Er überlegte. Es war heutzutage keine Seltenheit mehr, dass Mörder sehr gut informiert waren, wenn es darum ging, Spuren an einem Tatort zu vermeiden. Dennoch hatte die Erfahrung gezeigt, dass es nahezu unmöglich war, alle Eventualitäten im Griff zu haben. »Wie viele Parteien wohnen eigentlich in dem Haus?«

»Ohne das Opfer noch dreizehn weitere.«

»Wie viele davon haben wir befragt?«

»Elf. Zwei Bewohner haben wir nicht angetroffen. Es gibt vier Stockwerke …«, führte Freddy aus, während er bei seinen Notizen spickte. »Cordula Gaffel wohnte in der dritten Etage. Die aus den Stockwerken darüber und darunter konnten so gut wie gar nichts beitragen. Einige von ihnen wussten nicht mal ihren Namen. Ich weiß nicht, ob da was zu holen ist.«

Jens sah den Kollegen skeptisch an. »Wir befragen sie noch mal. Und zwar gleich.«

Freddy lächelte schmal. »Darf ich dich höflich darauf hinweisen, dass ich hier der Ranghöhere bin und du mir nicht die Arbeit zuteilst?«

Jens erwiderte das Lächeln frostig. »Darfst du selbstverständlich. Und, mit Verlaub, wir fahren jetzt los … Chef!«

 

Mike schlenderte über das Hafengelände. Er war etwas früher gekommen, als es für seinen Termin mit der Kommissarin der Bundespolizei nötig gewesen wäre. Ulf Gunthers von der Frühschicht kam ihm entgegen, ein vollbärtiger Koloss. Was seine Kampfskills betraf, hatte er nicht viel drauf, das wusste Mike, aber er kam optisch imposant rüber.

»Alles klar, Großer?«

Gunthers verzog keine Miene. »Was machst du denn schon hier?«

»Hab noch einen Termin. Sag mal, ist dir irgendwas aufgefallen? Gestern kam ein Schiff aus Litauen. Ich hätte schwören können, dass ich da jemanden hab vom Schiff huschen sehen.«

Gunthers runzelte die Stirn und sah sich um. »Jetzt, wo du’s sagst, hinten beim Kabuff vom Hafenmeister ist eine Scheibe kaputt.«

Mike schüttelte den Kopf. »Nee, die ist schon vor dem Schiff hin gewesen.«

»Ach so.«

»Na ja, ich sehe langsam Gespenster. Ich mach den Job schon zu lange.«

»Na denn, Kramer. Hau rein!«

Mike ging weiter. Er wollte sich die eingeschlagene Scheibe selbst ansehen. Das war das Mädchen gewesen, das stand außer Zweifel. Gunthers brauchte aber nichts davon zu wissen, deswegen hatte er behauptet, der Schaden sei schon länger da.

Während er zum Büro des Hafenmeisters lief, sah Mike sich aus den Augenwinkeln um. Er erwartete nicht, dass sich das Kind am helllichten Tag aus seinem Versteck wagte, wo immer das war. Aber vielleicht beobachtete es ihn.

In der Tür des Büros waren acht kleine Glasquadrate. Das Zweite von oben war herausgeschlagen worden. Das Mädchen musste versucht haben, an die Klinke innen heranzukommen und so die Tür zu öffnen. Nur hatte das nicht klappen können, da die Metalltür abgeschlossen war.

Mike holte eine eingepackte Stulle aus seinem Rucksack und wickelte sie aus. Er biss hinein und tat so, als würde es ihm nicht schmecken. Dann warf er das angebissene Butterbrot in einen fast leeren Mülleimer. Er zog eine Flasche mit stillem Wasser aus dem Backpack und warf sie hinterher. Das Letzte, was er zutage förderte, war eine Plastiktüte mit einer Decke darin. Auch sie flog in den Eimer. Mike sah auf die Uhr. Es wurde Zeit für seine Verabredung mit Oberkommissarin Linda Todt. Er nahm Kurs auf das Gebäude, vor dem die Einsatzwagen der Bundespolizei parkten.

 

Heiko Martens war kein sonderlich sympathischer Zeitgenosse. Er mochte die Fünfzig überschritten haben, wirkte ungepflegt und wohnte in einer typischen Messie-Wohnung. Mehr als ein halbes Dutzend Katzen schlich den Ermittlern um die Beine. Die chaotische Behausung stank scharf nach Katzenpisse und wurde wohl nicht oft gelüftet. Jens und Freddy befragten den Arbeitslosen wegen des Mordes. Wie Ilene Trapp war auch Martens ein direkter Nachbar von Cordula Gaffel.

»Hören Sie!«, ließ er sich in einem Tonfall vernehmen, der keinen Zweifel darüber offen ließ, dass er diese Unterhaltung zu einem schnellen Abschluss bringen wollte. »Ich kümmere mich nicht um andere Leute. Verstehen Sie? Die sollen mich in Ruhe lassen und im Gegenzug lass ich sie in Ruhe. Ist doch ein fairer Deal, oder?«

Freddys Mundwinkel krümmten sich etwas. Jens wusste, dass das kein gutes Zeichen war, die Geduld des Kollegen war bereits jetzt erschöpft. »Herr Martens, wir untersuchen einen Mordfall. Da kommen wir um Zeugenbefragungen nicht herum. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«

Martens zuckte die Achseln. »Ich kannte das Mädel nicht. Ich glaube, wir haben beide nur ein einziges Wort zueinander gesagt und das war ›Hallo‹. Sicher, das ist natürlich nicht nur einmal vorgekommen. Aber das war’s auch. Sind wir jetzt fertig? Ich weiß nämlich nichts.«

»Herr Martens, ich denke, es ist besser, wir setzen das Gespräch auf der Polizeiinspektion in Stralsund fort«, schlug Jens in freundschaftlichem Ton vor. »Da nehmen wir uns dann richtig Zeit und wer weiß, vielleicht erinnern Sie sich in ruhiger Umgebung doch noch an das eine oder andere, okay?«

Der Mund von Martens wurde vor Wut ganz klein, aber dann beschloss er, die Strategie zu wechseln. Natürlich hatte er keine Lust, in Stralsund verhört zu werden. »Ich sag Ihnen ja, was ich weiß. Ich hab nur keine Ahnung, was Sie hören wollen.«

Freddy nahm sich einen Stuhl und setzte sich ungefragt. »Schauen Sie, wenn man direkt neben einem anderen Menschen wohnt, bekommt man sehr viel mehr mit, als man glaubt. Die Wände hier sind nicht sehr dick. Wenn also nebenan jemand zu Besuch ist, hört man manchmal, wie Leute sich unterhalten …«

»Ja, das schon«, gab Martens zu. »Aber man versteht nicht, was sie sagen. Außer vielleicht, man legt ein Stethoskop an die Wand. Und so was besitze ich nicht.«

»Aber da sind wir doch trotzdem schon ein Stück weiter. Können Sie mir sagen, ob Frau Gaffel öfter Besuch hatte, oder haben Sie sie nur selten gehört?«

Martens wirkte genervt, versuchte aber zu kooperieren. »Besuch? Wenn ich sie im Hausflur getroffen habe, war sie allein. Einmal war eine andere junge Frau bei ihr.«

»Können Sie sie beschreiben?« Freddy zückte seinen Stift.

»Sie war jung. Ein hübscher Käfer, ja. Aber ich hab da nicht so genau hingesehen.«

»Die Haarfarbe vielleicht?«, half Freddy dem Zeugen auf die Sprünge. »Die Größe?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß es echt nicht, Leute.«

Jens glaubte dem Katzenmann. Der war jetzt ehrlich bemüht, die Sache hinter sich zu bringen. »Was ist mit dem Besuch, den Sie nicht gesehen haben, die Leute, die Sie nur gehört haben …«

Martens’ Kopf zuckte mit einer Vogelbewegung zu Jens herum. »Also die Kleine war oft zu Hause und dann war immer Pegel da drüben. Entweder sie hat den Fernseher laufen lassen oder sie hat telefoniert.«

»Sie konnten nichts verstehen?«, hakte Jens nach.

»Nein. Wie ich schon sagte, wenn ich das Ohr an die Wand gelegt hätte, vielleicht. Aber warum sollte ich das tun? Hat mich doch gar nicht interessiert, die Alte.«

Freddy beugte sich vor. »Gut, Sie haben keine Einzelheiten verstanden. Aber was ist mit männlichen Stimmen? Erinnern Sie sich da an was?«

Heiko Martens schien irritiert zu sein. »Ich weiß nicht. Eigentlich nicht.« Er schnipste unvermittelt mit den Fingern. »Einmal war ein Typ da, mit dem hat sie sich wohl gefetzt. Der hat rumgeschrien. Sie hat gegengehalten. Da hab ich dann mal kurz an die Wand geklopft. Die denkt wohl, sie kann sich alles erlauben, weil sie ne hübsche Larve ist. Aber nicht mit Heiko Martens! Tja, und danach war Ruhe.«

»Ein einziges Mal nur haben sie nebenan eine männliche Stimme gehört?«, fragte Freddy ungläubig nach. »Sie als Erwerbsloser sind doch die meiste Zeit daheim, nicht wahr?«

Der Katzenmann war sofort auf Krawall gebürstet. »Ja bin ich, wieso? Worauf wollen Sie denn hinaus? Dass ich der Gemeinschaft als Schmarotzer auf der Tasche liege?«

»Darum geht es nicht im Entferntesten!« Jens sah es als förderlich an, die Karten auf den Tisch zu legen. »Wir fragen, weil wir nicht ausschließen können, dass Frau Gaffel sich prostituiert hat.«

Martens starrte die Kommissare mit einem blöden Gesichtsausdruck an. Dann begann er zu lachen. Jens und Freddy wechselten einen Blick. Sie wussten nicht, was diesen Heiterkeitsausbruch bei ihrem Gegenüber ausgelöst hatte.

»Hören Sie …«, kicherte Martens und beruhigte sich langsam. »Ich kenne Nutten. Zur Genüge. Die meisten sind verkorkste Existenzen, verstehen Sie? Ich hab die Gaffel echt nur vom Sehen gekannt, aber nie im Leben war die eine Honigbiene. Wenn du anschaffst, brauchst du Krallen, Sie verstehen, was ich meine. Die Kleine war nicht so aggro drauf. Da bin ich mir sicher.«

Jens ließ kein Auge von dem Mann. »Für jemanden, der uns gerade erzählt hat, dass er gar nichts über seine Nachbarin weiß, ist das eine starke Aussage. Können Sie uns sonst noch was sagen?«

Der Katzenmann dachte nach. »Ich glaub nicht.«

»Sie glauben?«

»Na ja, dieser Knabe, mit dem sie sich so laut gestritten hat, den hab ich im Flur gesehen, als er gegangen ist. Das war zufällig …«

»Ach was!«, tat Freddy überrascht. »Und?«

»Der Kerl war so ein großer Lackel. Eins fünfundneunzig war der sicher.«

»Wie war er gekleidet?« Jens klappte seinen Block auf.

»Das weiß ich nicht mehr. Er trug einen Hut. So einen schwarzen Deckel. An mehr erinnere ich mich nicht.«

»Wieso waren Sie denn auf dem Flur?«, stellte Freddy eine Frage, die auch Jens interessant fand.

»Wie ich sagte, eher zufällig. Ich glaube, ich hab da gerade den Müll runtergebracht.«

 

Kommissarin Linda Todt war in Mikes Augen keine Frau nach seinem Geschmack. Ausgeprägte weibliche Rundungen fehlten bei ihr, ohne dass sie dabei maskulin gewirkt hätte. Sie trug eine Uniform, was Mike normalerweise immer auf Touren brachte, doch diese Vertreterin des angeblich so schönen Geschlechts ließ ihn völlig kalt. Aber was machte er sich deswegen Gedanken? Sie hatte ihn sicher nicht in ihre Diensträume gebeten, um ihn zu vernaschen.

Mike saß in ihrem schmucklosen Büro, das von einer großen Karte des Baltikums dominiert wurde. Auf ihrem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch fanden sich keine Fotos von Familienangehörigen, wie er das von den Kollegen im Bergener Polizeirevier kannte. Hier im Mukraner Dienstbüro gab es einen Schrank mit säuberlich beschrifteten Leitzordnern und eine Garderobe. Zwei Stühle für Besucher komplettierten die Ausstattung. Immerhin hatte die Bundespolizistin einen Siebträger auf einem Beistelltisch in der Ecke, wo sie soeben zwei Cappuccini gezaubert hatte.

»Zucker?«, fragte sie, als sie die Tasse vor ihrem Besucher abstellte.

»Ja, gerne. Vier, fünf Löffel!«

Linda Todt sah erstaunt zu ihm und holte dann den Zucker. »Am besten, Sie versorgen sich selbst.«

Das tat Mike. Als er das Gebräu probierte, haute der intensive und aromatische Geschmack ihn um. Er blickte zu ihr auf. »Meine Fresse, ist der Hammer!«

Die Kommissarin lachte. »Das ist der Grund, warum ich die beliebteste Kollegin hier bin. Ich schätze, ich bin die beste Barista auf der Insel!«

Mike sah sie verblüfft an. Sie hatte ja doch Charme. Und der Kaffee war sensationell.

Genauso schnell, wie sie ihre Leutseligkeit angeknipst hatte, war dieser Ausdruck auch wieder verschwunden, als sie dienstlich wurde. »Also, Herr Kramer, ich habe mit Ihnen sprechen wollen, weil wir ein Problem haben, das wir, so wie es gerade aussieht, nicht ohne Hilfe lösen können.«

»Aha!« Mike konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wobei er die Bundespolizei wohl unterstützen konnte.

»Haben Sie schon mal von der Black Bee gehört?«

»Der Black Bee? Nein, was soll das sein?«

»Das ist der Name eines Segelbootes. Es ist ein besonderes Schiff. Eine Einzelanfertigung, sehr lang, sehr schnell. Die Black Bee macht bei richtigem Wind dreißig Knoten. Die fährt den schnellsten Schiffen unserer Küstenwache davon. Wir fahnden schon seit einiger Zeit nach diesem Boot.«

»Moment«, hatte Mike einen Einwand. »Ich dachte, jedes Schiff, was größer ist als ein Ruderboot, hat einen AIS-Transponder. Kann man die Black Bee damit nicht orten?«

»Könnte man, wenn der Transponder aktiviert wäre. Ist er aber nicht. Und auch mit sonstigen Methoden tun wir uns schwer, die Black Bee zu orten. Sie besteht komplett aus Glasfaser und hat einen Tarnanstrich. Der Eigner des Schiffes will nicht gefunden werden. Er ist mit seinem Spezialboot überall und nirgends. Einen Spitznamen hat der Bursche bei uns auch schon. Wir nennen ihn den Riffgeist!«

»Den Riffgeist?« Mike sah die Frau ratlos an. »Also verwechseln Sie mich vielleicht mit jemandem? Ich hab’s mehr so mit Motorrädern. Von Booten oder vom Segeln versteh ich eher wenig.«

»Ich brauche Sie auch nicht als Nautik-Fachmann, Herr Kramer. Es ist nur so: Ich glaube, Sie kennen unseren Riffgeist! Den Eigner der Black Bee.« Sie schob ihm ein Foto hinüber.

Mike sah sich das Bild an, das einen schlanken Mann mit Skipper-Mütze an Deck seiner grünblauen Segeljacht zeigte. Das Gesicht war nicht sehr gut zu erkennen, trotzdem wusste Mike sofort, um wen es sich handelte. »He! Das ist ja King!«

»King?«, wiederholte Linda Todt. »Wir führen ihn unter dem Namen Arvid König.«

»Arvid König, richtig. Aber in der Schule haben ihn alle nur King genannt. Sogar die Pauker haben ›King‹ gesagt. Aber ja, das ist er: Arvid König. Nur: Ein Riffgeist war er für uns damals noch nicht.«

»Es stimmt also. Sie waren früher mal befreundet.«

Mike lehnte sich zurück. »Klar. Als Kinder waren wir wie Pech und Schwefel. Aber das ist Ewigkeiten her. Obwohl wir in der Schule ziemlich dicke waren, ist danach doch irgendwann jeder seinen eigenen Weg gegangen. That’s life.«

Die Kommissarin sah nicht aus, als ob sie über seine Worte sehr glücklich wäre. »Ich will offen sein. Ich hatte gehofft, dass ich über Sie vielleicht an den Riffgeist rankommen kann.«

Mike sah erneut auf das Foto. »An ihn rankommen? Was hat er denn angestellt?«

»Allein, dass er den Schiffstransponder der Black Bee deaktiviert hat, ist strafbar. Gut, das machen viele Fischer auch, weil sie ihre Fanggründe nicht verraten wollen. Aber nicht durchgehend. Zudem pflegt Arvid König einen rücksichtslosen Segelstil. Andere Schiffseigner berichten von Beinahekollisionen mit seinem Schiff. Wir wollen ihn aber aus dem Verkehr ziehen, weil er mit seinem Schiff Leute ins Land schmuggelt …«

»Leute? Was für Leute? Geht das auch deutlicher?«

»Flüchtlinge, Kriminelle, Spione, Gefährder … Mit ihrer Tarntechnologie fliegt die Black Bee gewissermaßen unter dem Radar. Wir für unseren Teil wollen, dass das so schnell wie möglich aufhört.«

Mike lehnte sich zurück. »Arvid … hat er keinen Wohnsitz, wo man ihn festsetzen kann?«

»Doch, schon. Dummerweise ist er sehr vermögend und besitzt locker zwei, drei Dutzend Häuser und Bootshäuser auf Rügen und wir glauben, nicht alle sind auf seinen Namen eingetragen. Sicher wissen wir nur, dass er überwiegend auf seinem Boot lebt. Und es ist wie verhext, wir kommen einfach nicht an ihn ran.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann. Ich hab King lange nicht mehr gesehen. Nicht, dass irgendwas zwischen uns vorgefallen wäre, aber wir haben einfach keinen Kontakt mehr, und das schon seit Ewigkeiten …«

Linda Todt sagte einen Moment nichts. »Seit Ewigkeiten? Was war vor knapp drei Jahren, als Sie im Krankenhaus lagen, weil Sie von einer Bikergang fast totgeschlagen worden sind?«

Mike blieb die Spucke weg. »Wie? King war im Krankenhaus? Bei mir?«

»Da sind wir eher zufällig draufgekommen. Ein Kollege von der Bergener Schutzpolizei hat erzählt, dass er ihn im Sanaklinikum gesehen hat. Da haben wir die Aufnahmen der Überwachungskameras gecheckt. Die Gesichtserkennung hat ihn identifiziert. Er war auf der Intensivstation, bei Ihnen.«

Mike machte eine überraschte Geste mit den Händen. »Sorry, aber davon weiß ich nichts. Ich stand da heftig unter Medikamenten. Ich erinnere mich an vieles nicht, was da gewesen ist. Der alte Richard Dreifürst war auch da und ich hab ihm wohl einen entscheidenden Tipp gegeben. Selbst davon weiß ich nichts mehr.«

Die Kommissarin lächelte. »Gut. Das muss ich so akzeptieren. Sie haben auch sonst keine Idee, wie man an Arvid König rankommen könnte? Kennen Sie andere Freunde, mit denen er vielleicht noch in Kontakt ist?«

Mike schüttelte den Kopf. »Da fällt mir auf die Schnelle nichts ein. Ich müsste mal gucken, ob ich in meinen Kruschtkisten alte Telefonnummern finde. Vielleicht fällt mir auch noch irgendwas ein. Die Eltern haben Sie schon kontaktiert?«

»Sind bereits verstorben. Aber vielleicht finden Sie ja was, das uns weiterbringt. In jedem Fall vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

»Jederzeit wieder, wenn es so einen Mörder-Cappuccino dazu gibt …!«

 

Mike Kramer stempelte ein und trat seinen Dienst an. Er verließ das Gebäude und begann mit dem ersten Rundgang. Er hatte lange nicht mehr an King gedacht. Das, was er Linda Todt gesagt hatte, stimmte: Er wusste nicht, dass sein alter Schulfreund ihn im Krankenhaus besucht hatte. Und es berührte ihn. In den alten Tagen waren sie wie Tom und Huck gewesen, zwei Kumpels, die alles zusammen unternahmen. Wie es im Leben so spielte, war die Verbindung zueinander abgerissen, nachdem sie aus der Schule raus gewesen waren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Selbst wenn Mike gewusst hätte, wie an King heranzukommen wäre, bezweifelte er, dass er den Freund ans Messer geliefert hätte. Dazu war in der Vergangenheit zu viel passiert.

Sein Klassenkamerad war eine Ausnahmeerscheinung gewesen, ein brillanter Kopf, dem der Stoff in der Schule nur so zugeflogen war. Aber nicht nur das. King war als ein regelrechtes Universalgenie aufgetreten, egal, womit er sich beschäftigte, er hatte es im Nu draufgehabt und bald besser beherrscht als jeder andere. Die Kehrseite der Medaille war, dass ein Steckenpferd ihn schnell langweilte und er sich anderen Dingen zuwandte. So vielseitig begabt Arvid König war, so wenig konnte er sich anpassen. Er hatte sich Autoritäten gegenüber stets als rebellisch gezeigt und auf Kriegsfuß mit jedweder Regel gestanden. Dass er jetzt mit seinem Tarnkappenboot das Phantom der baltischen See gab, den Riffgeist, passte zu allem, was Mike von ihm wusste. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, mal die Fühler nach seinem alten Kameraden auszustrecken.

Mike erreichte die Stelle im Mukraner Hafen, an der der Papierkorb stand. Er schaute hinein. Die Tüte mit dem angebissenen Brot war fort, ebenso die Wasserflasche und die Decke. Der Ex-Polizist lächelte. Sein kleiner blinder Passagier versteckte sich also noch auf dem Gelände.

 

Ilene Trapp war es sehr peinlich, dass sie sich nicht sofort erinnert hatte. »Der junge Herr von unten, ich glaube, er heißt Wingenfeld oder Wingfelder …«

»Wingenfeld!«, half Freddy aus.

»Der Herr Wingenfeld, der hat mal an der Tür von Frau Gaffel gestanden und geklopft. Ich weiß aber nicht, ob sie daheim war. Ich bin gleich in meine Wohnung, ich wollte nicht neugierig sein.«

Jens blickte zu Freddy hinüber. »Haben wir schon eine Aussage von ihm?«

Der Oberkommissar mit den Sommersprossen blätterte seinen Block durch. »Wingenfeld, Guido Wingenfeld … ist verreist. Wenn wir davon ausgehen, dass die Prognose von Frau Dr. Lange von der Gerichtsmedizin stimmt, dann ist er einen Tag gefahren, nachdem bei Cordula Gaffel der Tod eingetreten ist.«

»Ach! So ein Zufall.«

»Ja, so ein Zufall.«

Jens versuchte, seine Worte vorsichtig zu wählen, als er sich wieder an die ältere Frau wandte. »Frau Trapp, die Wände sind nicht sehr dick in diesem Haus. Haben sie von nebenan öfter mal Stimmen gehört, die man Männern zuordnen könnte?«