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Der Eisbär ist eines der gefährlichsten Raubtiere der Welt und steht wie kaum ein anderes Tier für die unmittelbaren Folgen des menschengemachten Klima-Wandels. Es ist an der Zeit, uns diese Folgen bewusst zu machen – und dem Klima-Wandel nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Geschichte zu geben. Das ist Noras Geschichte … Als Nora 2015 im Columbus Zoo in Ohio zur Welt kommt, ist sie seit Jahrzehnten das erste Eisbär-Junge, das dort überhaupt mehr als ein paar Tage überlebt. In der Nachfolge des wohl berühmtesten Eisbär-Babys Knut wird auch sie zum internationalen Phänomen und Liebling des Zoos. Doch ihr Start ins Leben ist kein leichter: Von ihrer Mutter verlassen, kämpft das winzige, quietschende Jungtier verzweifelt ums Überleben, und den ihr anvertrauten Tierpflegern bleibt keine Wahl: Sie müssen Nora von Hand aufziehen, um den vom Aussterben bedrohten Eisbären zu retten. Ein Kampf ums Überleben beginnt, den Noras Artgenossen im schmelzenden Eis Alaskas schon längst auszutragen haben … Kale Williams erzählt anhand der herzzerreißenden und dabei doch stets hoffnungsvollen Geschichte eines verlassenen Eisbär-Jungen die Geschichte des Klima-Wandels noch einmal ganz neu. Denn: Die ungewisse Zukunft der Eisbären in der sich beschleunigenden Klima-Krise ist eng verbunden mit unserer eigenen. Ein hochemotionales Buch über die erschütternden Auswirkungen des Klima-Wandels auf das Tierreich – und ein Weckruf an den Menschen.
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Seitenzahl: 391
Kale Williams
Noras wahre Geschichte und die Gefahren einer sich erwärmenden Welt
Aus dem amerikanischen Englisch von Lina Robertz und Annika Klapper
Knaur eBooks
Durch den Klimawandel schwinden die Lebensräume der Eisbären Jahr um Jahr. Um sie vor dem Aussterben zu retten, kämpfen Zoos weltweit um ihr Überleben. Dabei kommt es immer wieder zu echten Dramen. So auch bei Nora, die 2015 im Columbus Zoo in Ohio zur Welt kommt und über Nacht zum internationalen Phänomen und Liebling des Zoos wird. Seit Jahrzehnten hat dort kein Junges länger als ein paar Tage überlebt. Doch ihr Start ins Leben wird kein leichter: Von ihrer Mutter verlassen, bleibt den Tierpflegern keine Wahl, als das Jungtier von Hand aufzuziehen. Ein Kampf ums Überleben beginnt – einer, den Noras Artgenossen im schmelzenden Eis Alaskas längst auszutragen haben. Ein erschütterndes, nachdenklich stimmendes Buch über die unmittelbaren Folgen des Klimawandels für Mensch und Tier.
Widmung
Karte
Verlassen
Eine verhängnisvolle Jagd
Die erste Fütterung
Der Bär
Schlechte Neuigkeiten
Als der Tod mit dem Hundeschlitten kam
Meilensteine
Abschied
Tasul
Anpassen
Ankommen
Im Meer versinken
Wieder allein
Das letzte Fellboot
Die nächste Hürde
Am Rande einer sich erwärmenden Welt
Zu Hause, zumindest erst mal
Gebrochen
Ein riskanter Eingriff
Noras Pflegerinnen
Bildteil
Danksagung
Anmerkungen
Für Kale Alonzo Williams jr. Du fehlst uns, Grandpa.
Kapitel 1
Sie wog kaum mehr als 500 Gramm und war ungefähr so groß wie ein Eichhörnchen. Ihre Augen und Ohren waren fest verschlossen. Nur ihr Geruchssinn verriet ihr etwas über die Welt um sie herum und lenkte sie untrüglich in die Richtung der Körperwärme ihrer Mutter, einer fast 300 Kilogramm schweren Eisbärin namens Aurora.
Die Höhle bestand aus weiß gestrichenem Schlackenbetonstein und wurde von einer einzigen, an der Decke hängenden Rotlichtbirne beleuchtet. Der Boden war dick mit Stroh ausgelegt. Die künstlich gekühlte Luft, die den Temperaturen der Arktis entsprechen sollte, war schwer von beißendem Moschusgeruch und wurde in regelmäßigen Abständen von den Schreien der kleinen Eisbärin Nora durchdrungen, einer zappelnden, weißen und rosafarbenen Kugel, die sich tief in die Pelzfalten ihrer Mutter schmiegte.
Das Junge schlief den Großteil der Zeit, und wenn es aufwachte, dann um zu saugen, was es gierig und häufig tat und was wiederum ein sanftes surrendes Geräusch verursachte, das wie ein winziger Außenbordmotor klang. Selbst im Schlaf nuckelte es und fuhr mit seiner eingerollten Zunge suchend durch die Luft.
Gegen neun Uhr morgens an Noras sechstem Tag stand Aurora auf, streckte sich und trottete aus der Höhle. Das Eisbärenjunge war noch ganz und gar auf seine Mutter angewiesen, ohne sie war es einsam und verletzlich. Als die Kälte sich um Nora herum ausbreitete, drehte sie den Kopf suchend von einer Seite auf die andere und verlangte kreischend nach etwas Vertrautem und Warmem. Als die Antwort auf ihr Schreien ausblieb, begann sie zu wimmern.
Außerhalb des Gebäudes, in dem sich die Höhle befand, verfolgten drei Frauen das Geschehen. Die Zootierärztin Priya Bapodra starrte auf das unscharfe rote Bild des Videos – eine Liveübertragung aus dem Inneren der Eisbärenhöhle – und sah auf dem Bildschirm einer verpixelten Nora dabei zu, wie sie sich hilflos hin und her wand. Die Tierpflegerin Devon Sabo machte sich Notizen. Kuratorin Carrie Pratt sah zu. Seit fünf Tagen arbeiteten die Frauen nun in Wechselschichten, sodass Nora vierundzwanzig Stunden am Tag unter Beobachtung stand. Sie verrenkten sich die Hälse, um auf dem Monitor etwas zu erkennen, und pressten sich die Kopfhörer auf die Ohren, um jedes Anzeichen, das darauf hinweisen könnte, dass Noras Zustand sich verschlechterte, sofort mitzubekommen.
Nora, die am 6. November 2015 zur Welt kam, war das erste Eisbärenjunge, das im 1927 eröffneten Columbus Zoo and Aquarium länger als ein paar Tage überlebte. Die Höhle, in der Nora ihre ersten Tage verbrachte, hatte nur wenig mit ihrem natürlichen Lebensraum in der Wildnis gemein, aber sie war das Beste, was die Menschen ihr am Stadtrand von Columbus bieten konnten. Noras Geburt in jener Betonhöhle war ein Symbol dafür, dass Mensch und Eisbär untrennbar miteinander verbunden waren – im Guten wie im Schlechten. Für die einen wurde Nora eine Art Botschafterin für eine Spezies, die nur wenige je in der freien Natur erleben würden, eine Vertreterin des wilden Nordens, den sie vielen Menschen näherbringen sollte. Für andere verkörperte sie die politische Debatte zu der Frage, ob der Mensch dem Planeten irreparablen Schaden zufügte, eine Frage, die schon lange vor Noras Geburt aufgekommen war. Sie und ihre Spezies waren zum traurigen Gesicht des Klimawandels geworden, ob es ihnen gefiel oder nicht. Sie symbolisierte die Zerstörung, die die Erde durch die Menschen erfuhr, und schenkte gleichzeitig die leise Hoffnung, dass es noch nicht zu spät sein könnte.
Aber für die Pflegerinnen in ihrem Trailer war sie weder eine Botschafterin noch ein Symbol. Nora war ein hilfloses Eisbärenjunges in Not.
Und so versuchten die Frauen, die Nerven zu behalten und ruhig zu bleiben, als Aurora sich um 8:55 Uhr Schritt für Schritt von Nora entfernte. Sie hatte ihr Junges auch zuvor schon allein gelassen, allerdings immer nur für kurze Zeit. In der freien Wildbahn verlässt die Eisbärenmutter niemals die Höhle, nicht einmal, um zu fressen. Die acht Jahre alte Aurora lief einen Gang hinunter, vorbei an der Nahrung, die ihre Pflegerinnen für sie bereitgestellt hatten, und auf das andere Ende des Gebäudes zu. Devon Sabo fügte dem Protokoll einen neuen Eintrag hinzu:
»Aurora steht auf und geht in den Pool-Raum.«
Kurz darauf klingelten überall im Zoo die Telefone. Per Textnachrichten-Thread wurde eine Warnmeldung an den Rest des Tierpflege-Teams geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass etwas nicht stimmte. Zehn Minuten verstrichen. Eigentlich haben Tiere angeborene Mutterinstinkte, aber Aurora wirkte unschlüssig.
Priya Bapodra behielt die Uhr genau im Blick. Zwanzig Minuten waren vergangen.
Je mehr Zeit verging, desto größer wurde die Anspannung im Trailer. Noras Schreie erinnerten die Pflegerinnen an die Schreie ihrer eigenen Kinder, bloß lauter und eindringlicher. Solange ihre Stimme kräftig klang, konnten sie warten.
Die meisten Eisbärenjungen, die in Gefangenschaft geboren werden, leben höchstens einen Monat. Nur ungefähr ein Drittel erreicht das Erwachsenenalter. Wenn die Jungtiere von Hand aufgezogen werden müssen, stehen die Chancen sogar noch schlechter. Eisbärenjunge können ihre Körpertemperatur nicht selbst regulieren. Ohne die Fürsorge ihrer Mutter entwickeln sie Krankheiten und Infektionen. Oft leiden sie an Mangelernährung und Knochenbeschwerden, weil es unmöglich ist, die Muttermilch von Eisbären künstlich herzustellen. Die Pflegerinnen wussten um diese Gefahren, als sie lange vor Noras Geburt den Geburtsplan erstellten. Das dreiundzwanzig Seiten lange Dokument befand sich in einem Hefter im selben Gebäude wie die Höhle. Alle Teammitglieder hatten außerdem eine Kopie auf ihrem Smartphone. Der Plan berücksichtigte jede erdenkliche Situation, bis hin zu der Entscheidung, das Eisbärenjunge von der Mutter zu trennen. »Sobald Jungtier und Weibchen einmal getrennt wurden, ist es unmöglich, sie wieder zusammenzubringen, selbst wenn Situation und Zustand der Bären sich stabilisiert haben. Die Mutter würde das Junge nicht mehr akzeptieren«, hieß es im Plan.
Die Frauen im Trailer wussten, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn sie eingriffen, um Nora zu helfen. Ab diesem Moment wären sie für die Aufzucht des Eisbärenjungen verantwortlich. Zusammengenommen hatten die Frauen jahrelange Erfahrung in der Handaufzucht von Raubkatzen, Affen und anderen Zootieren. Aber keine von ihnen hatte je einen Eisbären großgezogen. Es gab nur eine Handvoll Menschen auf der Welt, die sich dieser Herausforderung überhaupt gestellt hatten.
Nachdem eine Stunde vergangen war, musste etwas geschehen. Devon Sabo betrat das Gebäude, mit etwas mehr Stroh unter dem Arm, um die umherstreifende Eisbärenmutter damit wieder zu ihrem Neugeborenen zu locken. Die Pflegerin ging einen schmalen Gang entlang und ließ das Stroh leise neben der Höhle fallen, in der Nora noch immer kläglich vor sich hin schrie.
Aurora reagierte nicht.
Eine weitere Stunde verging, bevor die Pflegerin das Eisbärenhaus erneut betrat. Dieses Mal brachte sie Fisch mit. Über den Thread schilderte Devon das Geschehen. Bald tauchten weitere Pfleger auf, um zuzusehen. In ihren Köpfen schwirrten die Fragen. Was könnte Aurora dazu bewegt haben, die Höhle zu verlassen? Wie konnten sie die Eisbärin dazu bringen, zurück zu ihrem Jungen zu gehen? Wie lange sollten sie noch warten?
Als drei Stunden vergangen waren, setzten die Pflegerinnen Aurora eine Frist: Eine Stunde würden sie noch warten. Falls es Nora schlechter gehen sollte, würden sie schon früher eingreifen. Keine von ihnen wollte die kleine Eisbärin in die Verantwortung der Menschen übergeben. Denn mit der Entscheidung, sie aus der Höhle zu holen, würden ihre Überlebenschancen augenblicklich stark sinken. Aber sie wollten auch nicht einfach dabei zusehen, wie Nora starb. Auf sich allein gestellt, waren die Chancen der kleinen Eisbärin gleich null. Die Pflegerinnen nahmen sich einen Plastikbehälter und legten ihn mit warmen Wasserflaschen und Decken aus. Ohne die Wärme ihrer Mutter würde Nora frieren.
Um 12:43 Uhr, fast vier Stunden nachdem Aurora die Höhle verlassen hatte, wurden Noras Schreie allmählich schwächer, und sie wirkte erschöpft. Es war der 12. November und Priyas Geburtstag. Eigentlich hatte die Tierärztin vorgehabt, den Abend mit ihrem Mann zu verbringen. Nun rief sie ihn an und sagte ihm, dass sie ihre Pläne verschieben müssten.
Es war so weit.
Knapp 500000 Jahre vor Noras Geburt erlebte die Erde eine entscheidende Warmphase.
Damals war es so warm, dass ein Teil des Antarktischen Eisschildes einbrach und der Meeresspiegel dramatisch anstieg, an manchen Stellen sogar über 18 Meter höher als heute. Auch die Meeresoberflächentemperatur stieg, und im milden, seichten Wasser der Ozeane gediehen fortan Korallen. Der Grönländische Eisschild nahm ab, und borealer Nadelwald breitete sich an der Küste der normalerweise vereisten Insel aus. Eine Gruppe Braunbären wanderte nach Norden, ließ sich in diesen Wäldern und ähnlichen Regionen in der Arktis nieder und besiedelte damit nördliche Breitengrade, die dem Braunbären bislang unerreichbar gewesen waren.
Und dann, vor rund 400000 Jahren, veränderte sich das Klima erneut. Die Temperaturen fielen, neue Gletscher entstanden, und die Braunbären im Norden wurden von ihren Artgenossen im Süden getrennt. Der Stammbaum zweigte sich, und eine neue Spezies entstand: der Eisbär.
So lautet zumindest eine der Theorien. Andere sind der Meinung, die Divergenz des Eisbären vom Braunbären (umgangssprachlich auch als Grizzly bekannt) habe bereits vor vier bis fünf Millionen Jahren stattgefunden. Wieder andere sind davon überzeugt, dass die Spezies wesentlich jünger und erst in den letzten 200000 bis 300000 Jahren entstanden ist. Der hohe Verwandtschaftsgrad von Eis- und Braunbären sorgt dafür, dass die beiden Spezies miteinander gekreuzt werden können. Im Laufe der Evolution kam eine Kreuzung häufig vor, besonders, wenn warmes Klima die beiden Arten zusammenbrachte. (In aktuellen Dokumentationen zu solchen gekreuzten Bären wurde der Begriff »Pizzly« für eine Eisbären-Grizzly-Kreuzung mit beigefarbenem Pelz eingeführt.)
Aufgrund dieser Kreuzung, die eine Verbindung der DNA beider Spezies mit sich bringt, und der Tatsache, dass es nur wenige alte Eisbärenfossilien gibt, aus denen Rückschlüsse gezogen werden könnten, ist es schwierig, den genauen Zeitpunkt der Divergenz zu bestimmen. Aber wie lange sie nun schon existieren mögen, in jedem Fall müssen die Eisbären dazu in der Lage gewesen sein, sich schnell anzupassen, um in den rauen Bedingungen der Arktis zu überleben.
Im Laufe der Generationen wichen die Wälder verschneiten Tundren, und die Braunbären mit hellerem Pelz waren dort besser getarnt als ihre dunklen Artgenossen. Sie hatten mehr Erfolg bei der Jagd und dadurch auch bei der Fortpflanzung. So gaben sie ihren genetischen Code an ihren Nachwuchs weiter, bis die gesamte Spezies weiß war. Die Eisbären entwickelten ein zweilagiges Fell: eine äußere Schicht aus transparentem, hohlem Deckhaar, das eine vortreffliche Isolation bietet, und eine dichte innere Schicht aus kürzeren Haaren. Die Ohren schrumpften, um möglichst wenig Wärme abzugeben. Die Tatzen dagegen wurden größer, damit sie auf Schnee und Eis sicheren Halt fanden, und zwischen den Zehen bildete sich Schwimmhaut, sodass die Bären sich im Wasser besser fortbewegen konnten. Als Schutz der Organe vor der eisigen Kälte bildete sich eine dicke Fettschicht unterhalb der Haut.
Auch ihre Ernährungsgewohnheiten änderten sich. Während Braunbären hauptsächlich Gras, Früchte, Insekten und gelegentlich Fisch fressen, stellte der Eisbär seinen Speiseplan mit der Zeit ausschließlich auf Meerestiere mit hohem Fettanteil um. Eisbären sind opportunistische Jäger und fressen, was immer sie fangen können, Walrosse und kleinere Wale eingeschlossen. Doch Robben sind seit jeher ihre Hauptnahrungsquelle. Das fetthaltige Robbenfleisch ist die einzige Nahrung, die genügend Kalorien enthält und in den arktischen Gewässern in ausreichender Menge verfügbar ist, um ein Tier zu ernähren, das bis zu 800 Kilogramm wiegen kann, wovon rund die Hälfte Fettgewebe sein kann. Und so investierten die Eisbären ihre gesamte Intelligenz, Geduld und Stärke in die Jagd ihrer Hauptbeute. Sie entwickelten einen derart ausgeprägten Geruchssinn, dass sie Robben durch meterdicke Eisschichten hindurch riechen können. Sie lernten, die Luftlöcher der Robben ausfindig zu machen und zu warten, manchmal mehrere Tage lang. Und sie lernten, ihren langen Hals ins Wasser zu tauchen, wenn die Robbe schließlich auftauchte, sie aus dem Wasser zu ziehen und ihren Schädel zu zertrümmern.
Für den Menschen hätte eine so fettreiche Ernährung verheerende Folgen, aber Eisbären gedeihen prächtig mit einem derart hohen Cholesterinspiegel. Mit der Farbe ihres Fells und der Größe ihrer Tatzen veränderten sich auch die Gene des Eisbären. So kann ihr Körper heute große Mengen an Fett verarbeiten, ohne dass die Arterien verstopfen, indem das Cholesterin aus dem Blut transportiert und zu Isolationszwecken gespeichert wird. Doch um an das nötige Fett zu gelangen, sind Eisbären auf Robben angewiesen. Und deshalb auch auf Eis.
Nach der Abspaltung von ihren braunen Artgenossen breiteten sich die Eisbären weiter in der Arktis aus, von den vereisten Ufern der Inseln des kanadisch-arktischen Archipels bis hin zu den nördlichen Ausläufern Russlands und der zugefrorenen Küste Alaskas. Da die Eisdecke in diesen Gegenden abnimmt, bieten sich den Eisbären weniger Möglichkeiten, an ihre Hauptnahrungsquelle zu gelangen. Und die Ernährung spielt wiederum eine wesentliche Rolle bei der Fortpflanzung. Eisbärenjunge werden normalerweise im Dezember oder Januar geboren, und ihre Mütter verbringen die darauffolgenden Monate mit ihrem Nachwuchs in der Geburtshöhle, wo sie die Jungtiere aufziehen, bis diese bereit sind, sich der Außenwelt zu stellen. Eisbärinnen werden erst mit fortgeschrittenem Alter geschlechtsreif, bekommen nur wenig Nachwuchs und müssen viel Zeit und Energie aufwenden, um ihre Jungen großzuziehen. Wenn die Weibchen sich vor der Geburt nicht ausreichend Fett angefressen haben, verlieren sie an Gewicht und bringen weniger und schwächere Jungtiere zur Welt. Kränkliche Junge haben geringere Überlebenschancen. Deshalb verschwinden mit dem Eis auch die Eisbären.
Da frei lebende Eisbären einer großen Bedrohung ausgesetzt sind, liegt den Zoos das Überleben der Artgenossen in Gefangenschaft besonders am Herzen. Nora war eines von insgesamt nur zwei Eisbärenjungen, die 2015 in den Vereinigten Staaten geboren worden waren und überlebt hatten. Ihr Zwillingsbruder war nach nicht einmal zwei Tagen mit einem leeren Magen gestorben. Die Pflegerinnen vermuteten, dass er nie die Milch seiner Mutter gekostet hatte.
Jedes Eisbärenjunge – ob es nun in der Wildnis oder im Zoo geboren wird – trägt einen Teil der Bürde, die der gefährdeten Spezies auferlegt wurde. Diese Bürde lastete schwer auf Noras Schultern und denen ihrer Pflegerinnen, die herauszufinden versuchten, was sie mit dem verlassenen Jungtier anstellen sollten.
Devon Sabo betrat das Eisbärenhaus als Erste. In rotes Licht getaucht, lag Nora ganz allein in der Höhle. Ihre Mutter Aurora hatte die Höhle verlassen und war auf dem Weg in einen anderen Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes. Die Pflegerinnen, die sich in einem Trailer neben dem Gebäude befanden, verfolgten Auroras Schritte über ein Live-Video und erkannten ihre Chance.
Mit einem Teller voll Stint, einem von Auroras Lieblingssnacks, begab Devon sich auf die andere Seite des Gebäudes, so weit wie möglich von der Höhle entfernt. Mit einer Greifzange nahm sie einen der Fische und rief nach Aurora. Sie lenkte die Eisbärin ab, sodass sie nicht mitbekam, wie hinter ihr eine Tür geschlossen wurde.
Als Nächstes folgte die Kuratorin Carrie Pratt. Sie bewegte sich langsam auf die Tür zu, um sie mit einem Vorhängeschloss zu sichern. Mit einem Klicken schnappte es zu und trennte jede Verbindung zwischen Nora und ihrer Mutter.
Kapitel 2
Fast achtundzwanzig Jahre vor Noras Geburt und 5817 Kilometer nordöstlich des Columbus Zoo and Aquarium verließ Gene Rex Agnaboogok sein Haus am Rande des Inupiat-Dorfes, das zu dem Ort Wales gehört, der westlichsten Gemeinde des nordamerikanischen Kontinents.
Er packte nur das Nötigste ein: warme Kleidung, ein Gewehr, Zigaretten und Kaffee sowie Benzin und Nahrung für den Fall, dass er festsitzen sollte. Obwohl es bereits Ende März war, lagen die Temperaturen noch immer unter null, und das Meereis erstreckte sich weit bis in die Beringstraße hinaus. Gene wusste, dass er sich selbst würde helfen müssen, wenn er allein loszog und ihm draußen auf dem Eis etwas zustieß.
Er ließ den Motor seines Schneemobils aufheulen und fuhr am Ufer entlang, vorbei an den Überresten der traditionellen Grassodenhäuser und den neueren Gebäuden aus Holz und Stahl, vorbei an dem großen Kreuz, das aus den schneebedeckten Dünen herausragte, unter denen Hunderte seiner Vorfahren begraben lagen. Gene hielt sich in Richtung Nordost und erreichte bald darauf die unberührte Wildnis. Zu seiner Rechten lag eine große Lagune, starr und zugefroren. Auf der linken Seite, in der Mitte der Beringstraße, erhoben sich die Diomedes-Inseln, zwischen denen sowohl die Internationale Datumsgrenze als auch die Landesgrenze zwischen den Vereinigten Staaten und Russland verläuft. Die Sicht war klar an diesem Tag, und hinter den Inseln konnte Gene die Sibirische Küste ausmachen.
Nach drei Stunden Jagd hatte Gene noch immer keine Beute. Das Klischee des kalten, kahlen und kargen Nordens schien sich zu bestätigen. Er war nur einem in der Ferne vorbeihuschenden Fuchs begegnet, der nicht nur zu weit entfernt, sondern auch zu mager war, als dass sich ein Schuss gelohnt hätte. Doch dann, wenige Minuten vor 11 Uhr, entdeckte er riesige Pfotenabdrücke, die nur von einem einzigen Tier stammen konnten. Ein ausgewachsener Eisbär konnte mehrere Familien einige Wochen lang ernähren. Gene folgte den Spuren von der Küste hinaus auf die Beringstraße.
Nicht weit vom Ufer entfernt türmten sich Wellen aus Eis von mindestens einem Meter Höhe auf – eine raue, unbewegliche und in der Zeit festgefrorene See. Der Wind peitschte um das Kap, wirbelte den Schnee über das Eis und schichtete ihn zu dünenartigen Gebilden auf. Genes Schneemobil schoss in großen Sätzen über die Schneehügel, bis die zugefrorene See sich plötzlich Hunderte von Kilometern weit vor ihm erstreckte. Auf der vom Wind glatt gefegten Eisfläche verlor er die Spuren des Bären aus den Augen. Er drosselte den Motor. Er war jetzt beinahe zwei Kilometer weit vom Ufer entfernt und musste mit Bedacht vorgehen.
Gene befand sich am Rande des sogenannten Festeises – Eisplatten, die am Festland verankert sind – am Fuße eines Presseisrückens. Dort, wo der Pazifik und der Arktische Ozean in der Beringstraße aufeinandertreffen, entstehen Strömungen, die die Eisschollen bewegen und einem kleinen Gebirge gleich parallel zur Küste zusammenpressen. Hinter dem Presseisrücken lagen abgebrochene Eisstücke und der offene Ozean. Gene entschied sich für den höchsten der Eisberge und kletterte hinauf, um eine bessere Sicht zu haben. Er zog eine Marlboro Light aus seiner Hemdtasche, nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Thermoskanne und suchte die Landschaft mit dem Fernglas nach potenzieller Beute ab.
Doch die einzigen Bewegungen, die er ausmachen konnte, waren die Wellen auf dem offenen Wasser und das Schneetreiben.
In den frühen 1970er-Jahren trafen sich alle Länder, auf deren Gebieten Eisbären beheimatet waren – die Vereinigten Staaten, Kanada, Dänemark (da Grönland ein autonomer Bestandteil des dänischen Königreiches ist), Norwegen und die Sowjetunion –, mit der Weltnaturschutzunion (IUCN), um die weltweite Eisbärenpopulation zu schätzen. Die amerikanischen Wissenschaftler stützten sich unter anderem auf Beobachtungen der indigenen Völker Alaskas und schätzten den globalen Bestand auf ungefähr 18000 Eisbären. Die kanadischen Fachleute kamen auf beinahe 20000 Bären, während die sowjetischen Forscher befürchteten, in den nördlichen Breiten des Planeten gäbe es nur noch knapp 5000 Exemplare.
Trotz der Uneinigkeit darüber, welche der Schätzungen denn nun korrekt war (falls überhaupt eine), stimmten die arktischen Staaten darin überein, dass die Bären im Verhältnis zu ihrer Zahl zu intensiv gejagt wurden und dass Maßnahmen zur Erhaltung der Spezies ergriffen werden mussten. 1973 hielten sie diese Übereinstimmung im Abkommen zum Artenschutz für Eisbären fest. Das Abkommen schränkte die Bedingungen für die Jagd deutlich ein und verbot außerdem den Handel mit Eisbärenfell, -knochen und -schädeln. Die Staaten, die das Abkommen unterzeichneten, versprachen, die weitere Erforschung der Eisbären voranzutreiben, indem sie entsprechende Mittel zur Verfügung stellen würden. Das mitten im Kalten Krieg verabschiedete Abkommen war damals eine der wenigen Übereinkünfte, zu der die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten kamen. Kanada führte eine Fangquote ein und verbot die Jagd auf Eisbären von Luftfahrzeugen und Schiffen aus. Norwegen verhängte für die vorübergehende Laufzeit des Abkommens von fünf Jahren ein Jagdverbot. Mit Ausnahme für Angehörige der indigenen Bevölkerung wie Gene, die für den Eigenbedarf jagen, verboten die Vereinigten Staaten die Eisbärenjagd vollständig.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als das Abkommen geschlossen wurde, begann Ian Stirling, der sich im Laufe seiner Karriere einen Namen auf dem Gebiet der Eisbärenforschung machen sollte, mit seiner Arbeit. Er war in einer kleinen Bergbaustadt in den westkanadischen Bergen aufgewachsen und hatte seinen Master in Zoologie an der University of British Columbia gemacht. Stirling hatte sich schon immer am liebsten in der Natur aufgehalten. Eine seiner ersten Polarforschungsreisen unternahm er in den späten 1960er-Jahren im Rahmen seiner Doktorarbeit zur Populationsdynamik der Antarktischen Weddellrobben. In den frühen 70er-Jahren führte ihn seine Arbeit dann in den hohen Norden, in die Stadt Churchill, die an der Westküste der Hudson Bay liegt und zur kanadischen Provinz Manitoba gehört. Ein Großteil des heutigen Wissens über Eisbären wurde in jener abgelegenen Gegend im Norden Kanadas zusammengetragen. Die Hudson Bay ist die Heimat einer der südlichsten Eisbärenpopulationen, und Forscher haben sich die Tatsache, dass die Bären dort in erreichbarer Nähe sind, zunutze gemacht. Nach Stirlings erster Reise nach Churchill blieb die Stadt fünf Jahrzehnte lang der Ausgangsort für seine Forschungen.
Die Eisbärenforschung ist weder eine einfache noch eine bequeme Angelegenheit. Die erste Herausforderung besteht darin, die Tiere überhaupt zu finden. Eisbären sind Einzelgänger, und ihre weitläufigen Territorien haben keine festen Grenzen. Einen Großteil ihres Lebens verbringen sie auf dem Meereis, das manchmal vom Land losgelöst auf der See treibt. Diese Gebiete können nur von Helikoptern aus erkundet werden, und eine weitere Schwierigkeit besteht darin, in der weißen Landschaft ein weißes Tier ausfindig zu machen.
Zu Beginn der Eisbärenforschung ging es hauptsächlich darum, die exakte Größe der Eisbärenpopulation zu ermitteln und herauszufinden, ob der Bestand bestimmter Subpopulationen – in den nördlichen Breiten des Planeten gibt es neunzehn unterschiedliche Subpopulationen – zunahm, abnahm oder konstant blieb. Diese Zählungen erfolgten mithilfe von einfachen Markierungsstudien, die über mehrere Jahre hinweg durchgeführt werden.
Im ersten Jahr der sogenannten Rückfangmethode machen sich die Forscher, mit Gewehren und Betäubungspfeilen bewaffnet, im Helikopter auf die Suche nach den Tieren. Wenn sie einen Bären entdecken, betäuben sie ihn mit einem der Pfeile und warten, bis er bewusstlos ist, um zu landen und Länge und Umfang des Bären zu messen. Häufig ermitteln sie auch das Gewicht des Tieres mithilfe einer Waage auf einem mobilen Fahrstativ, nehmen eine Biopsie oder eine Fell- beziehungsweise Stuhlprobe.
Eine kleine Kunststoffmarke, die kaum größer als der Daumennagel eines Menschen und mit einer individuellen Identifikationsnummer versehen ist, wird am Ohr des Bären – manchmal auch an beiden Ohren – befestigt. Heute sind die Ohrmarken mit GPS-Sendern und anderen hoch entwickelten Überwachungsmechanismen ausgestattet, aber als Stirling mit seinen Erhebungen begann, gab es nur die Nummern. Die Eisbärenforscher benutzen außerdem ein spezielles Gerät, mit dem sie die Identifikationsnummer auf die Innenseite der Lippe des Bären tätowieren, für den Fall, dass die Ohrmarken verloren gehen. Dann setzen sie die Suche vom Helikopter aus fort und versehen während der Markierungsphase des ersten Jahres der Studie so viele Bären, wie sie finden können.
Dann warten sie ab.
Das zweite Jahr der Rückfangmethode verläuft ähnlich wie das erste. Die Forscher fliegen dasselbe Fanggebiet ab, markieren so viele Bären wie möglich und protokollieren, wie viele von den gesichteten Tieren bereits im Jahr zuvor mit Ohrmarken versehen wurden. Aus dem Verhältnis zwischen im Vorjahr markierten und neu markierten Bären lässt sich die Gesamtgröße der Population schätzen.
Wenn im ersten Jahr hundert Bären markiert werden und im zweiten Jahr die gleiche Anzahl erfasst wird, von der zehn Prozent bereits Ohrmarken tragen, kann man davon ausgehen, dass im ersten Jahr zehn Prozent der gesamten Population markiert wurden. Wenn wiederum hundert Bären zehn Prozent der Gesamtpopulation darstellen, lässt sich der Bestand demnach auf tausend Exemplare schätzen.
Doch die Rückfangmethode weist ein paar Schwachstellen auf. Sie setzt voraus, dass für jedes Tier aus dem jeweiligen Gebiet jedes Jahr die gleiche Wahrscheinlichkeit besteht, erfasst zu werden, und lässt außer Acht, dass einige Eisbären das Gebiet etwa verlassen oder dass neue hinzukommen. Außerdem ziehen Eisbären eines bestimmten Alters oder Geschlechts bestimmte Lebensräume vor. So halten sich männliche Bären möglicherweise häufiger auf dem offenen Meereis auf, während Weibchen mit Nachwuchs Gegenden mit besserer Deckung bevorzugen. Das könnte dazu führen, dass männliche Bären in der geschätzten Gesamtpopulation übermäßig stark vertreten sind. Andere Gebiete sind schlichtweg zu abgelegen, als dass eine Schätzung durchgeführt werden könnte.
Kennt man die Unzulänglichkeiten der Rückfangmethode, ist es nicht weiter verwunderlich, dass Unstimmigkeit über die Größe vieler Eisbärensubpopulationen herrscht. Sicher ist jedoch, dass sich nur die wenigsten dieser Subpopulationen vergrößern, wenn auch einige unter ihnen stabile Zahlen aufweisen. Der Bestand von mindestens drei Subpopulationen nahm in den letzten Jahren ab. In der Südlichen Beaufortsee, vor der Nordküste Alaskas und Kanadas, verzeichneten Forscher einen Rückgang des Eisbärenbestands um 40 Prozent in weniger als einem Jahrzehnt. An der westlichen Küste der kanadischen Hudson Bay, dem Ausgangspunkt von Stirlings Forschungen, war der Bestand seit den späten 1980er-Jahren um mindestens 32 Prozent geschrumpft, bevor er sich wieder stabilisierte. Im Süden der Hudson Bay sind die Bären weniger gut genährt und sterben früher. Die Größe der Eisbärenpopulation in der gesamten Arktis bleibt weiterhin reine Spekulation. Vermutlich liegt die Zahl irgendwo bei 26000 Exemplaren.
Lange bevor Gene Agnaboogok 1988 bei der Jagd auf jenen Eisberg kletterte, waren auch seine Inupiat-Vorfahren und andere Indigene im hohen Norden auf die Jagd gegangen. Fossilien eines Wollhaarmammuts, die in Sibirien entdeckt worden waren, weisen etwa Verletzungen auf, die nur von menschlichen Waffen stammen konnten, vermutlich von den ersten Bewohnern Alaskas. Die Dorset-Kultur entstand ungefähr um 500 v.Chr. im heutigen kanadischen Teil der Arktis. Der Name geht auf die Insel Cape Dorset zurück, auf der die ersten Überreste der Dorset-Kultur entdeckt worden waren. Die Menschen jagten mit dreikantigen Klingen aus Stein und beinahe ausschließlich auf dem Meereis. Dort lauerten sie Robben an ihren Atemlöchern auf und erlegten Wale und Walrosse mit Harpunen. Sie stellten Lampen aus Speckstein her und speisten sie mit Robbentran. Mit meißelartigen Werkzeugen, die Stichel genannt werden, fertigten sie aufwendige Schnitzereien und Masken an. Bis heute besteht keine Gewissheit darüber, wie genau es zum Untergang der Dorset-Kultur kam, doch dieser fiel zwischen den Jahren 1000 und 1500 mit einer Veränderung des Klimas zusammen. Anthropologen vermuten, dass sich dadurch auch die Migrationsrouten der Tiere und das Meereis – die Lebensgrundlage der Dorset-Menschen –, veränderten.
Der Untergang der Dorset-Kultur führte zum Aufstieg der Thule-Kultur, die sich im 1. Jahrhundert zuerst in Alaska entwickelte, sich in Richtung Osten ausbreitete und bis in die Hudson Bay vordrang. Experten glauben, dass die Jäger der Thule-Kultur Harpunenspitzen und Messer aus geschliffenem Schiefer benutzten, anstelle von behauenem Stein wie bei den Dorset-Menschen, und mit Kajaks aus Robbenhaut auf dem offenen Meer jagten.
Die Angehörigen der Thule-Kultur gelten als Vorfahren der kanadischen Inuit und der Inupiat aus Alaska.
Gene Agnaboogoks früheste Vorfahren gehörten zu den Inupiat und lebten im Jahr 1000 an der Nord- und Westküste Alaskas. Ihre Kultur war eine Kultur des Miteinanders und Teilens und beruhte auf dem Handel zwischen den Dörfern. Damals hieß Genes Heimatort, der von den Europäern später Wales genannt wurde, noch Kingigin, wie der Berg, der sich hinter dem Dorf erhebt. Die Dorfbewohner – zu Bestzeiten zwischen 600 und 700 Menschen – nannten sich Kingikmiut, was so viel wie »das Volk von Kingigin« bedeutet. Wie ihre Vorfahren jagten sie Robben, Walrosse, Grönlandwale und Eisbären. Mit der Zeit lernten die Dorfältesten aus Orten wie Wales, welche Strömungen die Eisberge von dem an der Küste verankerten Festeis trennten. Sie lernten das Wanderverhalten der Tiere zu deuten und konnten voraussagen, wann sich welche Arten in erreichbarer Nähe befanden und sich die Jagd lohnte. Sie lernten, die wenigen essbaren Pflanzen, die das karge Land und das unbarmherzige Meer hergaben, zu nutzen. Jede Generation vergrößerte dieses Wissen über Tausende von Jahren hinweg und gab es an die darauffolgende Generation weiter. Auf diese Art und Weise lernte Gene das Jagen. Und so kam es, dass er auf der Spitze jenes Eisberges vergeblich Ausschau nach Beute hielt, die er mit nach Hause bringen könnte.
Er schnippte den Zigarettenstummel in den Schnee und machte sich an den Abstieg. Dieses Mal wählte er einen anderen Weg. Auf der Hälfte des Abhangs, mit dem Kaffee in der Hand, hörte er das Eis unter sich bersten. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, schwerelos zu sein. Dann fiel er. Er brach bis zur Hüfte in einen der zahlreichen Hohlräume unter dem Eis ein. Als Gene versuchte, festen Boden unter den Füßen zu finden, stellte er fest, dass sich unter ihm etwas bewegte.
Er war durch die Decke einer Höhle gekracht und stand auf einem Eisbären.
Kapitel 3
Priya Bapodra starrte auf das kreischende, weiße Eisbärenjunge und dann auf das Thermometer.
Auf dem Display stand einfach nur NIEDRIG.
Genau wie die Tierärztin es befürchtet hatte. Nach mehr als vier Stunden ohne die Wärme ihrer Mutter war Noras Körpertemperatur so niedrig, dass das Thermometer sie gar nicht erst registrierte. Das Eisbärenjunge drehte und wand sich unter ihren Händen und protestierte lautstark gegen den Übergriff, die fremden Gerüche und das ungewohnte Gefühl von Menschenhänden. Kurz zuvor hatte Priya die Höhle betreten, Nora in einen mit warmen Decken gepolsterten Plastikbehälter gesteckt und sie auf schnellstem Wege auf die Intensivstation des veterinärmedizinischen Zentrums des Zoos gebracht. Die zornige und desorientierte Nora war so klein, dass sie bequem in eine Handfläche passte. Priya wusste, dass sie Nora verlieren würde, wenn es ihr nicht gelang, die kleine Eisbärin zu stabilisieren und zu wärmen.
Sie wählte eine Nadel mit einem Kanülen-Außendurchmesser von 0,7 Millimetern, die zweitkleinste, die sie hatte, und suchte an Noras Bein nach der Oberschenkelvene, um ihr Blut abzunehmen. Sie wusste, dass sie diese Vene auf Anhieb treffen konnte, selbst bei einem so kleinen Wesen wie Nora, das noch dazu ohne Unterlass zappelte.
»Halt durch, meine Kleine«, sagte Priya beruhigend, als die Nadel durch Noras Haut stach. Die Tierärztin sprach immer mit ihren Patienten, aber diesmal war sie selbst es, die beruhigt werden musste. Von ungefähr siebzig Eisbären, die 2015 in staatlich anerkannten Zoos und Wildtierschutzgebieten in Nordamerika lebten, waren nur vier von Geburt an erfolgreich von Menschenhand aufgezogen worden.
Die Pflegerinnen, die unter dem Namen »Noras Moms« bekannt wurden, hatten einen dreiundzwanzig Seiten langen Plan mit Schritt-für-Schritt-Anleitung für den Fall, dass sie das Eisbärenjunge von der Mutter trennen müssten. Sie besaßen ein Handbuch mit dem Titel Hand-Rearing of Wild and Domestic Mammals (Handaufzucht von Wild- und Haussäugetieren). Ihnen stand ein Brutkasten in der Größe eines breiten Kühlschranks zur Verfügung. Priya stellte die Temperatur des Kleintierfachs auf 31 Grad ein und legte es mit sauberen Babydecken aus.
Sie waren so gut vorbereitet wie möglich und gleichzeitig nicht bereit für das, was auf sie zukam.
Ein paar Gebäude weiter, in der zooeigenen Abteilung für Ernährung, einem niedrigen, beigefarbenen Lagerhaus, in dem ein kleines Team daran arbeitete, die siebentausend Tiere des Columbus Zoo zu ernähren, klingelte das Telefon. Dana Hatcher, die die Abteilung leitete, nahm folgende, scheinbar simple Anfrage entgegen:
»Kannst du in die Tierklinik kommen? Wir müssen über Eisbärenkost sprechen.«
In einem großen Konferenzraum warteten Noras Moms, Kuratoren und Zooverwalter auf Dana, die ihnen das Rezept, an dem sie sich orientieren wollte, erläuterte.
»Also, wenn ihr das Junge von der Mutter trennt …«
Jemand unterbrach sie. »Dana, wir haben sie schon getrennt.«
Nora musste in der nächsten Stunde Nahrung aufnehmen.
Zu Hause kochte Dana wie eine Wissenschaftlerin mit Excel-Tabellen und nach exakten Maßangaben. Sie hatte schon für Lemuren, Flamingos und ihren siebenjährigen Sohn gekocht, aber noch nie für einen Eisbären. Sie fühlte sich wie in einem dieser hektischen Kochwettbewerbe im Fernsehen, in denen es auf Schnelligkeit ankam, nur, dass sie mehr zu verlieren hatte.
Dana wusste, dass Eisbären zu den Tieren gehören, deren Nahrung sich nur schwer rekonstruieren lässt. In freier Wildbahn leben sie fast ausschließlich von Ringelrobben, deren fettreiches Fleisch die Muttermilch von Eisbären außergewöhnlich reichhaltig macht. Im Zoo gab es nichts, was Robbenfett entsprach. Dana hatte von früheren Versuchen gehört, bei denen die Nahrung der Eisbärenjungen mit besonders fetter Sahne angereichert worden war, leider ohne Erfolg, denn die meisten Jungtiere hatten die Nahrung verweigert und die, die sie doch zu sich genommen hatten, mussten später aufgrund von Nährstoffmangel medizinisch behandelt werden. Glücklicherweise hatte ein Tierarzt des San Francisco Zoo nur wenige Jahre zuvor die Muttermilch von wilden Eisbärinnen erforscht. Um an die Milch zu gelangen, mussten die Forscher die Mutterbären vom Helikopter aus betäuben und sie von Hand auf dem Eis der gefrorenen Fjorde von Spitzbergen melken, nördlich des norwegischen Festlands. Dank dieser Forschungen kannte Dana die chemische Zusammensetzung von Eisbärenmilch, sodass sie einschätzen konnte, welche Nährstoffe Nora brauchte.
Schon bevor Nora geboren wurde, hatte Dana ein Rezept für Eisbärenmilch entwickelt, das sie aber noch nie ausprobiert hatte. Sie begann mit einer Dose Trockenersatzmilch für Katzenbabys und siebte das Pulver, damit es keine Klumpen bildete. Die Rezeptur war fettarm, sodass Dana nach eigenem Ermessen Kalorien hinzufügen konnte.
Da Eisbären weder Kuh- noch Ziegenmilch verdauen können, vermutete Dana, dass Noras Magen Schwierigkeiten mit dem Zucker aus der Ersatzmilch haben würde. Nach ein paar Versuchen hatte sie herausgefunden, dass die Laktose sich spalten ließ, indem sie das Wasser auf eine bestimmte Temperatur erhitzte. Außerdem wusste Dana, dass Eisbären eine große Menge Taurin benötigen, um Vitamine aufnehmen zu können, deshalb zerstieß sie Taurin-Tabletten mit Mörser und Stößel und fügte sie der Mischung hinzu. Doch das größte und entscheidende Puzzleteil fehlte noch immer. Zum Wachsen brauchte Nora Fett, und zwar viel davon. Aber welche Art von Fett?
Kuhmilch und menschliche Muttermilch enthalten ungefähr 3,5 Prozent Fett. Die Milch von Eisbären ist mehr als achtmal so reichhaltig und hat einen Fettanteil von mehr als 30 Prozent. Der Geburtsplan sah Heringsöl vor, das allerdings nur in Kanada erhältlich war. Das Öl zu importieren wäre kompliziert, und sie hatten keine Zeit zu verlieren. Nora brauchte dringend Milch. Dana ging in Gedanken ihre Möglichkeiten durch und entschied sich für Distelöl.
Sie goss die Zutaten in einen industriellen Mixer und drückte auf den Knopf für die niedrigste Stufe. Zunächst vermengten sich Öl und Sahnemischung, doch dann trennten sich die beiden Flüssigkeiten wie alter Joghurt. Dana stellte den Mixer auf eine höhere Stufe, doch das Gemisch wurde zu dick zum Trinken. Auch nach mehreren Versuchen war es Dana nicht gelungen, die richtige Konsistenz zu finden. Der große Mixer war zu stark. Sie wünschte, sie hätte ihr eigenes, kleineres Gerät zur Hand, mit dem sie zu Hause Salsa-Soße zubereitete. Es hatte die perfekte Größe und außerdem eine »Pulse«-Funktion.
Sie schickte einen Mitarbeiter zu einem kurzen Abstecher ins nahe gelegene Kaufhaus Target.
Der kleine Mixer machte den entscheidenden Unterschied. Dana erhitzte das Wasser und schüttete das vorgesiebte Milchpulver hinein. Nachdem sie beides zu einer gleichmäßigen Flüssigkeit vermischt hatte, fügte sie das Öl hinzu. Sie drückte auf den Knopf für die »Pulse«-Funktion. Dann noch einmal. Und noch einmal.
Noras Nahrung war fertig.
Cindy Cupps übernahm Noras erste Fütterung.
Cindy war die Mutter von Devon Sabo, der Tierpflegerin, die vom Trailer aus zugesehen hatte, wie Aurora die Höhle verließ – und eine echte Zooveteranin. Ihre Gegenwart beruhigte die jüngeren Pflegerinnen. In stressigen Situationen behielt Cindy die Nerven, und sie strahlte Ruhe aus, wenn die anderen nervös wurden. Bevor sie sich auf den Weg zur Intensivstation des Zoos machte, fing sie den Blick der Pflegerin Shannon Morarity ein.
Shannon war dafür bekannt, nah am Wasser gebaut zu haben. Und auch jetzt standen ihr die Tränen in den Augen. Cindy blickte der jüngeren Pflegerin fest in die Augen und ballte die Hände zu Fäusten.
»Wir schaffen das«, sagte Cindy. Shannon erwiderte ihren Blick und holte tief Luft.
»Okay.«
Als Cindy die Intensivstation betrat und die Klappe des Brutkastens öffnete, stellte sie erstaunt fest, dass Noras Köpfchen kaum größer war als ein Golfball. Sie nahm die kleine Eisbärin, deren Rücken und Beine mit weißem Flaum bedeckt waren, heraus. Die Laute, die Nora von sich gab, schwankten zwischen einem hohen Winseln und einem winzigen Brüllen. Auf der Suche nach etwas zum Saugen fuhr Nora mit der Zunge durch die Luft. Nachdem sie seit fünf Stunden keine Nahrung zu sich genommen hatte, war die kleine Eisbärin ausgehungert. Unwillkürlich musste Cindy an die Bedrohung denken, die das Schmelzen des arktischen Meereises und der globale Anstieg der Temperaturen für Nora und ihre Spezies bedeuteten. Trotz aller Erfahrung, die die Tierpflegerin im Laufe ihres Berufslebens gesammelt hatte, während sie sich um Hunderte von Tieren kümmerte, ging ihr dieser überwältigende Augenblick unter die Haut.
Cindy breitete ein Handtuch über ihren Oberschenkel und schob eine Hand unter Noras weichen Bauch. Sie hielt das Eisbärenjunge aufrecht, damit es sich nicht an der Milch verschluckte, in die Dana so viel Arbeit gesteckt hatte. Die Pflegerin hielt Nora den Sauger der Flasche entgegen, und die kleine Eisbärin begann sofort zu trinken. Sie saugte so gierig, dass sich ein kleiner Milchbart um ihre Schnauze bildete. Mit sanfter Stimme redete Cindy ihr gut zu und gab Nora einen Spitznamen, der haften bleiben würde.
»Braves Mädchen, Bean.«
Am nächsten Tag postete die Presseabteilung des Zoos einen Sechsundsiebzig-Sekunden-Mitschnitt von einer der ersten Fütterungen der kleinen Eisbärin. Noras Augen waren noch immer fest verschlossen, und in Cindys Händen wirkte sie winzig klein, als sie auf dem behandschuhten Daumen der Pflegerin herumkaute. In dem Video konnte man sehen, wie Cindy Nora behutsam mit einem Finger streichelte. Unter normalen Umständen wäre Aurora monatelang mit Nora in der Höhle geblieben, hätte sie gesäugt und auf das Leben außerhalb der Höhle vorbereitet. Als Nora der Welt präsentiert wurde, war sie gerade mal sechs Tage alt. Die Leute, die das Video wieder und wieder ansahen, wurden Zeugen von etwas, das nur wenige außerhalb der Kinderstube der Zoos je zu Gesicht bekommen. Nora wurde über Nacht zu einer internationalen Berühmtheit.
Sie so früh der Öffentlichkeit zu präsentieren, barg allerdings ein gewisses Risiko. Noras Überlebenschancen waren weiterhin gering, und falls sie sterben sollte, kämen Fragen auf. Ihr Fanclub, der mit jeder Stunde wuchs, würde wissen wollen, was passiert war. Kritische Stimmen würden sagen, der Zoo habe sich das in Gefahr schwebende Eisbärenjunge und seine unwiderstehliche Niedlichkeit zunutze gemacht, um daraus Profit zu schlagen.
Für Zoos sind Babytiere wahre Verkaufsschlager, und kleine Eisbären sind nicht nur besonders selten, sondern auch besonders niedlich. Mitte der 1990er-Jahre kamen im Zoo von Denver zwei kleine Eisbären zur Welt, die von Hand großgezogen wurden, weil ihre Mutter sich nicht um sie kümmerte. Genau wie Nora standen Klondike und Snow schon früh im Rampenlicht. Der Zoo bot Führungen an, bei denen die Besucher die Eisbärenjungen aus nächster Nähe betrachten konnten. Eine Fluggesellschaft bildete die Bären sogar auf dem Heck einer ihrer Maschinen ab. Der Zoo produzierte einen eigenen Film, der »Saving Klondike and Snow« hieß und in den lokalen Supermärkten als Videokassette neben Ofenhandschuhen, Mützen und Weihnachtsschmuck mit dem Konterfei der kleinen Eisbären verkauft wurde.
Zunächst ließ der Zoo nur 3000 Exemplare des Films anfertigen, da man nicht sicher war, wie gut sich die kleinen Eisbären vermarkten lassen würden. Zwei Jahre später waren mehr als 90000 Exemplare des ersten Films sowie weitere 25000 Videokassetten einer neuen Folge mit dem Titel »Klondike and Snow Growing up« verkauft worden. Die Bären brachten damals über 300000US-Dollar an Lizenzgebühren für Merchandise-Artikel mit ihren niedlichen Gesichtern ein. »Die Ziele des Zoos sind der Artenschutz und die Wissensvermittlung«, sagte die Marketingleiterin des Zoos, Angela Baier, in einem Interview mit der New York Times. »Mein Ziel besteht darin, die Leute durch die Eingangstore zu bekommen und ihnen etwas über die Tiere beizubringen.« Und Klondike und Snow trugen maßgeblich dazu bei, dass die Menschen in den Zoo strömten. Im Vergleich zum Vorjahr erreichte der Zoo im Geburtsjahr der kleinen Eisbären beinahe doppelt so hohe Besucherzahlen und verkaufte dreimal so viele Familienmitgliedschaften. Die gleiche Chance bot Nora dem Zoo in Columbus.
Tausende Menschen auf der ganzen Welt sahen sich das Video von Noras erster Fütterung an. Viele schrieben in den Kommentaren, sie würden gerne mit Cindy Cupps tauschen. Sie stellten sich vor, wie es wäre, etwas so Seltenes zu halten, zu erleben, wie Nora gierig an der Flasche saugte, und ihr Schmatzen zu hören, das bedeutete, dass sie nun eine Chance hatte. Wie im Internet üblich, gab es auch kritische Stimmen, die etwa Cindys Fütterungstechnik anzweifelten. Doch alle waren sich einig, dass Nora schlichtweg hinreißend war. Mit jeder Fütterung gewann die kleine Eisbärin stetig an Gewicht. Danas fieberhaftes Experimentieren in der Zooküche schien, zumindest für den Moment, Früchte zu tragen.
Kapitel 4
Gene Agnaboogoks Beine fanden in dem Meer aus weißem Fell unter ihm keinen Halt. Er hatte das Gefühl, auf einem Wasserbett zu laufen. Das Adrenalin strömte durch sein Nervensystem. Er befand sich fast zwei Kilometer vom Ufer entfernt auf der zugefrorenen Beringstraße und steckte bis zur Hüfte in einer eingestürzten Eisbärenhöhle. Niemand außer dem wütenden Eisbären unter ihm würde ihn hören, wenn er schrie. Er sparte sich den Atem.
Gene gelang es, den Kolben seines Gewehrs in den Schnee zu stoßen. Mit klopfendem Herzen strampelte er und wand sich, um freizukommen. Als die Bärin unter ihm sich regte, warf er sich mit aller Kraft so weit wie möglich hinaus auf das Eis und hoffte inständig, dass die Bärin in der Höhle bleiben würde. Doch hinter ihm setzte sie bereits zum Sprung an.
Eine beinahe acht Zentimeter lange Kralle bohrte sich durch seine Schneehose und in sein rechtes Bein, genau über dem Knie. Die Schnauze der Eisbärin stieß von hinten gegen seine Wade, und ihr Unterkiefer traf seine Ferse. Hätte sie ihren Kopf zur Seite gedreht und zugebissen, wäre er vermutlich draußen auf dem Eis gestorben. Stattdessen wurde Gene durch den Angriff der Bärin den Hang des Eisbergs hinuntergeschleudert. Er rappelte sich gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie die Eisbärin oberhalb von ihm aus der Höhle kam und die Öffnung im Schnee langsam umkreiste.
Sie stellte sich auf die Hinterpfoten und überragte Gene nun um mehrere Köpfe. Gene riss sein Gewehr hoch und legte an. Im vollen Sprint können Eisbären bis zu neun Meter pro Sekunde zurücklegen. Gene und die Eisbärin trennten gerade mal fünf Meter voneinander. Er holte einmal tief Luft und drückte ab.
Die Kugel riss auf Brusthöhe ein Loch in das dichte Fell des Tieres. Die Eisbärin fiel in sich zusammen und rutschte den Eisberg hinunter in Richtung der Höhle. Mit letzter Kraft zog sie sich so nah wie möglich an das Loch im Eis heran. Dabei hinterließ sie eine Blutspur auf dem eisigen Hang.
Erschöpft und nach Atem ringend, nährte sich Gene dem Tier vorsichtig. Er war sich nicht sicher, ob es noch lebte. Teil seiner Jagdausbildung war es gewesen, ein Tier niemals unnötig leiden zu lassen. Die meisten Inupiat-Jäger verzichten daher eher auf gewagte Schüsse aus der Ferne, statt in Kauf zu nehmen, dass ihre Beute verwundet flieht und Stunden oder sogar Tage später einen langsamen und schmerzhaften Tod stirbt. Gene gab einen zweiten Schuss ab, direkt unterhalb des Schädels, um sicherzugehen, dass die Bärin tot war. Er hatte weder Zeit, ihr zu danken, noch ihrem Geist Opfergaben zu bringen, wie es die Tradition der Inupiat vorsieht, denn über ihren Körper hinweg sah er eine Bewegung im Höhleneingang. Er wich erschrocken zurück, beugte sich dann aber vor, um in der Dunkelheit der Höhle etwas zu erkennen. Zwei Paar kleine schwarze Augen inmitten von weißem Flaum starrten zurück.
Babyeisbären, mutterseelenallein auf dem Eis.
In diesem Moment bemerkte Gene, dass seine Hose nass und warm war. Er dachte zunächst an verschütteten Kaffee, doch als er mit seiner Hand unter die Skihose fuhr und sie wieder hervorzog, war sie rot von Blut aus der Wunde in seinem Bein. Er befand sich ganz allein und noch dazu verwundet mehr als 30 Kilometer von zu Hause entfernt und beinahe zwei Kilometer weit auf dem Meereis. Die Eisbärenjungen würden warten müssen.
Ein paar Monate nachdem Gene den Eisbären erschossen hatte, trat Dr. James Hansen, Direktor des NASA Goddard Institute for Space Studies (NASA Goddard Institut für Weltraumforschung), in einem Verhandlungssaal auf dem Capitol Hill vor den amerikanischen Senatsausschuss.
Es war ein drückend heißer Junitag, nicht nur in Washington, D.C., sondern auch in vielen anderen Teilen der Vereinigten Staaten. Das Land hatte mit einer historischen Dürreperiode zu kämpfen. Nur wenige Gegenden litten nicht unter dem ausbleibenden Niederschlag. Seit in den 1930er-Jahren die Great Plains Amerikas durch Sandstürme in eine sogenannte »Dust Bowl« (Staubschüssel) verwandelt wurden, hatte es im Wassereinzugsgebiet des oberen Mississippi nicht so wenig geregnet. Der Wasserstand des Flusses war derart niedrig, dass die Schifffahrt auf der wichtigsten Wasserstraße des Landes stark eingeschränkt war und die Kosten für Bewässerung und Trinkwasser in die Höhe schnellten. Weniger Wasser bedeutete auch weniger Strom aus Wasserkraft, genau zu der Zeit, in der Hausbesitzer und Unternehmen die Klimaanlagen aufdrehten, um die drückende Hitze zu ertragen. Viele Energieversorger mussten von Wasserkraft auf fossile Brennstoffe umsteigen, um eine Stromversorgung gewährleisten zu können.
Die Maisernte 1988 wurde beinahe um die Hälfte und der Ertrag an Sojabohnen um 25 Prozent reduziert. Auch bei der Getreideernte kam es zu erheblichen Einbußen. Im Westen des Landes verschlangen rund 70000 Wildfeuer ungefähr 22 Millionen Hektar Wald. Tourismus, Einzelhandel und Landwirtschaft mussten große finanzielle Verluste hinnehmen. Der monatelange Regenmangel kostete die Vereinigten Staaten mehr als 51 Milliarden US-Dollar. Doch die Folgen der Dürreperiode gingen über den Verlust von Land und Einnahmen hinaus. Psychische Probleme nahmen zu, da die Landwirte um ihre Ernte bangen mussten und viele Stadtbewohner nicht wussten, wie sie die Rechnungen für ihre Klimaanlagen begleichen sollten. Auch die Anzahl an Asthmaerkrankungen stieg. Ein Großteil der Bundesstaaten war auf die staatliche Katastrophenhilfe angewiesen.
Vor diesem Hintergrund betrat Hansen den Verhandlungssaal, nahm seinen Platz ein und warnte die Gesetzgeber davor, dass die derzeitige Hitze voraussichtlich schon bald zur Normalität werden würde. Er erklärte ihnen, was die Wissenschaft unter dem Treibhauseffekt versteht, dass sich Kohlenstoffdioxid in so hoher Konzentration in der Atmosphäre gesammelt habe, dass es wie eine Decke für den Planeten wirke, dass sich das Klima so drastisch verändere, dass die Menschen schon bald keinen Einfluss mehr darauf haben würden und dass sie selbst die Ursache dafür seien.
Er fasste seine Rede in drei Hauptargumenten zusammen.
»Erstens: 1988 ist das wärmste Jahr seit Beginn der modernen Aufzeichnungen«, verkündete er dem Ausschuss und den zahlreichen Kameras, die seine Aussage zu den Millionen von Zuschauern im ganzen Land übertrugen.