Der erste Frühling danach - Sarah Hardy - E-Book

Der erste Frühling danach E-Book

Sarah Hardy

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Beschreibung

Selbst in den dunkelsten Zeiten kann Hoffnung wachsen.

England 1946: In dem Küstendorf Oakbourne sind die Männer aus dem Krieg zurückgekehrt. Ihre Körper heilen zwar, aber die seelischen Wunden sitzen tief. Und auch die daheimgebliebenen Frauen sind gezeichnet. Eine von ihnen ist Alice Rayne. Ihr sanftmütiger Ehemann Stephen, Erbe des verfallenden Herrenhauses Oakbourne Hall, ist als Fremder heimgekehrt; verbittert durch das, was er gesehen und getan hat. Als der Winter in den ersten Friedensfrühling übergeht und Alice den verwunschenen Garten des Anwesens zu neuem Leben erweckt, beginnt sie, um ihre Ehe zu kämpfen.

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Seitenzahl: 541

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Das Buch:

Suffolk, 1946: In dem Küstendorf Oakbourne sind die Männer aus dem Krieg zurückgekehrt. Ihre Körper heilen zwar, aber die seelischen Wunden sitzen tief. Und auch die daheimgebliebenen Frauen sind gezeichnet. Eine von ihnen ist Alice Rayne. Ihr sanftmütiger Ehemann Stephen, Erbe des Herrenhauses Oakbourne Hall, ist als Fremder heimgekehrt, verbittert durch das, was er gesehen und getan hat. Als der Winter in den ersten Friedensfrühling übergeht und Alice den verwunschenen Garten des Anwesens zu neuem Leben erweckt, beginnt sie, um ihre Ehe zu kämpfen.

Die Autorin:

Sarah Hardy ist seit über zehn Jahren an der Küste von Suffolk zu Hause, wo auch ihr Debütroman spielt. Davor lebte sie in London, Dublin und auf den Hebriden. Als Journalistin hat sie für Vogue, The Daily Telegraph und andere nationale Zeitschriften und Zeitungen gearbeitet.

SARAH HARDY

Der erste Frühling danach

Roman

Die Originalausgabe THEWALLEDGARDEN erschien erstmals 2023 bei Manilla Press, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Motto ist ein Textauszug aus: James Joyce, Ulysses, S. 37 und S. 44, übersetzt von Georg Goyert, Penguin Random House, München 2014.

Deutsche Erstausgabe 03/2024

Copyright © 2023 by Sarah Hardy

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design

unter Verwendung von Shutterstock.com (Jasen Wright)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31352-4V002

www.heyne.de

Geheimnisse, still, steinig, sitzen in den dunkeln Palästen unserer beiden Herzen: Geheimnisse, müde ihrer Tyrannei … Die Geschichte … ist ein Alp, aus dem ich erwachen will.

UlyssesJames Joyce

PROLOG

Manche Geheimnisse sind einfach zu schrecklich, um sie zu offenbaren. Und im Jahr 1946 ist Großbritannien ein Land, in dem die meisten Menschen schweigen. Was ihr im Krieg erlebt habt, was ihr gebilligt habt, wovor ihr euch noch immer fürchtet, bleibt ungesagt. Während dieser bitteren Jahre des Konflikts und der Trennung habt ihr euch mit Rührseligkeit optimistisch gestimmt und »We’ll meet again« gesungen. Wir werden uns wiedersehen. Und wir haben uns wiedergesehen, denkt Alice Rayne, und gemerkt, dass wir uns nichts zu sagen haben.

Der Wind, der von der Nordsee herüberweht, schlägt ihr ins Gesicht. Sie streicht sich das Haar aus den Augen und blickt zurück über das Moor. Purpurrote Bögen durchschneiden den sich verdunkelnden Himmel, schillernd und leuchtend. Dann sinkt die Sonne unter den flachen Horizont.

Sie dreht sich um und nähert sich den Wellen, die in der nasskalten Dämmerung glitzern. Gerade an jenem Nachmittag ist die Armee damit fertig geworden, die Minen zu räumen, die rostigen Stacheldrahtrollen wegzuschaffen und die Warnschilder mit der Aufschrift GEFAHR abzubauen. Niemand wird hier noch irgendetwas bemerken, denkt sie. Niemand wird mehr daran denken. Es ist so lange her, dass sie die Nähe des Meeres gespürt, das Salz auf ihren Lippen geschmeckt hat. Bevor sie selbst anfangen kann zu zweifeln, zieht sie ihren alten Tweedmantel, ihr Wollkleid und alles andere aus und rennt nackt auf die eiskalten grauen Fluten zu.

Der Schock entlockt ihr einen Schrei und beinahe verliert sie den Mut. Nach Luft schnappend, zwingt sie sich bis zur Hüfte hinein und lässt sich dann mit geschlossenen Augen nach vorne fallen und unter Wasser sinken.

Sie ist die Kälte gewohnt. Doch als die Temperatur ihres Körpers sinkt, stellt er das Kämpfen ein. Der Schmerz lässt nach, die Atemzüge werden ruhiger. Das Einzige, was sie tun muss, ist, mit den Wellen zu verschmelzen, Eis in Eis. Sie ist nicht länger gefroren, sondern unbezwingbar. Sie kann ewig dort drinbleiben. Sie kann weiterschwimmen, immer weiter. Weg von allem.

Die Wolken brechen auf und ein fahles Mondlicht breitet sich vor ihr aus. Es ist, als legte sich die schimmernde Schleppe eines Hochzeitskleides über das Meer. Und in ihrem Kopf blitzt das Gespenst einer Braut ohne Bräutigam auf.

1

Lieber Gott, mach, dass mich niemand sieht, dachte Alice, als sie mit tauben Beinen über die Kiesel stapfte. Sie schnappte sich ihre Kleidung, versuchte sich damit halbwegs abzutrocknen und stolperte dann zu dem eingedeichten Weg hinüber, der zu der Abkürzung durch das Moor und über die Felder mit den Winterrüben führte.

In den Hecken klammerten sich die ersten Blüten an die kahlen, stacheligen Zweige. Obwohl sie sich verzweifelt nach Wärme sehnte, war sie versucht, kurz zu verweilen. Alles, bloß nicht nach Hause gehen.

Aber sie war schon seit mehr als drei Stunden fort. Sie konnte es nicht länger hinauszögern, also bog sie in den Weg zurück nach Oakbourne Hall ein. »Ich mache nur einen kurzen Spaziergang«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, als sie aufgebrochen war. »Kommst du mit?« Er antwortete nicht. Das hatte sie auch nicht erwartet.

Sie verlangsamte ihren Schritt und schaute auf. Sie konnte die Gänse hören, bevor sie sie sah. Dann füllten Hunderte und Aberhunderte von stahlgrauen Vögeln den Himmel, zogen in V-Formation Richtung Norden – das deutlichste Zeichen dafür, dass der Winter vorbei war. Für einen kurzen Augenblick hob sich ihre Stimmung: Es würde nach sieben Jahren der erste Frühling in Friedenszeiten sein.

Die ganze Woche über hatte sie schon zauberhafte Hinweise wahrgenommen: goldene Winterlinge rund um die verlassenen Nissenhütten, Narzissen, die durch das ungemähte Gras stießen, ein Zaunkönig, der sein Nest in dem Efeu rund um ihr Schlafzimmerfenster gebaut hatte. Sie verfügte über ein riesiges Schlafzimmer, rief sie sich mahnend in Erinnerung, während Millionen anderer Menschen nichts hatten. Bei der Zeitungslektüre kam es ihr so vor, als sei die gesamte Landmasse Europas noch immer in Bewegung, Kilometer um Kilometer erschöpfter Männer und Frauen, die ihre Sprösslinge im Arm trugen, Kinderwagen und voll beladene Karren vor sich herschoben, auf der Flucht vor Schrecken, die man sich nicht ausmalen konnte.

Sie jedoch genoss das Privileg, in einem Gebäude zu wohnen, das in der Gegend als das Big House bekannt war. Es spielte keine Rolle, dass das Kriegsministerium es für ein Bataillon kanadischer Soldaten beschlagnahmt hatte und das Gebäude stark mitgenommen war. »Manche Leute haben einfach immer Glück«, hatte sie die Frau des Metzgers in der Kirche sagen hören, als Stephen, Alice’ Mann, aus dem Krieg zurückkam, und zwar »in einem Stück«. Er war als Allerletzter aus dem Dorf zurückgekehrt. Woher er kam, wollte er nicht sagen. Geschweige denn, was er getan hatte. Aber er war am Leben.

Und du bist auch am Leben, dachte Alice und hielt den Rücken gerade, während sie an den Stümpfen jahrhundertealter Kastanienbäume vorbeiging, die zu Beginn des Krieges gefällt worden waren, um … was? Waffen herzustellen? Särge zu zimmern? Aber solche Überlegungen waren sinnlos.

Jetzt konnte man neue Bäume pflanzen. Die Welt war befriedet.

Wir haben gewonnen.

Wir haben tatsächlich gewonnen.

Doch ein kalter Schauer, noch unbarmherziger als das Meer, durchfuhr sie. Ganz so, als hätte es keinen Sieg gegeben. All die Schlager über »Liebe und Lachen und ewigen Frieden« waren so entrückt, so wenig greifbar wie das Ende eines Regenbogens. Wenn sie an den Siegestag vor fast einem Jahr zurückdachte, daran, wie das ganze Land ausgelassen auf den Straßen getanzt hatte, kam es ihr vor, als wären sie in Käfige eingesperrte Kreaturen, denen man einen Tag der Freiheit gegönnt hatte und die in dem Augenblick, in dem sich ihre Euphorie erschöpft hatte, sofort wieder in die alles verzehrende Tristesse zurückfielen.

Aber jetzt war es Zeit für die Wiedergeburt.

Auf den Feldern um sie herum forderten die Lämmer ungestüm die Milch ihrer Mütter ein, spitze Weizenhalme bohrten sich durch die harte Erde und über ihr kämpften die Krähen brutal um ihr Revier. Sie zwang sich, um den Betonunterstand herumzugehen, der von üppigen Rhododendren überwuchert wurde.

Ihre Frostbeulen brannten jetzt. Sie würde bald dreißig werden und schon jetzt waren ihre Füße hässliche, krumme Dinger, ihre Hände noch schlimmer. In der geröteten, rauen Haut traten die Adern hervor, und ihr Verlobungsring – ein diamantbesetztes Schmuckstück, das sich seit zwei Jahrhunderten in Stephens Familie befand – drehte sich locker um ihren Finger.

Wieder hielt sie inne. Allzu oft wurde sie sich eines gewissen Unbehagens bewusst. Doch sie dachte nicht an den Schrecken, den sie gerade bekämpft hatten, sondern an eine neue Gefahr, die sie noch nicht recht erkennen konnte. Vielleicht hatte sie auch zu viel Angst davor, genauer darüber nachzudenken.

Sie steckte die Hände in die Taschen und hielt den Kopf gesenkt, als der blaue Rover des Dorfarztes vor dem Haus vorfuhr, in dem Mrs. Martin ihr drittes Kind erwartete. Ein Siegesbaby, dachte Alice. Es wurden noch zwei weitere im Ort erwartet.

Alice hörte, wie der Arzt stöhnte und fluchte, als er sich mühsam aus dem Auto quälte. Er hatte sein Bein verloren, nachdem er in Dünkirchen in Gefangenschaft geraten war. Ein Anflug von Selbstvorwürfen – jammere nicht über deine Frostbeulen – trieb sie weiter zum Pförtnerhaus, von wo aus sie auf Oakbourne Hall, erbaut auf dem einzigen geschützten Fleckchen weit und breit, blickte.

In der Abenddämmerung zeichneten sich die feinen Umrisse des ursprünglichen Tudor-Anwesens und seiner jakobinischen, georgianischen und viktorianischen Anbauten über dem See ab: der Uhrenturm, die riesigen Erker, die Marmorsäulenreihen, der Westflügel mit seinen Mauerzinnen, der Ostflügel mit seiner Kuppel. Einige Augenblicke lang konnte sie sich beinahe einreden, es hätte keinen Krieg gegeben. Die zunehmende Dunkelheit verdeckte die leeren Ölfässer, die im Gebüsch entsorgt worden waren, die aufgerissenen und durchnässten Sandsäcke, die sich über die Terrassen verteilten, das zerbrochene Glas.

Im Arbeitszimmer ihres Mannes ging ein Licht an.

In all den Nächten der erzwungenen Verdunkelung und der schrecklichen Angst hatte sie sich danach gesehnt, nach Hause zu ihrem Mann zu kommen, der wohlbehalten an seinem Schreibtisch saß und auf sie wartete. Doch sie zögerte noch eine Weile, stand zitternd neben der bröckelnden Portalsäule, einem Opfer der Armeelastwagen, die fünf Jahre lang ständig durch das beschlagnahmte Anwesen gerollt waren.

Auch im Pförtnerhaus brannte Licht. Sie konnte in die Küche hineinsehen, wo Mrs. Harris an der Spüle stand, mit ihrem Mann an ihrer Seite, der ihr beim Abtrocknen half. Ihr einziger Sohn war nach drei Jahren auf den Nordmeergeleitzügen endlich zurückgekehrt. Aber er fühlte sich sehr schlecht, das hatte Alice’ Haushälterin ihr verraten. »Er sitzt nur vor dem Feuer und klagt, dass ihm nicht warm wird.«

Drei Jahre, dachte Alice. Drei Jahre voller Verzweiflung und Sorgen, die seine Eltern um ihn ausgestanden hatten, drei Jahre, in denen sie ihren zum Mann heranwachsenden Jungen vermisst, in denen sie sich nach ihm verzehrt hatten, und nun … Sie hielt mitten im Gedanken inne.

Am selben Morgen hatte sie in der Times Bilder von Dutzenden aufgefundener Kinder gesehen, Waisen mit glasigen und hungrigen Augen in einem Kloster in Frankreich, und in dem Moment, in dem sie daran dachte, wie es sich wohl anfühlen musste, seinen Ehemann oder sein Kind oder sein Zuhause zu verlieren, wurde sie von einem intensiven, beinahe unerträglichen Gefühl des Elends gepackt. Ich muss nach Hause zu meinem Mann, mahnte sie sich selbst. Ich muss mich beeilen.

Dann beobachtete sie durch das Fenster, wie Mrs. Harris die Hand vor die Augen hob, als wollte sie eine Träne wegwischen. Und beim Anblick dieses Kummers verharrte Alice. Sie konnte sehen, wie Mr. Harris das Geschirrtuch ablegte und die Hände seiner Frau aus dem Waschbecken nahm. Nacheinander trocknete er sie ganz langsam ab. Alice stand vollkommen still und verfolgte fasziniert, wie er den gesenkten Kopf seiner Frau anhob und seine Lippen auf ihre drückte.

Abrupt wich Alice zurück. Sie wollte nicht über die Zärtlichkeit dieser Geste nachdenken. Ein Zweig knackte unter ihrem Fuß. Ein Reh bellte. Im Gebüsch rührte sich etwas. Ein Sturm zog auf. Heute Nacht würden noch mehr Ziegel vom Dach fliegen.

»Denk an meine Worte«, hatte ihr Vater bei ihrer Hochzeit gesagt. »An der Küste von Suffolk wirst du erfrieren. Dort ist nichts mehr zwischen dir und dem Ural.«

Sie drehte sich um, um den Wind in sich aufzunehmen, füllte ihre Lunge mit der kilometerlangen Weite jenseits der Felder und Deiche, die sich über die stürmische graue See erstreckte, über riesige Seen und Wälder, bis nach Sibirien, und dann ertönte unten am Haus ein Schrei, wie das Schluchzen eines verzweifelten Kindes.

Dieser Schrei war der eines Hasen und sie wusste genau, welches Drama sich dort unten abspielte. In der vorigen Nacht, als sie nicht schlafen konnte, hatte sie drei Fuchswelpen beobachtet, die mit ihrer Mutter über den Rasen tobten. Alle mussten fressen und sich von einem anderen Lebewesen ernähren. Sie verdrängte die Vorstellung von einem jungen Häschen – leichte Beute – in den Fängen einer Füchsin. So war eben die Natur, redete sie sich ein, schön und grausam. Dann sah sie zu ihrem Erstaunen, wie sich das Fenster des Arbeitszimmers ihres Mannes öffnete und Stephen über die Fensterbank kletterte, hinuntersprang und über den Kies sprintete.

Seit seiner Rückkehr hatte er sich von Stunde zu Stunde gequält und kaum die Kraft zum Sprechen aufgebracht, geschweige denn dazu, aus dem Fenster zu springen. Jetzt stürmte er in die ungepflegten Blumenbeete, durchsuchte wuchernde Disteln und Brennnesseln. Plötzlich blieb er stehen, bückte sich, richtete sich dann ruckartig wieder auf und rammte, ohne zu zögern, seinen Fuß in den Boden, um dem Tier, wie sie vermutete, einen schnellen Gnadenstoß zu versetzen.

Er musste, so wurde ihr jetzt klar, den Schrei des Hasen gehört und ihn entsetzlich verletzt vorgefunden haben. Wenn sie auf Kaninchen stieß, die sich die blinden, eitrigen Augen rieben, während die Lähmung der Myxomatose einsetzte, musste sie sich auch zusammenreißen und handeln, um den keuchenden Bündeln einen langsamen und schmerzhaften Tod zu ersparen.

Aber Stephen hörte nicht auf.

Immer wieder, immer fester stampfte er mit dem Fuß auf den Boden. Sie wollte hinüberschreien, dass die arme Kreatur doch tot sein musste, aber sie zog sich nur noch weiter in den Schatten zurück, als er mit dem Bein weit ausholte und sie mitansehen musste, wie ein Hase fast zwei Meter hoch flog – die prächtigen Hinterbeine, das lange Rückgrat ausgestreckt, dem Himmel entgegenstrebend … Mitten in der Luft zerbrach der Hase in zwei Teile, sein Kopf und sein enthaupteter Körper fielen ins Gebüsch hinunter.

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihren Atem zu beruhigen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie noch nie erlebt, zu welchem Ausmaß von Gewalt ihr Mann fähig war. Jedes Mal, wenn sie ihm Fragen zum Krieg stellte, brachte er sie mit einem kalten Blick zum Schweigen oder stürmte davon, als drohte sie, die Büchse der Pandora zu öffnen, als könnte er ihre dummen Fragen nicht ertragen. Wen er also getötet hatte – oder wie –, das wusste sie nicht.

Niemand überlebte den Krieg unversehrt. Nicht einmal die gute, sanfte Seele, die sie geheiratet hatte. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, ihm versprechen, dass sie alles wiedergutmachen würde, dass ihre Liebe jene Dämonen besänftigen würde, die der Krieg entfesselt hatte. Doch dann siegte die Angst über ihr Mitgefühl. Was, wenn er sich gegen sie wandte?

Niemand konnte leugnen, welche Kraft seinem Körper innewohnte, dass er im Handumdrehen töten konnte. Er war stärker als sie. Schneller. Geübt. Und sie stellte sich das Gewicht seines Stiefels vor, ihre abknickende Luftröhre, ihr brechendes Genick.

2

Alice stand am Wasserhahn im leeren Stallgebäude und wusch sich die Hände mit eiskaltem Wasser. Seit dem vergangenen Abend hatte sie Stephen gemieden. Sie hatte sich direkt in ihr Zimmer zurückgezogen und das Licht bis vier Uhr morgens brennen lassen, weil sie es nicht ertrug, in der Dunkelheit die irrsinnigen Handlungen des Mannes, den sie liebte, wieder und wieder vor sich zu sehen. Doch im unbarmherzigen Schein der Glühbirne bewertete sie die Dinge langsam anders. Der Hase, so überlegte sie, war nicht sofort gestorben. Weil sie sich fast fünfzig Meter entfernt befunden hatte und weil es Abend gewesen war, hatte sie es nicht klar erkennen können. Natürlich wirkte Stephen bösartig. Welcher Mensch, der bei klarem Verstand ist, würde nicht verrückt werden, wenn er gezwungen wäre, ein so schönes und junges Tier zu töten?

Mit Karbolseife bearbeitete sie die Kratzer auf ihrer Handfläche, die sie sich beim Zurückbiegen der Dornensträucher zugezogen hatte. Das hatte der Krieg ihr angetan: Er hatte sie darauf konditioniert, stets das Schlimmste zu befürchten, und dieses unaufhörliche Gefühl der Furcht hielt sich hartnäckig. Sogar jetzt konnte der Anblick des wunderschönen Vollmonds den Schrecken der Luftwaffe, die den Himmel in Besitz nahm, wieder aufleben lassen.

Sie trocknete sich die Hände an ihrem Rock ab, dann blickte sie auf, als die ersten Fledermäuse unter dem Dachvorsprung hervorkamen, und sah ein Flugzeug, das nach Südwesten mit Kurs auf London über sie hinwegflog. Nichts, worüber man sich noch Sorgen machen müsste.

Stephen war nicht der Feind.

Doch wer er tatsächlich war, das wusste sie nicht mehr genau. Er weigerte sich, etwas zu erzählen, darum konnte sie bloß raten, welche Erinnerungen er in sich verbarg. Sie hatte versucht, ihn mit Worten zu erreichen, mit Schweigen … und mit ihrem Körper. Er wollte nichts davon. Seit jenem Abend, an dem er nach Hause zurückgekehrt war, schlief er allein in einem Zimmer oben auf dem Dachboden. Die Botschaft hätte deutlicher nicht sein können.

Sie kratzte den Schlamm von ihren Schuhen. Nach dem Sturm der vergangenen Nacht war der Boden nass und ihre Schuhe hatten Löcher. Sie besaß weder Geld noch einen Bezugsschein für neue Schuhe. Zu schade. Der Regen hatte dem Garten gutgetan. Und mir auch, dachte sie und atmete die Luft ein, die rein und süß roch und ihr den gesunden Menschenverstand zurückgab, den sie in der vorigen Nacht hatte fahren lassen.

Sie hatte bereits sechs Jahre ihrer Ehe an Hitler verloren. Sie wollte nicht noch weitere durch ihre eigene morbide Fantasie verlieren, und so eilte sie ins Haus und traf Stephen an seinem Schreibtisch an, einen Notizblock vor sich, einen Stift in der Hand. Normalerweise saß er nur kraftlos vor dem Feuer. Bitte, lieber Gott, flehte sie, lass ihn wieder schreiben!

Als sie sich kennenlernten und sie herausfand, dass er Gedichte schrieb, erstarrte ihr zwanzigjähriges Ich in Ehrfurcht: Stephen Rayne, der brillante junge Diplomat, der Staatsdiener mit Künstlerseele.

Er schrieb auf Französisch – dank seiner in Paris geborenen Mutter war er zweisprachig aufgewachsen. Alice’ Französischkenntnisse hielten sich in Grenzen, aber sie reichten aus, um die Rezensionen verstehen zu können. Sein erster Gedichtband, der kurz nach ihrer Hochzeit erschien, wurde als »an Wordsworth erinnernd, wunderschön, kühn, großherzig …« beschrieben.

Vor Jahren hatten sie zusammen im Bett gelegen und Baudelaire und Rimbaud gelesen. Er verbesserte ihre Aussprache, korrigierte ihre Mundhaltung mit den Fingern und sagte: »Halte die Lippen so«, und seine warme Berührung fühlte sich an wie Sonnenlicht, das sie durchflutete. Wenn jetzt der Krieg kommt, hatte sie gedacht, und in der nächsten Sekunde Bomben auf mich herabfallen, ist mir das egal, denn ich durfte dies hier erleben.

»Was ist los?«, fragte er, ohne aufzuschauen.

Sie versuchte, die Aufregung aus ihrer Stimme zu verdrängen, und sagte: »Bist du gerade dabei …?«

»Was zu tun?«, unterbrach er sie, zerknüllte ein Blatt Papier und warf es ins Feuer.

»Zu schreiben?«

»Wohl kaum.« Er zerknüllte ein weiteres Blatt. Sie beobachtete, wie die Flammen es ergriffen. Dann folgte eine dritte Kugel.

»Halt«, sagte sie, fing das vierte Geschoss ab und strich es wieder glatt. »Ich möchte es lesen …«

»Lass das!«, schrie er. »Ich habe gesagt, du sollst …!« Augenblicklich ließ sie das Blatt fallen, als er aufsprang und sich den Schürhaken schnappte. Aber er schleuderte bloß das Papier ins Feuer und drehte sich dann zu ihr um. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie spürte, wie der Schmerz auch in ihr aufflammte. Dieser verzweifelte Mann stellte keine Gefahr für sie dar. Nur für sich selbst.

»Es ist schön, dich dabei zu sehen, wie du …«

»Ja?«

Wie du etwas tust, dachte sie. Alles ist besser, als stundenlang dazusitzen, ganz so, als wäre nichts mehr wichtig.

»Wirf es noch nicht weg«, sagte sie. »Vielleicht ist es besser, als du denkst. Und du bist so gut.«

»Du hast keine Ahnung, ob es gut ist oder nicht.« Er warf die übrigen Blätter ins Feuer.

»Wenn dir früher ein großer Wurf gelungen ist«, sagte sie vorsichtig, »hat es dir …« Er grinste höhnisch, aber sie fuhr fort. »Dann hat es dir Freude bereitet.«

Genau wie ich, dachte sie. Sie hatte etwas wirklich Gutes in ihm freigesetzt – Ideen, Selbstvertrauen, Worte. Zumindest hatte er ihr das so gesagt.

»Hat dir dein Spaziergang Freude bereitet, meine liebe Alice?«

Sie hatte gelernt, seine schreckliche, verschrobene Ironie zu ignorieren. Auch das würde vorbeigehen. »Ich habe im Garten gearbeitet«, sagte sie. »Aber es war schön draußen.«

Er starrte in die auflodernde Flamme. Das plötzlich stärker werdende Licht betonte das Netz aus Falten und Vertiefungen um seine Augen herum. Von seiner Erscheinung her schien er ihr weit mehr als die sieben Jahre vorauszuhaben, die sie tatsächlich trennten, aber das beruhte nicht nur auf den Spuren der Alterung in seinem Gesicht. Es war die Resignation, die in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Gesichtsausdrücke, in seiner Stimme lag.

»Ich wollte dich vorhin nicht anschreien«, murmelte er. »Es tut mir leid.«

Hektisch nahm sie seine Entschuldigung an, ihr war beinahe schwindelig vor Erleichterung. »Ist schon in Ordnung.«

»Hast du jemanden getroffen bei deinem Spaziergang?«, fragte er.

Sie hatte ihm gerade erzählt, dass sie im Garten gearbeitet hatte. Aber sie war es gewohnt, dass er ihr nicht zuhörte.

»Nein«, erwiderte sie bloß. Wenn sie spazieren ging, vermied sie absichtlich jede Begegnung, denn sie konnte es nicht ausstehen, sich der Frage stellen zu müssen: »Wie geht es Sir Stephen?« Oder dem neugierigen Tonfall, mit dem die Leute feststellten: »Wir haben ihn schon so lange nicht mehr gesehen …?«

»Aber«, fuhr sie fort in dem Versuch, sein Interesse zu erregen, »gestern habe ich das Auto von Dr. Downes vor dem Haus der Martins gesehen. Der Geburtstermin ihres Babys steht kurz bevor.«

Anstatt eine Antwort zu geben, zündete er sich eine Zigarette an.

Sie erzählte weiter: »Es lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Du weißt schon, Schlehen, ein paar Narzissen, die Schneeglöckchen schon auf dem Rückzug …« Sie sah ihre kitschigen Bilder umherhüpfen wie müde Zirkusclowns, die sich bemühten, seine Aufmerksamkeit zu wecken. »Vielleicht begleitest du mich morgen ja?«

»Wie bitte?«

»Wir könnten doch zusammen spazieren gehen.«

»Nein … Morgen? Kommt da nicht dieser neue Gemeindepfarrer?«

»Ja, aber du brauchst dich nicht zu zeigen.« Sie wollte absolut nicht, dass jemand glaubte, dieser bissige, zynische Mann sei der echte Stephen. »Ich werde schon eine Ausrede für dich finden. Ich werde ihm sagen, dass du eine schlimme Erkältung hast und nicht willst, dass er sich ansteckt.« Der neue Gemeindepfarrer war herzkrank, was sein Vorgänger wirklich allen mitgeteilt hatte.

»Danke.« Er schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln, nicht sein übliches schiefes Grinsen. Bevor er sich in seinen Sessel fallen ließ, legte er ihr zu ihrer Überraschung eine Hand auf die Schulter – eine Geste, die an Zuneigung erinnerte.

Vorsichtig setzte sie sich auf den Hocker neben seinen Füßen, so nah zu ihm, dass sie die Hand nach ihm ausstrecken konnte. Früher, so dachte sie, hast du zugelassen, dass ich deine Hand nahm und an mein Gesicht führte, deine Wärme an meiner Wange spürte. Dann umschloss ich langsam einen nach dem anderen deiner Finger mit meinen Lippen. Ich verschlang diese starke Mischung aus Kraft und Zärtlichkeit, und du hast es geliebt.

»In den nassen Schuhen erkältest du dich noch«, sagte er.

Sie rührte sich nicht. Auch ihre Strümpfe waren durchnässt. Sie hätte wohl gut daran getan, sie ebenfalls abzustreifen.

Das letzte Mal, dass sie sich vor ihm ausgezogen hatte – sie konnte sich genau daran erinnern –, war am 18. November 1943 gewesen. Sie hatte von einem unbekannten Absender ein Telegramm erhalten, in dem stand, dass er sich in einem Hotel in Hastings aufhielt. Fast achtundvierzig Stunden konnten sie zusammen verbringen, bevor er wieder aufbrechen musste – nach Frankreich, wie sie vermutete, um dort geheime Aufträge auszuführen. Doch sie hielt sich an die Regeln und fragte ihn nie danach.

Aus irgendeinem Grund – wie gewohnt wollte er es nicht erklären – hatte er ein Tuch aus goldener Guipure-Spitze mitgebracht. Einmal waren sie an der Strandpromenade spazieren gegangen und es hatte wie aus dem Nichts angefangen zu schütten, sodass sie völlig durchnässt wurden. Darum eilten sie zurück und sie ließ sich ein dampfendes Bad ein. Als sie wieder erschien, zeigte er ihr das Tuch und schlang es um ihren heißen, glühenden Körper, und sie tanzte für ihn, drehte sich in dem abgewohnten, schäbigen Zimmer um die eigene Achse, nackt bis auf die goldene Spitze, bis er sie begierig in seine Arme schloss und ihr immer wieder sagte, wie sehr er sie liebe.

Sie war sich bewusst, dass er sie betrachtete. Wenn er nicht auf seinen Dachboden verschwand, saß er an den meisten Abenden einfach mit geschlossenen Augen da und sah alle möglichen Gespenster. Sie musterte sein Gesicht, konnte aber außer Erschöpfung nichts darin lesen.

Langsam rollte sie ihre Strümpfe herunter. Die Zehen zum Feuer gerichtet, bewegte sie aufreizend die Füße; einmal hatte er gesagt, sie besäße Knöchel, die er sich gerne in seinem Nacken verschränkt vorstellte. Immer noch beobachtete er sie. Sie glitt vom Hocker auf den Boden, lehnte sich zurück, streckte ihm ihr nacktes Bein entgegen und setzte dasselbe Lächeln auf, das sie ihm oft geschenkt hatte, wenn sie zusammen in einem überfüllten Raum gewesen waren, auf einer Party oder bei einem Abendessen.

Dann schob sie ihren Rock weiter nach oben und legte ihren Fuß auf seinem Oberschenkel ab.

»Du armes Ding«, seufzte er. »Du hast ja Frostbeulen.« Und er stand auf und verließ das Zimmer.

Sie kam sich lächerlich vor, derartig auf dem Boden ausgestreckt. Aber er hatte sie tatsächlich berührt – er hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Das war das erste Mal. Er war noch nicht einmal ein halbes Jahr wieder zu Hause, denn er war erst im Oktober 1945 zurückgekehrt.

Im Oktober?

Wieder einmal drängten sich ihr viele Fragen auf. Der Krieg in Europa war offiziell im Mai zu Ende gegangen, was um Himmels willen hatte er danach gemacht? Sie hatte nichts von ihm gehört und erfuhr erst, dass er noch lebte, als sie ein Telegramm erhielt, in dem stand, dass er mit dem nächsten Zug nach Hause käme. Und wieder gewann ihre Fantasie die Oberhand über ihren Verstand und sie sprang auf, um sich davon zu befreien. Sie vertiefte sich in ein altes botanisches Tagebuch ihres Vaters. Pollenproduktion bei Fingerhüten, die Mikrobiologie saurer Böden, Auswirkungen der Temperatur auf die Lebensfähigkeit von Baumwollsamen. In den Rätseln und Feinheiten der Natur konnte sie diese Welt vergessen, in der der Frieden so teuer erkauft worden war, in der Männer und Frauen immer noch so grausam sein konnten, sogar in ihrem eigenen Zuhause.

Sie machte sich auf den Weg durch den feuchten Flur, um sich die gewohnten drei Wärmflaschen zu bereiten. Du wirst nicht die Einzige sein, sagte sie zu sich selbst, als sie unter der Decke in ihrem kalten Bett lag und las. Männer und Frauen waren einander fremd geworden, überall auf der Welt.

Und auch überall im Dorf. Mrs. Green, ihre Haushälterin, hatte bemerkt, dass Mrs. Downes, die Frau des Arztes, wohl eine Heilige sein müsse, um das rasende Temperament ihres Mannes zu ertragen, der nach fünf Jahren in einem deutschen Kriegsgefangenenlager nach Hause zurückgekehrt war.

In der Küche stellte sie fest, dass vier leere Teekisten geliefert worden waren. Sie waren für den Transport einer Sammlung venezianischen Glases bestimmt, die die Familie Rayne über Generationen hinweg aufgebaut hatte. Der Empfänger war ein millionenschwerer Stahlfabrikant in Chicago. Am Ende der Woche würde ein Lieferwagen das Glas nach Liverpool bringen, wo es auf die Queen Mary verladen werden sollte. Erst am Vormittag hatten die Männer die Arbeit im Entree beendet und die jakobinische Eichenvertäfelung entfernt, die ebenfalls über den Atlantik geschickt werden sollte, zusammen mit den Marmorkaminen aus zwei Schlafzimmern – die besten waren bereits an einen Wall-Street-Banker verkauft worden – und dem Buntglasfenster mit den Schwertlilien, das wundersamerweise unversehrt geblieben war, als ein Lastwagen voller kanadischer Soldaten, die von einer Tanzveranstaltung zurückkehrten, im Rückwärtsgang gegen eine Wand gedonnert war und das Fenster nur um Zentimeter verfehlt hatte.

Alice spürte, wie die Enttäuschung sie überwältigte. Es war nicht so sehr der Verlust der herrlichen Gläser. Inzwischen verkaufte sie emotionslos das Porzellan, die Gemälde, die besseren Möbelstücke, alles, was Geld einbringen konnte. Nein, es war eher ein Unbehagen, das jenem von Stephen immer ähnlicher wurde, wie sie befürchtete.

Seit fast einem Jahr, seit dem Abzug der kanadischen Armee, schaffte sie Ordnung in den staubigen Räumen und versuchte, sie wieder bewohnbar zu machen. Für sie und für Stephen. Für die Kinder, von denen sie einst gesprochen hatten. Aber wann immer sie Stephen gegenüber den Zustand des Hauses erwähnte, murmelte er bloß: »Das alles ist mir völlig egal – und dir sollte es auch egal sein.«

Also hatte sie das Heft in die Hand genommen und tat ihr Bestes, Oakbourne Hall in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu überführen, die, wie sie immer wieder zu hören bekamen, so viel besser sein würde als die erste.

Sie war versucht, das Packen bis zum nächsten Morgen aufzuschieben. Die elektrischen Leitungen in diesem Teil des Hauses waren total verrottet, deswegen müsste sie im Dunkeln arbeiten. Aber irgendetwas siegte schließlich doch über ihre Müdigkeit und brachte sie dazu, die Kisten zum Schrank in der Spülküche zu schleppen. Dort zündete sie ein halbes Dutzend Kerzen an. Wunderschöne geriffelte Kelche, Whiskygläser, Brandyschwenker, alle in herrlich leuchtenden Farben, glitzerten vor ihr wie Juwelen, die jetzt für die Party anderer Leute bestimmt waren.

3

Ein heftiger Luftzug pfiff unter der Tür des Salons in Oakbourne Hall hindurch, als Stephen dem Reverend Mr. George Ivens einen Sessel anbot.

»Danke, dass Sie den Elementen getrotzt haben, um uns zu besuchen«, sagte Stephen.

»Keine Ursache, Sir Stephen«, murmelte der hochgewachsene junge Gemeindepfarrer und bückte sich ein wenig, ganz so, als würde er dadurch weniger Platz im Raum beanspruchen.

Stephen schürte das Feuer. »Ein Vorteil dieses Windes ist, dass wir jetzt, wo die Bäume fallen, viel Holz zum Verbrennen haben.«

Der Gemeindepfarrer lachte nervös auf. »Es war wirklich ein harter Winter.«

Alice lächelte ihren Mann an. Er hatte sie am Morgen in Schrecken versetzt, als er erklärte, er habe es sich anders überlegt und wolle den neuen Gemeindepfarrer nun doch kennenlernen. Aber jetzt war er wieder sein altes, freundliches Selbst, der perfekte Gastgeber diesem etwas verlegenen Gast gegenüber.

Alice reichte Stephen seinen Tee und ließ ihre Hand auf seiner verweilen, während er über die bittere Kälte sprach. Sie hatte geglaubt, er hätte die Fähigkeit verloren, über das Wetter zu reden. Seit er wieder zu Hause war, hatten sie nicht ein einziges Mal so etwas wie ein Gespräch in Gesellschaft geführt. Nicht, dass sie viele Einladungen erhalten hätten. Sein engster Freund Robert, durch den sie sich kennengelernt hatten, war in Arnheim gefallen. Die wenigen Nachbarn, die Stephen seit seiner Kindheit gekannt hatte, waren in alle Himmelsrichtungen verstreut: Einer stand kurz davor, nach Australien auszuwandern, ein anderer hatte sein riesiges Anwesen veräußert, um eine Farm in Devon zu kaufen.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen dieses Zimmer zumuten muss. Es ist bloß noch eine leere Hülle«, sagte Stephen.

»Aber nein«, erwiderte der Pfarrer und streckte seine langen Beine in dem alten Sessel aus. »Es ist wirklich schön.«

»Das war es einmal. Jetzt hat die Feuchtigkeit ihm zugesetzt. Sehen Sie nur«, sagte Stephen, als einige Schuppen blassblauer Farbe von der Decke herabsegelten. Dann deutete er auf die dunklen Flecken an den Wänden, an denen früher die Familienporträts gehangen hatten. »Ich würde allerdings nicht behaupten, dass ich einige der Vorfahren, die auf uns herabschauten, sonderlich vermisse.«

»Ein Herrenklub in Washington hat sie gekauft«, erklärte Alice. »Männer in scharlachroten Uniformen, alle sehr militärisch. Zwei Generäle, die in Waterloo gekämpft haben – gegeneinander. Stephens Mutter war Französin, wissen Sie. Deine Urgroßonkel, nicht wahr, Stephen?« Er nickte. »Und ein anderer, der mit dem Herzog von Marlborough in Blenheim war und in … äh …«

»Malplaquet«, ergänzte Stephen.

Bei ihrem allerersten Besuch in Oakbourne Hall hatte Stephen seinen Arm um ihre Taille gelegt und gesagt: »Du wirst mich niemals dort oben bei diesem Haufen finden. Niemals.«

Es war 1936 und er war gerade im Außenministerium angenommen worden. Er hatte nicht vor, der Familientradition zu folgen. Sein älterer Bruder hingegen absolvierte die Militärakademie in Sandhurst und trat dann in die Grenadiergarde ein, so wie sein Vater und sein Großvater und unzählige Urgroßväter vor ihm. Stephen ging lieber nach Cambridge. Mein brillanter Ehemann, hatte sie gedacht, der mit seinem glänzenden Abschluss in modernen Sprachen darauf vertraute, dass Diplomatie der Weg zur Erhaltung des Friedens sei.

»Sie taugten nur als Brennholz«, fuhr Stephen fort. »Apropos, ich weiß nicht genau, wie Sie bei Mrs. Turner untergebracht sind, aber bitte kümmern Sie sich darum, dass es Ihnen dort nicht an Holz mangelt.«

Alice traute ihren Ohren nicht. Er war so freundlich. Vielleicht brauchte es lediglich etwas Geduld, damit ihr Mann zu ihr zurückfand. Er plauderte nun über die Hütten, die die Kanadier in der östlichen Ecke des Parks zurückgelassen hatten, und darüber, wie einer der Bauern sie übernommen hatte und auf eine neue Art und Weise für den Kartoffelanbau nutzte. »Aber der Anbau von Pflanzen ist Alice’ Fachgebiet, nicht meins«, setzte er noch hinzu.

»Mein Vater war Botaniker«, erklärte sie. »Rosen waren seine Spezialität. Als all die neuen Wohnsiedlungen gebaut wurden, konzentrierte er sich darauf, Sorten zu züchten, die für kleine Gärten geeignet sind.«

Zum ersten Mal wirkte das Lächeln des Pfarrers mehr als nur höflich: »Rosen erschaffen! Was für eine wunderbare Sache!«

»Ja, aber viele Ergebnisse seiner Arbeit sind verloren gegangen. Wissen Sie, er lebte in Kent, und genau wie bei uns hat die Armee den Ort in Beschlag genommen. Als die Invasion bevorstand, hatte die Rettung der Rosen keine Priorität. Alle Gärten und Gewächshäuser wurden zerstört … Aber schauen Sie her«, sagte sie fröhlich und reichte dem Gemeindepfarrer einen Teller. »Dies ist eine Art Apfelkuchen. Wir haben Bienen, deshalb haben wir Honig. Wir haben Glück.«

»Verdammtes Glück«, sagte Stephen halblaut.

Sie sah ihn unsicher an. Was meinte er damit?

Aber der Pfarrer redete weiter. »Könnten Sie die Rosen denn nicht hier kultivieren?«

»Hier ist es zu windig.«

»Ich meinte: Wissen Sie, wie man eine neue Rose züchtet?«

Sie lächelte. »Ja, das weiß ich.« Vor dem Krieg hatten sie und ihr Vater vereinbart, dass sie das Geschäft übernehmen würde, wenn er irgendwann nicht mehr die Kraft dafür hätte.

»Tatsächlich dürfen wir uns geschmeichelt fühlen, dass meine Frau uns mit ihrer Gesellschaft beehrt«, sagte Stephen. »Sie hat auf ihren geliebten Gartenrundgang und ihren Spaziergang verzichtet, um mit uns gemeinsam Tee zu trinken.«

Sie bemerkte den Ausdruck von Überraschung auf dem Gesicht des Pfarrers. Er hatte den abrupten Wechsel der Tonart offensichtlich wahrgenommen. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte er und manövrierte sich auf dem wackeligen Sessel nach vorne. »Ich hätte zu einem günstigeren Zeitpunkt vorbeikommen sollen.«

»Aber Stephen scherzt doch nur! Nicht wahr?«

»Wenn es Medaillen fürs Spazierengehen gäbe, würde meine Frau sicher eine bekommen«, sagte Stephen.

Alice’ Lächeln wurde breiter, ganz so, als könnte sie mit der Wärme ihres Ausdrucks die plötzliche Kälte vertreiben. »Mr. Ivens, haben Sie schon viele Leute im Dorf kennengelernt?«

»Ich komme gerade von Mrs. Downes. Allerdings war ihr Mann nicht zu Hause, da er weggerufen wurde – noch ein Baby.«

»Wie wunderbar! Sie wissen vielleicht, dass Mrs. Downes Krankenschwester ist und den alten Hausarzt während des Krieges vertreten hat. Alle liebten sie wegen ihrer lustigen Art. Selbst die Kranken brachte sie zum Lachen.«

»Reverend?«, sagte Stephen. »Gehen Sie gerne spazieren?«

Dies war keine unschuldige Frage. Mitglieder des Klerus wurden nicht eingezogen und laut Mrs. Green galt der junge Pfarrer im Dorf bereits als ein riesiger Glückspilz. Aber ein gesunder Mann war er eindeutig nicht. Als er bei ihnen eintraf, nachdem er den Kilometer vom Dorf mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte, wirkte er bleich und erschöpft.

Alice sagte eilig: »Sie sind wahrscheinlich zu beschäftigt, um zu Fuß zu gehen.« Insgeheim bezweifelte sie das jedoch. Alle unter dreißig bemühten sich, so schnell wie möglich vom Land in die Stadt umzuziehen.

»Ich bin gerade erst angekommen«, antwortete der Pfarrer. »Aber was ich bis jetzt gesehen habe, ist sehr schön. Die wilde Landschaft, die Blumen.«

»Blumen«, wiederholte Alice. »Meine Schwester sagt, dass letzten Sommer rund um die Bombenabwurfstellen in London große Blumenfelder entstanden sind. In St. Giles soll es inzwischen ganze Wälder aus Farnen, Fingerhut, Brombeeren und Teufelskraut geben.«

»Ach … Blumen«, sagte Stephen in dem affektierten Tonfall, den sie hasste. »Alice ist eine echte Expertin auf ihrem Gebiet.«

»Das ist Stephen auch!«, sagte sie entschieden. »Seine Gedichte erinnern laut der Kritiker an Wordsworth, und …«

»Wordsworth«, unterbrach Stephen sie, »hätte viel mehr bewirken können, wenn er uns gelehrt hätte, wie wir uns mit dem menschlichen Bösen auseinandersetzen sollen. Nicht mit den Schönheiten der Natur.«

Sie zwang sich zu einem Lachen. »Sie sollten hören, wie Stephen die Schneeglöckchen hier im Wald beschreibt. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt und er erzählte mir, dass es Tausende und Abertausende gibt, die in der Dunkelheit schimmern …«

»Alice! Das ist schon ziemlich lange her.«

Sie fuhr fort, versuchte, weniger scharf zu klingen. »Das Wunder an den Schneeglöckchen ist, dass sie so zerbrechlich aussehen und doch voller Kraft durch die harte Erde stoßen. Sie verführen uns mit ihrer Schönheit und schenken uns Hoffnung.« Sie holte tief Luft. »Aber Mr. Ivens, Sie werden feststellen, dass Oakbourne eine andere Welt ist im Vergleich zu einer Gemeinde im East End. Die Probleme hier …«

Wie sollte sie den Satz beenden? Wir sind nicht bombardiert worden. Wir waren nicht gezwungen, unsere Kinder zu evakuieren.

Aber ich sehne mich nach dem Mann, den ich geheiratet habe.

Sie flüchtete sich in eine Plattitüde. »Wenigstens können wir jetzt, da wir in Frieden leben, Pläne für die Zukunft schmieden.«

»In Frieden?«, spottete Stephen. »Sagen Sie es ihr, Reverend. Die Fähigkeit der Menschen, ihren Mitmenschen Leid zuzufügen, ist unbegrenzt.«

»Ich bitte dich, Stephen! Rede doch nicht so finster daher.«

»Alice, hast du auch nur die geringste Ahnung, was in Frankreich gerade passiert? Warum kannst du die Zeitung nicht gründlich lesen, anstatt sie nur zu überfliegen und dich in deine Naturbücher zu vertiefen?«

Früher hast du dir so gerne angehört, dachte sie, wie Schneeglöckchen die Köpfe hängen lassen, um ihre Pollen vor Regen und Graupel zu schützen. Oder dass sie wie Schneehäufchen aussehen, weil ihnen ein grüner Blütenkelch fehlt.

Stephen redete weiter. »Früher hatten wir eine bestimmte Art übler Typen an der Spitze. Jetzt haben wir die andere Sorte. Kommunisten, die Kollaborateure aufhängen. Die Gaullisten sind genauso schlimm. Genauso hasserfüllt wie diese Bastarde vor ihnen. Mein Gott! Sogar während des Krieges konnte niemand verhindern, dass die Franzosen ihre Waffen gegeneinander richteten. Und jetzt haben wir ein weiteres verfluchtes Schlachthaus. Wir alle haben uns dort wie Barbaren aufgeführt. Nicht nur die Nazis.« Grimmig sah er sowohl Alice als auch den Pfarrer an. »Spanier, Katalanen, Franken, Westgoten. Wurdest du denn in keiner deiner Schulen in Geschichte unterrichtet?«

Sie zwang sich zu einem weiteren Lachen: »Ich habe die Schule gehasst, wie du weißt.«

»Wenn die Leute nicht so verdammt unwissend wären, würden sie es kapieren. Meine Frau ist Expertin darin, wo Eisenhut wächst, wo man junge Wiesel beim Spielen beobachten kann, wo man die ersten Waldanemonen findet. Aber sie glaubt nicht, dass hier – ausgerechnet hier, in ihren eigenen Gärten und Feldern, die sie so sehr genießt, dass sie vollkommen verzückt von der Farbe des Mondes und der Helligkeit der Sterne nach Hause kommt und nur noch davon schwärmt –, dass genau hier der Ort ist, an dem die Römer plünderten und vergewaltigten, an dem die Wikingerhorden ankamen und mit unvorstellbarer Grausamkeit wüteten. Wobei die heutzutage eigentlich nur allzu vorstellbar sind. Selbst in diesem Haus, unten in der Spülküche, haben wir unser eigenes Geheimversteck, ein Priesterloch – eine weitere Erinnerung daran, dass die Menschen es lieben, sich gegenseitig zu quälen und zu zerstören. Es ist überall dasselbe, so war es immer und so wird es immer sein. Die Geschichte wiederholt sich einfach, weil die Menschen immer Gründe finden, einander zu hassen.«

Das war also der Grund, warum er sich bereit erklärt hatte, zum Tee zu erscheinen. Damit er dem Gemeindepfarrer einen Vortrag über das Böse halten konnte. Am liebsten hätte sie sich entschuldigt, hätte erklärt, dass er nicht immer so gewesen war. Früher hat er das Schöne in der Welt gesehen. In mir.

»Warten Sie nur ab«, fuhr Stephen fort. »Schon bald werden wir die Russen wieder hassen und sie umbringen wollen. Oder wir lassen alles über uns ergehen und ignorieren alle möglichen Schrecknisse, weil wir zu lethargisch sind, um uns darüber klar zu werden, wofür wir einstehen wollen. Reverend? Stimmen Sie mir zu?«

Der Gemeindepfarrer stellte Tasse und Untertasse ab. »Ich … ich weiß nicht, was die nächsten Jahre bringen werden. Ich hoffe inständig, dass Sie sich irren.«

»Natürlich hoffen Sie das.«

Alice funkelte ihren Mann wütend an. Demütige mich, so viel du willst, dachte sie, aber nicht unseren Gast, der neu im Dorf und neu in der Gemeinschaft ist.

Sie wechselte das Thema, um ihn abzulenken: »Stephen hat früher ganz anders über meine Vorliebe für das Landleben gesprochen. Einmal, während des Krieges, war er fast sechs Monate lang fort und kam mit einem wunderschönen Gedicht zurück. Es handelte davon, wie sehr ich es liebe, bei jedem Wetter draußen zu sein. Dass ich mit dem Wind zu ihm kam, über Hunderte von Kilometern, egal ob es ein wilder Sturm war, der die Blätter von den Bäumen fegte, oder eine laue Brise …«

»Halt den Mund, Alice. Das war bloß romantischer Quatsch.«

»Aber nein!«, rief der Pfarrer. »Wie wundervoll, dass Sie mit so viel Liebe über Ihre Frau schreiben können.«

»Ja, es war wundervoll,« sagte Alice. »Es ist wundervoll.«

Doch Stephen hörte ihr nicht zu. Er holte einen kleinen Gedichtband mit seinen eigenen Werken aus dem Regal. Bitte nicht, dachte Alice. Die Chancen, dass der Pfarrer gut Französisch konnte, waren gleich null. »Hier«, sagte Stephen. »Das ist gut geeignet, um ein Feuer in Gang zu bringen.«

Zögerlich blätterte der Pfarrer in dem Buch herum. »Vielen Dank, aber mein Französisch ist leider miserabel.«

»Meins auch!«, rief sie, verzweifelt bemüht, ihm jede Verlegenheit zu ersparen.

Aber der Pfarrer wirkte nicht verlegen. Vielmehr entdeckte sie Mitleid in seinem Gesicht, als er sich Stephen zuwandte und sagte: »Ich mache mir tatsächlich Sorgen, dass es zu einem weiteren Krieg kommen könnte. Wie leicht ist es, einander zu hassen und den Sinn dafür zu verlieren, wofür wir hier sind. Und wenn, wenn …«

Einen schaurigen Moment lang schien er sprachlos zu sein. In der Stille vernahm Alice etwas: hoffentlich nur eine große Maus, die sich unter den Dielenbrettern bewegte, hoffentlich nur Echos aus dem Schornstein – dort oben mussten Dohlen nisten.

Endlich fand der Pfarrer die Sprache wieder: »Als ich an der theologischen Hochschule war, hatten wir ein Seminar. Wir waren zu zwölft, und uns wurde gesagt, dass wir den Raum nicht verlassen dürften, bevor nicht jeder von uns zugegeben hätte, dass wir in der Lage wären zu töten. Und das haben wir schließlich getan – nicht nur, weil wir zum Abendessen wollten. Sondern weil ich fürchte, dass Sie leider recht haben.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Stephen, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, was Alice an einen arroganten Professor erinnerte, der seinen Studenten abkanzelt.

»Ich bete.«

»Wofür genau?«

»Dafür, dass ich mich ändern kann.«

»Tatsächlich? Und Sie glauben, das könnte helfen?«

Lieber Gott, dachte Alice. Bitte mach, dass er aufhört.

Der Gemeindepfarrer sagte leise: »Ich glaube, wir alle haben diese Kraft in uns, und wenn wir mit etwas in Berührung kommen, das diese Kraft entfesselt, dann kann es passieren, dass diese schreckliche Macht befreit wird, und am Ende sind wir absolut fähig, zu töten und zu foltern. Jeder von uns. Manche kommen durchs Leben, ohne jemals auf diese Weise geprüft zu werden. Ich bete dafür, dass ich das Richtige tun werde, wenn ich jemals auf diese Probe gestellt werden sollte.«

»Also«, fuhr Stephen fort, »wenn die Bombe fällt …«

»Falls die Bombe fällt«, unterbrach Alice ihn. »Stephen ist davon überzeugt, dass wir einem Atomkrieg entgegengehen. Dass das, was in Japan passiert ist, wieder geschehen wird.«

»Ich hatte recht, was den letzten Krieg betrifft«, sagte Stephen. »Aber niemand hat mir geglaubt.«

Damit war Alice besiegt.

Er hatte tatsächlich recht gehabt. Anfang 1937 war er verzweifelt gewesen. Warum konnten seine Kollegen im Außenministerium nicht erkennen, was sie bedrohte? Dass das Böse Europa peinigte und die Beschwichtigungspolitik Hitler bloß in die Hände spielte? Nachts lag er wach und vertraute ihr seine Sorgen an, bis in die frühen Morgenstunden. Und sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, streichelte ihn und tröstete ihn. Sich selbst sagte sie, dass nichts ihrer Liebe etwas anhaben konnte, was immer auch geschehen würde.

Sie beobachtete, wie ihr Mann den Gemeindepfarrer auf eine Weise anstarrte, als könnte die Kraft seines Blicks die Worte aus ihm herauspressen. War es das, was er im Krieg getan hatte? Hatte er die Menschen zum Reden gebracht?

Ihre Grübelei wurde unterbrochen, als ihr Gebet schließlich doch erhört wurde. Mrs. Green kam herein, um mitzuteilen, dass Stephen am Telefon verlangt wurde. Alle standen auf und Alice begleitete den Pfarrer, der noch immer erschüttert über den Verlauf des Besuchs wirkte, zur Haustür.

»Erlauben Sie mir, Sie nach Hause zu fahren«, bot sie an, in dem Versuch, alles wiedergutzumachen.

»Nein danke. Bitte machen Sie sich keine Sorgen um mich.«

Sie sah ihm nach, als er davonradelte. Er hatte mit einer solchen Entschlossenheit gesprochen, dass sie einen kurzen Augenblick lang den Eindruck hatte, er sei derjenige, der sich Sorgen um sie machte.

4

Im ehemaligen Witwenhaus mit Blick auf den Dorfanger von Oakbourne hörte Jane Downes, die Frau des Arztes, wie ihr Mann die Haustür aufschloss.

»Ist das Abendessen noch nicht fertig?«, fragte Jonathan und humpelte in die Küche.

Es war so offensichtlich, dass das Abendessen noch nicht fertig war, dass Jane versucht war, das Bügeleisen nach ihm zu werfen. Doch während sie es über eines seiner Hemden führte, lächelte sie. »Noch nicht, Liebling.«

»Um Himmels willen!«, klagte Jonathan, als Juliet, ihr jüngstes Kind, »Good King Wenceslas« auf dem Klavier herunterhämmerte. »Bald ist Ostern. Sie müsste das Lied doch inzwischen gelernt haben.«

»Ich spreche mal mit ihr«, erwiderte Jane. Ob sie wohl darum herumkam, auch noch ihr Wollkleid zu bügeln?

Jonathan warf ein paar Kohlen auf das ersterbende Feuer. »Es ist ja eiskalt hier drin!« Er versuchte, die Glut wieder zu entfachen, doch es gelang ihm nur, eine Rußwolke zu erzeugen, bevor ihm der Schürhaken auf den Boden fiel.

»Ich hebe ihn auf«, sagte sie, während er sich mühsam danach bückte.

»Mach bloß keinen Wirbel. Also wirklich, Jane, mit der Asche von gestern kann man kein anständiges Feuer machen. Du musst erst den Rost ausräumen.«

Vor dem Krieg – sie musste aufhören, in solchen Kategorien zu denken. Aber vor dem Krieg waren die Roste immer sauber. Vor dem Krieg waren in der Küche zwei Dienstmädchen in adretten schwarzen Kleidern beschäftigt gewesen. Sie erledigten den Abwasch, deckten den Tisch, bezogen die Betten, fegten den Boden, bereiteten das Abendessen zu. Der Geruch von angesengter Wolle holte sie in die Gegenwart zurück.

Sie blickte auf ihr ruiniertes Kleid hinunter. Dies war ihr Elternhaus. Sie war hier aufgewachsen und im Herbst 1940 wieder zurückgekommen, weil ihr eigenes Haus in Battersea, in dem sie und Jonathan fast fünfzehn Jahre lang ein glückliches Eheleben geführt und ihre Kinder aufgezogen hatten, in den frühen Morgenstunden des 2. November bombardiert worden war – um genau drei Minuten nach ein Uhr. In den Trümmern hatte sie ihre alte Reiseuhr gefunden, für immer stehen geblieben.

»Juliet!«, schrie Jonathan, als ihre Tochter erneut das Pedal betätigte. »Bitte! Schenk uns etwas Stille!«

Aber die Dienstmädchen waren längst fortgegangen, arbeiteten mit ihren Freundinnen in Fabriken und bauten Bomben. Auf keinen Fall würden sie zu ihr zurückkehren, selbst wenn sie es sich hätte leisten können.

»Mum!« Christopher, ihr mittleres Kind, legte seine Französisch-Hausaufgaben auf das Bügelbrett. »Kannst du mich abfragen?«

»Natürlich, aber …« Das Abendessen war noch immer nicht in Sicht, in der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr, die Hühner mussten in den Stall gesperrt werden und der Hund brauchte noch Auslauf. »Sei doch so gut und bitte Dad darum. Sein Französisch ist besser als meins. Jonathan«, sagte sie zu ihrem Mann, der den Kopf in der Zeitung vergraben hatte. »Jonathan!«

»Hmm«, murmelte er und stöhnte so laut auf, als er seine Beinprothese in Bewegung setzte, dass Jane vermutete, es wäre noch im Nachbardorf zu hören.

»Würdest du Christopher mit seinem Französisch helfen?«

»Nein, nicht nötig«, wehrte Christopher ab. »Ich will nicht …«

»Was willst du nicht?«, fragte sein Vater mit gerunzelter Stirn.

Ich will nicht, dass du mir hilfst, dachte Jane. Ich will dich nicht hier haben, will nicht, dass du zu Hause bist.

»Liebling«, sagte Jane an ihren Sohn gewandt. »Was möchtest du?«

Christopher starrte sie an.

»Christopher!«, bellte Jonathan. »Deine Mutter redet mit dir!«

Bitte nicht, flehte Jane im Stillen, bitte brüll ihn nicht an wie auf dem Kasernenhof.

»Neulich war es die unvollendete Zukunft«, sagte sie. »Geht es jetzt wieder darum?«

Christopher verdrehte die Augen. »Warum sollte ich die wiederholen?«

»Sprich nicht in diesem sarkastischen Ton mit deiner Mutter!«

»Gehen wir doch ins Wohnzimmer, wo es ruhiger ist«, schlug sie vor. »Jonathan, ich mache dir einen Tee, damit dir warm wird. Warte«, sagte sie zu Christopher und ging zu dem Schrank, in dem sie eine Tüte Zitronenbrausebonbons versteckt hatte. »Du darfst eins haben.«

Christophers Achselzucken bedeutete: Ich weiß, dass du versuchst, mich zu bestechen. Er war fast sechzehn, größer als sie und doch so schlank. Er wirkte wie eine gespannte Feder. So viel Potenzial für Vergnügen und Schmerz, dachte sie und widerstand der Versuchung, ihn zu umarmen, während er versuchte, ihr klebriges Angebot abzulehnen und sie dafür zu bestrafen, dass sie ihn zu seinem Vater abschieben wollte.

Schließlich nahm er das Bonbon.

»Bedank dich bei deiner Mutter«, forderte Jonathan.

»Das hat er doch«, log sie und wollte die blasse, sommersprossige Wange ihres Sohnes berühren.

»Wir lassen dich jetzt in Ruhe«, murmelte Christopher und schlug die Tür hinter sich zu.

Ihr ältestes Kind, die achtzehnjährige Eleanor, kam mit ihrem Biologie-Lehrbuch in die Küche. »Was riecht hier denn so furchtbar?«, fragte sie. »Hast du wieder etwas verbrannt?« Jane deutete auf ihr Wollkleid. »Oh, gut. Es ist ruiniert. Du siehst nämlich ziemlich schäbig darin aus. Wo ist Dad?«

Jane nickte in Richtung Wohnzimmer und ihre Tochter steckte den Kopf durch die Tür.

»Dad, kannst du mir bitte helfen?«

»In fünf Minuten«, rief er.

Eleanor würde in diesem Sommer den höheren Schulabschluss machen und hoffte, einen Studienplatz für Medizin zu bekommen. Zu Jonathans Freude wollte sie in seine Fußstapfen treten. Sie hatte die Rückkehr ihres ihr fremd gewordenen Vaters, den sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, glücklicherweise gut verkraftet.

»Wobei brauchst du Hilfe?«, fragte Jane und räumte das Bügelbrett weg.

»Es geht um Enzyme.«

Vor Eleanors Geburt hatte Jane als Oberschwester in einem Londoner Lehrkrankenhaus gearbeitet. Und in Oakbourne musste sie während des Krieges oft für den Hausarzt Dr. Hughes einspringen, der eigentlich aus dem Ruhestand zurückgekommen war, um sich um die Bewohner des abgelegenen ländlichen Orts zu kümmern, meistens jedoch selbst krank gewesen war.

»Ich kann dir bestimmt helfen«, sagte sie.

»Danke, aber ich frage lieber Dad. Was gibt es zum Abendessen?«

»Rührei.«

»Schon wieder?«

Der Rest des Landes musste sich mit Eipulver begnügen, aber dank eines Patienten, der Jonathan in Naturalien bezahlte, schlemmten sie sich durch die duftenden, saftigen Eierberge.

»Schau mich nicht so an, Mum. Du weißt doch, dass ich Eier immer gehasst habe. Außerdem haben wir nur neun«, sagte Eleanor, die in der Speisekammer nachgesehen hatte.

Jane log wieder: »Ich habe keinen Hunger.« Vor dem Krieg waren in dieser Küche Leckereien wie Hühnerpastete, Zitronenpudding, Roastbeef und Schokoladenmousse zubereitet worden … Ihr Magen zog sich zusammen. »Liebling«, sagte sie, »hast du Zeit, Rusty kurz auszuführen?«

»Mum! Ich habe morgen eine Prüfung!«

Ihre ältere Tochter musste immer die Klassenbeste sein, immer alles richtig machen. Und das gelang ihr auch. Aber es fiel ihr nicht leicht.

Jonathan steckte den Kopf durch die Tür. »Womit kann ich dir helfen, Eleanor?«

»Ich kapiere das mit den Enzymen nicht.«

»Was ist mit Christophers Französischaufgaben?«, fragte Jane.

»Er sagt, er braucht mich nicht«, erwiderte er und setzte sich zu Eleanor an den Küchentisch. Jane reichte ihm eine Tasse Tee und versuchte zu übersehen, wie stark seine Hände zitterten. Als er zurückgekommen war, hatte er nur leicht gezittert; sie hatte gehofft, dass es zu Hause nachlassen würde, wo er Essen und Pflege bekam und einen körperlich relativ anspruchslosen Beruf ausübte. Vor dem Krieg war er Facharzt für Thoraxchirurgie gewesen und hatte eine glänzende Karriere vor sich gehabt. Aber das Zittern wurde eher schlimmer als besser.

»Was gibt es zu essen?«, wollte er wissen.

»Rührei.«

»Schon wieder.«

»Schon wieder.« Energisch schlug sie die Eier auf und hörte zu, wie ihr Mann über Substratmoleküle und kompetitive Hemmung sprach, bemerkte, dass Eleanors Gesicht immer besorgter aussah. Mach langsam, wollte sie sagen. Sie hat das noch nicht begriffen. Sie ist nicht so schlau oder so schnell wie du. Das sind nur wenige.

»Was ist nur los mit mir?«, klagte Eleanor, den Tränen nahe. »Ich verstehe es einfach nicht.«

Ohne nachzudenken, sagte Jane: »Es ist doch bloß eine Schulprüfung.«

Eleanor drehte sich zu ihr um: »Um Himmels willen, Mum! Es sind nur noch zweiundsechzig Tage bis zur ersten Abschlussprüfung.«

Dann kam Juliet in die Küche gestürmt und warf sich in Janes Arme. »Oh, bitte sag mir, dass es wieder Rührei gibt!«

Juliet war ihr Wonnekind. Vollkommen glücklich damit, eine mittelmäßige Schülerin zu sein. Vollkommen glücklich damit, ihren Vater um sich zu haben – einen Mann, an den sie sich kaum erinnern konnte. Überglücklich über das Rührei. Jane hielt ihren zufriedenen kleinen Körper fest und ließ ihn erst wieder los, als das Telefon auf dem Flur klingelte.

Mit einem gewaltigen Getöse stand Jonathan auf, um ans Telefon zu gehen.

»Das war Mr. Martin«, erklärte er, als er zurückkam. »Das Baby kommt schneller, als wir dachten.«

»Grüß sie von mir«, sagte Jane. Sie war sich sicher, dass Mrs. Martin es lieber gehabt hätte, dass sie, Jane, anstatt ihres Mannes zu ihr kam: eine Frau, die sie kannte und die bereits ihre ersten beiden Kinder zur Welt gebracht hatte. Doch als sie ihren Mann dabei beobachtete, wie er den Inhalt seiner Tasche überprüfte, wusste sie, dass er seine Sache gut machen würde. In seinem weißen Kittel legte er jene Geduld und Zärtlichkeit an den Tag, die ihm zu Hause fehlte.

Jane ging zur Haustür und gab ihm einen zarten Kuss auf die Wange.

Sie sah zu, wie er wegfuhr, und dachte: Während des Krieges war ich diejenige, die zur Arbeit ging.

5

Als George Ivens von seinem Besuch in Oakbourne Hall wieder nach Hause kam, zog er seine schlammigen Stiefel aus und stellte sie sorgfältig auf die Zeitung, die Mrs. Turner immer neben der Haustür auslegte. Die Begegnung mit den Raynes hatte ihn erschöpft, und er wünschte sich, er könnte einen Moment ruhig dasitzen, eine Schallplatte auf den Teller des Grammofons legen, das ihm seine Gemeindemitglieder bei seinem Abschied aus Whitechapel geschenkt hatten, Mozart hören und über diesen seltsamen Besuch nachdenken.

Doch Mrs. Turner rief: »Ihr Abendessen ist fertig.« Tatsächlich roch es nach Räucherhering.

Er behielt seinen Mantel an und tappte über den auf Hochglanz polierten Boden ins makellose Esszimmer. Dann setzte er sich an den für ihn gedeckten Platz, direkt gegenüber dem Kaminsims, auf dem ein Foto von Mrs. Turners einzigem Sohn stand. Er trug eine Uniform der Royal Air Force und lächelte selbstbewusst; kurz darauf wurde der Lancaster-Bomber, in dessen Heck er sich befand, abgeschossen.

Die große Standuhr, die den Raum winzig wirken ließ, schlug zur vollen Stunde. Es war erst fünf Uhr und er wollte noch nicht essen. Aber Mrs. Turner bereitete sein Abendessen in letzter Zeit immer früher vor. Er erwartete beinahe, dass sie ihm sein Mittag- und Abendessen künftig gleich zum Frühstück servierte, damit sie den Tag hinter sich bringen konnte.

Er verkroch sich in seinen dünnen Mantel und dachte über seinen Besuch nach. Er hatte noch nie Leute wie die Raynes kennengelernt – Adelstitel, Landbesitz und reich dazu. Stephen Rayne, Sir Stephen, verbesserte er sich, war ein Ritter – ein Titel mit jahrhundertelanger Tradition.

In London hatte er sozialistische Freunde und Kollegen, die das genaue Gegenteil der Raynes verkörperten. »Bitte lass dich nicht in das alte Feudalsystem hineinziehen«, hatten sie gesagt, als er ihnen erzählt hatte, dass er aufs Land ziehen würde, und er hatte gelacht und ihnen versichert, dass das bestimmt nicht geschehen würde.

Ganz im Gegenteil.

Er hatte gewusst, dass der Umzug aus dem East End nach Oakbourne seine eigenen Vorurteile auf die Probe stellen würde. Sie hatten sich bereits in seiner Kindheit herausgebildet, als er mit ansah, wie Kinder ohne Schuhe und ohne Frühstück zur Schule gingen und ihre Eltern im gnadenlosen Kampf gegen die Armut kein Bein auf den Boden bekamen. Als er zum Big House hinaufgegangen war, hatte er sich gefragt, wie man es moralisch rechtfertigen konnte, in einem Gebäude mit zwei Türmen und – so hieß es – 365 Fenstern zu leben. Immer wieder musste er sich ins Gedächtnis rufen, dass alle Menschen, ob sie nun in einem Mietshaus oder einer Villa aufgewachsen waren, Teil des mystischen Leibes Christi waren.

Während er nun an dem schwachen Tee nippte – serviert in der einzigen Tasse, die, wie er bemerkt hatte, keinen Sprung aufwies – und in einem Stuhl hin und her rutschte, dessen kaputte Sprungfeder sich in seinen Oberschenkel bohrte, musste er sich selbst allerdings eingestehen, dass er sich eigentlich nicht so sehr über die Ungerechtigkeit empört hatte, sondern vielmehr über den entsetzlichen Zustand des Ortes erschrocken war. Einmal hatte er beim Reden den Faden verloren, weil er überzeugt gewesen war, eine Ratte zu sehen, die ihn aus dem kahlen Kopf eines alten Tigerfells heraus anschaute.

Er hatte miterlebt, wie die Häuser der Menschen im Blitzkrieg zerstört worden waren, aber der Niedergang war in Oakbourne Hall genauso spürbar. Vielleicht sogar noch deutlicher, denn die Elendsviertel existierten jetzt ja nicht mehr, und das war gut so. Aber das alte Herrenhaus besaß noch immer gewisse Reste von Schönheit. Er hatte einen alten Sängerbalkon entdeckt, ein Buntglasfenster, auf dem Schwalben zwischen Schilfrohr zu sehen waren, und auch eine prächtige Treppe. Die Vernachlässigung und der Verfall dessen, was einmal so schön gewesen war, stimmten ihn traurig, und zu seiner Überraschung taten ihm die Raynes sogar leid.

Er warf einen Blick auf die überwucherte Hecke, die dem Zimmer noch mehr von dem ohnehin schon spärlichen Licht raubte, und wandte sich dann wieder der Fensterbank zu. Darauf befand sich eine Auswahl von Werken, die verschiedene Phasen des kurzen Lebens von Mrs. Turners Sohn verkörperten: ein Aschenbecher aus Ton mit der Aufschrift »Mummy«, wobei das »y« in eine Ecke gequetscht war; etwas, das Ivens für eine Katze hielt, und dann eine ausgezeichnete Schnitzerei, die einen Reiher darstellte. Mrs. Turner hielt die Stücke stets penibel frei von Staub.

»Oh, wie schön«, sagte er mit erzwungenem Optimismus, als sie mit dem grätigen Fisch und einer mit Margarine bestrichenen Scheibe Brot hereinkam.

»Das habe ich doch gerne gemacht.«

»Soll ich die Hecke nicht doch ein wenig zurückschneiden?«, fragte er zum zweiten Mal in jener Woche.

»Nein danke«, antwortete sie und zog die Vorhänge zu.

»Das macht mir keine Mühe.«

»Sie haben doch schon genug zu tun.«

Zu tun? Was konnte er schon tun, um den Raynes zu helfen, dieser hübschen, traurigen Frau in einem Kleid, das unförmig von ihren mageren Schultern hing, und ihrem Mann voller Bitterkeit und Verzweiflung? In ihrem riesigen, lieblosen Salon hatte er sich gefragt, welche Qualen sich hinter ihrem gekünstelten Lächeln und seinen grausamen Zügen verbargen. Der Versuch, diesen Menschen den Frieden Gottes zu bringen, war so vergeblich wie das Unterfangen, den Regen aufhalten zu wollen.

»Die Männer werden nach dem Krieg verrückt«, hatte ein Seelsorger, der in den Schützengräben gedient hatte, einmal zu ihm gesagt. Das gilt für uns alle, dachte er und beobachtete Mrs. Turner dabei, wie sie einen Rußfleck vom Kamin wischte, der sich in den fünfzehn Minuten seit der letzten Reinigung abgelagert haben musste.

»Das sieht köstlich aus«, sagte er und versuchte, sich bei der Aussicht auf den fettigen Klumpen, der vor ihm lag, nicht zu ekeln. »Ach, Mrs. Turner, als ich oben im Big House war, sagte Sir Stephen, dass wir gerne etwas Holz haben dürften.«

»Ich glaube, wir haben genug, danke.«