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Nach den Enthüllungen der Hackerin Atlas ist das alte Machtsystem zusammengebrochen. Nun will sie jeder auf seiner Seite wissen. Der Großkonzern Hypermind, der die Hive Minds kontrolliert, über welche die Menschen ihr Bewusstsein miteinander verbinden, will die Sicherheit seiner Technik erhöhen. Atlas und ihre Freunde Noah und Bennie sichern ihre Hilfe zu. Doch dann gesteht Bennie einen Mord, den er nicht begangen haben kann, und Atlas ist klar, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Verfolgt von Auftragskillern, korrupten Politikern und gnadenlosen Wirtschaftsbossen muss Atlas nicht nur sich und ihre Freunde retten, sondern auch die gesamte Menschheit ...
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Seitenzahl: 460
Nach den Enthüllungen der Hackerin Atlas ist das alte Machtsystem zusammengebrochen. Nun will sie jeder auf seiner Seite wissen. Der Großkonzern Hypermind, der die Hive Minds kontrolliert, über welche die Menschen ihr Bewusstsein miteinander verbinden, will die Sicherheit seiner Technik erhöhen. Atlas und ihre Freunde Noah und Bennie sichern ihre Hilfe zu. Doch dann gesteht Bennie einen Mord, den er nicht begangen haben kann, und Atlas ist klar, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Verfolgt von Auftragskillern, korrupten Politikern und gnadenlosen Wirtschaftsbossen muss Atlas nicht nur sich und ihre Freunde retten, sondern auch die gesamte Menschheit …
Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt im Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur. Mittlerweile ist sie als freiberufliche Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig.
MARIEGRASSHOFF
DER DUNKLESCHWARM 2
DER STILLE PLANET
Roman
NACH EINER AUDIBLE-ORIGINAL-PRODUKTION
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Copyright © 2023 by Marie Graßhoff
Dieses Buch wurde vermittelt durch die
Literaturagentur erzähl:perspektive, München
(www.erzaehlperspektive.de)
Für diese Lizenzausgabe:
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © iStock: Hutangac | grandeduc
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter
Verwendung eines Layouts von © Denis Holzmüller, Atelier Franken
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-2868-3
luebbe.de
lesejury.de
Der Geruch nach frischem Gras und feuchter Erde liegt schwer in der morgendlichen Luft. Der Sonne gelingt es noch nicht, die hellgraue Wolkendecke zu durchbrechen, und trotzdem bildet sich ein leichter Schweißfilm auf meiner Haut.
Undurchdringlicher Nebel drückt sich an den Boden, schmiegt sich an hohe Gräser und umschmeichelt die heruntergebrannten Ruinen einzelner Holzhütten. Wie kleine Denkmäler sammeln sie sich mitten in der Biegung eines schmalen Flusslaufes, die verkohlten Holzbalken überwuchert von kleinblättrigen Pflanzen, umzingelt von unbestellten Reisterrassen.
Von der Lichtung aus führt der Fluss in Richtung eines dicht bewachsenen Dschungels, über dessen Kronen einige Kapokbäume ragen. Dahinter Berge, von Nebel gerahmt, die wie Kolosse aus dunklem Stein bis in die Wolkendecke reichen.
Abgesehen vom Surren der Mücken, die sich nah des flachen Flussbettes scharen, liegt vollkommene Stille über diesem Ort.
Ein Mädchen steht auf dem erdigen Weg, der vom letzten Regen mit Pfützen durchdrungen ist. Der Saum ihres weißen Kleides ist schmutzig vom Schlamm, die Füße und Hände voller Blut. »Ich habe auf dich gewartet, Atlas.« Eine Strähne dunklen Haares fällt ihr ins Gesicht. Ihre Stimme klingt eigenartig deutlich. »Schön, dich wiederzusehen.«
Ein stechender Schmerz durchdrang mich von meinem Kopf bis in die Zehenspitzen. Ein Keuchen auf den Lippen beugte ich mich nach vorn, hielt mich mit einer Hand an der Lehne des Shuttlesitzes vor mir fest und drückte die Fingerkuppen an meine Stirn.
»Atlas!« Wie aus weiter Entfernung nahm ich wahr, dass Noahs Schritte sich näherten. Sobald er bei mir war, legte er seinen Arm um meine Schultern, und ich stützte mich an ihm ab, bevor meine Beine nachgaben.
Den Blick auf den Boden gerichtet, sah ich für den Moment nichts als flimmernde Schwärze. Ich biss die Zähne aufeinander, um mich verflucht noch mal zusammenzureißen.
»Atlas, alles okay?«
Noahs Stimme drang wie aus der Ferne zu mir. Ich war noch nicht in der Lage, ihm zu antworten. Stattdessen blinzelte ich einige Male heftig und versuchte, die Kontrolle über meinen Körper zurückzuerlangen.
»Was ist los, Chefin?«, fragte einer der Männer, die das Shuttle steuerten. »Sollen wir die Mission abbrechen?«
»Nein«, keuchte ich, meine Hand in Noahs Jumpsuit gekrallt. Seine Arme gaben mir Halt, und er verstärkte seinen Griff, als ich noch ein Stück weiter gegen ihn sank. »Ich muss nur näher an den Supercomputer ran. Dann funktioniert das.«
Es dauerte einige Momente, bis es mir gelang, meinen Blick zu heben, ihn einigermaßen zu fokussieren und die Sonne durch die gefärbte Windschutzscheibe anzusehen. Unter den winzigen Punkten, die um sie herumkreisten, war der Hypermind-Supercomputer. Und dort, irgendwo mitten in seinem gewaltigen Speicher aus Gedanken und Erinnerungen, befanden sich die Daten meines Androiden. Die Programmierung von Julien, den ich hatte löschen müssen, um Noah das Leben zu retten. Ich musste ihn wiederholen, egal zu welchem Preis!
»Hey. Setz dich doch erst mal hin«, murmelte Noah.
Ich riss den Blick von den Satelliten und Sphären los, um zu ihm aufzuschauen. In dieses Gesicht, das einmal Julien gehört hatte. Die scharfe Kante seines Kinns, die dunklen Haare und die regenbogenfarbenen Sommersprossen. Doch auf den Zügen lag nicht der forschende, kühle Ausdruck, den Julien immer getragen hatte; sondern tiefe Sorge und eine gewisse Weichheit.
»Nein, ich …«, sagte ich und wandte mich wieder ab. »Ich brauch nur kurz.« Dieses ganze Debakel war meine Schuld, also würde ich die Mission nicht abbrechen. Mir war bereits vor dem Start klar gewesen, dass es schwierig werden würde, und ich war absolut darauf vorbereitet, über meine Grenzen zu gehen. Ich musste mich nur kurz erholen.
»Es wird nicht einfach, näher ranzukommen«, sagte der Pilot, ohne sich zu mir umzudrehen. Ich schwankte, von Noah gestützt, einige Zentimeter auf ihn zu. »Durch den ganzen Müll im Orbit ist es schwer, sich problemlos weiter nach vorne zu manövrieren.«
Ich presste die Lippen aufeinander und sah ernst durch die Frontscheibe. Langsam wurde mein Blick klarer.
Der Hypermind-Supercomputer war von hier aus sogar zu erkennen. Diese gewaltige, runde Sphäre, auf deren Speicher sich sämtliche Erinnerungen aller Menschen und Androiden befanden. Nur wegen der weltweiten Unruhen war es uns überhaupt möglich, uns diesem Ding unbemerkt zu nähern.
»Wir können uns doch von ein bisschen Weltraummüll nicht aufhalten lassen«, presste ich hervor.
»Die meisten Teile sind zu klein, um rechtzeitig von unserem Radar erfasst zu werden«, erklärte der Copilot und deutete auf eine leuchtende Anzeige vor sich, mit der ich nichts anfangen konnte. »Ich meine … es ist möglich, aber extrem gefährlich. Bei der Geschwindigkeit, in der die Trümmer sich bewegen, kann selbst ein Teil von der Größe eines Bleistifts massiven Schaden anrichten.«
Scheiße. The Cell hatte alles darangesetzt, diese Mission zu ermöglichen, und jetzt sollte sie wegen mir scheitern? Daran, dass mein beschissenes ADIC sich in den letzten zwei Wochen nicht genügend erholt hatte – und daran, dass ich die Satelliten in die Luft gejagt hatte und wir deswegen nicht näher an den Computer herankamen?
Ich ballte meine zitternden Hände zu Fäusten, um über diesem Umstand nicht zu verzweifeln. Ich musste mich konzentrieren, wenn ich diese Mission beenden wollte. Es musste einfach funktionieren! »Wir müssen weiter«, beharrte ich und versuchte, mich aufrechter hinzustellen. »Ihr schafft das.«
Die Piloten warfen einander einen skeptischen Blick zu, dann setzten sie das Shuttle in Bewegung. Selbst mit bloßem Auge erkannte ich einige von den Trümmerteilen, die die Explosion der Satelliten hinterlassen hatte. Und ich verstand, wie schwer es sein musste, das Shuttle hindurchzusteuern, aber das war ein Risiko, das wir eingehen mussten, wenn wir an Juliens Daten herankommen wollten.
Ich musste nur eine Verbindung mit dem Computer herstellen und sie danach auf einen Speicherchip ziehen. Mit der richtigen Formatierung könnte ich sie sicherlich in einen anderen Androiden einsetzen, um ihn zurückzuholen.
Wenn wir nur noch etwas näher kämen …
»Nein, wartet!«
Der Pilot stoppte das Shuttle, wandte sich zu Noah um, und auch ich sah ihn an. Verständnislos und überrascht. Es war so seltsam, den sanften Ausdruck auf dem kantigen Gesicht zu sehen. Noahs Mimik war so deutlich zu erkennen, dass ich ihn und Julien niemals verwechseln könnte.
Die regenbogenfarbenen Sommersprossen auf seinen Wangen leuchteten. »Atlas, wir brauchen mehr Vorbereitungszeit«, sagte er ruhig. »Und du brauchst offensichtlich noch mehr Erholung. Wir setzen das Leben von jedem hier aufs Spiel, wenn wir weiter reinfliegen. Und auch deins.«
Ich verzog den Mund. »Du weißt von allen am besten, dass wir manchmal Opfer bringen müssen.«
Das war nicht als Vorwurf gemeint, doch dem getroffenen Ausdruck auf seinem Gesicht zufolge hielt er es für einen. Trotzdem antwortete er: »Wenn wir tot sind, hat Julien auch nichts mehr davon. Selbst, wenn wir es schaffen, nah genug an den Computer ranzukommen, kann jede weitere Überlastung für dein ADIC dein Ende sein!«
Was? Ich verstand nicht, warum er sich der Mission jetzt in den Weg stellte, immerhin hatten wir sie gemeinsam geplant. Ich hatte mein ADIC die letzten zwei Wochen nicht genutzt, um mich auf diesen Moment vorzubereiten. Und das, obwohl ich auf dieses verdammte Gerät in meinem Gehirn angewiesen war!
»Ich bin in der Lage, meine Grenzen zu überschreiten«, entgegnete ich hart. In den letzten Wochen war ich einige Male in Ohnmacht gefallen, weil ich mein ADIC überlastet hatte. Aber ich wusste, dass ich es schaffen konnte!
»Mir ist klar, dass du bereit bist, das alles zu riskieren«, erwiderte Noah viel zu ruhig für meinen Geschmack. »Aber es geht dir jetzt schon nicht gut.«
Der Schmerz in meinem Kopf war zu überwältigend, als dass ich seine Argumente schlüssig widerlegen konnte. Er hatte recht, aber er verstand es einfach nicht. Ich war schuld daran, dass Julien nicht mehr da war. Als ich seine Daten gelöscht und sie mit Noahs Erinnerungen überschrieben hatte, war es mir richtig vorgekommen, doch Julien … war mein einziger Freund gewesen. Ich war ihm das schuldig.
Aber das konnte ich nicht aussprechen, wenn ich nicht übermäßig emotional wirken wollte. So war ich eigentlich gar nicht!
»Ich habe diese Fähigkeit bereits mein Leben lang«, versuchte ich mich an einem Gegenargument, das rationaler als meine Gedanken war. »Und ich kann besser einschätzen als du, was ich mir zutrauen kann und was nicht.«
Noah zog die Augenbrauen nach oben und sah mich an, als hätte ich ihn geschlagen. »Du liegst falsch«, war seine einzige Antwort. Langsam ließ er mich los, sodass ich gezwungen war, mich an der Konsole neben mir abzustützen.
Anstatt die Diskussion mit mir weiterzuführen, wandte er sich an die Piloten. »Wir fliegen zurück zum Biotop«, wies er sie streng an.
Mit fragenden Blicken schauten sie sich zu mir um.
Woher kam das denn? Noah war seit dem Vorfall sehr direkt geworden, doch so aktiv über mich hinweggesprochen hatte er noch nie.
»Keine Widerrede«, beharrte er. »Du wolltest mich dabeihaben, und ich entscheide, dass du das Leben dieser Menschen nicht aufs Spiel setzen wirst. Wenn du schon nichts auf dein eigenes gibst.« Die Entschlossenheit, mit der er meinen irritierten Blick erwiderte, machte mir klar, dass er nicht nachgeben würde.
Scheiße. Ich seufzte geschlagen, taumelte einige Schritte in den hinteren Bereich des Shuttles und ließ mich resigniert in meinen Sitz fallen. »Na gut«, presste ich hervor.
Und ich hasste es. Ich hasste es so sehr, dass ich schreien und weinen wollte.
Vor allem, weil ich wusste, dass er recht hatte.
Verdammte Scheiße, er hatte ja recht.
»Gehts?«
»Ja«, stöhnte ich, während ich die Treppe des Shuttles hinabstolperte und gleichzeitig damit beschäftigt war, den Overall von meinen Armen zu ziehen. Ich konnte es nicht erwarten, mir meine Schmerzmittel einzuwerfen und für viele Stunden zu schlafen, um nicht darüber nachdenken zu müssen, wie kolossal ich gerade versagt hatte.
»Du siehst blass aus«, fuhr Noah fort und versuchte behelfsmäßig, mich zu stützen, sobald wir unten angekommen waren, damit ich ungeschickt aus dem enganliegenden Anzug schlüpfen konnte. Der dunkle Jumpsuit, den ich darunter trug, war deutlich dünner. Ich streckte mich, sobald sich meine Glieder wieder leicht und beweglich anfühlten, und strich mir die ausgeblichenem pinken Haarsträhnen aus der Stirn.
Ich machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, sobald wir uns in Bewegung setzten, um Noahs Bedenken vom Tisch zu wischen. »Wird schon gehen.« Nach dem, was gerade passiert war, hatte ich nicht die geringste Lust, ein normales Gespräch zu führen. Es war mir endlos schwergefallen, mich zu beruhigen. Die brodelnde Wut auf mich selbst zu bekämpfen. Aber die Zeit, die wir schweigend im Shuttle verbracht hatten, hatte mir dabei geholfen.
»Tut mir leid, dass ich so harsch war«, sagte Noah, als wir durch die sich öffnenden Tore traten und uns im Flur warme Luft und Sonnenlicht empfingen. »Ich wollte dich nicht so übergehen. Aber ich …« Er seufzte, und ich beschloss, ihn gleich hier zu unterbrechen.
»Ist okay«, sagte ich leise. »Du bist mein moralischer Kompass. Deswegen nehme ich dich ja mit.«
Tatsächlich zeichnete sich ein Lächeln auf seinen Lippen ab, als ich das sagte. »Ich denke, wir gleichen uns gut aus«, murmelte er.
»Zusammen sind wir in der Lage, wie ein normaler Mensch zu handeln.«
Er lachte, und ich stimmte ein, obwohl jede Bewegung das Hämmern hinter meiner Stirn nur noch verschlimmerte.
Ich würde direkt zum Stationsarzt gehen müssen. Noah hatte den Weg dorthin schon von sich aus eingeschlagen.
Ich lenkte meinen Blick auf meine Umgebung, um mich von meinen Schmerzen und dem Strudel an Gedanken gleichermaßen abzulenken. Der Flur grenzte über eine lange Glaswand direkt an eins der Biotope an, die The Cell im Orbit der Erde errichtet hatte. Die Kronen der Bäume wiegten sich vor dem Sternenhimmel, während Bienen auf der Suche nach Nektar über die blumigen Wiesen streiften, die Milchstraße direkt hinter ihnen. Wie die Natur vor der Endlosigkeit des Alls aufbegehrte, ein Flackern von Leben, das es so auf der Erde kaum mehr gab, verschaffte meinem angeschlagenen Geist ein wenig Ruhe. Hier, auf dieser Sphäre im Orbit, fühlte sich alles still an. So still, dass es mir fast ein Gefühl von Sicherheit vermittelte.
Eine trügerische Vorstellung.
Das leise Seufzen, das über Noahs Lippen kam, lenkte mich schnell von meinen Überlegungen ab.
»Worüber grübelst du nach?«, wollte ich wissen. Noah hatte verdient, dass ich mich mehr um ihn sorgte – immerhin war es meine Schuld, dass er in diesem künstlichen Körper steckte. Aber die meisten Versuche, ihn aufzumuntern, waren fehlgeschlagen, also hatte ich irgendwann aufgegeben. Ich war einfach nicht gut in solchen Sachen.
»Ich, ähm …« Zögerlich rieb er seine Hände aneinander und wartete darauf, dass einige Mitarbeiter des Biotops an uns vorübergegangen waren. »Ich denke über meine Mutter nach.«
Das kam unerwartet. Über sie hatte er in den letzten zwei Wochen gar nicht gesprochen. Ich sah zu ihm auf, konnte aber nicht viel aus seiner Mimik lesen.
»Willst du ihr sagen, was passiert ist?« Ich konnte mir nicht vorstellen, was in ihm vorgehen musste. Die Erkenntnis, dass Noahs Vater tatsächlich eine Rolle im Mord seiner Schwester gespielt hatte, war schwerwiegend genug gewesen, doch dass er nicht einmal mehr seinen richtigen Körper besaß, um wieder nach Hause gehen zu können …
»Sie … würde es sicher nicht verstehen. Aber meine Schwester ist tot. Vater ist im Gefängnis. Und ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass sie allein zuhause sitzt und … sich sicher ist, ich wäre auch tot.«
»Furchtbare Vorstellung«, rang ich mir ab. Ich wusste nicht, was man sonst auf so etwas erwidern konnte.
Nachdem Noahs Leiche von der Polizei gefunden worden war, hatte man ihn für tot erklärt. Er selbst hatte beschlossen, seine Existenz vorerst geheim zu halten, obwohl ich klargemacht hatte, dass es für mich in Ordnung wäre, wenn er darüber sprach. Mir wäre sicherlich etwas eingefallen, um dieses Geschehen zu erklären.
Das war allerdings seine Entscheidung.
»Ich würde so gern zu ihr gehen und ihr sagen, dass ich noch lebe«, gab er zu.
»Wenn du das tun willst, kann ich dich begleiten«, bot ich an. »Wenn du das möchtest.«
Er nickte in Gedanken versunken. »Klar, ich … danke. Aber ich muss noch darüber nachdenken.«
Warum fühlte ich mich plötzlich so schlecht, weil ich ihm mit unserer Mission nur noch mehr aufgelastet hatte? Das passte gar nicht zu mir.
Dabei spürte ich es im Grunde auch. Zwei Wochen waren nicht annähernd genug, um das, was geschehen war, hinter uns zu lassen. Er brauchte Zeit.
»Lass uns mal in deine Wohnung gehen«, schlug ich, einer spontanen Eingebung folgend, vor. Nach seinem offiziellen Tod hatten wir ein Testament fälschen können, in dem Noah mir seinen gesamten Besitz überschrieben hatte. Vielleicht würde es ihm guttun, sein Loft und all seine Gemälde wiederzusehen. In seinem vertrauten Bett zu liegen, selbst wenn er nicht mehr darin schlafen konnte.
»Gern«, erwiderte er tonlos.
»Ich verspreche, dass ich dieses Problem lösen werde«, sprach ich aus, worüber ich in den letzten Tagen viel nachgedacht hatte.
»Was meinst du? Dass du mir meinen menschlichen Körper zurückgeben willst?« Er lachte, als wäre das die unglaubwürdigste Vorstellung der Welt. »Kannst du das?«
»Keine Ahnung«, murmelte ich, den Blick verbissen auf meine Hände gesenkt. »Aber ich habe es geschafft, dein Bewusstsein in einen Androiden zu überschreiben. Also sollte das auch andersherum funktionieren.«
»Ich weiß nicht, ob das so einfach ist.« Er atmete tief ein. Eigentlich musste er das nicht, doch er schien die Bewegung, die damit einherging, einfach verinnerlicht zu haben. Es waren diese kleinen Merkmale, die ihn so anders wirken ließen als Julien zuvor. »Trotzdem danke, dass du drüber nachdenkst.«
»Ich meine es ernst«, versicherte ich und sah ihn nachdrücklich an. »Ich weiß noch nicht, wie. Aber ich schaffe es.«
Noah sagte nichts mehr, doch ich wollte mir zumindest einbilden, seine Züge hätten sich etwas aufgehellt.
Ich hatte die Welt ins Chaos gestürzt und Noah mit ihr zusammen. Das Syndikat war besiegt und die bisher größte Bedrohung für die Menschheit ausgemerzt. Doch diese Firmenbosse, korrupten Cops und Politiker zu stürzen war keine Heilung für die Welt gewesen. Im Gegenteil, sie war sogar noch kaputter als vorher. Als hätte ich ihr den Klebstoff für die Fugen genommen, der sie noch zusammengehalten hatte.
Aus dem Augenwinkel fiel mir jemand auf, der sich uns rasch näherte: helle Haut, dunkelgraues Haar und ein voller weißer Bart.
Bennie Haloren, der Gründer der Umwelt-Terror-Organisation The Cell.
»Atlas!«, rief er mir winkend zu und kam uns entgegen, kurz bevor wir in den Gang zum Stationsarzt einbiegen konnten.
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit, als ich das aufmunternde und zugleich mitleidige Lächeln auf seinem Gesicht sah.
»Eure Mission verlief nicht erfolgreich, habe ich gehört?« Er blieb vor uns stehen. In dem schwarzen Overall mit den goldenen Verzierungen machte er einen ungewöhnlich fitten Eindruck. Ein Kontrast zu den noblen Anzügen, die er für gewöhnlich trug.
Dass ich auf seine Frage nicht reagierte, war ihm gewiss Antwort genug. Eine kleine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Offensichtlich machte ihn unser Misserfolg wirklich betroffen. Etwas, das vor ein paar Wochen noch nicht möglich gewesen wäre.
Der ältere Mann hatte sich erst in letzter Sekunde auf unsere Seite geschlagen, was sowohl Noah als auch mir im Kampf gegen das Syndikat das Leben gerettet hatte. Dass er uns inzwischen wie einen Teil seiner Familie behandelte, bereitete mir nahezu ein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte ich ihn die längste Zeit einer weltweiten Mordserie verdächtigt.
»Ich bin froh, dass niemand verletzt wurde«, sagte er mit einem milden Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. The Cell wird euch unterstützen, wenn ihr es weiterhin versuchen wollt.«
»Danke«, murmelte ich und blinzelte ihn einige Male an, in der Erwartung, dass er noch etwas anfügen würde. Diese Sache war zu unbedeutend, um persönlich mit mir darüber zu sprechen. »Was gibts?«, fragte ich deswegen nach einigen Momenten des Schweigens.
Bennies helle Augen funkelten unheilverkündend, als sein Blick ernster wurde. Warum machte er es so spannend?
»Payne Hax möchte dich sehen.«
Ein kalter Schauer überlief mich von oben bis unten. »Der neue Vorstand von Hypermind?« So schnell hatte er nicht herausfinden können, dass wir versucht hatten, den Supercomputer zu hacken, oder? Er hatte gerade die Leitung über das größte Unternehmen der Welt übernommen. Warum sollte er seine Zeit mit mir verschwenden?
Verdammt, er wusste sicherlich irgendetwas über mich.
»Ja«, antwortete Bennie knapp und verschränkte die Arme angespannt vor der Brust. »Keine Ahnung, ob du die Nachrichten verfolgst, aber da Boston Everick verhaftet wurde und alle anderen hohen Tiere bei Hypermind auch Teil des Syndikats waren, wurde er jetzt eingesetzt. Er leitet seit dreißig Jahren eine wohltätige Organisation namens ProTEC.«
Das hatte ich mitbekommen. Einem so wohltätigen Kerl die Kommunikation der gesamten Menschheit anzuvertrauen war sicherlich ein Schachzug von Polizei und Politik, um das Unternehmen gewissen Regularien zu unterwerfen, die sie seit Jahren durchzusetzen versuchten.
»Mit ProTEC hatte ich nie viele Berührungspunkte«, sagte ich, während ich noch über die Möglichkeiten nachdachte, warum dieser Kerl mich sprechen wollte. »Im Untergrund ist nie irgendwas Zwielichtiges über sie durchgesickert.«
»Ich denke auch nicht, dass es viel Zwielichtiges über Veteranen zu sagen gibt, die es sich zum Ziel gemacht haben, Hilfesuchenden in Krisengebieten Schutz, Nahrung und ärztliche Hilfe zu verschaffen«, mischte Noah sich ein und warf mir einen strengen Blick zu.
Ich versuchte, die Augen nicht über seine Naivität zu verdrehen, weil für unsere fortwährende Diskussion, ob Menschen grundsätzlich gut oder schlecht waren, jetzt keine Zeit war.
»Hat er gesagt, was er will?«, fragte ich stattdessen an Bennie gewandt.
»Darüber hat er sich in Schweigen gehüllt.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich schätze, dass er durch seine neue Position sehr viele Berater gestellt bekommen hat. Höchstwahrscheinlich weiß er, wer du bist.«
Einige weitere Mitarbeiter gingen an uns vorüber und neigten vor Bennie ehrfürchtig den Kopf, während mir immer kälter wurde.
Verdammt. Ich war die Einzige mit der Fähigkeit, sich in jedes Hirn-Implantat und jede Hypermind-Technologie zu hacken. Dieses Geheimnis hatte ich mein Leben lang gehütet, aber nachdem ich gegen das Syndikat gekämpft hatte, war es eindeutig zu vielen Menschen in die Hände gefallen. Laut Bennie war die Wahrheit über meine Identität durch das interne Netzwerk von The Cell einigen höhergestellten Menschen aus der Wirtschaft in die Hände gefallen. Durch Spione innerhalb der Organisation.
»Du meinst, er weiß, über welche Fähigkeiten ich verfüge?«
»Vielleicht weiß er auch, dass du Evericks Schwester bist.«
Ich stöhnte. »Erinnere mich nicht daran.« Ich hatte vierundzwanzig Jahre meines Lebens keine Familie gehabt, und die Blutsverwandtschaft mit irgendeinem Verbrecher änderte daran nichts.
»Denkst du, er weiß, dass wir den Supercomputer hacken wollten?«
Bennie schüttelte den Kopf. »Nein, er klang recht versöhnlich.«
Nachdenklich wog ich den Kopf hin und her. Was könnte er von mir wollen? In meinem aktuellen Zustand wäre ich ihm ausgeliefert. Mein Leben lang hatte ich gewusst, was die Menschen mir gegenüber dachten, weil mich in ihre Gehirne zu loggen so einfach gewesen war wie atmen. Jetzt war das ein Akt, der mir solche Schmerzen bereitete, dass ich ihn kaum mehr ausführen konnte.
»Denkst du, ich sollte gehen?«, wollte ich daher von Bennie wissen.
»Ich an deiner Stelle würde es tun«, sagte er frei heraus, stemmte die Hände in die Hüften und sah mich sicher an. »Der Kerl leitet eine der größten wohltätigen Organisationen unserer Welt. Er ist Veteran und hat viel Gutes getan. Schau dir mal eine Dokumentation über ihn an. Ich denke nicht, dass er dir eine Falle stellen wird.«
Ich versuchte, nicht über den Kommentar zu den Dokumentationen zu lachen. Normalerweise fragte ich meine Freunde im Untergrund, ob es Geflüster über jemanden gab. Doch das würde einiges an Arbeit erfordern, nun, da Shane, mein Kontakt zu so vielen guten Quellen, tot war.
»Wann will er mich sehen?«
»Heute.«
»Was?«, fragten Noah und ich wie aus einem Mund und warfen einander einen knappen Blick zu.
Bennie hingegen zuckte nur mit den Schultern. »Scheint ihm sehr wichtig zu sein. Ich würde euch ja ein paar Leute aus der Crew mitschicken, aber ich habe selbst noch in Washington zu tun und brauche die Unterstützung.«
»Klar«, murmelte ich und begann, die positiven und negativen Punkte in meinem Kopf abzuwägen. Bei Hypermind vor Ort könnte ich vielleicht mehr Informationen zum Supercomputer bekommen; wie die Bewachungssituation war, wie es firmenpolitisch mit der Sicherung der Daten weitergehen würde und dergleichen.
Das half mir, eine Entscheidung zu treffen.
»Na gut«, sagte ich und wandte mich an Noah. »Gehen wir.«
»Ich flieg auch gleich los.« Bennie nickte uns zu und wandte sich bereits zum Gehen. »Wir treffen uns in dreißig Minuten an der Dockingstation.«
»Okay«, bestätigten wir beide und beobachteten, wie er sich von uns entfernte.
»Bist du dir sicher?«, wollte Noah gedehnt wissen, während wir Bennie hinterherschauten.
Ich nickte energischer, als es meinem Kopf guttat. »Wenn was schiefgeht, schießt du uns den Weg nach draußen frei.«
Noah machte große Augen, aber ich verzog den Mund sofort zu einem schelmischen Grinsen. Er war der größte Pazifist, den ich je kennengelernt hatte. Er musste wissen, dass das Ironie gewesen war.
Die Medikamente des Stationsarztes konnten nichts gegen meine Kopfschmerzen ausrichten.
Nach dem kurzen Besuch beim Doc hatte das Kommunikationsteam bereits Kontakt zu Paynes Leuten aufgenommen, um unser Kommen anzukündigen. Sofort danach waren wir wieder ins Shuttle gesprungen, um uns auf den Weg zur Erde zu machen; nach Washington. Meine Heimat.
Im Shuttle war es dunkel, und alle schwiegen oder schauten Nachrichten. Um mich so weit wie möglich auf das Gespräch vorzubereiten, hatte auch ich meine Kopfhörer aufgesetzt und den Bildschirm des Sitzes ausgeklappt.
Bennie hatte mir einige Berichte zu Payne geschickt, aber schon nach wenigen Minuten hatte ich es satt, mitleiderregende Dokumentationen über sein schweres Leben zu sehen. Das half mir nicht dabei, mir eine objektive Meinung zu bilden. Also klickte ich mich durch die Sender, die das Shuttle empfing und hoffte, etwas halbwegs Spannendes zu entdecken.
Mein wirres Umherschalten nahm ein Ende, als ich bei einer Nachrichtensendung ankam, in der zwei Männer mittleren Alters einander gegenübersaßen. Hinter ihnen liefen Aufnahmen von Demonstrationen und brennenden Geschäften über die Bildschirme.
Der Nachrichtensprecher hatte Akani André, den neuen Polizeichef von Washington D. C., als Gast bei sich im Studio. Der Kerl war in letzter Zeit in so vielen Sendungen aufgetaucht, dass ich mich fragte, wann er eigentlich seiner Arbeit nachging. So tief, wie die Augenringe sich auf seiner dunklen Haut abzeichneten, verzichtete er wohl eher auf Schlaf als auf seine alltäglichen Aufgaben.
»Wir können nicht sicher sein, ob bisher wirklich alle Mitglieder des Syndikats entlarvt wurden, Jimmy«, sagte der Polizeichef gerade. »Wie Sie wissen, verfügen viele der Mitglieder über eine Technologie, mit der sie bestimmte Erinnerungen vor den Scannern verbergen können. Aber wir machen Fortschritte. Immer mehr Menschen treten mit ihren Geschichten und Erfahrungen an die Polizei heran. Und die Erinnerungen, die an die Öffentlichkeit transferiert wurden, geben uns viel Aufschluss.«
»Was denken Sie: Wie hoch ist die Chance, dass ein Mitglied des Syndikats die Erinnerungen an diese Treffen öffentlich gemacht hat?« Irgendwie verliehen die zurückgekämmten Haare und die weißen Zähne dem Nachrichtensprecher ein schmieriges Aussehen.
»Dafür gibt es eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit.«
Wenn die wüssten, dass ich es war; irgendeine bedeutungslose Verbrecherin aus dem Untergrund.
»Auch dafür«, fuhr er fort, »dass dieselbe Person für die Zerstörung der Satelliten im Dyson Swarm verantwortlich ist. Wir wissen nach wie vor nicht, wer er oder sie ist.«
Und das würde sich auch nicht so schnell ändern.
»Im Zentrum der Aufstände, die die Welt zurzeit in Atem halten, steht Noor Godman, die Tochter von Shane Godman. Des Mannes, der vom Syndikat für die Hive-Morde beauftragt wurde«, fuhr der Interviewer fort.
Ein Schauer prickelte auf meinen Gliedmaßen. Shane. Anfangs hatte ich versucht, alle Berichte über ihn zu meiden, weil seine letzten Momente jedes Mal durch meine Gedanken huschten, wenn ich mich an ihn erinnerte. Daran, wie er erst gedroht hatte, mir das Leben zu nehmen, und sich dann selbst erschossen hatte.
Wenn ich ihn nur hätte retten können.
»Das Schicksal von Noor Godman geht den Menschen sehr nahe«, antwortete der Polizeichef. »Sie ist zum Symbol sozialer Ungerechtigkeit geworden.« Passend zu seinen Worten wurden Menschenmassen gezeigt, die sich mit Plakaten und Schildern durch die Straßen der Welt drängten und Gerechtigkeit für Noor forderten. Ihr Gesicht prangte auf vielen der Bilder. Schwarzes Haar, bronzefarbene Augen, goldbraune Haut. Ein ernster Ausdruck auf den Zügen. Das Foto aus ihrer Personalakte war das einzige, das von ihr existierte.
Ich hatte sie anders in Erinnerung, obwohl ich sie nicht oft gesehen hatte. Deutlich jünger. Und fröhlicher.
»Noor kam in den Marsminen ums Leben, weil ihre Familie sich keine Schulbildung für sie leisten konnte«, sagte der Nachrichtensprecher. »Dass Menschen, deren Bildungsstatus nicht ausreicht, um in das Hive-System aufgenommen zu werden, meist in solche Krisengebiete abgeschoben werden, ist schon seit Jahren ein gängiges Verfahren. Warum denken Sie, stören sich die Aufständischen erst jetzt daran?«
Der ältere Polizist legte die Fingerspitzen aneinander und setzte ein trauriges Lächeln auf. Er wirkte ehrlich bedrückt. »Viele Menschen aus der Mittelschicht wissen zwar von dieser Vorgehensweise, sind aber selbst noch nie mit ihr in Berührung gekommen. Durch die klare Abgrenzung von Mittelschicht und Sub-Level findet nicht viel Kontakt mit den Ausgestoßenen statt.«
Dass er so direkt über die soziale Trennung sprach, beeindruckte mich. Die Missstände, die im Sub-Level herrschten, wurden für gewöhnlich verschwiegen. Diese Welt war zu dreckig und kriminell für den gewöhnlichen Bürger.
»Doch durch die Morde«, fuhr er fort, »und durch die unbekannte Person, die alle Menschen der Welt am Schicksal dieser Familie hat teilhaben lassen, ist es schwer geworden, die Augen vor diesen Ungerechtigkeiten zu verschließen.«
Damit verurteilte er offen die Aktionen der Politik. Dieser Mann gewann langsam meinen Respekt.
»Sie empfinden es nicht – wie viele Ihrer Kollegen und Kolleginnen – als heuchlerisch, dass die Aufstände erst jetzt stattfinden?«
Wieder lächelte der Polizeichef unbestimmt. »Sie kennen die Statistiken. Über siebzig Prozent der Menschen aus der Mittelschicht brauchen mehr als zwei Jobs, um ihr Überleben zu sichern. In einer solchen Situation ist es keine Boshaftigkeit, die Probleme anderer Menschen nicht sehen zu können.«
Ich blinzelte einige Male, als würde es mir helfen, zu verarbeiten, was ich da gerade hörte. Ich hatte selten jemanden in einer so hohen Position offen über diese sozialen Probleme sprechen gehört.
»Die Menschen aus dem Sub-Level, die seit Jahrzehnten sowohl von der Gesellschaft als auch von den Behörden ignoriert wurden, erhalten durch Noor zum ersten Mal eine Stimme. Und auch, wenn wir deswegen mit Chaos und Aufständen zu kämpfen haben, ist der Tenor dieser Zeiten in meinen Augen ein nicht grundsätzlich schlechter. Es kommt etwas in Bewegung.«
»Das ist eine ziemlich gewagte Aussage«, kommentierte der Interviewer. Es war offensichtlich, dass der Kerl aus dem Upper-Level stammte. Er schien kein Verständnis und keinen Nerv für die Menschen zu haben, die sich tagtäglich auf den Straßen versammelten, um zu demonstrieren.
»Ich heiße das Chaos nicht gut«, stellte der Polizeichef sofort klar. »Die Plünderungen und Gewaltakte, die von vielen der Demonstranten verübt werden, sind zu verurteilen und werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln geahndet. Aber Menschen, die Gerechtigkeit nicht für sich selbst, sondern für andere Menschen fordern … das ist ein Bild, das wir lange nicht mehr gesehen haben. Und das begrüße ich prinzipiell. Sie versuchen, ein Gleichgewicht wiederherzustellen. Und eine Welt geradezurücken, die sich seit Jahrzehnten im Ungleichgewicht befindet, kann für diese Menschen offenbar kein sanfter Akt sein.«
Ich schüttelte fassungslos und mit einem Hauch Anerkennung den Kopf. Ob er nach diesem Interview Ärger für solche Aussagen bekommen würde?
Der Nachrichtensprecher schürzte die Lippen, sah auf seine Notizen hinab, schien dann allerdings nicht mehr an sich halten zu können. Nahezu angriffslustig schaute er sein Gegenüber an. »Die weltweiten Ausschreitungen sind so massiv, dass die Regierungen gezwungen sind, das Militär im Inland einzusetzen. Wirtschafter und Politiker werden auf offener Straße von Radikalen angegriffen und hingerichtet. The Cell ist nach der Rede ihres Anführers Bennie Haloren in Splittergruppen zerbrochen, weil sein Aufruf nach einem gewaltfreien Kampf von vielen Anhängern abgelehnt wird. Extremisten ziehen durch die Industrieviertel, um die mit dem Syndikat involvierten Firmen anzugreifen. Nach Boston Evericks Festnahme musste ein Externer Hypermind übernehmen, weil sämtliche Vorstände des Unternehmens korrupt waren. Des Unternehmens, dem die komplette menschliche Kommunikation anvertraut wurde.« Er musste sich offenbar selbst stoppen, um nicht mit seiner Aufzählung weiterzumachen. Er sah den Polizeichef intensiv an, der während all der Punkte bedrückt genickt hatte. »Und das heißen Sie grundsätzlich gut?«
»Diese Dinge heiße ich nicht gut«, sagte er gedehnt. Er war die Ruhe selbst, das musste man ihm lassen. »Aber sind Sie denn der Meinung, unsere vorherige Welt war besser? Eine Welt, die nur durch Lügen und Korruption zusammengehalten wurde?«
»Sie war friedlicher.«
Der Polizeichef erwiderte nichts. Nur seine Haltung und die angespannten Hände zeigten, wie sehr er an sich halten musste, das nicht zu kommentieren.
Er dachte vielleicht dasselbe wie ich: dass der Sprecher recht hatte. Sie war auf eine gewisse Weise friedlicher gewesen. Doch das hatte sie nicht besser gemacht.
Erst, nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte, sah der Sprecher wieder auf seine Notizen. »Und was halten Sie vom neuen Hypermind-Vorstand Payne Hax?«, lenkte er auf ein anderes Thema um. »Immerhin wurde er von den Regierungen der Länder vorgeschlagen und von der Polizei überprüft und freigegeben.«
Ich setzte mich ein Stück aufrechter hin, weil ich gespannt war, was dieser ehrliche Kerl dazu zu sagen hatte.
Die Anspannung fiel sichtlich von André ab. Zumindest diese Position von ihm schien nicht kontrovers zu sein, denn mit Sicherheit in der Stimme antwortete er: »Ich unterstütze die Entscheidung, Mr. Hax als Hypermind-Vorstand einzusetzen. Seit der Gründung seiner Organisation ProTEC hat er der Menschheit sehr viele humanitäre Dienste erwiesen. Im Gegensatz zu anderen Kandidaten, die zur Auswahl standen, hat er keinerlei finanzielles Interesse daran, das Unternehmen zu führen. Er steht auch in seiner Position als neuer Leiter von Hypermind gänzlich in den Diensten der Menschheit. Und ich hoffe selbstverständlich, dass dieser Umstand der Bevölkerung ein wenig Sicherheit zurückgeben kann.«
»Einigen sicherlich. Andere kritisieren, dass Hax nur eine Marionette der Polizei sein wird, um die größtmögliche Überwachung in der Bevölkerung zu garantieren. Etwas, wogegen sich Boston Everick stets gewehrt hat.«
»Mr. Hax darf und wird das Unternehmen nach seinem eigenen Gewissen leiten«, antwortete der Polizeichef nachdrücklich. »Wir können und werden ihm keine Vorschriften machen. Außerdem haben wir inzwischen herausgefunden, dass Boston Everick mit Hypermind ganz andere Ziele verfolgte; nämlich die des Syndikats. Also …«
»Wir treten in einer Minute in die Atmosphäre ein«, sagte einer der Piloten und riss mich aus meinem gespannten Lauschen. Ich setzte mich aufrechter hin, um das letzte Statement zu hören, bevor ich den Bildschirm einklappen musste. »Natürlich müssen wir sicherstellen, dass so etwas wie in den letzten Wochen nicht noch einmal passiert. Das ist nicht im Sinne der Überwachung, sondern im Sinne der Sicherheit. Und ich denke, für Sicherheit zu sorgen ist einer der wichtigsten Bausteine, um den Frieden wiederherzustellen.«
Ich presste die Lippen aufeinander.
Frieden. Das wäre schön.
Der Kerl gefiel mir, und das konnte ich nicht von vielen Menschen behaupten.
Der Nachrichtensprecher setzte erneut an, um mit Sicherheit einen weiteren bissigen Kommentar abzugeben, da sah ich Noah aus meinem Augenwinkel mit der Hand wedeln und schloss entsagend das Video, um den Bildschirm einzuklappen. »Schon gut, schon gut«, murmelte ich mit einem milden Lächeln auf den Lippen. Ich setzte die Kopfhörer ab und fragte: »Bist du bereit?«
Stöhnend nickte er. »Klar. Wir schaffen das zusammen.«
Unser Wagen glitt lautlos über die Schwebebahn zwischen den Hochhäusern Washingtons. Noah steuerte ihn, als hätte er nie etwas anderes getan. Das Fahrprogramm war ein fester Bestandteil der Androiden-Software, und offensichtlich war ein Großteil der Grundprogrammierung noch enthalten. Da der Geist eines Menschen noch nie in den Körper eines Androiden übertragen worden war, hatte ich nicht gewusst, ob und wie Noah überhaupt Zugriff auf die ganze Software nehmen könnte. Aber er sagte, dass sich die Funktionen anfühlten wie Reflexe.
So lenkte er das Auto souverän durch die Rauchschwaden, die ganz Washington einhüllten. Wenn ein Windzug sie für einige Sekunden vertrieb, spähte ich hinab zu den brennenden Wagen, Gebäuden und Demonstrationen, die das Bild des Middle-Levels bestimmten. Ich hatte das alles bisher nur im Fernsehen gesehen.
Die Aufständischen schrien so laut, dass ihre Rufe bis nach hier oben drangen. Es war eigenartig, die homogene Masse aus sich im Takt ihrer Parolen bewegenden Menschen nicht in gelbe Jumpsuits gekleidet zu sehen. Bisher waren solche Bilder nur bei den Demonstrationen von The Cell zu sehen gewesen.
Nun waren alle auf den Straßen. Nicht nur die Umweltterroristen, sondern jeder gewöhnliche Bürger. Einige bangten durch die Entwicklungen der letzten Wochen um ihren Job und hatten nichts mehr zu verlieren. Viele hatten diese Wut schon lange in sich getragen und nutzten die aktuelle Lage, um sie zu entladen.
Von hier oben sah die Stadt noch chaotischer aus als für gewöhnlich. Die breiten Hochhäuser aus verspiegeltem Glas reichten wie Säulen bis in den wolkenverhangenen Himmel hinein, während sich zwischen ihnen, auf vielen Ebenen, Straßen und Galerien entlangschlängelten. Washington war in den letzten Jahrzehnten zu schnell gewachsen. Millionen von Klimaflüchtlingen hatten sich vor Stürmen, Erdbeben und Überflutungen in dicht besiedelte Areale wie dieses gerettet, deren Stein und Metall zumindest ein wenig Schutz boten.
Wie Parasiten hingen Fußgängerwege, Parks und Geschäfte zwischen den Hochhäusern. Die Rauchwolken, die von ihnen aufstiegen, machten es schwer, die leuchtende Fahrbahn zu sehen, auf der sich unser Wagen bewegte. Die Neonreklamen, die an den Gebäuden prangten, erhellten den Dunst in all ihren bunten Farben. Auf vielen von ihnen waren heute Nachrichtenbilder anstelle von Werbung zu sehen. Noor Godmans Gesicht leuchtete wieder und wieder aus diversen Richtungen auf uns herab.
Jedes Mal, wenn ich sie sah, wurde mein Herz etwas schwerer. Ich hatte sie nur kurz gekannt, als wir Kinder gewesen waren, und hätte sie nicht retten können. Aber ihren Vater hätte ich retten können.
Bei ihm hatte ich versagt.
Stöhnend fuhr ich mir mit den kühlen Fingern über die Stirn, doch den brennenden Schmerz vermochte das nicht zu lindern.
Wenn Julien nur noch hier wäre … Er wüsste sicher, was zu tun war. Er hatte es immer gewusst.
Er war die einzige Familie gewesen, die ich jemals gehabt hatte, obwohl ich mir das selbst nie hatte eingestehen wollen. Er hatte mir geholfen, meinen Weg zu finden, meine Gedanken zu ordnen und das Chaos aus ihnen fernzuhalten. Und mir war klar, dass er all das vielleicht nur getan hatte, weil unsere Systeme miteinander verbunden gewesen waren.
Das änderte aber nicht, dass ich mit ihm einen Teil von mir selbst gelöscht hatte.
Ich atmete etwas tiefer ein, weil ich bemerkte, dass meine Kehle sich langsam zuschnürte.
»Wegen diesem Payne«, riss Noah mich aus den Gedanken, und ich schaute zu ihm hinüber. Die dunklen Haare hingen ihm in die Stirn und sein Kiefer wirkte angespannt. »Wollen wir vielleicht unsere Informationen zusammentragen, bevor wir uns gleich in den Kampf stürzen?«
Das war ein guter Plan, daher nickte ich knapp. »Klar.«
»Weißt du irgendwas Spannendes über ihn?«
»Du meinst abgesehen von seinem Namen?« Ich war nicht gut in Witzen. Ich wollte die Stimmung nur ein wenig aufhellen. »Wer nennt denn sein Kind Payne?«
»Hoffentlich ist der Name nicht Programm.« Hatte ich mir das eingebildet, oder war sein Mundwinkel ein Stück nach oben gezuckt? »Ich habe in einem Artikel gelesen, dass er sich bereits vor Jahren das erste Mal für klarere Sicherheitsbestimmungen bei Hypermind ausgesprochen hat«, sagte Noah. »Sonst hatte der Kerl aber nie etwas mit Hypermind zu tun.«
»Und mit dem Syndikat auch nicht, wenn man den Überprüfungen der Polizei Glauben schenken kann.« Was ich nicht tat. Sie waren bereits einmal unterwandert worden, und es könnte wieder passieren. »Aber ich gehe nicht davon aus, dass jemand, der seit dreißig Jahren eine friedliche, wohltätige Organisation leitet, böse Absichten hat.« Ich verzog den Mund. »Ich hoffe es zumindest.«
Das Geschäftsgebäude, das uns Payne Hax als Ort für das Meeting vorgeschlagen hatte, lag so weit im oberen Teil des Middle-Levels, dass wir ohne Zwischenfälle von der Parkstation zum Eingang hatten laufen können. Die Demonstrationen fanden weiter unten statt, und die eisige Winterluft hatte meinem Kopf gutgetan, obwohl sie die Schreie und Parolen der Beteiligten bis zu uns hinaufgetragen hatte.
»Komisch, wieder in der Gesellschaft zu sein«, flüsterte ich, als wir in den Eingangsbereich des Geschäftsgebäudes traten. Die hohen Fenster reichten viele Stockwerke über uns hinaus und sollten wohl den Blick auf den Himmel freigeben. Durch die Brände in der Innenstadt war allerdings nicht auszumachen, ob es wirklich bewölkt war oder ob es der Rauch war, der die Sicht verschleierte. Die kunstvoll verschlungenen Lampen, die von der hohen Decke in den Raum hineinragten, spendeten in dieser Tristheit warmes Licht.
»Zum Glück sehen sie mir in diesem Körper nicht an, wie aufgeregt ich bin«, sagte Noah.
Ich lächelte über den Kommentar, verkniff mir jedoch, erneut zu erwähnen, dass es keinen Grund gab, aufgeregt zu sein. Juliens Körper gehörte einer alten Kampfklasse von Androiden an, die gar nicht mehr hergestellt wurde. Sie verfügte über etliche Waffen, mit denen es ihm ein Leichtes sein sollte, uns zu befreien, falls wir in Schwierigkeiten kämen.
Obwohl ich wusste, dass Noah sich lieber gefangen nehmen oder umbringen lassen würde, als jemand anderem Schaden zuzufügen: Dass uns diese Waffen zur Verfügung standen, beruhigte mich.
Das Murmeln der etlichen Menschen, die sich in diesem Raum befanden, drang wie Hintergrundrauschen an meine Ohren. Vor der breiten Fensterwand fanden auf gemütlichen Sesseln Besprechungen statt, während andere Personen geduldig an der Information des Meeting-Gebäudes anstanden.
Ich wollte mich gerade dorthin in Bewegung setzen, als Noah mich am Arm berührte. »Da drüben.«
Er ruckte nur mit dem Kopf in die Richtung von zwei Männern, die sich angeregt miteinander unterhielten. Ein älterer Herr mit dunklen, von weißen Strähnen durchzogenem Haar sprach mit einem jungen Mann, der ihm gegenübersaß. Er konnte nicht älter als dreißig sein. Das braune Haar trug er in einem militärischen Undercut, durch den sein sauber sitzender Geschäftsanzug etwas unpassend erschien.
Ich deutete auf den Älteren der beiden, den ich in all den Berichten gesehen hatte. »Das ist er.«
»Ja«, bestätigte Noah leise.
»Kennst du den Kerl neben ihm?«
Er schüttelte den Kopf. »Sieht aber aus, als wäre er bei ProTEC.«
»Stimmt.« Der militärische Look sprach deutlich dafür.
Obwohl Payne und sein Begleiter noch nicht zu uns aufgesehen hatten, setzte ich bereits ein mildes Lächeln auf. Eine Maske, für die ich lange trainiert hatte.
»Meinst du …«, setzte ich an, um unser Vorgehen zu besprechen, doch in diesem Moment hatte Payne uns offenbar bemerkt und drehte sich gemeinsam mit seinem Gegenüber zu uns um.
»Miss Lawson?«, rief er uns entgegen.
Noah und ich setzten uns sofort in Bewegung, und Paynes jüngerer Begleiter sprang auf, um mir die Hand entgegenzustrecken. Ich schüttelte sie, etwas überrumpelt von seiner Überschwänglichkeit, dann ging ich auf Payne zu, um ihm ebenfalls die Hand zu reichen.
Ich versuchte, meine Irritation darüber zu überspielen, dass er heute im Rollstuhl saß. Bei den Konferenzen der letzten Tage hatte ich ihn oft gehen und stehen sehen. Ich wusste zwar, dass er durch vergangene Kriegsverletzungen Prothesen tragen musste – das war mehr als genug von den Medien besprochen worden –, doch mir war nicht klar gewesen, dass es so ernst war.
»Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, grüßte Payne. An Noah verschwendeten beide keinen Blick. »Es tut mir leid, dass wir uns hier treffen müssen. Es wurde ein Lockdown über das Hypermind-Viertel verhängt, bis die Polizei ihre Überprüfungen durchgeführt hat. Aber in einigen Tagen sollten wir dort wieder einkehren dürfen.«
Ich rang mir ein Lächeln ab, um meinen Unmut zu überspielen. »Das Viertel hier ist deutlich besser als das, in dem ich lebe.« Und besser als das, in dem ich aufgewachsen war.
Payne lachte, als wäre ihm sein Fehler erst jetzt aufgefallen. »Ja …« Er sah sich im Eingangsbereich um, der zwar nicht prunkvoll wie die Anwesen des Upper-Levels wirkte, darüber hinaus aber sauber und seriös. »Ich finde dieses Gebäude auch in Ordnung. Für die meisten Geschäftsleute, die ich treffe, liegt es allerdings weit unter ihrer Würde.«
Er ruckte mit dem Kopf in Richtung eines Fahrstuhls und setzte sich in Bewegung.
»Darüber müssen Sie sich bei mir keine Sorgen machen«, sagte ich, schob die Hände in die Jackentaschen und folgte ihm amüsiert.
Der Konferenzsaal besaß eine Fensterfront, die weit in das Middle-Level hineinblicken ließ. Wir hatten am Ende eines langen Tisches auf wenig bequemen Stühlen Platz genommen. An der Tafel zu sitzen fühlte sich ein wenig verloren an.
Ich war davon ausgegangen, dass Payne in Begleitung von Bodyguards und Sicherheitsleuten kommen würde. Entweder er gab nicht viel auf so etwas, oder die Themen, über die er sprechen wollte, waren sehr sensibel.
»Danke, Adalian. Das ist nicht nötig«, sagte er, als sein Mitarbeiter seinen Rollstuhl am Tisch positionieren wollte. Mit vielsagendem Blick wandte Payne sich zu mir um. »Das Wetter«, grummelte er und hob die Augenbrauen, als wäre klar, was er meinte.
Erst als ich ihn irritiert anlächelte, erklärte er sich: »Ich habe im Krieg beide Beine verloren. Mit den Prothesen kann ich laufen, aber …« Er rieb sich mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck über die Oberschenkel. »An einigen Tagen funktioniert das besser als an anderen.«
Ich wusste nicht, ob ich mir einen Kommentar erlauben konnte. Es lag mir allerdings einiges daran, ihn auf die Probe zu stellen. »Sie könnten sich doch sicher ein Upgrade leisten«, sagte ich also.
Das entlockte ihm ein Lachen. »Ach, na ja.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Viele der Menschen, für die sich ProTEC einsetzt, trifft es schwerer als mich und sie können sich solche Operationen nicht leisten.« Er schaute zu Adalian hinüber, der neben ihm Platz genommen hatte. »Ein Upgrade der Prothesen würde mehrere hunderttausend Coins kosten, und ein paar Wirbel sind auch wieder verschlissen. Ich nehme das Geld lieber für die Organisation.«
Verstehend nickte ich. Das war sicherlich ein guter Beweggrund, doch ich konnte nicht einschätzen, ob er das nur sagte, um seine menschennahe Seite zu unterstreichen. Wie gern ich mich in ihn einloggen würde, um mir seine Gedanken anzusehen.
Andererseits: Wenn er wusste, wer ich war, müsste er auch wissen, über welche Fähigkeiten ich verfügte. Dass ich mein System nicht nutzen konnte, wussten nur Bennie, Noah und ich. Wenn Payne klar war, dass ich seine Lügen ganz einfach enttarnen könnte, hätte er keinen Grund mehr zu lügen.
Es sei denn, er stellte mich auf die Probe.
Scheiße, ich dachte zu viel darüber nach. Ich durfte mich von so etwas nicht aus der Fassung bringen lassen.
»Ich bin beruhigt, dass zumindest Sie sich nicht an diesen Räumlichkeiten stören«, sagte Payne und deutete in einer unbestimmten Geste durch den Raum. »Ich habe in den letzten Tagen herausgefunden, dass Unternehmer wohl eine pompösere Kulisse erwarten, wenn man sie um ein Meeting bittet.«
»Dann haben Sie schon Bekanntschaft mit den Wirtschaftern geschlossen. Wie schön.« Ich gab mir keine Mühe, den ironischen Unterton in meiner Stimme zu verbergen, und ich wechselte einen langen Blick mit Payne. Was diese Art von Menschen anbelangte, teilten wir wohl dieselbe Meinung.
»Ich habe diesen Überfluss nie verstanden. Aber ich schätze, Sie und ich kommen aus einer anderen Welt als dieser.«
»Sieht so aus.« Er wollte sich bei mir einschmeicheln, oder? Warum sollte er sonst so viel Zeit auf Nichtigkeiten verschwenden? »Ich habe nicht damit gerechnet, dass so schnell ein Nachfolger für Boston Everick gefunden werden würde«, versuchte ich das Thema in eine konkretere Bahn zu lenken.
»Es muss weitergehen«, sagte Payne und sah mich durchdringend mit seinen hellen Augen an. »Hypermind versorgt nicht nur Mitbürger, sondern auch Unternehmen und Behörden mit allen Möglichkeiten der Kommunikation. Eine solche Einrichtung darf nicht lange in der Schwebe hängen.«
»Das ist wahr«, stimmte ich ihm zu. »Sie haben also gewiss Besseres zu tun. Warum bin ich hier?«
Payne lächelte mild und faltete die Hände vor dem Körper. »Sie kommen direkt auf den Punkt. Das mag ich.«
»Wissen Sie, wer ich bin?« Mein Herz pochte aufgeregt in meiner Brust, denn mir war klar, wie machtlos ich war. Vor allem, weil Julien nicht mehr hier war. In solchen Situationen hatte er alles für mich übernommen. Die umliegenden Räume überwacht, Recherchen durchgeführt und Fluchtwege geplant, während ich sprach.
Noah könnte einiges davon theoretisch auch, aber ich würde ihm noch zeigen müssen, wie das funktionierte. Und dafür waren wir beide in den letzten Tagen nicht in der richtigen Verfassung gewesen.
»Ja, ich wurde über Ihre Umstände informiert«, offenbarte Payne. Seine Miene war ernst geworden. Die Ruhe, die er ausstrahlte, zeigte, dass er viel Erfahrung damit haben musste, derart ernste Gespräche zu führen. »Dieser Raum ist abhörgeschützt, und ich habe kein Interesse daran, Ihre privaten Informationen an irgendjemanden weiterzugeben. Wir können offen reden.« Er musste gesehen haben, wie mein Blick zu dem Mann, der sich uns als Adalian vorgestellt hatte, hinübergewandert war. »Adalian ist meine rechte Hand. Aber er ist bereits im Bilde.«
Sein Kollege nickte still und scrollte durch einige Unterlagen vor sich.
»Ich habe durch einen Informanten im internen Netzwerk von The Cell herausgefunden, wer Sie sind. Dort kursierte die Information über Ihre Identität ja, damit die Aktivisten Ihnen helfen konnten, das Syndikat zu stürzen, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Genau.«
Noch bevor ich meinen nächsten Gedanken formulieren konnte, setzte er fort: »Danke für Ihren Einsatz für die Menschheit.« Nun wurden seine Züge weich. »Ich bin fest davon überzeugt, dass das alles ein Schritt in die richtige Richtung war.«
»Ich versuche, es auch so zu sehen«, erwiderte ich unsicher. Mir war klar, wie einsilbig ich antwortete, aber solange ich nicht wusste, was er dachte, wollte ich ihm keine Angriffsfläche für irgendetwas bieten. »Sie können mich übrigens Atlas nennen.« Vielleicht konnten wir so zumindest dieses steife Gerede umgehen.
»Payne«, bot er ebenfalls an. »Der Grund, aus dem ich dich sprechen wollte, war, weil es mich interessiert, was für ein Mensch du bist. Immerhin verfügst du über erheblichen Einfluss auf das Weltgeschehen.«
Ich wiegte den Kopf hin und her. »Unabsichtlich.«
»Was meinst du?«
»Ich bin da eher unabsichtlich reingerutscht«, erklärte ich mich ehrlich. »Ich habe kein Interesse daran, mich in die Machenschaften der Welt einzumischen. Ich brauche keine Macht und keinen Einfluss und habe auch nicht vor, künftig danach zu streben.« Ich hoffte, das stellte klar, dass ich mich nicht auf seine Seite schlagen oder mich für politische Zwecke ausnutzen lassen würde.
»Das finde ich nett«, sagte er, was mich etwas unvorbereitet traf. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, dich um einen Gefallen zu bitten. Es geht mir um etwas anderes.«
Ich spannte mich innerlich an und musste mich beherrschen, es nicht offen zu zeigen.
»Ich habe vor, Hypermind nach den Glaubenssätzen von ProTEC zu leiten: zum Wohle der Menschen.«
Was auch immer das bedeutete.
»Deswegen arbeite ich eng mit der Polizei zusammen. Wir haben in der letzten Woche eine Strategie erarbeitet, um das Vertrauen der Menschen in Hypermind zu stärken. Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch Politik und Wirtschaft verlangen nach mehr Sicherheit. Deswegen werden wir in den kommenden Tagen einen kompletten Neustart des Supercomputers durchführen.«
»Ein … ein Neustart?« Perplex blinzelte ich. Mir war nicht einmal klargewesen, dass das möglich war.
»Das Ziel ist, die Algorithmen zu säubern. Wir denken da vor allem an die Hacks, die das Syndikat für die Morde von Shane Godman einprogrammieren musste.«
Die Algorithmen säubern? Ich hatte jahrelang als Programmiererin bei Hypermind gearbeitet, aber von so etwas hatte ich noch nie gehört. »Wie lange werden die Hives denn nicht erreichbar sein?« Die komplette globale Kommunikation würde für diesen Zeitraum flachliegen. Kaum jemand besaß noch altmodische Geräte wie Handys.
»Das können wir nicht genau sagen. Durch diese Maßnahme stellen wir allerdings sicher, dass sich keine fehlerhaften oder gefährlichen Datensätze mehr in unserem System befinden.«
Ich bemühte mich, ruhig zu atmen, während ich von der Vorstellung einer Welt überwältigt wurde, die ohne Hives und ADICs funktionieren musste. Ich verstand, was sie damit bezweckten, aber wie konnte er sich so sicher sein, dass das nicht noch zu mehr Chaos führen würde?
Und was noch viel wichtiger war: Wie würde sich das auf mich und mein System auswirken? Wäre ich danach noch in der Lage, mein eigenes ADIC zu benutzen? Andere Menschen oder Maschinen zu hacken? Das war eine Fähigkeit, mit der ich aufgewachsen war und auf die ich nicht verzichten konnte! Die letzten zwei Wochen hatten mich schon nahezu um den Verstand gebracht!
Payne legte die Fingerspitzen aneinander und sah mich aufmerksam an. »Ich gehe davon aus, deine … Fähigkeit läuft mit einer Art von Hypermind-Technologie?«
»Ja«, erwiderte ich mit trockenem Mund. Verdammt. Was, wenn der Neustart mich für immer von den Hives trennte? Ich hatte keine Ahnung, was in meinem Kopf vor sich ging, also konnte ich nicht wissen, welche Auswirkungen diese Aktion auf mich haben würde.
»Denkst du, dass das ein Problem für dich werden könnte?«
Irgendwie musste ich mich beruhigen. Ich durfte vor diesen Fremden nicht den Verstand verlieren. »Ich … ich weiß es nicht.« Ich bemühte mich, Blickkontakt mit Payne zu halten, um mir meinen Schock nicht anmerken zu lassen. »Da es so einen Fall noch nie gab, kann ich das nicht einschätzen.«
»Verständlich. Ich möchte dir nicht schaden, nach allem, was du für diese Welt getan hast. Deswegen wollte ich dich vorwarnen.«
Es ärgerte mich nahezu, dass ich mich dankbar fühlte, weil das irgendwie mit einem Gefühl der Schwäche einherging. »Das ist wirklich sehr freundlich. Ich werde mich über eventuelle Folgen und Maßnahmen informieren.« Mein Herz schlug so schnell, dass mir schwindlig wurde.
»Zu welchem Zeitpunkt genau soll der Reboot denn stattfinden?«, mischte sich Noah ein. Androiden waren für gewöhnlich gedanklich mit ihren Besitzern verbunden, also wäre es wohl okay, wenn er auch sprach.
»Innerhalb der nächsten Tage. Wir müssen uns mit den Technikern noch auf ein genaues Datum einigen, aber wir werden es vorher öffentlich verkünden.«
»Natürlich.« Scheiße. Ich würde tatsächlich einen Arzt aufsuchen müssen, um mir eine Einschätzung für dieses mögliche Problem geben zu lassen. Und am besten auch, um generelle Fragen zu meinem ADIC zu stellen, weil ich meinen Zustand nicht mehr lange würde ertragen können.