Der Erste Weltkrieg - Dr. Karl Theodor Helfferich - E-Book

Der Erste Weltkrieg E-Book

Dr. Karl Theodor Helfferich

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Beschreibung

Dr. Karl Theodor Helfferich war ein deutscher Politiker, Bankier und Wirtschaftswissenschaftler. Während des Ersten Weltkriegs verantwortete er unter anderem die Kriegsfinanzierung Deutschlands und war sogar Vizekanzler. Sein umfassendes Werk zum Ersten Weltkrieg, hier vorliegend in einer Ausgabe mit allen drei Bänden, "Die Vorgeschichte des Weltkriegs", "Vom Kriegsausbruch bis zum uneingeschränkten U-Bootkrieg" und "Vom Eingreifen Amerikas bis zum Zusammenbruch", war eine der ersten Aufarbeitungen des Krieges aus deutscher Sicht.

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DER WELTKRIEG

 

Band 1: Die Vorgeschichte des Weltkriegs

Band 2: Vom Kriegsausbruch bis zum uneingeschränkten U-Bootkrieg

Band 3: Vom Eingreifen Amerikas bis zum Zusammenbruch

 

DR. KARL T. HELFFERICH

 

 

 

 

Der Weltkrieg, K. Helfferich

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849653224 Die Digitalisate und Vorlagen für dieses Werk sind im Internet zugänglich unter: https://archive.org/details/derweltkrieg00helfuoft/page/n6 https://archive.org/details/derweltkrieg02helfuoft/page/n6 https://archive.org/details/derweltkrieg03helfuoft/page/n5

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

Inhalt:

Bd. I - Die Vorgeschichte des Weltkrieges. 1

Vorwort1

I. Vom Dreibund zum Dreiverband. 2

Die Verschiebung der Mächtegruppierung seit Bismarcks Abgang. 2

Die treibenden Kräfte. 10

II. Die Etappen zum Weltkrieg:23

Die bosnische Krise. 23

Verständigungsversuche mit  Frankreich und Russland. 26

Die Marokkokrise von 1911. 28

Lord Haldanes Mission. 32

Der Tripoliskrieg. 34

Die beiden Balkankriege. 36

III. Die letzten Verständigungsversuche. 45

Die Verständigung mit England über die afrikanischen Kolonialfragen. 45

Die vorderasiatischen Fragen,  insbesondere die Bagdadbahn. 47

Die Verständigung mit Frankreich über die türkischen Eisenbahnfragen. 55

Die Verständigung mit England über die vorderasiatischen Fragen. 56

Die deutsch-englische Verständigung und die englisch-russische Marinekonvention62

IV. Der Ausbruch des Weltkrieges. 68

Band II - Vom Kriegsausbruch bis zum uneingeschränkten U-Bootkrieg. 94

Vorwort94

I.. Umfang und Art des Krieges. 95

Die militärische Gestaltung des Krieges. 95

Der Krieg und die deutschen Finanzen. 98

Der Krieg und die deutsche Wirtschaft104

II. Die politische und militärische Entwicklung des Krieges bis zum Friedensangebot110

Die Türkei als Bundesgenosse. 110

Italien. 115

Von der italienischen Kriegserklärung bis zum Eintritt Bulgariens in den Krieg119

Vom Eingreifen Bulgariens  bis zum rumänischen Krieg. 127

III. Finanzielle Kriegführung. 135

Reichsschatzamt135

Die Finanzierung kriegswichtiger Unternehmungen. 136

Kriegskosten und Sparsamkeit144

Die Kriegsanleihen. 147

Kriegssteuern. 153

Vorschüsse an unsere Verbündeten. 159

IV. Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft161

Reichsamt des Innern. 161

Deutschland als belagerte Festung. 164

Der Wirtschaftskampf um die Neutralen. 172

Die innere Kriegswirtschaft181

Hilfsdienstgesetz und Hindenburg-Programm.. 193

V. Friedensbemühungen und U-Bootkrieg. 208

Die Friedensfrage. 209

Die erste Phase des U-Bootkriegs. 214

Der "verschärfte U-Bootkrieg". 225

Der "Sussex"-Fall230

Die Bemühungen Bethmann Hollwegs um einen amerikanischen Friedensschritt235

Der deutsche und der amerikanische Friedensschritt238

Der uneingeschränkte U-Bootkrieg. 248

Band III. Vom Eingreifen Amerikas  bis zum Zusammenbruch. 271

Vorwort271

I. Vom U-Bootkrieg bis zur  Friedensresolution des Reichstags. 273

Der U-Bootkrieg und die Neutralen. 273

Die russische Revolution. 275

Der Fortgang der militärischen Operationen. 277

Der U-Bootkrieg im ersten Halbjahr 1917. 279

Unser Verhältnis zu Österreich-Ungarn. 284

Die polnische Frage. 287

Die Bestrebungen auf wirtschaftliche Annäherung zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn291

Die innere Lage. 297

II. Die Kanzlerschaft des Herrn Michaelis. 325

Die Friedensresolution des Reichstags und ihre Wirkungen. 325

Die Bildung der Regierung des Herrn Michaelis. 331

Die militärische und politische Entwicklung unter der Kanzlerschaft Michaelis335

Die zweite Kanzlerkrise. 343

Von Michaelis zu Graf Hertling. 352

Die "Parlamentarisierung". 358

Die Anfänge des Grafen Hertling. 365

III. Der Ost-Friede. 369

Der Waffenstillstand von Brest-Litowsk. 370

Die Vorbereitungen für die Friedensverhandlungen. 372

Die erste Phase der Brester Friedensverhandlungen. 375

Die zweite Phase der Brester Friedensverhandlungen. 381

Spannung zwischen der politischen Leitung und der Heeresleitung. 383

Der Friedensvertrag mit der Ukraine. 384

Die letzte Phase der Brester Friedensverhandlungen. 387

Der Friede von Bukarest392

Ergebnis und Folgen der östlichen Friedensschlüsse. 400

IV. Die Entscheidung. 415

Diplomatisches Zwischenspiel415

Die große Offensive. 432

Neue innere Krisen. 441

Der Wendepunkt449

Meine Moskauer Mission. 452

Der Zusammenbruch. 474

Der Zusammenbruch Bulgariens und der Türkei481

Nachtrag. 510

Bd. I - Die Vorgeschichte des Weltkrieges

 

Vorwort

 

Ich vermesse mich nicht, die Geschichte des Weltkrieges zuschreiben. Das mag ruhigeren Zeiten vorbehalten bleiben, in denen die Menschheit einigermaßen Distanz zu den Ereignissen des Weltkrieges gewonnen hat. Wohl aber glaube ich, heute schon einiges — und nicht ganz Unwichtiges — zur Geschichte des Weltkrieges sagen zu können und sagen zu müssen.

Mein persönliches Schicksal hat mich so geführt, dass ich seit einer Reihe von Jahren an den Entwicklungen, die dem Kriege vorausgingen, die den Knoten schürzten und ihn zeitweise wieder zu entwirren schienen, dass ich schließlich an den Ereignissen des Krieges selbst mittelbar oder unmittelbar, Einblick nehmend oder handelnd, beteiligt war.

Die Welt dürstet nach Aufklärung; sie will wissen, wie es hat so kommen können und ob es hat so kommen müssen. Ihr Urteil über Personen, Einrichtungen, Vorgänge hängt von dieser Aufklärung ab; und ihr Urteil wird, da alles noch im Fluss des Werdens ist, das Schicksal der Völker und Völkergemeinschaften gestalten helfen. Ich glaube mich, soweit ich es vermag, in den Dienst dieses Bedürfnisses nach Aufklärung stellen zu sollen.

Meine Absicht geht dabei auf mehr als auf eine Bereicherung der Memoirenliteratur. Sie geht darauf, die Fülle der Ereignisse in ihrem großen Zusammenhang zu erfassen und sie so zur Darstellung zu bringen, wie ich sie sehend und handelnd erlebt habe. Der Nachdruck wird dabei auf der Schilderung der Tatsachen liegen, vor allem auf der Darstellung derjenigen Vorgänge, an denen ich unmittelbar beteiligt war. Im Urteil, namentlich im Urteil über Personen, Parteien, Berufsstände und Volksschichten, werde ich mir nach Möglichkeit die Zurückhaltung auferlegen, die mir Pflicht eines mitbeteiligten Darstellers noch nicht abgeschlossener Vorgänge zu sein scheint.

Der aufrichtige Wille zur Wahrheit hat mir die Feder geführt. Deshalb wage ich zu hoffen, dass diese Blätter dazu beitragen werden, der viel misshandelten und grausam entstellten Wahrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und damit beizutragen zu einer Gesundung der Gemüter und Zustände in Deutschland wie zur Schaffung erträglicher Verhältnisse zwischen den Völkern.

Der vorliegende Band behandelt die Vorgeschichte des Weltkrieges. Die Darstellung der Vorgänge des Weltkrieges selbst ist in der Hauptsache bereits abgeschlossen und wird diesem ersten Bande in naher Zeit folgen können.

Berlin, Ende März 1919

Karl Helfferich

 

I. Vom Dreibund zum Dreiverband

 

Die Verschiebung der Mächtegruppierung seit Bismarcks Abgang

 

Bismarck hat das neue Preußen geschaffen, Preußens Vorherrschaft in Deutschland begründet und das Deutsche Reich aufgebaut in Kriegen, die er, wenn nicht herbeigeführt, so doch politisch vorbedacht und diplomatisch vorbereitet hat; vorbedacht und vorbereitet in einer Weise, dass der Gegner isoliert und eine der eigenen Macht überlegene feindliche Koalition verhindert wurde. Nach dem Krieg von 1870/71 und der Begründung des Reichs war er nach seinem eigenen Geständnis beherrscht von dem "cauchemar des coalitions" in einem Maße, dass ihm dieser Alpdruck oft den Schlaf raubte. Ebenso wie Moltke, der vorausgesagt hat, dass wir in fünfzig Jahren um die Errungenschaften von 1870 würden kämpfen müssen, hat Bismarck klar erkannt, dass eine Versöhnung des besiegten, in seinem alten nationalen und kriegerischen Stolz schwer getroffenen Frankreich auf viele Jahrzehnte hinaus nicht möglich sein werde, und dass damit jeder anderen Großmacht, die sich zur kriegerischen Auseinandersetzung mit Deutschland entschließen sollte, von vornherein ein nicht zu unterschätzender Bundesgenosse gesichert sei. Die Gefahr der Bildung gegnerischer Koalitionen hat durch diese Tatsache eine besondere Verschärfung erfahren ; sie hat für die Politik des Deutschen Reichs von Anfang an eine Erschwerung geschaffen, wie sie die Politik keines anderen Staates belastete.

Es ist bekannt, wie Bismarck diese Verhältnisse gemeistert hat. Bei seinem Rücktritt hinterließ er uns eine Mächtegruppierung, die sich in kurzen Zügen folgendermaßen umreißen lässt:

Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien in dem Schutzbündnis des Dreibundes zusammengeschlossen. Russland durch den geheimen Rückversicherungsvertrag von jeder Allianz mit offensiven Zielen gegen das Deutsche Reich abgehalten. England in der Gesamtorientierung seiner Politik dreibundfreundlich, wenn auch frei von irgendwelchen vertragsmäßigen Bindungen.

Bismarck selbst hatte den Wert von Bündnissen und Verträgen nie überschätzt. Niemand wusste besser als er, dass Bündnisse und Verträge, sollen sie in den Lagen, für die sie geschlossen sind, Stich halten, der Untermauerung durch die Übereinstimmung der wirklichen Interessen der vertragschließenden Teile bedürfen. Vor allem war sich Bismarck klar über den bedingten Wert der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund: auf der einen Seite war der italienisch-Österreichische Gegensatz nicht aus der Welt zu schaffen, sondern nur durch Vorteile, die Italien im Dreibund fand, oder stärkere Gegensätze zwischen Italien und anderen Ländern, namentlich Frankreich, zu überbieten; dann bedurfte Italien angesichts seiner Küstengestaltung, wie Bismarck stets anerkannt hat, einer Anlehnung an den maritimen Schutz Englands. Diese Voraussetzungen für ein Sichwohlfühlen Italiens im Dreibund waren, als Bismarck im Jahre 1890 zurücktrat, vorhanden: der Gegensatz zwischen Italien und Frankreich, hervorgerufen insbesondere durch die Festsetzung Frankreichs in Tunis, aufs äußerste verschärft durch einen heftigen Zollkrieg, ließ die gegen Österreich gerichteten irredentistischen Aspirationen zurücktreten. England, das in den Fragen des Mittelmeers und in kolonialen Angelegenheiten in Gegnerschaft mit Frankreich stand, und das sich durch die russische Ausdehnung nach Osten in seinen asiatischen Interessen, vor allem in seiner Herrschaft über Indien, bedroht sah, hielt damals noch ein Zusammengehen mit dem Dreibund — trotz mancher Reibungen mit Deutschlands jungen Kolonialbestrebungen — für die richtige Politik. In Russland allerdings hatten die Nachwirkungen des Berliner Kongresses, die immer stärker werdenden panslawistischen Bestrebungen, der Gegensatz zu Österreich-Ungarn in den Balkanfragen, schließlich das Misstrauen Alexanders III. gegenüber der Bismarckschen Politik den Wert des im Jahre 1887 erneuerten deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages so stark ausgehöhlt, dass bereits in den letzten Jahren der Bismarckschen Kanzlerschaft die Gefahr des Zweifrontenkriegs für Deutschland akut zu werden drohte.

Das Gebäude der Sicherung Deutschlands gegenüber einer übermächtigen feindlichen Koalition, wie es Bismarck seinen Nachfolgern überließ, war ein äußerst kunstvolles. Es trug die Gewähr seines Bestandes nicht in sich selbst, sondern ruhte in wichtigen Teilen auf einem leicht veränderlichen Grunde, dessen Tragfähigkeit schon in der Vergangenheit nur durch unablässige Achtsamkeit und ununterbrochene Bemühungen erhalten werden konnte und für die Zukunft durch kaum abwendbare Entwicklungen schwer bedroht erscheinen musste.

Alsbald nach Bismarcks Rücktritt begann das von ihm geschaffene und schließlich von ihm nur noch mühsam aufrechterhaltene System abzubröckeln.

Der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland im Jahre 1890 folgte in kurzer Zeit die russisch-französische Entente, die sich im weiteren Verlauf zu dem Zweibundsvertrag verdichtete. Die Gefahr des Zweifrontenkriegs war damit vom Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an zu einer dauernden geworden. Alle deutschen Bemühungen, das russisch französische Bündnis zu lockern, blieben in der Folgezeit ergebnislos.

Das Verhältnis zu England blieb zunächst noch ein gutes. Während wir durch den Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890 koloniale Reibungspunkte aus unsern Beziehungen zu England beseitigten, bestand die britisch-französische Kolonialrivalität fort und erreichte im Jahre 1898 mit dem Zwischenfall von Faschoda ihren Höhepunkt. Noch mehr fiel ins Gewicht, dass der starke Gegensatz zwischen England und Russland sich in unverminderter Schärfe erhielt. Unter solchen Umständen konnte man in Deutschland die Hoffnung hegen, dass es einer umsichtigen Politik gelingen werde, die für uns bedrohlichste Koalition — den Zusammenschluss Englands mit dem seine Spitze gegen Deutschland und seine Verbündeten richtenden Zweibund — zu verhindern.

Diese Hoffnung schien sich zu bestätigen, nachdem in England die Erregung über die " Krügerdepesche" (Januar 1896) sich gelegt hatte und die britische Regierung, trotz der damals schon erwachten Handelseifersucht, den Versuch einer entschiedenen Annäherung an Deutschland machte. Kein Geringerer als Josef Chamberlain setzte sich in jener Zeit öffentlich für einen germanisch-angelsächsischen Dreibund ein, bestehend aus Deutschland, Großbritannien und Irland und den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber dieser Annäherungsversuch fand sowohl bei der deutschen öffentlichen Meinung, die gerade damals infolge des Burenkrieges stark gegen England erregt war, wie auch bei der Reichsregierung, die sich zwischen England und Russland freie Hand wahren wollte, keine ermutigende Aufnahme. Die Entwicklung kulminierte in dem zwischen Deutschland und England im Herbst 1900 abgeschlossenen Abkommen über China (in Deutschland zumeist "Yangtse-Abkommen" genannt), in dem die beiden Mächte sich gegenseitig auf den Grundsatz der offenen Tür festlegten und sich eine Verständigung für den Fall vorbehielten, dass eine andere Macht die chinesischen Wirren benutzen sollte, um territoriale Vorteile zu erlangen. Dieses Abkommen wurde in der internationalen Öffentlichkeit als ein Zusammenschluss Deutschlands und Englands gegen die russischen Aspirationen auf die Mandschurei aufgefasst. Aber gerade in diesem entscheidenden Punkte stellte sich eine ernste Verschiedenheit der Auslegung zwischen der deutschen und der großbritannischen Regierung heraus. Als wenige Monate nach dem Abschluss des Abkommens die Frage durch Russlands Vorgehen akut wurde, erklärte Fürst Bülow im Reichstag, dass sich das deutsch-englische China-Abkommen nicht auf die Mandschurei beziehe; darüber sei auch bei den Verhandlungen über das Abkommen den britischen Staatsmännern kein Zweifel gelassen worden. Demgegenüber erklärte Lord Salisbury im Unterhaus, dass die Behauptung, Deutschland habe bei den Verhandlungen die Mandschurei ausgenommen, nicht den Tatsachen entspreche. Auf diese Weise kam es statt zu einer ihre Spitze gegen Russland kehrenden deutsch-englischen Annäherung zu einer tiefgehenden, die weitere Entwicklung wohl endgültig beeinflussenden deutsch englischen Verstimmung und zu einer von Russland freudig begrüßten, aber mit keinem Dank entgoltenen deutschen Rückendeckung für die russische Ostasien-Politik.

Der weitere Verlauf der Dinge erhielt sein Gepräge durch die Annäherung zwischen England und Frankreich, die sich schließlich unter Einbeziehung des russischen Bundesgenossen der Französischen Republik zur Triple-Entente ausweitete. Es muss festgestellt werden, dass bereits im Sommer 1903 der nachmalige Staatssekretär des Auswärtigen, Sir Edward Grey, als oppositioneller Abgeordneter den Versuch des Zusammengehens mit Deutschland in den ostasiatischen Angelegenheiten als einen erwiesenen Missgriff bezeichnete und daraus die Folgerung zog, eine Annäherung an Russland zu empfehlen.

In Frankreich wirkte die Demütigung von Faschoda einige Zeit stark nach. Im Burenkrieg ergriff die öffentliche Meinung in Frankreich kaum minder lebhaft gegen England Partei als in Deutschland. Aber bald waren Kräfte am Werk, die gerade aus der Demütigung von Faschoda eine neue Orientierung der französischen Politik gegenüber England herleiteten. Faschoda hatte gezeigt, dass gegen Deutschland und gegen England Frankreich seine Großmachtstellung nicht würde behaupten können. Das alte Revanchebedürfnis gegenüber Deutschland erwies sich in dieser Lage als stärker denn die neue Erbitterung über die Vergewaltigung durch England. Delcassé als französischer Minister des Auswärtigen leitete in stiller und zäher Arbeit die britisch-französische Annäherung ein. Er fand in England günstigen Boden. Dort hatte man endgültig die Hoffnung, in Deutschland ein Werkzeug gegen Russland gewinnen zu können, aufgegeben; die Handelseifersucht gegen Deutschland wuchs mit der Entfaltung der deutschen Wirtschaftskraft, namentlich des deutschen Außenhandels, der deutschen Unternehmungen im Ausland und der deutschen Handelsflotte, von Jahr zu Jahr; die Vergrößerung der deutschen Kriegsflotte, eine durch die Vermehrung des Außenhandels und das Wachstum der Handelsflotte gerechtfertigte Entwicklung, erregte mehr und mehr Besorgnis; und schließlich bestieg nach dem Tode der Königin Victoria im Januar 1901 Edward VII. den britischen Thron.

Die Entente zwischen Frankreich und England trat vor aller Welt offenkundig in Erscheinung in dem am 8. April 1904 unterzeichneten Abkommen, das neben einer Anzahl schwebender kolonialer Fragen Marokko und Ägypten behandelte. Soweit Marokko in Betracht kam, zeigte diese diplomatische Aktion in der Sache wie in der Form eine Spitze gegen Deutschland. England und Frankreich setzten sich — in dem erst später veröffentlichten Geheimabkommen noch sehr viel deutlicher als in dem offenen Vertrag — über die erheblichen deutschen Interessen in Marokko und über die auch von Deutschland unterzeichnete Madrider Konvention von 1880 hinweg, während sie den vierten Hauptinteressenten, Spanien, in einem öffentlichen und einem geheimen Abkommen vom 7. Oktober 1904 abfanden und zum Teilhaber ihrer Aktion machten. Sie setzten sich über die deutschen Rechte und Interessen hinweg, ohne der deutschen Regierung eine offizielle Mitteilung über das Deutschland so nahe berührende Abkommen zu machen. Die deutsche Regierung zeigte zunächst eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Erst als Frankreich zu tatsächlichen Maßnahmen in Marokko schritt, die eine nicht mehr zu ignorierende Verletzung der Souveränität des Sultans von Marokko und der auf der Madrider Konvention beruhenden deutschen Rechte darstellten, gab Deutschland durch den Besuch des Kaisers Wilhelm in Tanger zu erkennen, dass es nicht gewillt sei, sich als nicht vorhanden behandeln zu lassen. Dieser Schritt klärte die Lage. Delcassé, der mit allem Nachdruck für die Ablehnung der unbestreitbar berechtigten Forderung auf internationale Regelung der bisher durch die Madrider Konvention international geregelten Marokkofrage eintrat, konnte sich im französischen Ministerrat auf die Zusage nicht nur diplomatischer, sondern auch militärischer Unterstützung Englands gegenüber Deutschland berufen. Wenn es nicht zum Kriege zwischen der neuen englisch-französischen Koalition und dem Deutschen Reiche kam, wenn Frankreich vielmehr die von Deutschland vorgeschlagene Regelung der Marokkofrage durch eine neue internationale Konferenz schließlich annahm und den zum Krieg entschlossenen Delcassé fallen ließ, so lag der Grund hierzu nicht bei dem Friedenswillen der englischen Regierung oder einer Selbstbesinnung Frankreichs, sondern lediglich in dem von dem französischen Kriegsminister anerkannten Mangel an Bereitschaft des französischen Heeres sowie in der Schwächung Russlands durch den russischjapanischen Krieg und die inneren Wirren.

Die Konferenz von Algeciras, deren Zusammentritt ein formaler Erfolg, deren Verlauf und Ergebnis ein kaum verhüllter materieller Misserfolg der deutschen Politik war, konnte die Tatsache des entschlossen gegen Deutschland gerichteten englisch-französischen Einvernehmens nur bestätigen. Sie enthüllte weiter, dass Russland — trotz des Versagens seines französischen Bundesgenossen und der freundschaftlichen Haltung Deutschlands während des russisch-japanischen Krieges — nach wie vor unbeirrt auf der Seite seines französischen Verbündeten stand; dass Deutschland, jedenfalls in dieser Mittelmeerfrage, auf eine Unterstützung durch Italien gegen Frankreich nicht rechnen konnte und dass auch Österreich-Ungarn in einer solchen seine eignen Interessen nicht unmittelbar berührenden Angelegenheit nur ein lauer Freund war.

Wir wissen heute aus der großen Rede, die Sir Edward Grey am 3. August 1914, am Tag vor dem Eintritt Englands in den Krieg, im Unterhaus gehalten hat, dass schon damals, während der ersten Marokkokrisis, die englischfranzösische Entente eine militärische Ausgestaltung erhalten hat. Auf Wunsch des französischen Botschafters erklärte sich Sir Edward Grey damit einverstanden, dass die beiderseitigen militärischen und maritimen Stabschefs miteinander in regelmäßig wiederkehrende Beratungen eintreten sollten, deren Zweck die Vereinbarung über einen gemeinschaftlichen Feldzugsplan gegen Deutschland war. Formal wurde die Freiheit der Entschließung für den Eventualfall, dem diese gemeinschaftlichen Beratungen gelten sollten, vorbehalten. Was von diesem Vorbehalt materiell zu halten war, hat Sir Edward Grey selbst am 3. August 1914 im Unterhaus dargelegt; er führte damals aus, dass die Vereinbarung für England eine moralische Verpflichtung geschaffen habe, Frankreich zu helfen; er fügte hinzu, dass auf Grund des in eventum vereinbarten Feldzugsplans Frankreich seine Flotte im Mittelmeer konzentriert und damit seine westlichen und nördlichen Küsten unverteidigt gelassen, d. h. sie der englischen Flotte zur Verteidigung überlassen habe. Die Abmachung zwischen Sir Edward Grey und dem französischen Botschafter über die Zusammenarbeit der beiderseitigen General- und Admiralstäbe war zunächst nur eine mündliche. Sie wurde in England seinerzeit nur dem damaligen Ministerpräsidenten Sir Henry Campbell Bannerman, Lord Haldane und Mr. Asquith mitgeteilt ; das Gesamtkabinett selbst wurde, wie Sir Edward Grey bekannte, "much later on" — es ist anzunehmen während der Marokkokrisis von 1911 — informiert. Schriftlich niedergelegt, in Form eines Briefwechsels zwischen Sir Edward Grey und Mr. Paul Cambon, wurde die Abmachung erst am 22. November 1912. Das britische Parlament erhielt von ihr zum ersten Mal Kenntnis am 3. August 1914, als der Eintritt Englands in den Krieg auf Grund dieser Abmachung bereits unabwendbar geworden war.

Die englisch-französische Kombination, die im Juli-August 1914 wirksam wurde, geht also bereits auf die Wende der Jahre 1905 und 1906 zurück.

Die militärische Zusammenarbeit wurde sofort auch auf Belgien ausgedehnt. Im Januar 1906 trat der britische Militärattaché in Brüssel an den belgischen Generalstabschef heran, um unter Hinweis auf die bestehende Kriegsgefahr und die Bedrohung der belgischen Neutralität vertrauliche militärische Unterhaltungen der gleichen Art, wie sie zwischen England und Frankreich begonnen worden waren, einzuleiten. Die Besprechungen, auf die der belgische Generalstabschef sich bedingungslos einließ, hatten als Grundlage die von dem britischen Militärattaché für den in Betracht kommenden Eventualfall angekündigte Landung eines britischen Expeditionskorps und seinen Durchmarsch durch Belgien; die Kooperation dieses Expeditionskorps mit dem belgischen Heer wurde im weiteren Verlaufe der Unterhaltungen in allen Einzelheiten durchberaten.

Russland, Frankreichs Verbündeter, war in den letzten Jahrzehnten, ehe die Engländer in Deutschland den gefährlichsten Rivalen zu erkennen glaubten, für England der Gegenstand der größten Sorge gewesen. Denn Russland war die einzige Macht, die der britischen Weltstellung zu Lande bedrohlich werden konnte. Die völlige Unvereinbarkeit der britischen und russischen Strebungen galt lange Zeit hindurch als ein Axiom der Politik. Englands Verhältnis zu Deutschland selbst war bis zur Jahrhundertwende stark beeinflusst von dem britischen Wunsch, Deutschland als Gegengewicht gegen Russland zu benutzen.

Dieser Wunsch wurde im Jahre 1900 endgültig als unausführbar erkannt. Aber die britische Politik hatte damals bereits ein anderes Gegengewicht gegen Russland in Aussicht: Japan. Am 30. Januar 1902 wurde das britisch-japanische Bündnis unterzeichnet. Zwei Jahre später brach der russischjapanische Krieg aus, der mit der Niederlage Russlands und dem Zusammenbruch seiner ostasiatischen Politik endete.

Wie Frankreich durch Faschoda für England bündnisreif gemacht worden war, so jetzt Russland durch den Ausgang des ostasiatischen Krieges. Die für das britische Weltreich gefährlichen russischen Aspirationen waren für absehbare Zeit so weit beschnitten, dass jetzt eine Verständigung möglich erschien. Deutschland wurde infolge der Schwächung Russlands für England nun der konkurrenzlose Feind. Und wie sich England noch wenige Jahre zuvor um das deutsche Schwert gegen Russland beworben hatte, so suchte es nunmehr Russland für die Auseinandersetzung mit Deutschland auf seine Seite zu ziehen. Schon im September 1905 wurde dem von den Friedensverhandlungen in Portsmouth zurückkehrenden Grafen Witte in Paris ein von König Edward und dem russischen Botschafter in Petersburg ausgearbeiteter Vertragsentwurf vorgelegt. Witte zeigte sich zurückhaltend. Aber zwei Jahre später, am 31. August 1907, kam in Petersburg zwischen dem damaligen Minister des Auswärtigen, Iswolski, und dem britischen Botschafter ein dem damaligen Entwurf ungefähr entsprechender Vertrag zustande, der eine Auseinandersetzung der beiderseitigen Interessen in Persien, am Persischen Golf, in Tibet und in Afghanistan enthielt. Damit waren alte und gefährliche Reibungen zwischen den beiden Großmächten aus der Welt geschafft und dem bisher als unmöglich geltenden Zusammengehen von " Elefant und Walfisch" der Weg bereitet. Gleichzeitig war der russische Druck, dem durch den Ausgang des Kriegs mit Japan der Ferne Osten verschlossen worden war, nunmehr auch von Mittelasien auf den Balkan und die Türkei abgelenkt.

Nicht ganz ein Jahr später, im Juni 1908, traf König Edward mit dem Zaren Nikolaus in Reval zusammen. Alle Welt wusste, dass diese Zusammenkunft, die das größte Aufsehen erregte, den Fragen des näheren Orients, vor allem der mazedonischen Frage galt. Damit begab sich die russisch-britische Entente auf ein Gebiet, das — im Gegensatz zu Mittelasien, dem Objekt des Vertrages von 1907 — deutsche und vor allem österreichisch-ungarische Interessen von großer Bedeutung einschloss.

Seit jener Zeit konnte man mit Fug und Recht von der Triple-Entente, dem dreifachen Einvernehmen, sprechen. Was diese neue Kombination bedeutete, lässt sich am besten mit den Worten des belgischen Gesandten in Berlin, Baron Greindl, sagen:

"Der Dreibund hat während dreißig Jahren den Weltfrieden gesichert, weil er unter der Führung Deutschlands stand, das mit der politischen Gruppierung Europas zufrieden war. Die neue Gruppierung bedroht ihn, weil sie aus Mächten besteht, die eine Revision des Status quo anstreben."

Aber mit dem Zusammenschluss der drei Großmächte Frankreich-England-Russland war die Änderung in der Mächtegruppierung noch keineswegs erschöpft. Unser eignes Bündnissystem hatte, soweit Italien in Betracht kam, durch die internationalen Vorgänge eine unverkennbare Lockerung erfahren.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie sehr auch nach Bismarcks Ansicht die Stellung Italiens im Dreibund bedingt war durch das Verhältnis zu England. Solange England in guten Beziehungen zum Dreibund stand, konnte sich Italien im Dreibund wohl geborgen fühlen. Je stärker sich der Gegensatz zwischen England und der führenden Macht des Dreibundes herausentwickelte, desto stärker musste für Italien die Versuchung zu einer anderen Orientierung werden, und desto geringer war, auch wenn Italien im Dreibund verblieb, der Wert des Bündnisses für den Ernstfall zu veranschlagen. Dazu kam, dass die Reibungspunkte Italiens mit Frankreich in den Hintergrund traten. Im Jahre 1898 wurde der langjährige Zollkrieg zwischen den beiden Ländern durch einen Handelsvertrag beendigt. Die Erinnerung an Tunis verblasste, man fand sich umso eher mit dem seit bald zwei Jahrzehnten bestehenden französischen Protektorat über Tunis ab, als man jetzt nicht nur von England, sondern auch von Frankreich Zusicherungen in Bezug auf Tripolis erhielt, die eine gewisse Kompensation für Tunis in Aussicht stellten (Erklärungen des Ministers Canevaro im Frühjahr 1899). Der Dreibundvertrag wurde zwar im Jahre 1902 ohne Veränderung erneuert; aber die Erneuerung vollzog sich, wie Fürst Bülow damals im Reichstag ausführte, nicht ohne Schwierigkeiten. Vor der Erneuerung hatte der Reichskanzler im Reichstag das Wort gesprochen, dass der Dreibund nicht mehr eine absolute Notwendigkeit sei; nach der Erneuerung machte der italienische Ministerpräsident Rudini in der italienischen Kammer die Bemerkung, dass nach dem Einvernehmen mit Frankreich in den Fragen des Mittelländischen Meeres diejenige Besorgnis an Bedeutung verloren habe, die seinerzeit für den Eintritt Italiens in den Dreibund bestimmend gewesen sei. Wenn Rudini in der gleichen Rede ausführte, dass dank des Dreibundes Italien darauf rechnen könne, dass sich auf dem Balkan keine Kombination ohne sein Wissen und zu seinem Nachteil verwirklichen könne, so weist diese Bemerkung darauf hin, dass auf diesem klippenreichen Boden zwischen Italien und Österreich-Ungarn neue Reibungsmöglichkeiten entstanden waren, um deren Beseitigung man sich — für den Augenblick mit Erfolg — bemüht hatte. Im Herbst 1903 sprach König Victor Emanuel bei einem Besuch in Paris von dem "glücklich vollendeten Werk der Annäherung" zwischen Frankreich und Italien. Die Früchte zeigten sich auf der Konferenz von Algeciras.

Zur Vervollständigung des Bildes gehört ein Wort über unser Verhältnis zu Japan und zu den Vereinigten Staaten von Amerika.

Unsere Beziehungen zu dem aufstrebenden Reich der aufgehenden Sonne waren gute gewesen bis zu unserm Eingreifen nach dem den chinesisch-japanischen Krieg beendigenden Frieden von Shimonoseki im Jahre 1895. In Gemeinschaft mit Russland und Frankreich setzte damals Deutschland bei dem siegreichen Japan den Verzicht auf die ihm im Friedensvertrag zugesprochene Halbinsel Liautung durch. Die Intervention hat in Japan einen tiefen Stachel hinterlassen. Wenn für Deutschlands Beteiligung an dieser Aktion der Wunsch mitgesprochen hat, unsere Beziehungen zu Russland — die nach der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages, unseren deutlichen Versuchen einer guten Verständigung mit England und dem Abschluss der französisch-russischen Allianz gespannt geworden waren — wieder zu verbessern und den Zweibund gewissermaßen zu entschärfen, so haben wir zwar, soweit unser Verhältnis zu Japan in Betracht kam, die Kosten dieses Versuchs voll bezahlt, den Zweck jedoch nur teilweise und nur vorübergehend erreicht. Unsere Ende 1897 erfolgte Festsetzung in Kiautschou, an die sich kurz darauf die Festsetzung Russlands in Port Arthur, der Südspitze der Japan wieder entrissenen Halbinsel Liautung, und die Festsetzung Englands in Wei-hai-wei anschlössen, war nicht geeignet, unsere Beziehungen mit Japan zu verbessern. Unsere Niederlassung in Kiautschou, die im offenbaren Einverständnis mit Russland auf Grund der gemeinschaftlichen Aktion von 1895 erfolgte, schuf vielmehr eine den Japanern dauernd vor Augen liegende Erinnerung an unser für sie so empfindliches Eingreifen nach Shimonoseki.

Am 30. Januar 1902 wurde in London der Bündnisvertrag zwischen England und Japan abgeschlossen. Nach dem russisch-japanischen Krieg und der britisch-russischen Verständigung förderte England mit Erfolg die Wiederannäherung zwischen den beiden Gegnern. Auf diese Weise wurde Japan dem System der Triple-Entente angegliedert.

Die Vereinigten Staaten haben vor dem Krieg niemals Neigung gezeigt, sich in die Fragen der europäischen Politik einzumischen. Während des spanisch -amerikanischen Kriegs kam es zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Geschwaderchef vor den Philippinen zu an sich unbedeutenden Missverständnissen, die zu einer auffallend scharfen Stellungnahme der amerikanischen Presse gegen Deutschland führten. Die Differenzen, betreffend die Samoa-Inseln sind durch das Samoa-Abkommen von 1899 beseitigt worden. Die Venezuela-Affäre (1902/03), in der Deutschland mit England gemeinschaftlich vorging, zeigte abermals eine starke Voreingenommenheit der amerikanischen Presse und öffentlichen Meinung gegen Deutschland, dem ohne jeden Schatten eines Grundes allerlei törichte Pläne territorialer Erwerbungen auf amerikanischem Boden nachgesagt wurden. Auch handelspolitische Differenzen blieben nicht aus. Der wirkliche Kern aller dieser gelegentlichen Reibungen war bedeutungslos, und von deutscher Seite wurde mit Zähigkeit und nicht ohne Erfolg daran gearbeitet, in Amerika ein besseres Verständnis für deutsches Wesen und deutsche Politik zu schaffen. Aber alle bei uns gelegentlich aufgetauchten Ideen, als ob die Vereinigten Staaten für uns ein wirksames Gegengewicht gegen eine Bedrohung durch Großbritannien und seine Mächtegruppe werden könnten, gehörten in das Reich weltfremdester Phantasie. Für jeden Kenner amerikanischer Verhältnisse stand es fest, dass im Falle einer Weltkonflagration die Sympathien Amerikas, trotz des starken deutsch-amerikanischen Einschlags, auf der Seite der Westmächte sein würden, und dass wir für uns günstigstenfalls eine Neutralität ohne besonderes Wohlwollen erwarten dürften.

So war die Mächtegruppierung um das Jahr 1908 beschaffen, zu der Zeit, als sich das große Verhängnis zusammenzuziehen begann. Die Ereignisse, die nun folgten — die bosnische Krisis von 1908/09, die Marokkokrisis von 1911, der türkisch-italienische Krieg, die beiden Balkankriege — , sind die unmittelbaren Vorläufer des Weltkriegs.

Während bei dem Abgang Bismarcks die Stellung Deutschlands unter den Großmächten über den Dreibund hinaus gesichert war durch den allerdings prekär gewordenen Rückversicherungsvertrag mit Russland und das gute Verhältnis zu England, und während es dem auf Revanche sinnenden Frankreich damals noch nicht gelungen war, einen sicheren Bundesgenossen zu erlangen, war gegen Ausgang der Bülowschen Kanzlerschaft in der Triple-Entente eine starke Kombination mit deutlicher Spitze gegen Deutschland und Österreich-Ungarn entstanden, der überdies Japan durch das Bündnis mit England nahestand und die mit Italien in wichtigen Punkten sich verständigt hatte. Der Dreibund war isoliert und, soweit Italien in Betracht kam, unterhöhlt. Bismarcks "cauchemar des coalitions" war zur Wirklichkeit geworden. Wir mussten von jetzt ab damit rechnen, dass wir bei jedem ernsten Konflikt mit einer einzelnen der Großmächte, mit denen ein ernster Konflikt überhaupt denkbar war, uns einer starken Koalition gegenübersehen würden.

 

Die treibenden Kräfte

 

Die Frage drängt sich auf: Wie hat es so kommen können? War es lediglich die geschicktere Diplomatie auf der Seite unserer Gegner, die es diesen ermöglicht hat, uns wichtige Figuren aus unserm Spiel zu nehmen und das eigne Spiel zu verstärken, oder haben elementare Kräfte des Völkerlebens den Strom des Geschehens in jene Bahnen gelenkt?

Persönlich stehe ich nicht an, der Gegenseite, insbesondere den Engländern, die größere diplomatische Geschicklichkeit, die überlegene Führung der Politik zuzuerkennen. Ihre Staatsmänner haben insbesondere die wesentliche Kunst verstanden, der großen Richtlinie ihrer Politik entgegenstehende Interessen und Gefühle, auch solche von an sich erheblichem Gewicht, unterzuordnen. Ich erinnere an Frankreichs Haltung nach Faschoda, an Englands Preisgabe wichtiger eigener Interessen in Marokko zur Gewinnung Frankreichs, in Mittelasien zur Gewinnung Russlands. Unseren deutschen Staatsmännern ist es nicht in gleichem Maße geglückt, Reibungspunkte mit Staaten, die nicht notwendigerweise unsere Gegner sein mussten, rechtzeitig zu beseitigen. Angesichts der auch nach meiner Ansicht nicht vermeidbaren Zuspitzung unseres Verhältnisses zu Großbritannien und der Rückwirkung dieser Zuspitzung auf unsere Verteidigungsgrundlage, den Dreibund, mussten von langer Hand Sicherungen, selbst unter großen Opfern, geschaffen werden. Unsere Politik war jedoch eine Politik der mangelnden Gegengewichte. Ich erinnere an Japan, das wir uns durch unser Eingreifen nach dem Frieden von Shimonoseki zum Gegner gemacht haben und dem wir durch unsere Festsetzung in Kiautschou einen unmittelbaren Anreiz für den Fall einer kriegerischen Konflagration geradezu vor die Haustür gesetzt haben. Ich möchte behaupten, dass ohne unsere territoriale Festsetzung in Kiautschou — unsere Hafen- und Eisenbahnunternehmungen in der Türkei haben bewiesen, in welchem Maße weitgesteckte wirtschaftliche Ziele auch ohne territoriale Festsetzung erreicht werden können — Japan niemals aktiv gegen uns eingegriffen hätte; ebenso wie ich überzeugt bin, dass die Türkei, falls wir etwa in Haidar-Pascha oder Alexandrette bei irgendeiner Gelegenheit eine territoriale Festsetzung versucht hätten, im Weltkrieg statt unser Verbündeter unser Feind geworden wäre. Das ist meine Ansicht nicht erst seit dem Weltkrieg. Ich erinnere mich, die Auffassung, dass insbesondere Kiautschou, aber auch andere Teile unseres über die Welt zersplitterten Kolonialbesitzes, für den Ernstfall nicht Stützpunkte, sondern Reibungspunkte und Schwächepunkte darstellten, schon im Jahre 1904 als junger Hilfsarbeiter in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes dem Fürsten Bülow dargelegt zu haben. Dazu kamen bei uns gewisse Ungeschicklichkeiten und Schroffheiten in der diplomatischen Taktik und in der Form unserer Meinungs- und Gefühlsäußerungen, die im Ausland teils falsch verstanden, teils gegen uns ausgenutzt wurden. Ich erwähne als Beispiel unsre Haltung auf der Haager Friedenskonferenz von 1907. Die Leiter der deutschen Politik und das deutsche Volk waren gewiss mindestens von ebenso friedlichen Absichten beseelt wie die Leiter der britischen Politik und das britische Volk oder irgendjemand sonst. Aber England erschien Arm in Arm mit Spanien und den Vereinigten Staaten im weißen Gewand des Friedensengels mit dem Antrag, die Frage der Rüstungsbeschränkungen auf das Programm der Konferenz zu setzen, Deutschland dagegen erschien mit seinem Einspruch gegen diesen Vorschlag im eisernen Gewand des Kriegsgottes. Ich bin mit dem Fürsten Bülow einig in der Meinung, dass eine Diskussion der Abrüstungsfrage mangels greifbarer Vorschläge und angesichts der in der Sache liegenden Schwierigkeiten zu keinem praktischen Ergebnis geführt hätte. Ich halte es darüber hinaus für wahrscheinlich, dass für England der Hintergedanke bestimmend war, das Übergewicht seiner maritimen Rüstung ein für alle Mal völkerrechtlich zu sichern und jede aufstrebende Seemacht, vor allem Deutschland, ohne weitere Anstrengung und ohne weitern Kostenaufwand niederzuhalten. Aber gerade deshalb wäre es wohl die bessere Taktik gewesen, den Engländern die Aufgabe des Formulierens von Vorschlägen, die nicht nur für Deutschland unannehmbar gewesen wären, zu überlassen, statt von vornherein zu erklären: "An einer nach unsrer Überzeugung wenn nicht bedenklichen so doch unpraktischen Diskussion können wir uns nicht beteiligen."

In dasselbe Kapitel gehören die oft lauten und weithin klingenden Worte, mit denen wir es liebten, unsern Willen zum Frieden durch ein allzu deutliches Betonen unsrer Bereitschaft zum Krieg zu unterstreichen. Wir hatten den Wunsch, nicht wieder wie in vergangenen Zeiten infolge unsrer geographischen Lage im Zentrum Europas zum Schlachtfeld fremder Nationen zu werden, und wir hatten aus der Geschichte durch die Schaffung einer starken Wehrmacht die Folgerung gezogen. Das war berechtigt. Aber es war nicht klug, beständig "das Schwert im Munde zu führen" und damit unseren Feinden im Ausland die Möglichkeit zu geben, das friedlichste Volk und den friedlichsten Monarchen der Welt ihrer öffentlichen Meinung als besessen vom Kriegsteufel hinzustellen. Wir haben auf diese Weise den Mythus von unseren kriegerischen Absichten gefördert und damit eine internationale Stimmung erzeugen helfen, die einer gegen uns gerichteten Koalitionsbildung den massenpsychologischen Untergrund gegeben hat.

Aber eine die ganze Welt von Grund aus umkehrende Wandlung der Beziehungen zwischen den Völkern, wie sie in den zwei Jahrzehnten seit Bismarcks Abgang eingetreten ist, wäre auch als Werk der vollendetsten Staatskunst und politischer Schulung nicht möglich gewesen, wenn nicht starke Triebkräfte und Entwicklungstendenzen innerhalb der einzelnen Völker den Boden für diese Wandlung geschaffen hätten.

Eine Betrachtung der in den wichtigsten der am Weltkrieg beteiligten Völker wirksamen Triebkräfte und Entwicklungstendenzen ergibt in großen Zügen folgendes Bild:

Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn waren im Wesentlichen politisch saturiert. In Europa hatten beide Reiche keinerlei Wünsche auf Ausdehnung; ihr Ziel war die Erhaltung des Status quo. Deutschlands koloniale Bestrebungen haben sich auf friedlichem Wege betätigt. Abgesehen von der Niederwerfung gelegentlicher Eingeborenenaufstände hat Deutschland um seine Kolonien keinen Krieg geführt. Reibungen mit den auf dem kolonialen Felde konkurrierenden Mächten sind gelegentlich aus den kolonialen Gebietserwerbungen Deutschlands hervorgegangen; sie haben aber — abgesehen von der besonders gelagerten marokkanischen Angelegenheit — niemals einen für die große Politik bedeutsamen Charakter angenommen und niemals auch nur von weitem an die Gefahr kriegerischer Verwicklungen herangeführt.

Die intensive Anteilnahme Österreich-Ungarns an den Dingen auf dem Balkan war frei von territorialen Aspirationen und lediglich auf die Erhaltung und Befestigung des Status quo gerichtet. Dasselbe gilt für die Stellung der beiden Reiche zur Türkei.

Das Bündnis der beiden Reiche hatte dementsprechend von Anfang an den ausschließlichen Zweck der Erhaltung und Verteidigung; Abmachungen über Beutezüge und Beute Verteilung hatten in ihm keinen Raum.

Anders bei den Mächten der gegnerischen Gruppe! Frankreichs Politik seit dem Krieg von 1870/71 war in erster Reihe diktiert von dem brennenden Wunsch nach Revanche für 1870 und Wiedergewinnung von Elsass-Lothringen. Alle anderen Rücksichten und Interessen, so wichtig sie an und für sich sein mochten, wurden in den 43 Jahren vom Frankfurter Frieden bis zum Ausbruch des Weltkriegs diesem einen Streben untergeordnet. Zu verwirklichen war dieses Streben nur durch Angriff und Eroberung. Für sich allein war Frankreich gegenüber dem an Bevölkerungszahl überlegenen und zu immer stärkerer Überlegenheit heranwachsenden Deutschland zu schwach. Es brauchte und suchte deshalb eine Koalition und war für jede denkbare, gegen Deutschland gerichtete Koalition ein absolut sicherer Partner.

Auf kolonialem Gebiet hat Deutschland den starken Ausdehnungsbestrebungen Frankreichs keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Es war im Gegenteil ein Zug der Bismarckschen Politik, die französischen kolonialen Bestrebungen zu fördern, in der Absicht, Frankreich von dem Revanchegedanken und dem Vogesenloch abzulenken und seinen überschüssigen Kräften außerhalb Europas ein Tätigkeitsfeld zu geben. So hat das in seiner Bevölkerung und seiner wirtschaftlichen Entwicklung kaum fortschreitende Frankreich unter wohlwollender Duldung Deutschlands sich seit dem Krieg von 1870/71 in Afrika und Ostasien ein gewaltiges Kolonialreich schaffen können, während Deutschland, trotz seines starken Bevölkerungsüberschusses und seines wirtschaftlichen Ausdehnungsbedürfnisses, sich mit einem überaus mageren Anteil an der kolonialen Welt begnügte.

Einzig und allein Marokko hat unter den überseeischen territorialen Fragen Anlass zu ernster Reibung zwischen Deutschland und Frankreich gegeben. Aber auch hier entstand die Reibung und die Kriegsgefahr nicht etwa daraus, dass Deutschland territoriale Erwerbungen beabsichtigt hätte, sondern lediglich aus dem französischen Wunsch, Marokko — ohne Rücksicht auf die dort vorhandenen erheblichen deutschen Interessen zu nehmen und ohne Deutschland überhaupt darum zu begrüßen — sich einzuverleiben. Auch hier lag die aggressive und annexionistische Politik bei Frankreich, während Deutschland lediglich den durch einen internationalen Vertrag gewährleisteten Status quo vertrat. Im Übrigen war es das Streben der deutschen Politik, die Marokkofrage ohne Krieg zu erledigen, ein Streben, das durch den Vertrag vom November 1911 auch zur Durchführung kam.

Die Haltung Russlands zum Zweibund war weniger durch Fragen bedingt, die unmittelbar zwischen Deutschland und Russland gespielt hätten, sondern so gut wie ausschließlich durch das in der Hauptsache durch die Balkanfragen beeinflusste Verhältnis zwischen Russland und Österreich -Ungarn. Deutschland hat dem starken russischen Ausdehnungsdrang nach Osten niemals irgendetwas in den Weg gelegt. Es hat im Gegenteil die in erster Linie im russischen Interesse liegende Intervention nach dem Frieden von Shimonoseki mitgemacht und sich dadurch die Gegnerschaft Japans zugezogen; es hat späterhin sich England gegenüber geweigert, auf Grund des Abkommens von 1900 sich an einem Vorgehen gegen die Bestrebungen Russlands in der Mandschurei zu beteiligen, und hat damit zweifellos ein Erhebliches zu der endgültigen Abkehr Englands von Deutschland und zum britisch-französischen Zusammenschluss beigetragen; es hat schließlich im russischjapanischen Krieg Russland gegenüber eine wesentlich wohlwollendere Neutralität gezeigt als dessen französischer Bundesgenosse. Auch in Mittelasien hat Deutschland den Russen niemals die geringsten Schwierigkeiten bereitet. Österreich-Ungarn war an allen diesen Fragen überhaupt niemals interessiert.

Dagegen schuf der Drang Russlands nach Konstantinopel und dem Balkan einen äußerst gefährlichen Konfliktstoff. Insbesondere seitdem der Ausgang des japanischen Kriegs und die Verständigung mit England über Mittelasien vom Jahre 1907 die russischen Expansionsbestrebungen vom fernen und mittleren Osten abgelenkt hatten, warf sich der panslawistische Geist mit verstärkter Gewalt auf den näheren Orient und propagierte dort Umwälzungen, die nicht nur das Gleichgewicht auf dem Balkan, sondern auch den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchie in ihren südslawischen Landesteilen unmittelbar gefährdeten. Je mehr durch die für Deutschland ungünstige Entwicklung der Mächtegruppierung Deutschland sich auf das Bündnis mit Österreich -Ungarn angewiesen sah, desto mehr musste die deutsche Politik in der Erhaltung der Donaumonarchie ein Lebensinteresse für Deutschland selbst erblicken, desto größer wurde die Gefahr, dass die russische Balkanpolitik zu einer Konflagration unabsehbaren Umfanges führen könnte; wie denn schließlich der Weltkrieg auf balkanischem Boden sich vorbereitet hat und zum Ausbruch gekommen ist.

Gegenüber den unmittelbar Österreich -Ungarn berührenden russischen Balkanaspirationen traten Russlands Absichten auf Konstantinopel und die übrige Türkei in ihrer Bedeutung als Konfliktstoff zurück. Zwar hatte Deutschland seit dem Ausgang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an der Türkei durch die Begründung weitausschauender Unternehmungen ein stärkeres Interesse genommen und ein freundschaftliches Verhältnis zum Türkischen Reiche hergestellt; aber da Russland seit dem Berliner Kongress keine direkten Aspirationen auf türkisches Gebiet hervorkehrte, blieben die aus den deutschen und russischen Bestrebungen in der Türkei sich ergebenden Reibungen, soweit sie sichtbar in Erscheinung traten, im Wesentlichen auf Fragen zweiter Ordnung beschränkt, die niemals eine kritische Zuspitzung erfuhren. Immerhin: je größer die deutschen Interessen in der Türkei wurden, je mehr Deutschland als Schutzmacht der Türkei erschien, desto mehr gewöhnte man sich in Russland daran, an Stelle Englands in Deutschland das wesentliche Hindernis der Ausführung des Testaments Peters des Großen zu erblicken, desto mehr kam die russische öffentliche Meinung zu der Überzeugung, dass der Weg nach Konstantinopel nicht nur über Wien, sondern auch über Berlin führe. Italien, unser Genosse im Dreibund, war gleichfalls nicht frei von Ausdehnungswünschen, die Anlass zu Konflikten geben konnten. Über die gegen Österreich gerichteten irredentistischen Bestrebungen brauche ich kein Wort zu sagen; sie wurden während der Dauer des Dreibundverhältnisses lediglich um größerer Interessen willen notdürftig niedergehalten, bedeuteten aber stets eine latente Gefahr. Dann hatte Italien, seitdem Frankreich sich Tunis angeeignet hatte, ein Auge auf das türkische Tripolis geworfen, eine Begehrlichkeit, die geeignet war, zum mindesten das freundschaftliche Verhältnis des deutschen Bundesgenossen zur Türkei erheblich zu belasten.

England mit seinem riesigen Kolonialreich hat in all den Jahren seit der Einleitung unserer Kolonialpolitik keine territoriale Differenz mit uns gehabt, die hätte kritisch werden können. Wir haben England bei der Ausgestaltung seines Imperiums keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt, haben uns vielmehr über die afrikanischen und polynesischen Kolonialfragen mit ihm in einer keineswegs kleinlichen Weise verständigt. Auch in Ägypten, diesem für das britische Weltreich so wichtigen Lande, haben wir England freie Hand gelassen. Im Burenkriege hat die Reichsregierung, trotz der starken Erregung der deutschen öffentlichen Meinung gegen England, eine durchaus korrekte Neutralität beobachtet. Vielfach hat sich England mit Deutschland zur Aufrechterhaltung des Status quo und der offenen Tür zusammengefunden. Jedenfalls war auch England in keinem Winkel der Welt durch deutsche Angriffs- oder Eroberungsabsichten irgendwie bedroht.

Dagegen enthielt unser Verhältnis zu England einen anderen Zündstoff, der verhängnisvoll geworden ist:

Deutschland zeigte auf wirtschaftlichem Gebiet einen Ausdehnungsdrang, in dem England, je länger desto mehr, eine ernstliche Bedrohung seiner industriellen und kommerziellen Suprematie, und damit eine Bedrohung seiner Weltherrschaft überhaupt, erblickte.

Die politische Einigung Deutschlands und die Sicherung seiner Stellung unter den Völkern hatte den Druck gelöst, der bisher die Entfaltung der deutschen Wirtschaft gehemmt hatte. Das starke Wachstum der deutschen Bevölkerung und die noch stärkere Zunahme unserer Gütererzeugung hob unsere wirtschaftliche Kraft und wies uns in steigendem Maße auf den Güteraustausch mit dem Ausland und die Betätigung im Ausland. In der Entwicklung der wichtigsten Industriezweige, unseres Außenhandels, unserer Handelsflotte, hatten wir unter den Völkern der Welt Höchstleistungen aufzuweisen. In der Roheisenproduktion, in der wir um die Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch um die Hälfte hinter England zurückstanden, haben wir im Jahre 1903 England mit einer Erzeugung von mehr als zehn Millionen Tonnen zum ersten Mal überflügelt, und im letzten Jahre vor dem Krieg hatten wir fast das Doppelte der englischen Produktion erreicht. In der Steinkohlengewinnung hatten wir vor dem Krieg die stolzen Ziffern Englands nahezu eingeholt. In der Warenausfuhr waren wir England gleichfalls hart aufgerückt; unser Export nach den nicht zum britischen Imperium gehörigen Gebieten hatte sogar denjenigen Englands nach den gleichen Ländern erheblich übertroffen. Der Raumgehalt der Dampfschiffe unserer Handelsflotte war seit der Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf mehr als das Sechsfache gestiegen. Unter den Handelsflotten der Welt hatten wir — in einem allerdings noch gewaltigen Abstand nach England — die zweite Stelle erreicht. An Leistungsfähigkeit hielten unsere Schiffe jeden Vergleich. In allen Teilen der Welt betätigte sich in zunehmendem Maße deutscher Unternehmungsgeist; er wagte sich auch an Aufgaben von Weltrang, wie große Eisenbahn- und Hafenunternehmungen, die vordem als die ausschließliche Domäne Englands und etwa noch Frankreichs gegolten hatten.

Es war friedlicher Wettbewerb, die Ausübung des Naturrechts der Völker auf Arbeit und deren Früchte. Und doch war der Erfolg dieses unseres friedlichen Wettbewerbs auf den Märkten der Welt der ausschlaggebende Faktor für die Gestaltung unseres politischen Verhältnisses zu England und damit für den Zusammenschluss der uns feindlichen Weltkoalition. Im Besitz von gewaltig überlegenen weltpolitischen Machtmitteln, des weitaus größten Kolonialreichs der Welt, der weitaus stärksten Flotte und der die wichtigsten Meeresstraßen beherrschenden Stützpunkte, sah England sich vor die Versuchung gestellt, seine durch unsern Wettbewerb bedrohte wirtschaftliche Weltstellung mit den Gewaltmitteln zu erhalten, die sie geschaffen hatten.

Insbesondere der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands von der Mitte der 90er Jahre an alarmierte Englands kommerzielle und politische Kreise in zunehmendem Maße. Das Stigma "made in Germany" verfehlte offenkundig seinen Zweck, ja es wurde geradezu eine Enthüllung der wachsenden industriellen und kommerziellen Leistungsfähigkeit des deutschen Wettbewerbs. Angesehene Staatsmänner, weit verbreitete und einflussreiche Zeitungen und Zeitschriften wiesen warnend und mahnend auf die deutsche Gefahr hin. Schon frühzeitig bezeichnete Lord Rosebery Deutschland als den gefährlichsten Nebenbuhler Großbritanniens: "Wir sind bedroht durch einen furchtbaren Gegner, der uns benagt wie das Meer die schwachen Teile eines Küstenlandes. Der Handel des vereinigten Königreichs verringert sich unaufhörlich, und was er verliert, das gewinnt in der Hauptsache Deutschland." Und wenn Lord Rosebery noch in erster Reihe daran dachte, seine Landsleute zu einer Bekämpfung de,«; deutschen Wettbewerbs durch eine Nachahmung der deutschen Rührigkeit, der deutschen technischen Schulung und Organisation anzufeuern, so regten sich doch bald Stimmen, die unter Berufung auf die britische Geschichte und Tradition unzweideutig dazu aufforderten, das Schwert in die Waagschale des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu werfen. Die "Saturday Review" schrieb schon im August 1895:

"Vor allem anderen: Wir Engländer haben bisher immer unsre Nebenbuhler im Handel mit Krieg überzogen; und unser Hauptnebenbuhler im Handel ist heute nicht Frankreich, sondern Deutschland. Im Fall eines Krieges mit Deutschland würden wir sicher viel gewinnen und nichts verlieren, während wir in einem Krieg mit Frankreich, einerlei wie sein Ausgang wäre, sicher schwere Verluste erleiden würden."

Bewusst oder unbewusst, ausgesprochen oder unausgesprochen hat dieser Gedanke seither die englische Politik beeinflusst.

Im September 1897 schrieb die "Saturday Review", anknüpfend an eine von der "Times" Bismarck zugeschriebene Bemerkung:

" Bismarck hat längst erkannt, was nun auch das britische Volk einzusehen beginnt, dass es in Europa zwei große, unversöhnlich sich bekämpfende Kräfte gibt, zwei große Nationen, die den ganzen Erdkreis zu ihrer Domäne machen und von ihm Handelstribut einfordern möchten. England, mit seiner langen Geschichte erfolgreicher Angriffskriege, mit seinem wunderbaren Glauben, dass es in der Verfolgung seiner eigenen Interessen zugleich Licht unter den im Dunkel lebenden Völkern verbreitet, und Deutschland, Blut von dem gleichen Blut, Bein von dem gleichen Bein, mit einer geringeren Willenskraft, aber vielleicht einer schärferen Intelligenz ausgestattet, treten in jedem Winkel des Erdballs in Wettbewerb. In Transvaal, am Kap, in Mittelafrika, in Indien, in Ostasien, auf den Inseln der Südsee und im fernen Nordwesten, überall wo die Flagge der Bibel und der Handel der Flagge gefolgt ist, steht der deutsche Handlungsreisende mit dem britischen Kaufmann im Kampf. Überall wo es gilt, ein Bergwerk auszubeuten oder eine Eisenbahn zu bauen, einen Eingeborenen von der Brotfrucht zum Büchsenfleisch, von der Enthaltsamkeit zum Branntwein zu bekehren, da suchen Deutsche und Engländer sich gegenseitig auszustechen. Eine Million kleiner Reibungen schafft den größten Kriegsfall, den die Welt je gesehen hat. Wenn Deutschland morgen aus der Welt ausgelöscht wäre, so gäbe es übermorgen in der Welt keinen Engländer, der dadurch nicht reicher geworden wäre. Nationen haben jahrelang um eine Stadt oder um eine Erbfolge gekämpft: müssen wir nicht fechten um einen jährlichen Handel von 200 Millionen Pfund? . . . Was Bismarck sich vorstellt und was auch wir bald einsehen werden, ist die Tatsache, dass nicht nur der greifbarste Interessenstreit zwischen England und Deutschland da ist, sondern auch dass England die einzige Großmacht ist, die Deutschland ohne furchtbare Gefahr und ohne Zweifel am Erfolg bekämpfen kann , . . Die Vermehrung der deutschen Flotte hat nur die Wirkung, den Schlag Englands umso schwerer auf sie niederfallen zu lassen. Ein paar Tage nur, und die deutschen Schiffe werden auf dem Meeresgrund liegen oder als Prisen nach den britischen Häfen gebracht werden. Hamburg und Bremen, der Kieler Kanal und die Ostseehäfen würden unter den britischen Kanonen liegen, bis die Kriegsentschädigung gezahlt wäre. Nach getaner Arbeit würden wir Frankreich und Russland nur zu sagen brauchen: sucht euch Kompensationen, nehmt euch von Deutschland, was ihr wollt — ihr könnt es haben!" Den Schluss bildete das "ceterum censeo Germaniam esse delendam".

Diese Sätze, die den Geist der britischen Geschichte und Politik besser enthüllen, als irgendeiner der im feindlichen Ausland so oft zitierten Aussprüche von Treitschke, Nietzsche oder Bernhardi die Gesinnung des deutschen Volkes, sind geschrieben siebzehn Jahre vor Ausbruch des Weltkriegs, zu der Zeit, als die deutsche Regierung ihre erste bescheidene Flottenvorlage an den Reichstag brachte. Als Fürst Bismarck, wenige Monate später, von dem Engländer Sidney Whitman befragt wurde, wie nach seiner Ansicht die Beziehungen zwischen den beiden Ländern gebessert werden könnten, ließ er antworten: "Er bedaure, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und England nicht besser seien, als sie eben sind. Bedauerlicherweise wisse er kein Mittel dagegen, da das einzige ihm bekannte, das darin bestehe, dass wir unserer Industrie einen Zaum anlegten, nicht gut verwendbar sei." Der aus Deutschlands wirtschaftlichem Aufschwung erwachsende deutsch-englische Gegensatz als eine unentrinnbare, durch kein Mittel aus der Welt zu schaffende Fatalität ist in diesen Worten Bismarcks treffend gekennzeichnet.

Die Reibung zwischen der deutschen wirtschaftlichen Expansion und der von England als wohlerworben prätendierten Stellung wurde besonders erbittert und gefährlich, wenn Deutschlands Bestrebungen in Gebieten, die England als in seine Interessensphäre fallend oder als für den Zugang zu seiner Interessensphäre wichtig in Anspruch nahm, auch nur von ferne den Charakter einer territorialen Festsetzung anzunehmen drohten. Das wichtigste und bezeichnendste Beispiel hierfür ist der langjährige und hartnäckige Widerstand Englands gegen das von Deutschland in Angriff genommene Unternehmen der Bagdadbahn, über den später noch zu sprechen sein wird. Der englische Kampf gegen dieses Projekt erklärt sich in der Hauptsache daraus, dass die britischen Staatsmänner und die britische öffentliche Meinung in dieser Bahn einen außerhalb der britischen Kontrolle stehenden Zugang zum Persischen Golf und die Möglichkeit einer deutschen Festsetzung an dessen Küsten, darin aber eine Bedrohung Indiens erblickten.

Dass das Deutsche Reich angesichts seiner sich immer mehr ausdehnenden überseeischen Interessen und des Wachstums seiner Handelsflotte das Bedürfnis nach einer Verstärkung seines maritimen Schutzes empfand und betätigte, liegt in der Natur der Dinge. Deutschlands Kriegsflotte stand zur Zeit des Regierungsantritts Wilhelms II. an fünfter Stelle. Mit großem Vorsprung nahm England den ersten Platz ein, es folgten Frankreich, Italien, Russland und dann erst Deutschland. Die Überlegenheit Englands auf diesem Gebiet war so gewaltig, dass sie auch durch die stärksten Anstrengungen des im Gegensatz zu England durch die Notwendigkeit eines starken Landheeres beschwerten Deutschen Reiches unmöglich ernsthaft in Frage gestellt werden konnte. Die dem Ausbau der deutschen Kriegsflotte gestellten Aufgaben und gezogenen Grenzen sind seinerzeit klar ausgesprochen worden in der Begründung des deutschen Flottengesetzes von 1900:

"Um unter den bestehenden Verhältnissen Deutschlands Seehandel und Kolonien zu schützen, gibt es nur ein Mittel: Deutschland muss eine so große Schlachtflotte besitzen, dass ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden ist, dass seine eigene Machtstellung in Frage gestellt wird."

Gleichwohl erregten die deutschen Flottenpläne in England von Anfang an Unruhe und Besorgnis. Wenn man sich schon durch das weltwirtschaftliche Wachstum Deutschlands beeinträchtigt und bedroht fühlte, so noch mehr durch die Aussicht auf eine erhebliche Verstärkung der deutschen Machtmittel zur See. Deutschlands überseeische und koloniale Betätigung mochte in England manchem als noch erträglich erscheinen, solange diese Betätigung mangels einer ins Gewicht fallenden deutschen Flotte gewissermaßen auf der Gnade und dem guten Willen Englands stand; sie wurde alarmierend von dem Augenblicke an, in dem Deutschland seiner werdenden Wirtschaftsmacht in einer eigenen starken Flotte eine entsprechende Machtgrundlage zu geben versuchte.

Je deutlicher man in England erkannte, dass das Deutsche Reich sein durch die Gesetze von 1898 und 1900 festgelegtes Flottenprogramm mit einer unerwarteten Präzision durchführte, desto größer wurde in England die Unruhe, und desto mehr wurde die Flottenfrage zum Angelpunkt des deutsch-englischen Verhältnisses. "Mit dem Auge auf die englische Politik musste unsere Flotte gebaut werden," so schreibt Fürst Bülow in seinem Buch über die deutsche Politik, " — und so ist sie gebaut worden. Der Erfüllung dieser Aufgabe hatten meine Bemühungen auf dem Felde der großen Politik in erster Linie zu gelten." Wie ein roter Faden zieht sich durch des Fürsten Bülow Darstellung seiner auswärtigen Politik die Notwendigkeit, eine ausreichend starke deutsche Flotte zu schaffen, ohne es zum Kriege mit England kommen zu lassen.

Das Verhältnis der Kriegsflotte zu den zu schützenden See- und Überseeinteressen war bei Deutschland auch nach den Flottengesetzen von 1898 und 1900 ganz offenkundig ungünstiger als bei irgendeiner anderen großen Nation. Auch das Flottengesetz von 1905, das die deutsche Kriegsflotte, entsprechend der Stellung Deutschlands in der Weltwirtschaft, an den zweiten Platz brachte — in weitem Abstand nach England — stellte das Gleichgewicht weltwirtschaftlicher Interessen und maritimer Machtmittel noch nicht annähernd her. Wenn trotzdem die deutschen Versuche, durch Schaffung eines Risikos für eine angreifende Flotte wenigstens einen mittelbaren Schutz für unsere weltwirtschaftlichen Interessen aufzubauen, in England in so hohem Maße Unruhe, Verdacht und Erregung hervorriefen, so konnte man das bedauern und gegen die Folgen Deckungen suchen, aber ebenso wenig ohne Selbstaufgabe vermeiden wie die aus unsern wirtschaftlichen Fortschritten erzeugte Reibung.

Bis zu welchem Grad schon frühzeitig die Empfindlichkeit über unsere Flottenpolitik in England, namentlich in Marinekreisen, gestiegen war, in welchem Maße sie das Verlangen nach einem gegen Deutschland zu führenden Schlag auslöste, enthüllte sich anlässlich des Zwischenfalls an der Doggerbank im Herbst 1904. Die auf der Fahrt von Libau nach den ostasiatischen Gewässern begriffene baltische Flotte Russlands beschoss damals nächtlicherweile aus Versehen eine englische Fischerflotte, die sie für japanische Torpedoboote hielt. Die Erregung in England war ungeheuer und richtete sich merkwürdigerweise auf Grund der abenteuerlichsten Gerüchte und Vermutungen nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen Deutschland, das mit dem ganzen Vorfall nicht das mindeste zu tun hatte. Damals schrieb die der britischen Admiralität nahestehende "Army and Navy Gazette", der Augenblick scheine gekommen, mit der deutschen Flotte ein Ende zu machen; die russische Flotte sei, vielleicht für immer, aus der Nordsee verschwunden, die deutsche Kriegsflotte stehe dort völlig allein, jetzt oder nie sei für England die Gelegenheit, die mit jedem Jahr drohender anwachsende deutsche Flotte ein für alle Mal zu beseitigen. Mit der Vertretung dieser Auffassung blieb die "Army and Navy Gazette" in der englischen Presse nicht allein. Noch deutlicher war eine Rede, die der Zivillord der britischen Admiralität, Mr. Arthur Lee, im Februar 1905 über die damals eingeleitete Neuorganisation der britischen Flotte hielt. Er führte aus, England müsse mit größerer Besorgnis als nach anderen Stellen nach der Nordsee blicken. Der Gedanke, dass England eher mit der Möglichkeit einer Gefahr aus dieser Richtung als im Mittelmeer rechnen müsse, habe die neue Flottenverteilung und die Indienststellung der ganzen Schiffsreserven nötig gemacht. "Wir glauben," fügte er hinzu, "an das alte Wort: Dreimal gesegnet derjenige, welcher den ersten Schlag führt! Und ich hoffe, dass im Falle einer Gefahr die britische Flotte in der Lage sein wird, den ersten Schlag, und einen recht wuchtigen dazu, zu führen, noch ehe die andere Macht gewahr wird, dass der Krieg erklärt ist."

Zu dieser Rede bemerkte " Daily Chronicle": "Der Preis für Englands Freundschaft müsste das Aufgeben der Kriegsrüstung auf selten Deutschlands sein. Wenn die deutsche Flotte im Oktober vorigen Jahres (Doggerbank-Zwischenfall) zerstört worden wäre, wäre der Friede Europas für 60 Jahre gesichert gewesen."

Die folgenden Jahre brachten Versuche zu einer Verständigung über die beiderseitigen Flottenrüstungen. Diese Versuche, über die weiter unten noch gesprochen werden wird, erreichten ihren Höhepunkt mit der Haldaneschen Mission im Jahre 1912.

Die Flottenfrage ist nur der eine Teil des allgemeinen Rüstungsproblems. Ebenso wie der Ausbau der deutschen Flotte in England als Zeichen deutscher kriegerischer Absichten ausgegeben wurde, ebenso hat man in der Stärke und in den periodischen Verstärkungen unseres Landheeres den Ausdruck deutschen Kriegs- und Herrscherwillens sehen wollen. Sir Edward Grey hat am 22. März 1915 im Unterhaus diesen Gedanken in die Worte gekleidet: "Wir wissen jetzt, dass die deutsche Regierung für den Krieg Vorbereitungen getroffen hat, wie sie nur ein Volk, das den Krieg beabsichtigt, treffen kann."

Dass Deutschlands Lage in der Mitte Europas, dass seine geschichtlichen Erfahrungen und dass schließlich die Gestaltung der Mächtegruppierung in den letzten Jahrzehnten ein starkes Heer als Verteidigungsinstrument und Friedensschutz notwendig machten, dass mithin die Schaffung und der Ausbau eines starken deutschen Heeres an sich noch kein Beweis kriegerischer Absichten Deutschlands sein kann, ist vor dem Kriege auch von Staatsmännern anerkannt worden, die späterhin kaum genug anklagende Worte gegen den friedenstörenden deutschen Militarismus finden konnten. Lloyd George hat in einer Rede in der Queens Hall am 28. Juli 1908 ausgeführt:

" Betrachten Sie Deutschlands Lage! Für Deutschland ist sein Heer, was für uns die Flotte ist: seine einzige Verteidigung gegen eine Invasion. Deutschland hat keinen Zwei -Mächte -Standard geschaffen, Deutschland mag ein stärkeres Heer haben als Frankreich, als Russland, als Italien, als Österreich ; aber es steht zwischen zwei Großmächten, die zusammen eine weit größere Truppenzahl aufstellen können, als Deutschland sie hat. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie sich wundern, warum Deutschland Allianzen und Ententen fürchtet und gewisse geheimnisvolle Machenschaften, die in der Presse durchscheinen . . . Denken Sie sich, wir ständen hier vor einer Kombination, die uns der Invasion preisgäbe, denken Sie sich, Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Russland oder Deutschland und Österreich hätten Flotten, die kombiniert stärker wären als die unsrige, wären wir nicht erschreckt? Würden wir nicht rüsten? — Selbstverständlich würden wir rüsten!"

Und noch am 1. Januar 1914 schrieb Lloyd George im " Daily Chronicle":

"Die deutsche Armee ist lebenswichtig nicht nur für die Existenz des Deutschen Reiches, sondern auch für das nackte Leben und die Unabhängigkeit des deutschen Volkes selbst, da nun einmal Deutschland umgeben ist von anderen Nationen, deren jede ein Heer besitzt ungefähr ebenso stark wie das deutsche selbst. Wir vergessen, dass während wir für den Schutz unserer eignen Küsten auf einer sechzigprozentigen Überlegenheit unserer Seestreitkräfte gegenüber Deutschland bestehen, Deutschland nichts, was einer solchen Überlegenheit nahekommt, Frankreich gegenüber besitzt und außerdem natürlich an seiner Ostgrenze mit Russland zu rechnen hat. Deutschland hat nichts, was einem Zwei Mächte Standard ähnlichsieht. Deutschland ist deshalb durch gewisse neuere Ereignisse alarmiert worden und ist deshalb im Begriff, hohe Summen für die Verstärkung seiner militärischen Machtmittel aufzuwenden." Diese sachliche Beurteilung trug dem wirklichen Tatbestand insofern noch nicht einmal ganz Rechnung, als die russische Armee der deutschen an Zahl bedeutend überlegen war und als die Anstrengungen Deutschlands, seine Volkskraft für das Heer auszunutzen, weit hinter den Anstrengungen Frankreichs zurückblieben. Nach einer im britischen Unterhaus im Juni 1913 gegebenen Auskunft betrug damals die Friedenspräsenz des russischen Heeres i 284 000 Mann, während die Friedenspräsenz des deutschen Heeres durch das neue Militärgesetz auf 822 000 Mann gebracht werden sollte. Die Friedenspräsenz des französischen Heeres wurde für die Zukunft auf 742 000 Mann beziffert, diejenige des österreichisch-ungarischen Heeres auf 474 000 Mann. Das russische Heer war also dem deutschen um etwas mehr als die Hälfte überlegen. Die gleiche zahlenmäßige Überlegenheit hatte das vereinigte russischfranzösische Heer gegenüber dem deutsch-österreichisch-ungarischen Heer. Die Friedensstärke des französischen Heeres kam derjenigen des deutschen nahezu gleich, obwohl Deutschland eine Bevölkerung von 68 Millionen, Frankreich eine solche von rund 40 Millionen hatte. Unmittelbar vor dem Kriege kam auf je eine Million Einwohner eine Friedensstärke der Armee von rund 20 000 Mann in Frankreich, von nur 12 300 Mann in Deutschland, Die Ausgaben für Heer und Flotte waren vor dem Krieg, auf den Kopf der Bevölkerung gerechnet, in Frankreich und England bedeutend größer als in Deutschland. Dazu finanzierte Frankreich die gewaltigen Kosten der russischen Heeresverstärkungen und der für den Aufmarsch gegen Deutschland bestimmten russischen strategischen Eisenbahnen. Und schließlich steigerte Frankreich seine militärische Kraftanstrengung, in der es ohnedies schon allen anderen Völkern weit voraus war, im Jahre 1913 durch die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit; es übernahm damit — wie heute als erwiesen gelten kann, auf russischen Druck — eine Last, die das französische Volk angesichts der Heranziehung des letzten einigermaßen tauglichen Mannes zum Militärdienst ohne die schwerste wirtschaftliche Schädigung unmöglich für lange Zeit hätte tragen können.

Trotzdem Deutschlands Rüstungen so sehr hinter denjenigen der Länder des gegnerischen Verbandes, namentlich hinter den Kraftanstrengungen Frankreichs, zurückblieben — und das in der von Lloyd George noch Anfang 1914 anerkannten, besonders schwierigen Lage — , wurde in den Jahren vor dem Krieg jeder Schritt Deutschlands, der eine den Rüstungen der möglichen Gegner und der schwieriger gewordenen politischen Konstellation angepasste Verstärkung unseres militärischen Schutzes anstrebte, als Bedrohung des Weltfriedens ausgeschrien. Ich war selbst Zeuge der ungeheuren Erregung, die die Einbringung unserer Militärvorlage von 1913 auf einflussreiche Kreise Frankreichs machte. Diese Vorlage war mehr als ausreichend durch die Machtverschiebung begründet, die der erste Balkankrieg herbeigeführt hatte. In Frankreich aber sah man in dem Willen Deutschlands, die gesetzlich bestehende, aber bisher nicht völlig verwirklichte allgemeine Dienstpflicht tatsächlich durchzuführen, nur die sich daraus für Frankreich ergebende Unmöglichkeit, die Friedensstärke des Heeres, trotz des gewaltigen Abstandes der Bevölkerung gegenüber Deutschland, auch weiterhin auf annähernd derselben Höhe wie das deutsche Heer zu halten. Man sah es geradezu als eine Herausforderung Frankreichs an, dass Deutschland unter dem steigenden Druck der politischen Bedrohung endlich dazu überging, seine Bevölkerungsüberlegenheit gegenüber Frankreich — nicht etwa voll auszunutzen, davon war keine Rede, sondern überhaupt nur in bescheidenem Umfang ins Spiel zu setzen. Russland durfte mit französischem Geld ein Heer aufbauen und ausrüsten, das eineinhalbmal so stark war wie das deutsche allein und ungefähr ebenso stark, wie das deutsche und österreichisch-ungarische zusammengenommen. Wenn aber das nicht nur von Frankreich, sondern auch von Russland bedrohte Deutschland Miene machte, seine Friedenspräsenz auf Grund seiner der französischen um mehr als 60 Prozent überlegenen Bevölkerung auf einen Stand zu bringen, den Frankreich allein nicht mehr halten konnte, so war das eine unmittelbare Bedrohung und ein brutaler Erdrosselungsversuch. Und Sir Edward Grey darf sagen, dass die deutschen Rüstungen solche waren, wie sie nur ein Volk, das den Krieg beabsichtigt, treffen kann!

Der auf den vorstehenden Blättern gegebene Überblick zeigt:

Die Koalition, der wir uns im Kriege gegenübersahen, hatte ihre Gemeinsamkeit in Zielen, die nur durch eine Niederkämpfung Deutschlands und Österreich-Ungarns zu erreichen waren: das Verlangen Frankreichs nach Revanche und der Wiedergewinnung Elsass-Lothringens; der Drang Russlands nach Konstantinopel und seine Förderung der allslawischen Bestrebungen, die in letzter Linie auf eine Bedrohung des Bestandes der österreichisch-ungarischen Monarchie hinauskamen; der Wunsch Italiens, die "unerlösten Gebiete" Österreichs sich anzugliedern; die Sorge Englands um seine durch den deutschen Wettbewerb bedrohte wirtschaftliche Weltstellung und sein Argwohn gegen die deutsche Flotte. Demgegenüber war auf unsrer Seite die Politik seit der Verwirklichung unsrer nationalen Einheit in Verteidigungsstellung: wir wünschten, ebenso wie Österreich -Ungarn, die Erhaltung unseres eignen politischen und territorialen Bestandes, waren auf dem Balkan und auch sonst in der Welt wesentlich an der Erhaltung des Status quo interessiert, wollten offene Tür, freies Feld und Schutz für unsre wirtschaftliche Betätigung. Fürst Bülow hat einmal vom Dreibund gesagt, er sei eine Versicherungsgesellschaft, keine Erwerbsgesellschaft. Von der Triple-Entente kann man sagen, dass sie in erster Linie eine Erwerbsgesellschaft war. Die britisch-französische Entente begann mit einem Aufteilungsvertrag, ebenso die britisch-russische Entente. Die Erwerbsgesellschaft zeigte eine wesentlich stärkere Anziehungskraft als die Versicherungsgesellschaft ; denn über das bloß negative Ziel der Sicherung des Bestehenden hinaus konnte sie Zuwachs an Land und Macht als lockende Aussicht zeigen. Je mehr es der geschickten Politik namentlich Englands gelungen war, die Reibungen zwischen sich und seinen alten Gegnern Frankreich und Russland teils durch gewaltsame Aktionen, teils durch kluges Entgegenkommen zu beseitigen, desto mehr trat die einigende Kraft der nur durch eine Niederzwingung der Mittelmächte zu erreichenden Ziele und geheimen Wünsche in Wirksamkeit, desto leichter wurde es der britischen Staatskunst, ihre gegen Deutschland, die stärkste Kontinentalmacht und den gefährlichsten Rivalen in der Weltwirtschaft und der Seegeltung, gerichtete Einkreisungspolitik durchzuführen. Umso schwerer wurde es auf der anderen Seite für die deutsche Politik, sich der drohenden Isolierung zu erwehren. Die Durchbrechung des Ringes, der sich enger und enger um uns zusammenzog, wäre nur möglich gewesen durch die Preisgabe gewaltiger eigner materieller und ideeller Interessen oder durch eine Opferung Österreich -Ungarns und den Versuch der Bildung einer ganz neuen Mächtegruppierung. Und auch dann wäre der Erfolg unsicher geblieben. Der aufrichtige Wille zum Frieden und die Bereitschaft, in Fragen, die nicht direkt unsre oder unsres Verbündeten Lebensinteressen berührten, den Mächten der gegnerischen Koalition weitestes Verständnis und Entgegenkommen zu zeigen, haben nicht genügt, die politische Einschnürung zu lockern und den Krieg zu vermeiden.

 

II. Die Etappen zum Weltkrieg:

 

Im Sommer 1908 war der diplomatische Aufmarsch der gegnerischen Koalition im Wesentlichen beendigt. Alle wichtigeren Streitfragen zwischen England, Frankreich und Russland waren beglichen oder zum mindesten zurückgestellt. Japan war durch das Bündnis mit England an das System der Triple-Entente angeschlossen ; Italien war, trotz des Fortbestehens seiner formalen Zugehörigkeit zum Dreibund, durch die mit ihm getroffenen Abmachungen materiell neutralisiert. Alle nicht bereinigten großen Konflikte und alle ernsthaft ins Auge zu fassenden Konfliktmöglichkeiten betrafen das Verhältnis von Ländern der Triple-Entente zu Deutschland und Österreich -Ungarn. Das Schicksal der Welt hing davon ab, ob bei dieser stark angespannten Lage die Kräfte und Strömungen die Oberhand gewinnen würden, die auf ein vorsichtiges Ausgleichen der Reibungen und Abbiegen der Reibungsmöglichkeiten hinwirkten, oder diejenigen Strömungen und Kräfte, die den Zündstoff zur Explosion bringen mussten.

 

Die bosnische Krise

 

Die Entwicklung der Dinge auf dem Untergrunde dieser Gesamtlage erfuhr noch im Sommer des Jahres 1908 einen folgenschweren Antrieb in der türkischen Revolution.

Der Sturz des absolutistischen Regimes Abdul Hamids und die Errichtung der Herrschaft des jungtürkischen Komitees rollte plötzlich die türkische Frage wieder auf, die für den Weltfrieden stets besonders gefährlich gewesen war. Bedeutete die Revolution den Beginn der endgültigen Zersetzung oder eine Konsolidierung des Türkischen Reiches?

Alte Wünsche und Befürchtungen wurden neu geweckt.

Zunächst konnte die Entente mit Befriedigung registrieren, dass der innere Umschwung die Stellung Deutschlands in der Türkei schwer bedrohte. Deutschland als bisheriger Freund der Türkei galt als mit dem bisherigen Regime auf Gedeih und Verderb verknüpft. Die zur Macht gekommenen jungtürkischen Führer hatten bisher zum großen Teil als Verbannte in Paris und London gelebt und dort in ihren politischen Bestrebungen Förderung erfahren. Die Straßen Konstantinopels hallten jetzt wider von lauten Ovationen für den britischen, den französischen, ja sogar den russischen Botschafter, während der bisher als allmächtig geltende Vertreter Deutschlands, Freiherr von Marschall, plötzlich zur Einflusslosigkeit verdammt schien.

Die Lage wurde für uns noch bedeutend erschwert durch einen Schritt, den Österreich-Ungarn im Oktober 1908 unternahm. Der Leiter der österreichisch -ungarischen Politik, Baron Aehrenthal, glaubte sich genötigt, angesichts der durch den inneren Umsturz in der Türkei ins Ungewisse gestellten Verhältnisse und angesichts des mächtigen Antriebes, den — unter Förderung durch Russland und England — die slawische Bewegung auf dem Balkan erhalten hatte, die Stellung Österreich-Ungarns in Bosnien und der Herzegowina zu klären. Im Berliner Vertrag hatte Österreich-Ungarn auf Wunsch der Großmächte die Besetzung und Verwaltung dieser Länder für unbestimmte Zeit übernommen und in den seither verflossenen dreißig Jahren ein großes Stück Kulturarbeit geleistet, das es jetzt durch den jungtürkischen Umsturz und seine balkanischen Folgeerscheinungen nicht in Frage stellen lassen wollte. Am 5. Oktober 1908 proklamierte Österreich-Ungarn die Erstreckung seiner Souveränität auf die beiden Länder. Gleichzeitig erklärte Bulgarien, das bisher formell türkischer Vasallenstaat gewesen war, seine Unabhängigkeit, wie man in der Türkei annahm, auf Grund einer Verständigung mit Österreich -Ungarn.