Der dünne Mann - Dashiell Hammett - E-Book

Der dünne Mann E-Book

Dashiell Hammett

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ex-Detektiv Nick Charles und seine wohlhabende Frau Nora, deren Vermögen Charles verwaltet, wollen mit ihrer Schnauzerhündin Asta die Weihnachtstage in New York verbringen, genießen Glamour und Wohlstand, gehen ins Theater und lassen sich vom Zimmerservice verwöhnen. Bis der Anwalt eines früheren Klienten Charles kontaktiert: Der namhafte Erfinder Clyde Miller Wynant scheint vom Erdboden verschluckt, und nun wurde seine Privatsekretärin erschossen in ihrer Wohnung aufgefunden. Charles soll bei der Aufklärung des Falls helfen, aber der hat wenig Lust, möchte eigentlich lieber die Whiskey-Vorräte des Hotels vernichten. Entsprechend schleppend gehen die Ermittlungen voran. Hat Wynants Tochter Dorothy etwas mit dem Mord zu tun? Oder seine Ex-Frau Mimi, die die Sekretärin - und Geliebte - ihres Mannes gehasst hat? Dann erhält Wynants Anwalt Macaulay einen Brief von seinem verschwundenen Mandanten. Nick und Nora verschlägt es in die dunkelsten Ecken von Manhattan, in eine Welt von Gangstern, Ganoven und Flüsterkneipen, in der man niemandem trauen kann.

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Seitenzahl: 306

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Dashiell Hammett

Der dünne Mann

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl

Kampa

Für Lillian

1

Ich lehnte in einer Flüsterkneipe in der zweiundfünfzigsten Straße am Tresen und wartete darauf, dass Nora mit ihren Weihnachtseinkäufen fertig wurde, als eine junge Frau von einem Tisch aufstand, an dem sie mit drei anderen Leuten gesessen hatte, und zu mir herüberkam. Sie war zierlich und blond, und ob man nun ihr Gesicht oder ihren Körper in dem taubenblauen Sportkostüm betrachtete, das Ergebnis war gleichermaßen zufriedenstellend. »Sind Sie nicht Nick Charles?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich.

Sie reichte mir die Hand. »Ich bin Dorothy Wynant. An mich erinnern Sie sich wahrscheinlich nicht, aber Sie müssten sich an meinen Vater erinnern, Clyde Wynant. Sie …«

»Klar«, sagte ich, »und jetzt erinnere ich mich auch an Sie, aber damals waren Sie erst elf oder zwölf.«

»Ja, das ist acht Jahre her. Erinnern Sie sich auch noch an die Geschichten, die Sie mir damals erzählt haben? Waren die wahr?«

»Vermutlich nicht. Wie geht es Ihrem Vater?«

Sie lachte. »Das wollte ich eigentlich Sie fragen. Mama hat sich von ihm scheiden lassen. Wir hören nie von ihm – außer, wenn er es mit einer seiner Kapriolen mal wieder in die Zeitung schafft. Sehen Sie ihn gelegentlich?«

Mein Glas war leer. Ich fragte sie, was sie trinken wolle, sie sagte, Scotch mit Soda. Ich bestellte zwei davon und sagte: »Nein, ich wohne seit einiger Zeit in San Francisco.«

Sie sagte gedehnt: »Ich würde ihn gern wiedersehen. Mama würde ein Riesentheater machen, wenn sie dahinterkäme, aber ich möchte ihn trotzdem gern wiedersehen.«

»Und?«

»Er wohnt nicht mehr in unserer früheren Wohnung am Riverside Drive, und er steht weder im Telefonbuch noch im Adressenverzeichnis.«

»Versuchen Sie’s bei seinem Anwalt«, schlug ich vor.

Ihr Gesicht hellte sich auf. »Und wer ist das?«

»Damals war es jemand namens Mac-Soundso – Macaulay, richtig, Herbert Macaulay. Hatte seine Kanzlei im Singer Building.«

»Leihen Sie mir fünf Cent«, sagte sie und ging hinaus zum Telefon. Sie kam lächelnd zurück. »Ich habe ihn gefunden. Er ist gleich um die Ecke, in der Fifth Avenue.«

»Ihr Vater?«

»Der Anwalt. Er sagt, mein Vater ist verreist. Ich gehe später zu ihm.« Sie prostete mir mit ihrem Glas zu. »Auf die Familienzusammenführung. Hören Sie, wie wäre es, wenn Sie …«

Asta sprang an mir hoch und boxte mir mit ihren Vorderpfoten in den Bauch. Nora, am anderen Ende der Leine, sagte: »Sie hat einen prima Nachmittag hinter sich – hat bei Lord & Taylor einen Tisch mit Spielsachen umgeworfen, im Saks einer dicken Frau das Bein abgeleckt und sie damit zu Tode erschreckt und sich von drei Polizisten streicheln lassen.«

Ich machte die beiden miteinander bekannt. »Meine Frau, Dorothy Wynant. Ihr Vater war einmal ein Klient von mir, da war sie noch so klein. Ein guter Kerl, ein bisschen verschroben.«

»Ich war von ihm fasziniert«, sagte Dorothy – sie sprach von mir. »Ein waschechter, leibhaftiger Detektiv! Ich bin ihm auf Schritt und Tritt gefolgt und habe mir von seinen Erlebnissen erzählen lassen. Er hat mir die dicksten Lügen aufgetischt, aber ich habe jedes Wort geglaubt.«

Ich sagte: »Du siehst müde aus, Nora.«

»Das bin ich auch. Setzen wir uns.«

Dorothy Wynant sagte, sie müsse an ihren Tisch zurück. Sie gab Nora die Hand. Wir müssten mal auf Cocktails vorbeischauen, sie wohnten in den Courtland Apartments, ihre Mutter heiße jetzt Jorgensen. Sehr gern, und sie müsse uns auch einmal besuchen kommen, wir wohnten im Normandie und würden noch ein, zwei Wochen in New York bleiben. Dorothy tätschelte dem Hund den Kopf und ließ uns allein.

Wir fanden einen Tisch. Nora sagte: »Sie ist hübsch.«

»Wenn man den Typ mag.«

Sie grinste mich an. »Du stehst auf bestimmte Typen?«

»Nur auf deinen, Liebling – schlaksige Brünette mit losem Mundwerk.«

»Und was war mit der Rothaarigen, mit der du gestern Abend bei den Quinns abgezogen bist?«

»Sei nicht albern«, sagte ich. »Sie wollte mir bloß ein paar französische Radierungen zeigen.«

2

Am nächsten Tag rief mich Herbert Macaulay an. »Hallo. Ich wusste gar nicht, dass Sie wieder in der Stadt sind, bis Dorothy Wynant es mir erzählt hat. Wie wäre es mit Lunch?«

»Wie spät ist es?«

»Halb zwölf. Habe ich Sie geweckt?«

»Ja«, sagte ich, »aber das macht nichts. Wie wär’s, wenn Sie zum Lunch hierherkommen. Ich habe einen Kater, und mir ist nicht danach, groß herumzurennen … Okay, sagen wir, ein Uhr.« Ich nahm einen Drink mit Nora, die zum Friseur wollte, um sich die Haare waschen zu lassen, und nach dem Duschen noch einen, und als das Telefon erneut klingelte, fühlte ich mich schon besser. Eine Frauenstimme fragte: »Ist Mr. Macaulay schon bei Ihnen?«

»Nein, noch nicht.«

»Entschuldigen Sie die Störung, aber würden Sie ihn bitten, in seiner Kanzlei anzurufen, sobald er da ist? Es ist wichtig.« Ich versprach es.

Macaulay kam etwa zehn Minuten später. Er war ein kräftiger, ziemlich gut aussehender Bursche mit lockigem Haar und rosigen Wangen, ungefähr in meinem Alter – einundvierzig –, obwohl er jünger aussah. Er galt als recht guter Anwalt. Ich hatte verschiedentlich für ihn gearbeitet, als ich noch in New York lebte, und wir waren immer gut miteinander ausgekommen. Jetzt gaben wir uns die Hand, klopften einander auf den Rücken, er fragte mich, wie es mir ergangen sei, ich sagte: »Ausgezeichnet«, fragte ihn, er sagte: »Ausgezeichnet«, und ich sagte ihm, er solle in seiner Kanzlei anrufen.

Er kam stirnrunzelnd vom Telefon herüber. »Wynant ist wieder in der Stadt«, sagte er, »und will mich sprechen.«

Ich drehte mich mit den Drinks um, die ich eingegossen hatte. »Also, von mir aus kann der Lunch …«

»Nein, er kann warten«, sagte er und nahm mir eins der Gläser aus der Hand.

»Immer noch so verschroben wie damals?«

»Das ist nicht lustig«, sagte Macaulay ernst. »Wussten Sie, dass er ’29 fast ein Jahr lang in einer Nervenheilanstalt war?«

»Nein.«

Er nickte. Er setzte sich, stellte sein Glas auf einem Tischchen neben seinem Sessel ab und beugte sich leicht zu mir vor. »Was führt Mimi im Schilde, Charles?«

»Mimi? Ach so, seine Frau – seine Ex-Frau. Keine Ahnung. Muss sie denn etwas im Schilde führen?«

»Normalerweise tut sie das«, sagte er trocken und dann, ganz langsam: »Und ich dachte, Sie wüssten es vielleicht.«

Daher also wehte der Wind. Ich sagte: »Hören Sie, Mac, ich bin seit sechs Jahren kein Detektiv mehr, seit 1927.«

Er starrte mich an.

»Ganz ehrlich«, versicherte ich ihm, »ein Jahr nach meiner Heirat ist der Vater meiner Frau gestorben und hat ihr ein Sägewerk, eine Schmalspurbahn und auch sonst noch so einiges hinterlassen, und ich habe bei der Agentur gekündigt, um mich um all das zu kümmern. Und für Mimi Wynant oder Jorgensen oder wie auch immer sie jetzt heißt, würde ich sowieso nicht arbeiten – sie hat mich nie leiden können und ich sie auch nicht.«

»Ich hatte auch nicht angenommen, dass Sie …« Macaulay unterbrach sich mit einer vagen Geste und griff nach seinem Glas. Als er es absetzte, sagte er: »Ich habe mich bloß gewundert. Vor drei Tagen – Dienstag – ruft mich Mimi an und will wissen, wo Wynant ist, dann ruft gestern Dorothy an – auf Ihren Rat hin, wie sie sagt – und kommt vorbei und – ich dachte, Sie arbeiten immer noch als Detektiv, also habe ich mich gefragt, was das Ganze soll.«

»Haben die es Ihnen nicht gesagt?«

»Na sicher. Sie wollen ihn gern wiedersehen – um der alten Zeiten willen. Das sagt ja wohl alles.«

»Ihr Anwälte seid eine misstrauische Bande«, sagte ich. »Vielleicht ist es ja wirklich der Grund – das und Geld. Aber was soll überhaupt der ganze Zirkus? Ist er abgetaucht?«

Macaulay zuckte die Schultern. »Da fragen Sie mich zu viel. Ich habe ihn seit Oktober nicht mehr gesehen.« Er nahm erneut einen Schluck. »Wie lange sind Sie noch in der Stadt?«

»Bis nach Neujahr«, sagte ich und ging zum Telefon, um vom Zimmerservice Speisekarten bringen zu lassen.

3

An diesem Abend gingen Nora und ich zur Premiere von Honeymoon ins Little Theatre und hinterher zu einer Party bei Leuten, die Freeman oder Fielding oder so ähnlich hießen. Ich fühlte mich ziemlich mies, als sie mich am anderen Morgen weckte. Sie gab mir eine Zeitung und eine Tasse Kaffee und sagte: »Lies das.«

Geduldig las ich ein, zwei Absätze, dann legte ich die Zeitung hin und nahm einen Schluck Kaffee. »Bei aller Liebe«, sagte ich, »aber im Augenblick würde ich sämtliche jemals gedruckten Interviews mit Bürgermeister in spe O’Brien hergeben – und den Indianerfilm noch dazu –, wenn ich dafür einen einzigen Schluck Whis…«

»Doch nicht das, Dummkopf.« Sie legte einen Finger auf die Zeitung. »Das da.«

SEKRETÄRIN VON ERFINDER IN WOHNUNG ERMORDET

Von Kugeln durchsiebte Leiche von Julia Wolf gefunden

Polizei sucht ihren Arbeitgeber Clyde Wynant

Die von Kugeln durchsiebte Leiche von Julia Wolf, der zweiunddreißigjährigen Privatsekretärin des namhaften Erfinders Clyde Miller Wynant, wurde am gestrigen Spätnachmittag in der Wohnung der Verstorbenen, in der vierundfünfzigsten Straße Ost, Nr. 411, von Mrs. Christian Jorgensen, der geschiedenen Frau des Erfinders, aufgefunden, die sich dorthin begeben hatte, um die derzeitige Adresse ihres Ex-Gatten zu erfragen.

Mrs. Jorgensen, die am Montag von einem sechsjährigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt war, sagte der Polizei gegenüber aus, sie habe ein schwaches Stöhnen gehört, als sie an der Wohnungstür der Ermordeten klingelte, und daraufhin Mervin Holly, den Liftboy, verständigt, der wiederum Walter Meany, den Hausverwalter, gerufen habe. Als sie die Wohnung betraten, habe Miss Wolf verwundet von vier Geschossen des Kalibers .32 in der Brust auf dem Boden des Schlafzimmers gelegen und sei noch vor dem Eintreffen von Polizei und Rettungskräften gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Herbert Macaulay, Wynants Anwalt, sagte der Polizei, er habe den Erfinder seit Oktober nicht mehr gesehen. Wynant habe ihn am Vortag angerufen und einen Termin mit ihm vereinbart, diesen aber nicht eingehalten. Er habe keinerlei Kenntnis vom derzeitigen Aufenthaltsort seines Mandanten. Miss Wolf, sagte Macaulay aus, habe seit acht Jahren in den Diensten des Erfinders gestanden. Er wisse nichts über die Familienverhältnisse und die Privatangelegenheiten der Toten und könne nichts zur Aufklärung des Mordes beitragen.

Die Tote kann sich die Schusswunden nicht selbst beigebracht haben, da sie laut …

Der Rest entsprach dem üblichen polizeilichen Verlautbarungsstil.

»Glaubst du, er hat sie umgebracht?«, fragte Nora, als ich die Zeitung wieder hinlegte.

»Wynant? Wundern würde es mich nicht. Er ist komplett verrückt.«

»Hast du sie gekannt?«

»Ja. Wie wär’s mit einem Tröpfchen von irgendwas, um gegen das Phlegma anzugehen?«

»Wie war sie denn so?«

»Nicht übel«, sagte ich. »Sah nicht schlecht aus und hatte eine Menge Köpfchen und eine Menge Mumm – und beides brauchte sie auch, um mit dem Kerl zusammenzuleben.«

»Sie hat mit ihm zusammengelebt?«

»Ja. Ich möchte bitte einen Drink. Das heißt, so war es jedenfalls, als ich die beiden kannte.«

»Warum frühstückst du nicht zuerst? War sie in ihn verliebt, oder war es bloß geschäftlich?«

»Das weiß ich nicht. Zum Frühstücken ist es noch zu früh.«

Als Nora die Tür aufmachte, um hinauszugehen, kam Asta herein, legte die Vorderpfoten aufs Bett und drückte mir die Nase ins Gesicht. Ich kraulte ihr den Kopf und versuchte, mich an etwas zu erinnern, was Wynant einmal zu mir gesagt hatte, irgendwas über Frauen und Hunde. Es war nichts von der Kategorie Frau, Spaniel und Walnussbaum. Ich kam einfach nicht drauf, aber irgendwie schien es wichtig zu sein, es zu versuchen. Nora kam mit zwei Drinks und einer weiteren Frage wieder: »Und wie ist er so?«

»Groß – über eins achtzig – und einer der dünnsten Menschen, die ich je gesehen habe. Er muss inzwischen um die fünfzig sein, und seine Haare waren schon damals, als ich ihn kannte, fast weiß. Sieht normalerweise so aus, als könnte er einen Haarschnitt gebrauchen, hat einen ungepflegten, scheckigen Schnurbart, kaut auf den Nägeln.« Ich schob den Hund weg, um nach meinem Drink zu greifen.

»Hört sich allerliebst an. Was hattest du mit ihm zu tun?«

»Jemand, der für ihn gearbeitet hatte, hat ihn beschuldigt, ihm irgendeine Erfindung gestohlen zu haben. Rosewater hieß er. Er hat versucht, Wynant zu erpressen, indem er damit drohte, ihn zu erschießen, sein Haus in die Luft zu jagen, seine Kinder zu entführen, seiner Frau die Kehle durchzuschneiden – ich weiß nicht, was noch alles –, wenn er nicht mit dem Geld rausrückt. Wir haben ihn nie erwischt – müssen ihn wohl verscheucht haben. Jedenfalls, die Drohungen hörten auf, und es passierte nichts.«

Nora setzte ihr Glas ab und fragte: »Hat Wynant die Erfindung wirklich gestohlen?«

»Ts, ts, ts«, sagte ich. »Wir haben Heiligabend. Da solltest du nur an das Gute im Menschen denken.«

4

Am Nachmittag führte ich Asta spazieren, erklärte zwei Leuten, dass sie ein Schnauzer und keine Kreuzung zwischen Scottish und Irish Terrier sei, kehrte auf ein paar Drinks im Jim’s ein, lief Larry Crowley über den Weg und nahm ihn mit ins Normandie. Nora mixte gerade Cocktails für die Quinns, Margot Innes, einen Mann, dessen Namen ich nicht mitbekam, und Dorothy Wynant. Dorothy sagte, sie wolle mit mir reden, also gingen wir mit unseren Cocktails ins Schlafzimmer.

Sie kam gleich zur Sache. »Glauben Sie, mein Vater hat sie umgebracht, Nick?«

»Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich?«

»Nun ja, die Polizei glaubt es … Sie war seine Geliebte, nicht wahr?«

Ich nickte. »Wenigstens, als ich die beiden gekannt habe.«

Sie starrte in ihr Glas, während sie sagte: »Er ist mein Vater. Ich konnte ihn noch nie leiden. Mama konnte ich auch noch nie leiden.« Sie blickte zu mir auf. »Gilbert kann ich auch nicht leiden.« Gilbert war ihr Bruder.

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Viele Menschen können ihre Verwandten nicht leiden.«

»Mögen Sie sie denn?«

»Meine Verwandten?«

»Meine.« Sie bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Und hören Sie auf, mit mir zu reden, als wäre ich immer noch zwölf.«

»Das ist es nicht«, erklärte ich. »Ich habe bloß einen sitzen.«

»Also, mögen Sie sie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie waren damals ein verzogenes Kind, aber ganz in Ordnung. Auf die anderen hätte ich gut verzichten können.«

»Was ist los mit uns?«, fragte sie, nicht streitlustig, sondern als wollte sie es wirklich wissen.

»Verschiedenes. Ihr …«

Harrison Quinn öffnete die Tür und sagte: »Kommen Sie rüber und spielen Sie Pingpong mit uns, Nick.«

»Gleich.«

»Und bringen Sie die kleine Schönheit mit.« Er grinste Dorothy lüstern an und ging.

Sie sagte: »Jorgensen kennen Sie wohl nicht.«

»Ich kenne einen Nels Jorgensen.«

»Manche Leute haben einfach immer Glück. Der hier heißt Christian. Ein richtiges Herzchen. Typisch Mama – lässt sich von einem Spinner scheiden und heiratet einen Gigolo.« Ihre Augen wurden feucht. Sie holte schluchzend Atem und fragte: »Was soll ich bloß machen, Nick?« Ihre Stimme war die eines verängstigten Kindes.

Ich legte einen Arm um sie und gab Laute von mir, von denen ich mir eine tröstliche Wirkung erhoffte. Sie weinte an meinem Revers. Das Telefon beim Bett begann zu klingeln. Im Zimmer nebenan spielte das Radio »Rise and Shine«. Mein Glas war leer. Ich sagte: »Laufen Sie einfach fort.«

Sie schluchzte erneut. »Man kann nicht vor sich selbst fortlaufen.«

»Vielleicht verstehe ich nicht, wovon Sie gerade reden.«

»Bitte machen Sie sich nicht über mich lustig«, sagte sie kleinlaut.

Nora, die hereinkam, um ans Telefon zu gehen, sah mich fragend an. Über den Kopf des Mädchens hinweg schnitt ich ihr ein Gesicht. Als Nora »Hallo« in den Hörer sagte, löste sich Dorothy rasch von mir und errötete. »E-Entschuldigung«, stammelte sie, »ich wollte nicht …«

Nora lächelte sie mitfühlend an. Ich sagte: »Seien Sie kein Dummerchen.« Dorothy fand ihr Taschentuch und betupfte sich damit die Augen.

Nora sprach in den Hörer. »Ja … ich sehe mal nach, ob er da ist. Wer spricht da, bitte?« Sie legte eine Hand über die Sprechmuschel und wandte sich an mich. »Ein Mann namens Norman. Möchtest du mit ihm sprechen?«

Ich sagte, das wisse ich nicht, und griff nach dem Hörer. »Hallo.«

Eine ziemlich barsche Stimme sagte: »Mr. Charles? … Mr. Charles, wie ich höre, hatten Sie früher mit der Trans-American Detective Agency zu tun.«

»Wer spricht da?«, fragte ich.

»Mein Name ist Albert Norman, Mr. Charles, was Ihnen vermutlich nichts sagen wird, aber ich würde Ihnen gern einen Vorschlag unterbreiten. Ich bin mir sicher, Sie werden …«

»Was für einen Vorschlag?«

»Das kann ich am Telefon nicht sagen, Mr. Charles, aber ich versichere Ihnen, wenn Sie mir eine halbe Stunde Ihrer Zeit schenken …«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin ziemlich beschäftigt und …«

»Aber Mr. Charles, das ist …« Dann ertönte ein lautes Geräusch. Es hätte ein Schuss sein können, ein heruntergefallener Gegenstand oder sonst etwas, das ein lautes Geräusch hervorrufen würde. Ich sagte ein paar Mal »Hallo«, bekam keine Antwort und legte auf.

Nora hatte Dorothy vor einen Spiegel gesetzt und beruhigte sie mit Puder und Rouge. Ich sagte: »Ein Versicherungsvertreter«, und wir gingen auf einen Drink ins Wohnzimmer. Es waren noch ein paar Leute gekommen. Ich unterhielt mich mit ihnen. Harrison Quinn stand von dem Sofa auf, wo er mit Margot Innes gesessen hatte, und sagte: »Jetzt Pingpong.« Asta sprang an mir hoch und boxte mich mit ihren Vorderpfoten in den Bauch. Ich schaltete das Radio aus und mixte mir einen Cocktail. Der Mann, dessen Namen ich nicht mitbekommen hatte, sagte: »Sowie die Revolution kommt, werden wir alle an die Wand gestellt – gleich als Erstes.« Er schien das für eine gute Idee zu halten.

Quinn kam herüber, um sich nachzuschenken. Er blickte in Richtung Schlafzimmertür. »Wo haben Sie denn die kleine Blondine gefunden?«

»Hab sie früher auf dem Knie geschaukelt.«

»Auf welchem?«, fragte er. »Darf ich es mal anfassen?«

Nora und Dorothy kamen aus dem Schlafzimmer. Ich sah eine Nachmittagszeitung auf dem Radio liegen und nahm sie zur Hand. Die Schlagzeilen lauteten:

JULIA WOLF EHEMALIGE GANGSTERBRAUT

ARTHUR NUNHEIM IDENTIFIZIERT LEICHE

WYNANT NOCH IMMER VERSCHWUNDEN

Neben mir sagte Nora mit leiser Stimme: »Ich habe sie eingeladen, mit uns zu essen. Sei nett zu dem armen Kind« – Nora war sechsundzwanzig – »sie ist ganz durcheinander.«

»Wie du meinst.« Ich drehte mich um. Auf der anderen Seite des Raums lachte Dorothy über irgendetwas, was Quinn zu ihr sagte. »Aber wenn du dich in anderer Leute Probleme hineinziehen lässt, erwarte nicht von mir, dass ich puste, wenn du dir irgendwo wehtust.«

»Tu ich nicht. Du bist ein süßer alter Esel. Lies das da jetzt nicht.« Sie nahm mir die Zeitung aus der Hand und steckte sie hinter das Radio, wo sie nicht mehr zu sehen war.

5

Nora konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Sie las in Schaljapins Memoiren, bis ich einzudösen begann, und weckte mich dann mit der Frage: »Schläfst du?« Ich bejahte. Sie zündete mir und dann sich selbst eine Zigarette an. »Spielst du eigentlich nie mit dem Gedanken, dich ab und zu mal wieder, nur so zum Spaß, als Detektiv zu betätigen? Natürlich nur, wenn etwas Besonderes anliegt, wie zum Beispiel die Lindb…«

»Liebling«, sagte ich, »ich vermute, dass Wynant sie umgebracht hat, und die Polizei wird ihn auch ohne meine Hilfe fassen. Und überhaupt geht mich das Ganze nichts an.«

»Das habe ich zwar nicht gemeint, aber …«

»Und außerdem habe ich gar nicht die Zeit dazu. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass du nichts von dem Geld verlierst, dessentwegen ich dich geheiratet habe.« Ich gab ihr einen Kuss. »Vielleicht würde dir ja ein Drink beim Einschlafen helfen?«

»Nein, danke.«

»Aber vielleicht würde es helfen, wenn ich einen nähme.« Als ich mit meinem Scotch mit Soda ins Bett zurückkehrte, starrte sie stirnrunzelnd ins Leere. Ich sagte: »Sie ist ja ganz niedlich, aber vollkommen übergeschnappt. Sie wäre nicht seine Tochter, wenn sie es nicht wäre. Man weiß nie, wie viel sie von dem, was sie sagt, auch tatsächlich glaubt, und wie viel von dem, was sie glaubt, auch tatsächlich passiert ist. Ich mag sie, aber ich finde, du lässt dich …«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie mag«, sagte Nora nachdenklich, »wahrscheinlich ist sie ein kleines Rabenaas, aber wenn nur ein Viertel von dem, was sie uns erzählt hat, stimmt, dann sitzt sie wirklich in der Klemme.«

»Es gibt nichts, womit ich ihr helfen kann.«

»Sie glaubt das aber.«

»Und du auch, was nur beweist, dass du, ganz gleich, was du glaubst, immer jemanden findest, der deine Ansicht teilt.«

Nora seufzte. »Ich wünschte, du wärst so nüchtern, dass man sich mit dir unterhalten kann.« Sie lehnte sich herüber und nahm einen Schluck von meinem Drink. »Ich gebe dir jetzt dein Weihnachtsgeschenk, wenn du mir meins gibst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Beim Frühstück.«

»Aber jetzt ist Weihnachten.«

»Beim Frühstück.«

»Egal, was für Geschenke ich von dir bekomme«, sagte sie, »ich hoffe, ich mag sie nicht.«

»Behalten musst du sie trotzdem. Der Mann in der Zierfischhandlung hat nämlich gesagt, er nimmt sie auf keinen Fall zurück. Er hat gesagt, sie hätten schon die Schwanzflossen abgeknabbert von den …«

»Dir würde kein Zacken aus der Krone brechen, wenn du überlegst, ob du ihr vielleicht doch helfen kannst, oder? Sie setzt so viel Vertrauen in dich, Nicky.«

»Einem Griechen vertraut jeder.«

»Bitte!«

»Du willst bloß deine Nase in Dinge stecken, die …«

»Eigentlich wollte ich dich fragen: Wusste seine Frau, dass diese Wolf seine Geliebte war?«

»Keine Ahnung. Sie konnte sie jedenfalls nicht leiden.«

»Wie ist die Frau so?«

»Keine Ahnung – eine Frau eben.«

»Gut aussehend?«

»Sehr, jedenfalls damals.«

»Wie alt?«

»Vierzig, zweiundvierzig. Lass es sein, Nora. Du willst damit nichts zu tun haben. Sollen sich die Charles’ um die Probleme der Charles’ und die Wynants um die Probleme der Wynants kümmern.«

Sie schmollte. »Vielleicht würde ein Drink ja doch helfen.«

Ich stand auf und mixte ihr einen Drink. Als ich ihn ins Schlafzimmer brachte, klingelte das Telefon. Ich schaute auf meine Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag. Es war kurz vor fünf.

Nora sprach in den Hörer: »Hallo … Ja, am Apparat.« Sie schaute mich von der Seite an. Ich schüttelte den Kopf. »Ja … Aber natürlich … Ja, sicher.« Sie legte auf und grinste mich an.

»Gut gemacht«, sagte ich. »Was war denn?«

»Dorothy kommt herauf. Ich glaube, sie hat einen sitzen.«

»Großartig.« Ich griff nach meinem Bademantel. »Ich hatte schon Angst, ich müsste schlafen gehen.«

Auf der Suche nach ihren Pantoffeln beugte sie sich vor. »Sei nicht so ein alter Muffelkopf. Du kannst den ganzen Tag schlafen.« Sie fand ihre Pantoffeln, schlüpfte hinein und stand auf. »Hat sie wirklich so viel Angst vor ihrer Mutter, wie sie behauptet?«

»Wenn sie schlau ist, ja. Mimi ist das reinste Gift.«

Nora richtete ihre dunklen Augen auf mich und fragte bedächtig: »Was verschweigst du mir?«

»Auweia«, sagte ich, »ich hatte gehofft, ich müsste es dir nicht sagen. Dorothy ist in Wirklichkeit meine Tochter. Ich wusste einfach nicht, wie mir geschah, Nora. Es war Frühling in Venedig, ich war blutjung, und der Mond stand über der …«

»Mach dich nur lustig. Möchtest du was essen?«

»Wenn du auch was isst. Was möchtest du denn?«

»Ein Tatar-Sandwich mit jeder Menge Zwiebeln und Kaffee.«

Dorothy traf ein, während ich mit einem Feinkostladen telefonierte, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Als ich ins Wohnzimmer ging, stand sie mit einiger Mühe auf und sagte: »Es tut mir schrecklich leid, Nick, dass ich Sie und Nora ständig belästige, aber so kann ich heute Nacht nicht nach Hause gehen. Ich kann nicht. Ich habe Angst davor. Ich weiß nicht, was passieren würde, was ich tun würde. Bitte verlangen Sie das nicht von mir.« Sie war schwer betrunken. Asta beschnupperte ihre Füße.

Ich sagte: »Sch-sch-sch. Hier geschieht Ihnen nichts. Setzen Sie sich. Gleich gibt es Kaffee. Wo haben Sie sich denn so volllaufen lassen?«

Sie setzte sich und schüttelte mit dümmlicher Miene den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich war überall, seit ich von Ihnen weggegangen bin. Ich war überall außer zu Hause, weil so kann ich nicht nach Hause gehen. Schauen Sie mal, was ich habe.« Sie stand wieder auf und zog eine arg abgenutzte Pistole aus ihrer Jackentasche. »Schauen Sie mal.« Sie fuchtelte mir damit vor der Nase herum, während Asta mit begeistertem Schwanzwedeln danach schnappte.

Nora zog deutlich hörbar den Atem ein. Mein Nacken war kalt. Ich schob den Hund zur Seite und nahm Dorothy die Pistole ab. »Was soll denn der Unfug? Setzen Sie sich.« Ich ließ die Pistole in eine Tasche des Bademantels gleiten und schubste Dorothy in ihren Sessel zurück.

»Seien Sie nicht böse auf mich, Nick«, jammerte sie. »Sie können sie behalten. Ich möchte andere nicht belästigen.«

»Wo haben Sie die her?«, fragte ich.

»Aus einer Kneipe in der Tenth Avenue. Ich habe einem Mann mein Armband dafür gegeben – das mit den Smaragden und Diamanten.«

»Und dann haben Sie es beim Würfeln wieder zurückgewonnen«, sagte ich. »Sie tragen es nämlich noch.«

Sie starrte das Armband an. »Ich dachte, ich hätte es ihm gegeben.«

Ich sah Nora an und schüttelte den Kopf. Nora sagte: »Nun hör schon auf, sie zu piesacken, Nick. Sie ist …«

»Er piesackt mich nicht, Nora, wirklich nicht«, sagte Dorothy rasch. »Er … er ist der einzige Mensch auf der Welt, an den ich mich wenden kann.«

Mir fiel ein, dass Nora ihren Scotch mit Soda nicht angerührt hatte, also ging ich ins Schlafzimmer und trank ihn. Als ich zurückkam, saß Nora auf der Armlehne von Dorothys Sessel und hatte einen Arm um sie gelegt. Dorothy schniefte. Nora sagte: »Aber nein, Nick ist nicht böse, Liebes. Er mag Sie.« Sie blickte zu mir auf. »Du bist doch nicht böse, oder, Nicky?«

»Nein, bloß beleidigt.« Ich setzte mich aufs Sofa. »Wo haben Sie die Pistole her, Dorothy?«

»Von einem Mann – das habe ich Ihnen doch gesagt.«

»Von was für einem Mann?«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt – von einem Mann in einer Kneipe.«

»Und Sie haben ihm ein Armband dafür gegeben.«

»Jedenfalls habe ich das gedacht, aber – schauen Sie – ich habe mein Armband noch.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.«

Nora tätschelte ihr die Schulter. »Natürlich haben Sie Ihr Armband noch.«

»Wenn der Junge mit dem Kaffee und dem Essen kommt, werde ich ihn als Verstärkung anheuern. Ich bleibe doch nicht allein mit zwei …«

Nora bedachte mich mit einem strengen Blick und sagte zu Dorothy: »Hören Sie nicht auf ihn. Er ist schon die ganze Nacht so.«

Dorothy sagte: »Er hält mich für eine betrunkene dumme Gans.« Nora tätschelte ihr weiter die Schulter.

Ich fragte: »Aber wofür brauchten Sie denn eine Pistole?«

Dorothy richtete sich auf und starrte mich mit aufgerissenen, betrunkenen Augen an. »Seinetwegen«, flüsterte sie aufgeregt, »falls er mich belästigt. Ich hatte Angst, weil ich betrunken war. Das war es. Und dann hatte ich auch davor Angst, also bin ich hierhergekommen.«

»Sie meinen Ihren Vater?«, fragte Nora, um einen sachlichen Ton bemüht.

Dorothy schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist Clyde Wynant. Ich meine meinen Stiefvater.« Sie schmiegte sich an Noras Brust.

»Aha«, sagte Nora, als wäre ihr nun alles restlos klar. Dann sagte sie: »Sie armes Kind«, und sah mich vielsagend an.

Ich sagte: »Wir sollten alle noch etwas trinken.«

»Ich nicht.« Wieder bedachte mich Nora mit einem strengen Blick. »Und ich glaube nicht, dass Dorothy etwas möchte.«

»O doch, das tut sie. Das wird ihr beim Einschlafen helfen.« Ich schenkte ihr ein gewaltiges Quantum Scotch ein und sorgte dafür, dass sie es trank. Es wirkte wunderbar: Als unser Kaffee und die Sandwiches kamen, schlief sie tief und fest.

Nora sagte: »Jetzt bist du zufrieden.«

»Jetzt bin ich zufrieden. Sollen wir sie ins Bett stecken, bevor wir essen?«

Ich trug sie ins Schlafzimmer und half Nora, sie auszuziehen. Sie hatte einen wunderschönen kleinen Körper. Wir gingen zurück zu unserem Essen. Ich nahm die Pistole aus meiner Tasche und untersuchte sie. Sie hatte schon einiges mitgemacht. Sie enthielt zwei Patronen, eine im Patronenlager, eine im Magazin.

»Was wirst du damit machen?«, fragte Nora.

»Nichts, bis ich herausgefunden habe, ob es die ist, mit der Julia Wolf erschossen wurde. Es ist eine 32er.«

»Aber sie hat doch gesagt …«

»Sie hat sie in einer Kneipe bekommen – von einem Mann – für ein Armband. Ich hab’s gehört.«

Nora beugte sich über ihr Sandwich hinweg zu mir vor. Ihre Augen glänzten stark und waren fast schwarz. »Meinst du, sie hat sie von ihrem Stiefvater?«

»Allerdings«, sagte ich, aber ich sagte es in einem zu ernsten Ton.

»Du griechischer Lumpenhund. Vielleicht hat sie sie ja tatsächlich von ihm, wer weiß. Und du glaubst ihre Geschichte nicht.«

»Liebling, morgen kaufe ich dir einen Haufen Kriminalromane, aber zerbrich dir heute Nacht nicht dein hübsches Köpfchen über irgendwelche rätselhaften Morde. Sie hat lediglich versucht, dir zu sagen, dass sie Angst hatte, Jorgensen würde versuchen, sie rumzukriegen, wenn sie nach Hause käme, und dass sie Angst hatte, sie wäre betrunken genug, um sich rumkriegen zu lassen.«

»Aber ihre Mutter!«

»Diese Familie ist eine Familie. Du kannst …«

In einem Nachthemd, das ihr viel zu groß war, stand Dorothy Wynant unsicher in der Tür, blinzelte ins Licht und sagte: »Kann ich bitte eine Weile hereinkommen? Allein fürchte ich mich da drin.«

»Aber ja.« Sie kam herüber und rollte sich neben mir auf dem Sofa zusammen, während Nora eine Decke holen ging.

6

Früh am Nachmittag saßen wir zu dritt beim Frühstück, als die Jorgensens kamen. Nora ging ans Telefon und war, als sie auflegte, sichtlich bemüht, so zu tun, als wäre sie nicht geschmeichelt. »Es ist Ihre Mutter«, sagte sie zu Dorothy. »Sie ist unten. Ich habe ihr gesagt, sie soll heraufkommen.«

»Verdammt«, sagte Dorothy. »Hätte ich sie doch bloß nicht angerufen.«

Ich sagte: »Wir könnten genauso gut in der Eingangshalle wohnen.«

Nora sagte: »Er meint es nicht so.« Sie tätschelte Dorothys Schulter.

Es klingelte. Ich ging an die Tür. Acht Jahre hatten Mimis Aussehen nichts anhaben können. Sie war ein bisschen reifer, ein bisschen mehr zurechtgemacht, das war alles. Sie war größer als ihre Tochter und von lebhafterem Blond. Sie lachte und streckte mir die Hände entgegen. »Fröhliche Weihnachten. Wie nett, Sie wiederzusehen. Das ist mein Mann. Mr. Charles, Chris.«

Ich sagte: »Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Mimi«, und gab Jorgensen die Hand. Er war schätzungsweise fünf Jahre jünger als seine Frau, ein hochgewachsener, dünner Mann mit dunklem Teint und steifer Haltung, sorgfältig gekleidet und geleckt, mit glattem Haar und gewachstem Schnurrbart.

Er verbeugte sich aus der Hüfte heraus. »Guten Tag, Mr. Charles.« Er hatte einen starken teutonischen Akzent, seine Hand war schlank und kraftvoll. Wir gingen hinein.

Nachdem einige weitere Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, entschuldigte sich Mimi bei Nora dafür, dass sie und ihr Mann so bei uns hereinplatzten. »Aber ich wollte Ihren Mann unbedingt wiedersehen, und außerdem weiß ich, dass die junge Dame hier nur dann irgendwo pünktlich erscheint, wenn man sie gewaltsam hinschleppt.« Sie richtete ihr Lächeln auf Dorothy. »Du ziehst dich besser an, Schätzchen.«

Schätzchen murrte, den Mund voller Toast: Sie sehe nicht ein, warum sie schon wieder einen Nachmittag bei Tante Alice vergeuden müsse, auch wenn Weihnachten sei. »Ich wette, Gilbert geht nicht hin.«

Mimi sagte, Asta sei ein hübscher Hund, und fragte mich, ob ich eine Ahnung hätte, wo sich ihr Ex-Mann aufhalte.

»Nein.«

Sie spielte weiter mit dem Hund. »Es ist verrückt, absolut verrückt von ihm, ausgerechnet zu einem solchen Zeitpunkt zu verschwinden. Kein Wunder, dass die Polizei zunächst geglaubt hat, er hätte etwas damit zu tun.«

»Und was glaubt sie jetzt?«, fragte ich.

Sie blickte zu mir auf. »Haben Sie denn die Zeitung nicht gelesen?«

»Nein.«

»Es war ein Mann namens Morelli – ein Gangster. Er hat sie umgebracht. Er war ihr Liebhaber.«

»Hat man ihn gefasst?«

»Noch nicht, aber er war es. Wenn ich doch bloß Clyde finden könnte. Macaulay ist mir überhaupt keine Hilfe. Angeblich weiß er nicht, wo Clyde ist, aber das ist lächerlich. Er hat eine Vertretungsvollmacht von ihm, und ich weiß genau, dass er Kontakt zu ihm hat. Meinen Sie, Macaulay ist vertrauenswürdig?«

»Er ist Wynants Anwalt«, sagte ich. »Es gibt keinen Grund, warum Sie ihm vertrauen sollten.«

»Genau das dachte ich auch.« Sie rückte auf dem Sofa ein Stück zur Seite. »Setzen Sie sich. Ich habe tausend Fragen an Sie.«

»Wie wär’s zuerst mit einem Drink?«

»Alles außer Eierflip«, sagte sie. »Davon bekomme ich schlechte Laune.«

Als ich aus der kleinen Küche kam, probierten Nora und Jorgensen ihr Französisch aneinander aus, Dorothy tat noch immer so, als äße sie, und Mimi spielte wieder mit dem Hund. Ich verteilte die Drinks und setzte mich neben Mimi. Sie sagte: »Ihre Frau ist reizend.«

»Ich mag sie auch.«

»Sagen Sie mir die Wahrheit, Nick. Glauben Sie, Clyde ist wirklich verrückt? Ich meine, so verrückt, dass man etwas unternehmen muss.«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich mache mir Sorgen wegen der Kinder«, sagte sie. »Ich habe keinerlei Ansprüche mehr an ihn – das alles hat sich mit der Regelung erledigt, die er bei unserer Scheidung getroffen hat. Aber die Kinder haben noch welche. Inzwischen sind wir vollkommen mittellos, und ich mache mir ihretwegen Sorgen. Wenn er verrückt ist, besteht durchaus die Möglichkeit, dass er alles verschleudert und ihnen keinen Cent hinterlässt. Was raten Sie mir, was soll ich tun?«

»Darüber nachdenken, ihn in die Klapsmühle zu stecken?«

»Nein …«, sagte sie zögernd. »Aber ich würde gern mit ihm reden.« Sie legte mir eine Hand auf den Arm. »Sie könnten ihn finden.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie mir denn nicht helfen, Nick? Wir waren doch immer Freunde.« Ihre großen blauen Augen schauten sanft und flehend. Vom Tisch aus beobachtete Dorothy uns argwöhnisch.

»Herrgott, Mimi«, sagte ich, »in New York gibt es tausend Detektive. Engagieren Sie einen von ihnen. Ich mache das nicht mehr.«

»Ich weiß, aber – war Dorothy gestern Nacht sehr betrunken?«

»Vielleicht war ich es. Mir kam sie jedenfalls ganz normal vor.«

»Finden Sie nicht, sie ist ein hübsches kleines Ding geworden?«

»Das fand ich schon immer.«

Das bedachte sie einen Moment lang, dann sagte sie: »Sie ist noch ein Kind, Nick.«

»Was hat das womit zu tun?«, fragte ich.

Sie lächelte. »Wie wäre es, wenn du dich anziehen würdest, Dorry?«

Dorothy wiederholte mürrisch, sie sehe nicht ein, warum sie einen Nachmittag bei Tante Alice verschwenden müsse.

Jorgensen wandte sich an seine Frau. »Mrs. Charles war so liebenswürdig vorzuschlagen, dass wir …«

»Ja«, sagte Nora. »Warum bleiben Sie nicht noch ein wenig? Wir erwarten ein paar Leute. Es wird kein rauschendes Fest, aber …« Sie schwenkte leicht ihr Glas, um den Satz zu beenden.

»Schrecklich gern«, erwiderte Mimi zögernd, »aber ich fürchte, Alice …«

»Ruf sie an und entschuldige uns«, sagte Jorgensen.

»Ich mache das«, sagte Dorothy.

Mimi nickte. »Sei nett zu ihr.«

Dorothy ging ins Schlafzimmer. Alle wirkten sofort viel heiterer. Nora fing meinen Blick auf und zwinkerte mir fröhlich zu, und ich musste gute Miene dazu machen, weil Mimi mich in diesen Moment ansah.

Mimi fragte: »Sie wollen eigentlich gar nicht, dass wir bleiben, stimmt’s?«

»Aber natürlich.«

»Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach gelogen. Hatten Sie die arme Julia nicht ganz gern?«

»›Arme Julia‹ klingt großartig aus Ihrem Mund. Und gemocht habe ich sie tatsächlich.«

Wieder legte mir Mimi die Hand auf den Arm. »Sie hat meine Ehe mit Clyde kaputt gemacht. Natürlich habe ich sie gehasst – damals. Aber das ist lange her. Ich hatte keine feindseligen Gefühle mehr, als ich am Freitag zu ihr gegangen bin. Und ich habe sie sterben sehen, Nick. Das hat sie nicht verdient. Es war fürchterlich. Ganz gleich, was ich empfunden habe, jetzt habe ich nichts als Mitleid mit ihr. Ich habe ›arme Julia‹ gesagt, weil ich es so gemeint habe.«

»Ich weiß nicht, was Sie im Schilde führen«, sagte ich. »Sie alle.«

»Wir alle«, wiederholte sie. »War Dorry …«

Dorothy kam aus dem Schlafzimmer zurück. »Ist geregelt.« Sie küsste ihre Mutter auf den Mund und setzte sich neben sie.

Mimi schaute in den Spiegel ihrer Puderdose, um sich zu vergewissern, dass ihr Lippenstift nicht verschmiert war, und fragte: »Sie ist deswegen doch nicht böse, oder?«

»Nein, alles geregelt. Was muss man tun, um an einen Drink zu kommen?«

Ich sagte: »Man muss zu dem Tisch da gehen, wo Eis und Flaschen stehen, und sich einen eingießen.«

Mimi sagte: »Du trinkst zu viel.«

»Nicht so viel wie Nick.« Sie ging zum Tisch hinüber.

Mimi schüttelte den Kopf. »Diese Kinder! Ich meine, Sie hatten Julia Wolf doch ziemlich gern, nicht wahr?«

Dorothy rief: »Möchten Sie auch einen, Nick?«

»Gern«, sagte ich, dann, zu Mimi: »Ich mochte sie durchaus.«

»Man kriegt einfach keine eindeutige Antwort von Ihnen«, beschwerte sie sich. »Mochten Sie sie zum Beispiel so sehr, wie Sie mich mal gemocht haben?«

»Sprechen Sie von den paar Nachmittagen, an denen wir gemeinsam die Zeit totgeschlagen haben?«

Ihr Lachen war aufrichtig. »Das ist allerdings eine Antwort.« Sie wandte sich an Dorothy, die mit Gläsern auf uns zukam. »Du musst dir unbedingt ein Kleid in diesem Blauton besorgen, Liebes. Das steht dir ausgezeichnet.« Ich nahm Dorothy eines der Gläser aus der Hand und sagte, ich sollte mich mal lieber anziehen.

7

Als ich aus dem Badezimmer kam, waren Nora und Dorothy im Schlafzimmer, Nora kämmte sich die Haare, und Dorothy saß auf der Bettkante und ließ einen Strumpf baumeln. Nora hauchte mir im Spiegel der Frisierkommode einen Kuss zu.

»Sie mögen Nick sehr, nicht wahr, Nora?«, fragte Dorothy.

»Er ist ein alter griechischer Zausel, aber ich habe mich an ihn gewöhnt.«