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Ödön von Horváths Spießer tauchen in den verschiedensten Personifizierungen auf. Sie verraten sich durch ihre Monologe, und sie wissen über alles Bescheid. So wissen sie auch, ohne nachzudenken, was gut ist und was böse ist, – und vor allem, was sie sich selber schuldig sind: eine doppelte Moral. Eine, die sie sich selber zugestehen, und eine andere, die sich für andere eignet.
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Seitenzahl: 539
Ödön von Horváth
Der ewige Spießer
Suhrkamp
Sechsunddreißig Stunden
Der ewige Spießer
Vorarbeiten
Anhang
Entstehung, Überlieferung, Textgestaltung
Erläuterungen
Quellen und Hinweise
Roman
Die ganze Geschichte spielt in München. Als Agnes ihren Eugen kennen lernte, da war es noch Sommer. Sie waren beide arbeitslos und Eugen knüpfte daran an, als er sie ansprach. Das war in der Thalkirchner Straße vor dem städtischen Arbeitsamt und er sagte, er sei bereits zwei Monate ohne Arbeit und eigentlich kein Bayer, sondern ein geborener Österreicher. Sie sagte, sie sei bereits fünf Monate arbeitslos und eigentlich keine Münchnerin, sondern eine geborene Oberpfälzerin. Er sagte, er kenne die Oberpfalz nicht und sie sagte, sie kenne Österreich nicht, worauf er meinte, Wien sei eine sehr schöne Stadt und sie sehe eigentlich wie eine Wienerin aus. Sie lachte und er sagte, ob sie nicht etwas mit ihm spazieren gehen wollte, er habe so lange nicht mehr diskuriert, denn er kenne hier nur seine Wirtin und das sei ein pedantisches Mistvieh. Sie sagte, sie wohne bei ihrer Tante und schwieg. Er lächelte und sagte, er freue sich sehr, daß er sie nun kennen gelernt habe, sonst hätte er noch das Reden verlernt. Sie sagte, man könne doch nicht das Reden verlernen. Hierauf gingen sie spazieren. Über Sendlingertorplatz und Stachus, durch die Dachauerstraße, dann die Augustenstraße entlang hinaus auf das Oberwiesenfeld.
Als Eugen die ehemaligen Kasernen sah, meinte er, oft nütze im Leben der beste Wille nichts. Überhaupt gäbe es viele Mächte, die stärker wären als der Mensch, aber so dürfe man nicht denken, denn dann müßte man sich aufhängen. Sie sagte, er solle doch nicht so traurig daherreden, hier sei nun das Oberwiesenfeld und er solle doch lieber sehen, wie weit heut der Horizont wär und wie still die Luft, nur ab und zu kreise über einem ein Flugzeug, denn dort drüben sei der Flughafen. Er sagte, das wisse er schon und die Welt werde immer enger, denn bald wird man von da drüben in zwei Stunden nach Australien fliegen, freilich nur die Finanzmagnaten mit ihren Sekretären und Geheimsekretärinnen. So sei das sehr komisch, das mit dem Herrn von Löwenstein, der zwischen England und Frankreich in der Luft auf das Klosett gehen wollte und derweil in den Himmel kam. Überhaupt entwickle sich die Technik kolossal, neulich habe ein Amerikaner den künstlichen Menschen erfunden, das sei wirklich großartig, daß der menschliche Geist solche Höhen erklimmt und sie werde es ja auch noch erleben, daß, wenn das so weiter geht, Europa zugrunde gehen wird. Daran wären zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse und er habe gestern gelesen, daß sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfangen zu organisieren. Sie sagte, jener amerikanische künstliche Mensch würde sie schon sehr interessieren. Er sagte, auch in München gäbe es künstliche Menschen, aber nun wolle er nichts mehr sagen.
Das war Ende August 1928. Es hatte wochenlang nicht mehr geregnet und man prophezeite einen kurzen trüben Herbst und einen langen kalten Winter. Die Landeswetterwarte konstatierte, daß das Hoch über Irland einem Tief über dem Golf von Biskaya weiche. Drüben in Amerika soll bereits Schnee gefallen sein und auch der Golfstrom sei nicht mehr so ganz in Ordnung, hörte man in München.
Am Nachmittag hatte es zwar drei Mal gedonnert, aber wieder nicht geregnet und nach Sonnenuntergang war es noch derart drückend schwül, als hätte die Luft Fieber. Erst um Mitternacht setzte sich langsam der Staub auf die verschwitzte Stadt.
Agnes fragte Eugen, ob auch er es fühle, wie schwül der Abend sei und dann: sie denke nun schon so lange darüber nach und könne es sich gar nicht vorstellen, was er für einen Beruf hätte. »Kellner«, sagte er, und hätte es keinen Weltkrieg gegeben, wäre er heute sicher in einem ausländischen Grandhotel, wahrscheinlich in Afrika, in der Oase Bisra. Er könnt jetzt unter Palmen wandeln. Er hätt zehn Neger unter sich und tät dem Vanderbilt seinem Neffen servieren, er hätt fürstlich verdient und hätt sich mit fünfzig ein kleines Hotel im Salzkammergut gekauft. Auch die Pyramiden hätt er gesehen, wäre nicht die Schweinerei in Sarajevo passiert, wo die Serben den tschechischen Erzherzog, der wo der österreich-ungarische Thronfolger war, erschossen haben. Sie sagte, sie wisse nicht, was dieses Sarajevo für eine Stadt sei, ihr Vater sei zwar gefallen, gleich ganz zu Beginn und soviel sie gehört hätte, liege er vor Paris, aber sie könne sich an den ganzen Weltkrieg nicht gut erinnern, denn als der seinerzeit ausbrach, da sei sie erst vier Jahre alt gewesen. Sie erinnerte sich nur an die Inflation, wo auch sie Billionärin gewesen sei, aber sie denke lieber nicht daran, denn damals sei ihre Mutter an der Kopfgrippe gestorben. Sie habe zwar ihre Mutter nie richtig geliebt, die sei sehr mager gewesen und so streng weiß um den Mund herum und sie hätt oft das Gefühl gehabt, daß die Mutter denke: warum lebt das Mädel? Sie habe noch heut ab und zu Angst, obwohl nun die Mutter seit fünf Jahren tot sei. So habe sie erst neulich geträumt, sie sei wieder ganz klein und ein General mit lauter Orden sei in der Küche erschienen und habe gesagt: »Im Namen seiner Majestät ist der Ernährer der Familie auf dem Felde der Ehre gefallen!« Und die Mutter habe nur gesagt: »Soso, wenn er nur nicht wieder den Hausschlüssel verliert.« Und der General habe präsentiert und sei verschwunden und die Mutter habe sich vor sie hingeschlichen und sie entsetzlich gehässig angeglotzt. Dann habe sie das Licht ausgedreht, weil es plötzlich Nacht geworden sei, und den Gashahn aufgedreht und etwas vor sich hingemurmelt, das habe geklungen wie eine Prozession. Aber plötzlich sei es unheimlich licht geworden und das war überirdisch. Und Gottvater selbst sei zur Tür hereingekommen und habe zur Mutter gesagt: »Was tust du deinem Kinde? Das ist strengstens verboten, Frau Pollinger!« Dann habe der Gottvater das Fenster aufgerissen und den Gashahn geschlossen.
Und Agnes erklärte Eugen: »Solche Dummheiten träumt man oft, aber das war eine blöde Dummheit.«
Und Agnes dachte, wenn sie heut an ihre Kindheit zurückdenkt, so sieht sie sich in einem hohen Zimmer am Boden sitzen und mit bunten Kugeln spielen. Draußen scheint die Sonne, aber kein Strahl fällt in das Zimmer. Sie hat das Gefühl, als schwebe der Raum ungeheuer hoch über der Erde. Und dann weiß sie, daß draußen tief unten in der Ebene ein breiter Fluß fließen würde, wenn sie größer wäre und durch das Fenster sehen könnte.
Lautlos fährt ein Zug über die Brücke. Der Abend wartet am Horizont mit violetten Wolken.
Aber das ist freilich alles ganz anders gewesen. Der Himmel war verbaut und durch das Fenster jenes Zimmers sah man auf einen trüben Hof mit Kehrichttonnen und verkrüppelten Fliederbüschen. Hier klopften die Hausfrauen Teppiche und wenn ihre Hündinnen läufig waren, ließen sie sie nur hier unten spazieren, denn draußen auf der Straße wimmerten die Kavaliere. Kinder durften hier aber nicht spielen, das hat der Hausmeister untersagt, seit sie den Flieder gestohlen und ohne Rücksicht auf die sterbende böse Großmutter Biedermann im ersten Stock gejohlt und gepfiffen haben, daß irgendein Tepp die Feuerwehr alarmierte.
Dies Haus steht noch heute in Regensburg und im dritten Stock links erlag 1923 Frau Helene Pollinger der Kopfgrippe. Sie war die Witwe des auf dem Felde der Ehre gefallenen Artilleristen und Zigarettenvertreters Martin Pollinger.
Und ungefähr fünf Jahre später, Ende August 1928, ging ihre Tochter Agnes mit einem arbeitslosen Kellner aus Österreich über das Münchener Oberwiesenfeld und erzählte:
»Als sie meine Mutter begrabn habn, da war es der achtundzwanzigste Oktober und dann bin ich von Regensburg zur Tante nach München gefahrn. Ich war, glaub ich, grad vierzehn Jahr alt und hab im Zug sehr gefroren, weil die Heizung hin war und das Fenster kein Glas nicht gehabt hat, es war nämlich grad Infalation. Die Tante hat mich am Hauptbahnhof erwartet und hat geweint, nun bin ich also ein Waisenkind, ein Doppelwaisenkind, ein Niemandskind, ein ganz bedauernswertes und dann hat die Tante furchtbar geschimpft, weil sie nun gar nicht weiß, was sie mit mir anfangen soll, sie hat ja selber nichts und ob ich etwa glaub, daß sie etwas hätt und ob meine Mutter selig vielleicht geglaubt hätt, daß sie etwas hätt, und wenn ich auch die Tochter ihrer einzigen Schwester selig bin und diese einzige Schwester selig soebn in Gott verstorbn ist, so muß man halt doch schon wissn, daß ein jeder sterbn muß, keiner lebt ewig nicht, da hilft sich nichts. Und die Tante hat gesagt, auf die Verwandtn ist wirklich kein Verlaß nicht. Ich bin dann bald zu einer Näherin gekommen und hab dort nähen gelernt und hab Pakete herumtragn müssen in ganz München, aber die Näherin hat ein paar Monat drauf einen Postbeamten geheiratet, nach Ingolstadt. Da hat die Tante wieder furchtbar geschimpft und hat mich hinausschmeißen wollen, aber ich bin im letzten Moment zu einer anderen Näherin gekommen, da hab ich aber ein Kostüm verschnittn und dann hab ich wirklich Glück gehabt, daß ich gleich wieder zu einer Näherin gekommen bin, da hab ich aber wieder ein Kostüm verschnittn, ich hab schon wirklich Pech gehabt.«
Und Agnes fuhr fort, im letzten Kriegsjahr sei mal die Tante in Regensburg gewesen und habe gesagt, sie sehe zwar ihrem Vater schon gar nicht ähnlich, aber sie hätte genau sein Haar, worauf ihre Mutter gemeint habe: »Gelobt sei Jesus Christus, wenn du sonst nichts von ihm hast!« Und dazu habe die Mutter so bissig gegrinst, daß sie sehr böse geworden ist, weil ja der Vater schon tot geschossen gewesen wäre, und sie habe die Mutter sehr geärgert gefragt, was sie denn von ihr hätte. Da sei aber die Mutter plötzlich sehr traurig geworden und habe nur gesagt: »Sei froh, wenn du nichts von mir hast!« Sie glaube auch, daß sie schon rein gar nichts von der Mutter habe. Sie habe jedoch ein Jugendbildnis der Großmutter aus Straubing gesehen und da sei sie direkt erschrocken, wie ähnlich sie der sehe. Sie könne ihre Tochter sein oder ihre Schwester. Oder sie selbst.
Eugen meinte, daß jeder Mensch Verwandte hat, der eine mehr und der andere weniger, entweder reiche oder arme, boshafte oder liebe, und jeder Verwandte vererbt einem etwas, der eine mehr und der andere weniger, entweder Geld, ein Haus, zwei Häuser oder einen großen Dreck. Auch Eigenschaften wären erblich, so würde der eine ein Genie, der zweite Beamter, der Dritte ein kompletter Trottel, aber die meisten Menschen würden bloß Nummern, die sich alles gefallen ließen. Nur wenige ließen sich nicht alles gefallen und das wäre sehr traurig.
Und Eugen erzählte, er habe vor dem Weltkrieg im Bahnhofscafé in Temesvar den Bahnhofsvorstand bedient, das sei ein ungarischer Rumäne gewesen und hätte angefangen über die Vererbung nachzugrübeln, hätte sich Tabellen zusammengestellt, addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und im Lexikon studiert von A bis Z und wäre endlich dahintergekommen, daß jeder mit jedem irgend- wie verwandt ist, mit jedem Räuber, Mörder, General, Minister, sogar mit jedem römisch-katholischen Priester und dem Wunderrabbi von Kolomea. Darüber sei er dann verrückt geworden und hätte aus der Irrenanstalt Briefe an seine Verwandten geschickt. So habe er zu Weihnachten Franz Joseph folgendermaßen gratuliert:
Liebe Nichte!
Ich wünsche Dir einen recht angenehmen Geburtstag.
Herzliche Grüße aus dem K.K. priv. Narrenhaus!
Das Wetter ist schön
Auf Wiedersehn!
Es küßt Dich
Deine Mama.
Und Eugen erklärte Agnes, obwohl jener Bedauernswerte korrekt verrückt gewesen sei, hätte jener doch recht gehabt, denn jeder Mensch sei tatsächlich mit jedem Menschen verwandt, aber es habe keinen Sinn, sich mit dieser Verwandtschaft zu beschäftigen, denn wenn man sich all das so richtig überlegen würde, müßte man wahrscheinlich auch verrückt werden. Da habe der alte Schuster Breitenberger in Preßburg schon sehr recht gehabt, wie er, bevor er gestorben ist, zu seiner versammelten Familie gesagt hat: »Leutl, wenn ihr mal recht blöd seids, so denkts an mich!«
Agnes sagte, sie denke fast nie an ihre Familienverhältnisse und sie wundere sich schon eine ganze Weile sehr, wieso, wodurch und warum sie darauf zu sprechen gekommen sei.
Eugen sagte, er denke überhaupt nie an seine Vorfahren. Er sei doch kein Aristokrat, der darüber Buch führe, damit er es sich auf den Tag ausrechnen könne, wann er verteppen würde.
So endete das Gespräch über die liebe Verwandtschaft. – Der Tag gähnte, er war bereits müde geworden und zog sich schon die Stiefel aus, als Agnes fühlte, daß Eugen bald ihre Hüften berühren werde. Er tat es auch und sagte »Pardon!«
Zehn Minuten später saßen Agnes und Eugen unter einer Ulme. Er hatte sie nämlich gefragt, ob sie sich nicht setzen wollten, er sei zwar nicht müde, aber immerhin hätte er nichts dagegen, wenn er sich setzen könnte. Sie hatte ihn etwas mißtrauisch angeschaut, und er hatte ein ganz unschuldiges Gesicht geschnitten, aber sie hatte ihm diese Unschuld schon gar nicht geglaubt und gesagt, sie hätte nichts dagegen, daß er sich setzen wollte, er könnte sich ruhig setzen und wenn er sich setzen würde, würde sie sich auch setzen.
Es war nirgends eine Bank zu sehen und sie haben sich dann ins Gras gesetzt. Unter einer Ulme.
Das war ein großer alter Baum, und die Sonne ging unter. Im Westen, natürlich.
Überhaupt ging alles seine schicksalhafte Bahn, das Größte und das Kleinste, auch unter der Ulme.
Man hörte es fast gehen, so still war es ringsum.
Auch Agnes und Eugen saßen schweigend unter ihrer Ulme und sie dachte: »So ein Baum ist etwas Schönes.«
Und er dachte: »So ein Baum ist etwas Schönes.«
Und da hatten sie beide recht.
Agnes lachte.
Es fiel ihr nämlich plötzlich ein, daß sie ja noch gar nicht weiß, wie der Mann da neben ihr heißt. Sie wisse ja nur, daß er den Vornamen Eugen hat und vielleicht hat er einen sehr komischen Nachnamen, etwa Käsbohrer, Itzelplitz, Rindskopf, Kalbskopf oder die drei bayerischen Köpf: Holzkopf, Gipskopf, Saukopf oder Baron Rotz, Fürst Steiß, Graf Huber Sepp –
Warum sie denn lache und worüber, erkundigte sich Eugen.
Es sei ihr nur etwas eingefallen.
Was?
Es sei ihr eingefallen, daß sie einmal einen Menschen kannte, der Salat hieß.
Er meinte, das fände er gar nicht komisch, eher tragisch. So kenne er einen tragischen Fall, einen Kollegen in Linz, der an seinem Familiennamen zugrunde gegangen ist.
»Er hieß Johann Suppe und war in ganz Oberösterreich berühmt, er war nämlich Zahlkellner im ›Erzherzog Albrecht‹ und alle Gäste riefen ihn nur per ›Herr Rindssuppe! Herr Nudelsuppe! Herr Reissuppe! Herr Krautsuppe! Zahlen, Herr Brotsuppe! Sie haben sich verrechnet, Herr Erdäpfelsuppe! Wo bleibt meine Erbsensuppe, Herr Erbsensuppe?! Was macht mein Bier, Herr Biersuppe?! Schweinerei das, Herr Schweinssuppe!‹ und so weiter, bis er eines Tages sagte: ›Jetzt hab ich aber die Suppen satt! Meiner Seel, ich laß mich umtaufen und wenn ich Pischeles heißen werd!‹ Er ist aufs Magistrat gegangen, um die Formulare zur Namensänderung auszufüllen, aber diese Formulare hatte ein Beamter unter sich, der auch Stammgast im ›Erzherzog Albrecht‹ war und der hat ihn gleich per ›Herr Bohnensuppe‹ apostrophiert und hat ihn gefragt: ›Na wo fehlts denn, mein lieber Bouillon mit Ei?‹ und da hat sich mein unglücklicher Kollege eine Beamtenbeleidigung geleistet und hat sich dann später im Gefängnis ein Magenleiden geholt, und wie er dann herausgekommen ist, da hat ihm der Arzt gesagt: ›Sie müssen strengste Diät halten, Sie dürfen nur mehr Suppe essen, sonst nichts.‹ Da ist er sehr bleich geworden und der Arzt hat ihn trösten wollen und hat gesagt: ›Ja, so ist das Leben, mein lieber Herr Kraftbrühe!‹ und da hat er sich an dem Arzt vergriffen und hat wegen schwerer Körperverletzung Kerker gekriegt und hat sich dann dort erhängt. Er ist an sich selbst gestorben.«
Und Eugen schloß, er sei froh, daß er nicht Johann Suppe heiße, sondern Eugen Reithofer. Und Agnes war auch froh, daß sie nicht Agnes Suppe heißt, sondern Agnes Pollinger, und er meinte, Pollinger sei kein so verbreiteter Name wie Reithofer und er sei fest überzeugt, daß sie sehr froh sein darf, daß sie Pollinger heißt, denn ein verbreiteter Name bereite einem oft eklatante Scherereien: »So war ich mal 1913 in einem gewissen Café Mariahilf und der Cafétier hat auch Reithofer geheißen. Kommt da an einem Montag ein eleganter alter Pensionist, hat sich einen Kapuziner bestellt und mich in einer Tour fixiert und hat dann sehr höflich gefragt: ›Pardon, Sie sind doch der Herr Reithofer selbst?‹ ›Ja‹, hab ich gesagt und da hat er gesagt: ›Also, Pardon, mein lieber Herr Reithofer, ich bin der Oberstleutnant Ferdinand Reithofer und ich möchte Sie nur bitten, daß Sie sich nicht allen Menschen per Oberstleutnant Reithofer vorstellen, Sie ordinärer Hochstapler und Canaille.‹ Da hab ich ihm natürlich zwei Watschen gegeben und er ist davongestürzt, als hätt ich ihm auch noch zwei Fußtritt gegeben, denn ich hab mich noch nie per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt und ich hab im Moment nicht gedacht, daß dieser Pensionist ja gar nicht mich, sondern den Cafétier gemeint hat, der ja auch Reithofer geheißen hat. Der Cafétier hat dann am Dienstag eine Vorladung auf das Kommissariat bekommen, er ist hin und dort haben sie ihn dann verhört wegen der beiden Watschen und dem einen Fußtritt. Er hat überhaupt von nichts gewußt, er hat sich nämlich auch noch nie per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt und das Ganze war ein Irrtum von dem Pensionisten Reithofer. Nämlich der, der sich per Oberstleutnant Reithofer vorgestellt hat, das war ein gewisser Versicherungsagent Reithofer aus dem VIII. Bezirk, aber die Polizei hat gesagt, das spiele eine sekundäre Rolle, sie verhöre ihn jetzt nur wegen der beiden Watschen und dem Fußtritt und der Cafétier Reithofer hat gemeint, daß er verrückt geworden ist oder vielleicht hypnotisiert worden ist und ist wütend ins Café zurückgekommen und hat seinen Ärger am Piccolo ausgelassen. Er hat ihm zwei Watschen gegeben. Dieser Piccolo hat auch Reithofer geheißen.«
Während Eugen sprach, kam Agnes immer mehr und mehr dahinter, daß dies eine sehr verwickelte Geschichte ist. Und sie wurde traurig, denn auf einmal schien ihr alles auf der Welt so fürchterlich verwickelt zu sein, daß jeder in alles unerbittlich hineingewickelt wird. Da könne sich keiner herauswickeln und sie bedauerte sich selbst, als hätte sie von jenem ungerechten Cafétier Reithofer jene zwei Watschen bekommen. »Ich bin doch auch nur ein Piccolo«, dachte sie und Eugen konstatierte:
»Freilich geht das nicht immer so glücklich aus, indem irgend so ein Piccolo zwei Watschen kriegt. So hat man mich mal fast verhaften wollen, weil ein Zahlkellner, der wo auch Reithofer geheißen hat, seine Braut erschlagen, zerstückelt und im Herd verbrannt hat. Später hat es sich erst rausgestellt, daß der nicht Reithofer geheißen hat, sondern Wimpassinger.«
Agnes konstatierte, jeder Lustmord sei ein scheußliches Verbrechen und Eugen erwiderte, heute hätten es sich die Kapazitäten ausgerechnet, daß jeder Lustmord eine Krankheit wäre, ein ganz gewöhnliches Gebrechen, wie etwa ein Buckel oder ein Schnupfen. Die Lustmörder seien nämlich alle wahnsinnig, aber die Kapazitäten hätten es sich ausgerechnet, daß fast jeder Mensch ein bisserl wahnsinnig wäre.
Agnes meinte, sie sei ganz normal.
Eugen meinte, auch er sei ganz normal.
So endete das Gespräch über die komischen Familiennamen und deren tragische Folgen, über die beiden Watschen und den armen Kellner Johann Suppe, über Lustmörder und Kapazitäten mit besonderer Berücksichtigung des normalen Geschlechtsverkehrs.
Es wurde immer dunkler unter der Ulme und Eugen dachte: »Also einen Lustmord könnt ich nie machen.« Und Agnes dachte: »Also wie ein Lustmörder sieht der nicht aus«, worauf sie ihn fragte, ob er Berlin kenne? Sie möchte mal gerne nach Berlin. Oder gar nach Amerika. Auch in Garmisch-Partenkirchen sei sie noch nie gewesen, sie habe überhaupt noch nie einen richtigen Berg gesehen und sie habe gehört, daß die Zugspitze ein sehr hoher Berg sei mit eisernen Nägeln in der Wand, an denen die Touristen hinaufkletterten und viele Sachsen abstürzten.
Sie wartete aber seine Antwort auf ihre Frage, ob er Berlin kenne, gar nicht ab, sondern erklärte ihm, daß nach ihrer innersten Überzeugung jene Touristen, die über jene eisernen Nägel hinaufkletterten, durchaus schwindelfrei sein müßten und daß jene Sachsen, die herunterfielen, sicherlich nicht schwindelfrei wären. Und sie teilte ihm mit, daß sie nur zwei Städte auf der ganzen Erde kennt, nämlich München und Regensburg, wo sie geboren sei. Regensburg liege an der Donau und in der Nähe sei die Walhalla, wo die berühmten Männer als Marmorbüsten herumständen, während München an der Isar liege. Die Donau sei zwar größer als die Isar, aber dafür könne die Isar nichts. Hinwiederum sei die Isar zwar grüner als die Donau, dafür sei aber wieder München die Hauptstadt Bayerns.
So sprach sie, ohne zu wissen, was sie sprach, denn sie dachte nur daran, daß etwas vor sich gehen werde, sobald sie aufhören würde zu sprechen, nämlich er hat ja schon mal ihre Hüfte berührt. Er hat zwar »Pardon!« gesagt, aber unter der Ulme wurde es, wie gesagt, immer dunkler und auf so ein »Pardon!« ist kein Verlaß.
Sie hatte Angst vor dem Ende ihrer Erzählungen, wie Scheherazade in Tausend und einer Nacht. Sie erzählte zwar keine Märchen, sondern Blech und Mist und Eugen wurde ganz melancholisch und dachte sich: »Sind denn alle Mädel blöd? Oder ist das nur so eine weibliche Nervosität, nämlich so Frauen sind sehr sensibel, die spürens gleich im vorhinein.«
Und er erinnerte sich an eine zarte Blondine, das war die Frau des Restaurateurs Klein in Preßburg, eine ungarische Jüdin, die hat mal zu ihm gesagt: »Spüren Sie denn gar nichts, Herr Jenö!« Er hat gesagt, nein, er spürte gar nichts und er könnte es sich überhaupt nicht vorstellen, was er spüren sollte, worauf sie gesagt hat: »Freitag nacht verreist mein Herr Gemahl und heut ist Freitag. Spüren Sie denn noch immer nichts, lieber Jenö?« Da hat er schon etwas gespürt und Freitag nacht im Bett hat sie ihm dann zugehaucht, sie hätte es schon am Montag vor vierzehn Tagen gespürt, daß er Freitag nacht so süß sein werde. So sensibel war jene blonde Frau Klein.
»Aber nicht nur die Blondinen, auch die Schwarzen sind sensibel«, überlegte Eugen. »Auch die Brünetten, die Strohgelben und Tizianroten – – und auch diese Agnes da ist genauso sensibel, sonst tät sie eben keine solchen Blödheiten daherreden.«
Sie fing ihm an leid zu tun wegen ihrer Sensibilität. Sie mußte sich ja furchtbar anstrengen mit dem vielen Reden, weil sie es auch im vorhinein spürt.
Und er dachte, das wäre jetzt sehr edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zuckerln schenken und sagen würde: »Geh ruhig nach Haus, mein liebes Kind.«
Er tat es natürlich nicht, sondern lächelte sanft und verlegen, als würden die Kindlein zu ihm kommen.
Und Agnes redete, redete, redete, ohne Komma, ohne Punkt – – nur ab und zu flatterte aus all dem wirren Geschwätz ein ängstliches Fragezeichen über das stille Oberwiesenfeld.
Sie wollte ihn gerade fragen, ob auch er es nicht glaube, daß an all dem Elend die Juden schuld sind, wie es der Hitler überall herumplakatiert, da legte er seine Hand auf ihr Knie und sie verstummte.
Mittendrin.
Sie fühlte seine linke Hand auf ihrem linken Knie.
Seine Hand war stark und warm.
Und wurde immer stärker und sie fühlte ihre Wärme durch den Strumpf dringen bis unter ihre Haut und sie selbst wurde immer unentschlossener, was sie nun mit seiner linken Hand und ihrem linken Knie anfangen soll. Soll sie sagen: »Was machens denn da mit Ihrer linken Hand? Glaubens nur ja nicht, daß mein linkes Knie Ihrer linken Hand gehört! Mein Knie ist kein solches Knie! Mein Knie ist zum Knien da, aber nicht dazu, daß Sie mich am End noch aufregen!« Oder soll sie gar nichts sagen, sondern nur sanft seine linke Hand von ihrem linken Knie langsam wegheben oder spaßig über seine linke Hand schlagen und dazu lächeln, aber dann würde sie ihn vielleicht erst auf irgendwelche Kniegedanken bringen, denn vielleicht weiß er es ja noch gar nicht, daß er seine linke Hand auf ihrem linken Knie hat, er hat sie vielleicht nur zufällig da und dann wäre ihr das sehr peinlich, denn dann würde er denken, daß sie denkt, daß er seine linke Hand nicht zufällig auf ihrem linken Knie hat. Oder soll sie überhaupt nichts sagen und nichts tun, sondern nur warten, bis er seine linke Hand von ihrem linken Knie nimmt, denn er weiß sicher nichts von seiner linken Hand, er sitzt ja ganz weltverloren neben ihr und scheint an etwas Ernstes zu denken und nicht an ein linkes Knie – – da fühlte sie seine Hand auf ihrem rechten Knie.
Sie preßte sich erschrocken zusammen und da lag nun seine linke Hand auf ihren beiden Knien. So groß war er. Und Agnes dachte: also ist der da neben mir doch nicht so weltverloren, aber er scheint noch immer an etwas sehr Ernstes zu denken und vielleicht weiß ers noch immer nicht, was seine linke Hand tut – – da fühlte sie, wie seine rechte Hand hinter ihrem Rücken ihren rechten Oberarm erfaßte.
Auch seine rechte Hand war stark und warm.
Und Agnes dachte, er sei nicht nur stark und groß, sondern vielleicht auch grob und es sei nun erwiesen, daß er an nichts Ernstes denkt, sondern an sie. Und es wäre halt doch das beste, wenn sie ihm sehr bald folgendes sagen würde: »Was machens denn da mit Ihrer linken Hand und Ihrer rechten Hand? Glaubens nur ja nicht, daß mein rechtes Knie Ihrer linken Hand gehört! Mein linkes Knie ist kein solches Knie und mein rechtes Knie ist nur zum Knien da, aber nicht dazu da, daß Sie mit Ihrer rechten Hand meinen rechten Arm so narrisch zamdrucken, au! Gehns weg mit Ihrer linken Hand! Was machens denn da mit Ihrer rechten Hand, au! Werdens gleich Ihre linke Hand von meiner rechten Schulter runter? Himmel, mein Haar! Mein linker Daumen, au! Mein rechter kleiner Finger, au! Gehns weg mit Ihrer Nasen, ich beiß! Jesus Maria, mein Mund! Au, Sie ganz Rabiater! Sie mit Ihrer linken Hand – –«
Aber von all dem hat der mit seiner linken Hand nichts gehört, denn sie hat ihm ja kein Wort gesagt, sondern all dies sich nur gedacht. Sie wußte nämlich, daß sich solch eine linke Hand durch Worte nicht hindern läßt – – und Agnes überlegte, sie habe sich zwar gewehrt, aber sie hätte sich drei Mal so wehren können, er hätte sie genau so abgeküßt, denn er sei noch stärker und überhaupt gut gebaut, jedoch wäre es ungerecht, wenn man sagen würde, daß er grob ist. Nein, grob sei er gar nicht gewesen, aber es sei schon sehr ungerecht eingerichtet, daß die Herren stärker sind als die Damen. So hätten es die Mannsbilder immer besser und seien doch oft nur Schufte, die sofort hernach verschwänden, obwohl sie oft angenehme Menschen seien, wie dieser da mit seiner linken Hand, der sie ja auch erst nur drei Mal geküßt hätte und das dritte Mal sei es am schönsten gewesen.
Die Sonne war untergegangen und nun kam die Nacht.
So ging alles, wie es kommen mußte.
Erstaunt stellte Agnes fest, daß Eugen sie noch immer umarmt hält und sie ihn.
Sie war sprachlos und die ganze Welt schien sprachlos zu sein, so still war es unter der Ulme.
So kam alles, wie es kommen sollte.
Man hörte es fast kommen und Eugen sah sich plötzlich um.
Auch Agnes erschrak und fragte ihn schüchtern, ob er etwas gehört hätte.
»Ja«, sagte er, »es war nichts.«
Und sie meinte, ob sie jetzt nicht gehen wollten und er meinte, nein. So blieben sie sitzen.
Eugen sprach sehr leise.
Wenn das Oberwiesenfeld noch Exerzierplatz wäre, sagte er, dann wäre es hier heute nicht so still und er hasse das Militärische und sie könnte fast seine Tochter sein, obzwar er nur zwölf Jahre älter sei, aber die Kriegsjahre würden ja doppelt gezählt werden, wenn man etwa Generalspensionsberechtigung haben würde – – aber nun wolle er wirklich nicht mehr so traurig daher reden. Er lächelte dabei und wartete, bis sie ihn ansah. Und als sie ihn ansah, da sah er sie an und sagte, der Abend, respektive die Nacht, sei wirklich warm. Sie sagte, sie liebe den Sommer und er sagte, nun flöge auch kein Flugapparat mehr herum, sie seien alle daheim. Er möchte so ein Flugapparat sein und auch mal daheim sein können. Und jetzt sei überhaupt wieder ein Tag zu End und morgen begänne ein neuer Tag. Heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch und sie solle doch nicht so sein, sie sei ja gar nicht so, sie sei ganz anders, er wisse schon, wie sie sei. Es sei überhaupt schon stockfinster, wer sollte denn noch kommen? Es sei niemand da, nur sie zwei. Sie seien wirklich allein. Mehr allein könne man gar nicht sein.
Er preßte sie an sich und Agnes sagte, das sehe sie schon ein, daß sie ganz allein sind, aber sie fürchte sich immer so, es könne was daraus werden aus dem Alleinsein, nämlich das ginge ihr gerade noch ab.
Und sie preßte sich an ihn und meinte resigniert, vielleicht sei sie dumm, weil sie sich so sehr fürchte. Gerührt erwiderte er, freilich sei das dumm, jedoch begreiflich, aber ihm könnte sie sich ganz anvertrauen, er sei nämlich ein durchaus anständiger und vorsichtiger Mann.
Es war nach der Polizeistunde, als sich Eugen von Agnes verabschiedete. Er hatte sie bis nach Hause gebracht und sah ihr nun zu, wie sie sich anstrengte, die Haustüre mit einem falschen Hausschlüssel zu öffnen.
Nämlich sie hatte ihren richtigen Hausschlüssel verloren, als sie vor drei Wochen mit dem Zimmerherren ihrer Tante, einem gewissen Herrn Kastner, im Kino gewesen ist. Man hat den Film »Madame wünscht keine Kinder« gegeben und der Kastner hat sie immer abgreifen wollen, sie hat sich gewehrt und dabei den Hausschlüssel verloren. Das durfte aber die Tante nie erfahren, sonst würde sie schauerlich keppeln, nicht wegen der Greiferei, sondern wegen des Schlüssels.
Der Kastner ist damals sehr verärgert gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl darüber denke, daß man jemand zu einem Großfilm einladet und dann »nicht mal das?!« Er ist sehr empört gewesen, aber trotzdem hat er sie zehn Tage später zu einem Ausflug nach dem Ammersee mitgenommen, doch dieser Sonntagnachmittag hat auch damit geendet, daß er gesagt hat, nun sei das Maß voll.
Der Kastner hat ihr noch nie gefallen, denn er hat vorn lauter Stiftzähne. Nur ein Zahn ist echt, der ist schwarz, das Zahnfleisch ist gelb und blutet braun.
Die Tante wohnte in der Schellingstraße, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete sie im vierten Stock Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres verstorbenen Mannes, kaum größer als eine Kammer. Darüber stand »Antiquariat« und im Fenster gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten.
Als Eugen so vor der Haustüre stand, fiel es ihm plötzlich auf, daß er eigentlich schon unglaublich oft so vor einer Haustüre gestanden ist und zugeschaut hat, wie irgendeine sie öffnete, und er fand es eigenartig, daß er es gar nicht zusammenzählen kann, wie oft er schon so dagestanden ist. Doch bald dünkte ihm das eigentlich gar nicht eigenartig, sondern selbstverständlich und er wurde stolz. In wie vielen Straßen und Ländern ist er schon so dagestanden! Mit Österreicherinnen, Böhminnen, Ungarinnen, Rumäninnen, Serbinnen, Italienerinnen und jetzt mit einer Oberpfälzerin! Um ein Haar wäre er auch mit Negerinnen, Türkinnen, Araberinnen, Beduininnen so dagestanden, nämlich in der Oase Bisra, hätte es keinen Weltkrieg gegeben. Und wer weiß, mit wem allen er noch so dastehen wird, wo und wie oft, warum und darum, denn er hat ja eigentlich keine Heimat und auch er weiß es nicht, was ihm bevorsteht.
Und Eugen wurde sentimental und dachte, man sollte an vieles nicht denken können, aber er dürfe es nicht vergessen, daß er nun schon zwei Monate so herumlungert und keine Aussicht auf Arbeit hat, man werde ja immer älter und er denke schon lange an keine Oase Bisra mehr, er würde auch in jedem Bauernwirtshaus servieren.
Afrika verschwand und da er nun schon mal sentimental geworden ist, dachte er auch gleich an seine erste Liebe, weil das damals eine große Enttäuschung gewesen war, da sie ihm nur ein einziges Mal eine Postkarte geschrieben hatte: »Beste Grüße Ihre Anna Sauter.« Und darunter:
»Gestern habe ich drei Portionen Gefrorenes gegessen.« Das war seine erste Liebe.
Seine zweite Liebe war das Wirtshausmensch in seinem Heimatdorfe, fern in Niederösterreich, nahe der ungarischen Grenze. Sein Vater war Lehrer, er war das neunte Kind und damals fünfzehn Jahre alt und das Wirtshausmensch gab ihm das Ehrenwort, daß er es um acht Uhr Abend in den Maisfeldern treffen wird und, daß es nur zwei Kronen kostet. Aber als er hinkam, stand ein Husar bei ihr und wollte ihn ohrfeigen. Vieles ist damals in seiner Seele zusammengebrochen und erst später hat er erfahren, daß das seiner Seele nichts geschadet hat, denn das Wirtshausmensch war krank und trieb sich voll Geschwüren und zerfressen im Land herum und bettelte. Bis nach Kroatien kam sie und in Slavonien riet ihr eine alte Hexe, sie solle sich in den Düngerhaufen legen, das heilt. Sie ist aber in die Grube gefallen, weil sie schon fast blind war, und ersoffen.
Endlich konnte Agnes die Haustüre öffnen und Eugen dachte, wie dürfe man nur denken, daß diese Agnes da nicht hübsch ist! Er gab ihr einen Kuß und sie sagte, heute sei Dienstag und morgen sei Mittwoch.
Sie schwieg und sah die Schellingstraße entlang, hinab bis zur Ludwigskirche.
Dann gab sie ihm ihr Ehrenwort, am Mittwoch um sechs Uhr abends an der Ecke der Schleißheimerstraße zu sein und er sagte, er wolle es ihr glauben und sie meinte noch, sie freue sich schon auf den Spaziergang über das Oberwiesenfeld.
»Also morgen« lächelte Agnes und überlegte sich: er hat wirklich breite Schultern und der Frack steht ihm sicher gut und sie liebte die weißen Hemden.
Sie sah ein großes Hotel in Afrika.
»Also morgen« wiederholte sie.
Agnes stand im Treppenhaus und ihre Seele verließ die afrikanische Küste. Sie schwebte über den finsteren Tannenwäldern, lieblichen Seen und unheimlichen Eisriesen des Salzkammerguts und erblickte endlich das kleine Hotel, das sich Eugen kaufen wollte, hätte es eben nur jenen Weltkrieg nicht gegeben und hätte er in jenem großen afrikanischen Hotel dem Vanderbilt seinem Neffen serviert.
Und während sie die Stufen hinaufstieg, wurde auch jenes kleine Hotel immer größer und da sie den vierten Stock betrat, war das Hotel auch vier Stock hoch gewachsen. Es hatte sogar einen Turm und aus jedem Fenster hing eine Fahne und vor dem Eingang stand ein prächtiger Portier in Gold und Rot und ein Unterportier in Rot und Gold. Auch ein großer Garten war da, eine Terrasse am See, ein Autobus und das Alpenglühen. Das Publikum war elegant und plauderte. Man sah viele Pyjamas und auch die herrlichen hellbrauen Schuhe, die es beim Schlesinger in der Kaufingerstraße zu kaufen gibt.
Überhaupt diese Schuhe!
Sie ist mal zum Schlesinger hinein und hat bloß gefragt: »Bittschön, was kostn die hellbraunen Schuh in der Auslag?« Aber die Verkäuferin hat sie nur spöttisch angeschaut und eine zweite Verkäuferin hat gesagt: »Nur sechsundvierzig Mark« und hat dazu so grausam gelächelt, daß sie direkt verwirrt geworden ist und niesen hat müssen.
»Nur sechsundvierzig Mark!« hörte sie jetzt im Treppenhaus wieder die Stimme der Verkäuferin, während sie sich die Schuhe auszog, denn sonst würde die Tante aufwachen und fragen: »Was glaubst du, wo du schon enden wirst, Schlampn läufiger?«
Sie könnte nicht antworten. Sie wollte nichts glauben. Sie wußte ja nicht, wo sie enden wird.
Die Wohnung der Tante bestand aus zwei Zimmern, Küche, kleinem Vorraum und stockfinsterem Klosett. Das eine Zimmer hatte die Tante an den Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich leer, denn es war schon seit einem halben Jahr verwanzt. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht und hatte sich dann bei der Tante beschwert und hatte ihr mitgeteilt, daß er ihr die Miete schuldig bleibt, bis nicht die letzte Wanze vertilgt wäre.
Das leere Zimmer bewohnte Agnes. Die Tante schlief in der Küche, weil sie mit der Heizung sparen wollte. Der Sommer 1928 war zwar ungewöhnlich heiß, aber die Tante war das nun einmal seit 1897 so gewöhnt und so schnarchte sie nun in der Küche neben ihrem Kanari.
Als Agnes die Wohnung betrat, erwachte der Kanari und sagte: »Piep.«
»Piep nur«, ärgerte sich Agnes, »wenn du die Tante aufpiepst, dann laß ich dich aber fliegen, ich weiß, du kannst nicht fliegen, so kriegt dich die Katz.«
Erschrocken verstummte der Kanari und horchte: droben auf dem Dache saß die Katz und unterhielt sich mit dem Kater vom ersten Stock über den Kanari, während sich Agnes in ihr Zimmer schlich.
»Man sollte alles der Tante erzählen«, dachte der Kanari. »Es tut mir tatsächlich leid, daß ich nur singen kann. Ich wollt, ich könnt sprechen!«
»So ein Kanari hats gut«, dachte Agnes. »Ich wollt, ich könnt singen!« fuhr sie fort und setzte sich apathisch auf den einzigen Stuhl, der krächzte, aber sie meinte nur: »Zerbrich!« So müde war sie.
Der Stuhl ächzte jämmerlich, er war nämlich sehr zerbrechlich, denn der Kastner hatte ihn mal aus Wut über die Tante zerbrochen und die Tante hatte ihn vor vier Wochen bloß provisorisch zusammengeleimt.
Agnes zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund.
Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer, das auch verwanzt sein konnte, und verkündete der knieenden Madonna: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich!« Und Agnes dachte, Eugen habe wirklich schön achtgegeben und sei überhaupt ein lieber Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, daß sie so fürstlich belohnt worden ist? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt.
Auch sie selbst hätte das mal gehabt.
Noch vor drei Jahren.
Sie hatte sich damals viel darüber geärgert und gekränkt, denn die Theres und überhaupt all ihre Altersgenossinnen, die mit ihr bei den verschiedenen Schneiderinnen nähen gelernt hatten, waren schon diese lästige Übergangsform los und zu richtiggehenden Menschen geworden. Nur sie hatte sich sehr geschämt und ihre Kolleginnen angelogen, daß sie bereits entjungfert worden ist. Die Theres hatte es ihr geglaubt, denn sie hatte sie einmal mit einem Konditorlehrling aus der Schellingstraße im Englischen Garten spazieren sehen und sie konnte es ja nicht gewußt haben, daß dieser junge Mann auf folgender Plattform gestanden ist: je größer die himmlische, um so kleiner die irdische Liebe. Er ist ein großer himmlischer Lügner und irdischer Feigling gewesen, nämlich er hatte sich selbst befriedigt.
Als Agnes einsah, daß diese bequeme Seele sie pflichtbewußt verkümmern ließ, hing sie sich an einen anderen Konditorlehrling aus der Schellingstraße. Der hätte Friseur sein können, so genau kannte er jedes Rennpferd und die Damenmode. Er schwärmte für Fußball, war sehr belesen und überaus sinnlich. Als er aber erfuhr, daß sie noch Jungfrau ist, da lief er davon. Er sagte, das hätten sich die Südseeinsulaner schon sehr nachahmenswert eingerichtet, daß sie ihre Bräute durch Sklaven entjungfern lassen. Er sei weder ein dummer Junge noch ein Lebegreis, er sei ein Mann und wolle ein Weib, aber keine Kaulquappe, und übrigens sei er kein Sklave, sondern ein Südseeinsulaner.
Sie wurde dann endlich, nachdem sie schon ganz verzweifelt war, von einem Rechtsanwalt entjungfert. Das begann auf dem Oktoberfest vor der Bude der Lionella. Diese Lionella war ein Löwenmädchen mit vier Löwenbeinen, Löwenfell, Löwenmähne und Löwenbart und Agnes überlegte gerade, ob wohl diese Lionella auch noch Jungfrau sei, da lernte sie ihren Rechtsanwalt kennen. Der hatte bereits vier Maß getrunken, rülpste infolgedessen und tat sehr lebenslustig. Sie wollte zuerst noch einige andere Mißgeburten sehen und er kaufte die Eintrittskarten, denn er hatte eine gute Kinderstube. Dann fuhren sie zwei Mal mit der Achterbahn und zwei Mal auf der Stufenbahn. Sie aßen zu zweit ein knuspriges Huhn, er trank noch vier Maß und sie drei. So hatten beide ihren Bierrausch, er verehrte ihr sein Lebkuchenherz, ließ sie noch im Hippodrom reiten und fuhr sie dann mit einem Kleinauto in seine Kanzlei. Dort warf er die Akten eines Abtreibungsprozesses vom Sofa und endlich wurde Agnes entjungfert. Das Sofa roch nach Zigaretten, Staub, Kummer und Betrug und Agnes zitterte, trotz ihrer wilden Entschlossenheit ein Mensch zu werden, vor dem unbekannten Gefühl. Sie spürte aber nicht viel davon, so neugierig war sie und der Rechtsanwalt merkte es gar nicht, daß sie noch Jungfrau war, so besoffen war er. Als sie ihm aber hernach gestand, daß er ihr nun ihre Unschuld genommen hat, da wurde er plötzlich nüchtern, knöpfte sich überstürzt die Hosen zu und schmiß sie hinaus. »Also erpressen laß ich mich nicht!« sagte er höflich. »Ich bin Rechtsanwalt! Ich kenn das! Ich hab schon mal so eine wie dich verteidigt!«
Das geschah 1925.
Im Winter verliebte sich dann einer in sie und der hatte ein angenehmes Organ. Das war ein melancholischer Kaffeehausmusiker, ein schwermütiger Violinvirtuose mit häuslichen Sorgen. Er erzählte ihr, sein Vater wäre gar nicht sein Vater, seine Stiefmutter sei eine sadistische Säuferin, während seine ehemalige Braut eine bittere Enttäuschung gewesen wäre, denn sie sei eine unheilbare Lesbierin. Sein geliebtes einziges Schwesterlein sei schon vor seiner Geburt gestorben und er selbst sei ein großer Einsamer, ein verpatztes Genie, ein Kind der ewigen Nacht. Der Dezembertag war trüb und lau und Agnes gab sich ihm aus lauter Mitleid auf einer Bank, denn sonst hätte er sie noch vergewaltigt. Als sie aber erfuhr, daß sein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft dem Typhus erlag, daß seine Stiefmutter seine echter Mutter ist, eine arme abgearbeitete Kaminkehrerswitwe, die von seinem einzigen Schwesterlein, der Stenotypistin Frieda, ernährt wird, während er selbst ein Säufer, Kartenspieler und Ehemann ist, da wollte sie ihn nicht wiedersehen und versetzte ihn am nächsten Montag. Er schrieb ihr dann einen Brief, nun werde er sich vergiften, denn ohne ihr Mitleid könne er nicht leben, da sie so angenehm gebaut wäre. Aber er vergiftete sich nicht, sondern lauerte ihr auf der Straße auf und hätte sie geohrfeigt, hätte sie nicht der Brunner Karl aus der Schellingstraße beschützt, indem, daß er dem Virtuosen das Cello in den Bauch rannte. Da begann ihre Liebe zu Brunner Karl, eine richtige Liebe mit fürchterlicher Angst vor einem etwaigen Kinde. Aber der Brunner sagte, das sei ganz unmöglich, denn das sei ihm noch nie passiert und er bezweifle es mächtig, ob er der einzige gewesen sei und überhaupt hätte er sie nur aus Mitleid genommen, denn sie sei ja gar nicht sein Typ.
Der Brunner hatte recht, es kam kein Kind, aber Agnes kniete auf dem Ölberg.
Sie kannte in der Schellingstraße ein Dienstmädchen, das brach plötzlich im Korridor zusammen und gebar ein Kind. Es dämmerte bereits, als man sie in irgendein Mutterheim einlieferte. Dort mußte sie für ihre unentgeltliche Unterkunft, Verpflegung und Behandlung die Fenster putzen, den Boden scheuern und Taschentücher waschen und sich alle paar Stunden auf paar Stunden in ein verdunkeltes Zimmer legen, um möglichst rasch einschlafen zu können, um wieder kräftige Milch zu produzieren, denn sie mußte neben ihrem eigenen Sohn noch zwei fremde Findelssäuglinge stillen.
Aber ein anderes Dienstmädchen ließ sich von einem Elektrotechniker einen strafbaren Eingriff machen und starb an Blutvergiftung. Der Elektrotechniker wurde verhaftet und nach drei Monaten bekam er im Untersuchungsgefängnis einen Tobsuchtsanfall und brüllte: »Ich bin Elektrotechniker! Meine liebe Familie hungert! Liebe Leutl, ich bin Elektrotechniker!« Aber man schien es ihm nicht zu glauben, denn die lieben Detektive prügelten ihn bloß und die lieben Richter verurteilten ihn ohne einen lieben Verteidiger.
Einmal flüchtete sich Agnes in die Frauenkirche, weil es schauerlich regnete. Dort predigte ein päpstlicher Hausprälat, daß eine jede werdende Mutter denken muß, sie werde einen Welterlöser gebären.
Und Agnes überlegte nun in ihrem verwanzten Zimmer, diese Geschichte mit dem großen weißen Engel dort drüben auf jenem heiligen Bilde sei eine große Ungerechtigkeit. Überhaupt sei alles ungerecht, jeder Mensch, jedes Ding. Sicher sei auch der Stuhl ungerecht, der Schrank, der Tisch, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe.
Auch die Maria Muttergottes hätte eben Protektion gehabt genau wie die Henny Porten, Lya de Putti, Dolores del Rio und Carmen Cartellieri. »Wenn man keine Protektion nicht hat, indem, daß man keinen Regisseur nicht kennt, da wirst halt nicht auserwählt«, konstatierte Agnes.
»Auserwählt« wiederholte sie langsam und sah auf ihrem Hemde noch die Spuren von Eugens linker und rechter Hand. Sie schloß die Augen und glaubte, das Bett wäre Gras. Unter der Ulme.
Seine Hand war nicht so eklig knochig, wie jene des Herrn stud. jur. Wolf Beckmann, der die ihre bei jeder Begrüßung fast zerdrückte. Nur wenn er in Couleur war, dann grüßte er sie nicht.
Sie war auch nicht so schwammig talgig, wie jene des greisen Meier Goldstein, der ihrer Tante ab und zu uralte Nummern des »La Vie Parisienne« zum Verkauf in Kommission übergab und der zu ihr jedes Mal sagte: »Was ich für Pech hab, daß Sie kein Junge sind, gnädiges Fräulein!« Auch war seine Hand nicht so klebrig und kalt, wie jene ihres Nachbarn Kastner, der mal zu ihrer Tante sagte: »Ich höre, daß ihre liebe Nichte arbeitslos ist. Ich habe beste Beziehungen zum Film und es hängt also lediglich von ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.«
Und Agnes hörte, wie der Kastner im Zimmer nebenan auf und ab ging. Er sprach leise mit sich selbst, als würde er etwas auswendig lernen. Plötzlich ging er aufs Klosett. »Piep«, sagte der Kanari in der Küche und der Kastner verließ das Klosett. Er hielt vor ihrer Türe.
Agnes und der Kanari lauschten.
Droben auf dem Dache hatte der Kater die Katz verlassen und die Katz schnurrte nun befriedigt vor sich hin: »Jetzt wird bald wieder geworfen werden!« Sie träumte von dem Katzenwelterlöser, während der Kastner zu Agnes kam, ohne anzuklopfen.
Der Kastner stellte sich vor Agnes hin, wie vor eine Auslage. Er hatte seine moderne Hose an, war in Hemdsärmeln und roch nach süßlicher Rasierseife.
Sie hatte sich im Bette emporgesetzt, bestürzt über diesen Besuch, denn sie hörte, wie der boshafte Kanari sich anstrengte, die Tante zu wecken und wenn die Tante den Kastner hier finden würde und wenn sich der Kastner vielleicht auf den geleimten Stuhl setzen würde und dieser Stuhl dann gar zusammenbricht und – – –
»Gnädiges Fräulein, zürne mir nicht!« entschuldigte sich der Besuch ihre Zwangsvorstellung unterbrechend und verbeugte sich ironisch. »Honny soit qui mal y pense.«
Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden, jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: »Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Menschheit. Ich will, daß mein Sohn ein Wohltäter wird!« Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloß Phantasie statt Präzision. Seine Gebisse waren lauter gute Witze. Es war sein Glück, daß kurz nach seiner Praxiseröffnung der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: »Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein Wohltäter. Ich bin die typische Bohèmenatur und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue.« Er wollte wieder Journalist werden, aber er landte beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen homosexuellen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film: »Der bethlehemitische Kindermord oder Ehre sei Gott in der Höhe«. Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein bethlehemitisches Kind verkörperte, nackt fotografierte. Dies Kind war nämlich die Mätresse eines Aufsichtsrates. Der Kastner ließ die Fotografien durch einen pornographischen Klub vertreiben und dort erkannte eben dieser Aufsichtsrat, durch einen Rittmeister eingeführt, auf einer Serie »Pikante Akte« seine minderjährige Mätresse und meinte entrüstet: »Also, das ist ärger als Zuhälterei! Das ist fotografische Zuhälterei!«
Und nun schritt dieser fotografische Zuhälter vor Agnes Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik.
»Agnes«, deklamierte der Kastner, »du wirst dich wundern, daß ich noch mit dir rede, du darfst dich aber nicht wundern, daß ich mich auch wundere. Ich wollte ja eigentlich seit dem Ammersee kein Sterbenswörtchen mehr an deine Adresse verschwenden und dich einfach übersehen, du undankbares Luder.«
»Hörst du den Kanari?« fragte das undankbare Luder.
»Ich höre das Tier. Es zwitschert. Deine liebe Tante hat einen außerordentlich gesunden Schlaf. Ein Kanari zwitschert keine Rolle. Und wenn schon!«
»Wenn sie dich hört, flieg ich raus!«
»Schreckloch, lächerloch!« verwunderte sich gereizt der sonderbare Fotograf. »Deine liebe Tante wird sich hüten, solange ich dich beschirme! Deine liebe Tante halt ich hier auf meiner flachen Hand, ich muß nur zudrücken. Deine liebe Tante verkauft nämlich die unretouschierten künstlerischen Akte, die ich fotografiere. Verstanden?«
Agnes schwieg und der Kastner lächelte zufrieden, denn es fiel ihm plötzlich auf, daß er auch Talent zum Tierbändiger hat. Und er fixierte sie, als wäre sie eine Löwin, eine Tigerin oder zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich entsetzt dabei, wie er sich verbeugen wollte.
»Was war denn das!« fuhr er sich an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte und knarrte los:
»Zur Sache! Es geht um dich! Es geht einfach nicht, was du in erotischer Hinsicht treibst! Ich verfolge mit zunehmender Besorgnis deinen diesbezüglichen Lebenswandel. Ich habe den positiven Beweis, daß du dich, seit du arbeitslos bist, vier Männern hingegeben hast. Und was für Männern! Ich weiß alles! Zwei waren verheiratet, der dritte ledig, der vierte geschieden. Und soeben verließ dich der fünfte. Leugne nicht! Ich habe es ja gesehen, wie er dich nach Hause gebracht hat!«
»Was geht das dich an?« fragte ihn Agnes ruhig und sachlich, denn es freute sie, daß er sich wiedermal über ihr Triebleben zu ärgern schien. Sie gähnte scheinbar gelangweilt und ihre Sachlichkeit erregte sie, ähnlich wie Eugens linke Hand und es tat ihr himmlisch wohl, seine Stiftzähne wiedermal als abscheulich, ekelhaft, widerlich, unverschämt, überheblich und dumm bewerten zu können.
»Mich persönlich geht das gar nichts an«, antwortete er traurig wie ein verprügelter Apostel. »Ich habe nur an deine Zukunft gedacht, Agnes!«
Zukunft! Da stand nun wieder dies Wort vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Es war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur, daß es noch älter war, noch schmutziger, noch zahnloser, noch vergrämter, noch verschlagener – – –. »Ich stricke, ich stricke«, nickte die Zukunft, »ich stricke Strümpfe für Agnes.«
Und Agnes schrie: »So laß mich doch! Was willst du denn von mir?«
»Ich persönlich will nichts von dir«, antwortete der Kastner feierlich und die Zukunft sah sie lauernd an.
»Du bist natürlich in einer sogenannten Sackgasse, wenn du dir etwa einbildest, daß mein Besuch zu dieser allerdings ungewöhnlichen Stunde eine Wiederannäherung bedeutet«, fuhr er nach einer Kunstpause fort und setzte ihr auseinander, daß, als er sie kennenlernte, er sofort erkannt hat, daß sie keine kalte Frau, sondern vielmehr feurig ist, ein tiefes stilles Wasser, eine Messalina, eine Lulu, eine Büchse der Pandora, eine Ausgeburt. Es gäbe überhaupt keine kalten Frauen, er habe sich nämlich mit diesen Fragen beschäftigt, er »spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung«. Man solle sich doch nur die Damenmode ansehen! Was zöge sich solch eine »kalte Frau« an! Stöckelschuhe, damit Busen und Hintern mehr herausträten und sich erotisizierender präsentieren können, ein Dekolleté in Dreiecksform, deren Linien das Auge des männlichen Betrachters unfehlbar zum Nabel und darunter hinaus auf den Venusberg führen, sollte er auch gerade an der Lösung noch so vergeistigter Probleme herumgrübeln. Häufig entfache auch eine scheinbar sinnlose, jedoch unbewußt hinterlistig angebrachte Schleife am Popo vielgestaltige männliche Begierden und diese ganze Damenmode stamme aus dem raffinierten Rokoko, das sei die Erfindung der Pompadour und des Sonnenkönigs. Aber nun wolle er seinen kulturgeschichtlichen Vortrag beenden, er wisse ja, daß sie ein richtiges Temperament hat und er wolle ihr nur schlicht versichern, daß sie sich gewaltig täuscht, wenn sie meinen sollte, er sei nur hier wegen ihrem heißen Blut – – – Nie! Er stünde vor ihr ohne erotische Hintergedanken, lediglich deshalb, weil er ein weiches Herz habe und wisse, daß sie keinen Pfennig hat, sondern zerrissene Schuhe und nirgends eine Stellung findet. Er habe in letzter Zeit viel an sie gedacht, gestern und vorgestern, und endlich habe er ihr eine Arbeitsmöglichkeit verschafft.
»Allerdings«, betonte er, »ist diese Arbeitsmöglichkeit keine bürgerliche, sondern eine künstlerische. Ich weiß nicht, ob du weißt, daß ich mit dem berühmten Kunstmaler Lothar Maria Achner sehr intim bekannt bin. Er ist ein durchaus künstlerisch veranlagter hochtalentierter Intellektueller, zart in der Farbe und dennoch stark, und sucht zur Zeit krampfhaft ein geeignetes Modell für seine neueste werdende Schöpfung, einen weiblichen blühenden Akt. Auf einem Sofa. Im Trancezustand. Er soll nämlich im Auftrag des hessischen Freistaates eine ›Hetäre im Opiumrausch‹ für das dortige Museum malen.«
Das war nun natürlich nicht wahr, denn als Auftraggeber dieser werdenden Schöpfung zeichnete nicht der hessische Freistaat, sondern ein kindischer Viehhändler aus Kempten im Allgäu, der einer kultivierten Hausbesitzerswitwe, auf deren Haus er scharf war, zeigen wollte, daß er sogar für moderne Kunst etwas übrig hat und, daß er also nicht umsonst vier Jahre lang in der Kunststadt München mit Vieh gehandelt hatte.
»Ich dachte sogleich an dich«, fuhr er nach einer abermaligen Kunstpause fort, »und ich habe es erreicht, daß er dich als Modell engagieren wird. Du verdienst pro Stunde zwanzig Pfennig und er benötigt dich sicher fünfzig Stunden lang, er ist nämlich äußerst gewissenhaft. Das wären also zehn Mark, ein durchaus gefundenes Geld. Aber dieses Geld bedeutet nichts in Anbetracht deiner dortigen Entfaltungsmöglichkeiten. Im Atelier Lothar Maria Achners gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, darunter zahlreiche junge Herren im eigenen Auto. Das sind Möglichkeiten! Es tut mir nämlich als Mensch persönlich leid, wenn ich sehe, wie ein Mensch seine Naturgeschenke sinnlos verschleudert. Man muß auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Rationalisation! Rationalisation! Versteh mich recht: ich verlange zwar keineswegs, daß du dich prostituierst – – – Agnes, ich bin bloß ein weichherziger Mensch und ohne Hintergedanken. Es ist wohl töricht, daß ich mich für dich einsetze, denn daß du beispielsweise seinerzeit am Ammersee unpäßlich warst, das glaube ich dir nimmer!«
Natürlich war sie damals nicht unpäßlich gewesen, aber der Kastner hatte kein Recht sich zu beschweren, denn es war erstunken und erlogen, daß er ihr derart selbstlos die Stellung als Hetäre im Opiumrausch verschaffte. Er hatte vielmehr zu jenem Kunstmaler gesagt: »Also, wenn du mir zehn Mark leihst, dann bringe ich dir morgen ein tadelloses Mädchen für zwanzig Pfennig. Groß, schlank, braunblond, und es versteht auch einen Spaß. Aber wenn du mir nur fünf Mark leihen kannst, so mußt du dafür sorgen, daß ich Gelegenheit bekomme, um sie mir zu nehmen. Also ich erscheine um achtzehn Uhr, Kognak bringe ich mit, Grammophon hast du.«
Er blieb vor ihr stehen, bemitleidete sich selbst und nickte ihr ergriffen zu: »Ich wollte du wärest nie geboren. Warum denn nur, frage ich mich und dich, warum denn nur gibst du dich mir nicht? Doch lassen wir dies! Passé!« Und Agnes dachte: warum denn nur sage ich es ihm nicht, daß er vorn lauter Stiftzähne hat?
»Du kannst eben nicht lieben«, meinte er. »Du bist allerdings häufig bereit, dich mit irgendeinem nächsten Besten ins Bett zu legen, aber wie du fühlst, du könntest dich in jenen nächsten Besten ehrlich mit der Seele verlieben, kneifst du auf der Stelle. Du würdest ihn nimmer wiedersehen wollen, er wäre aus dir ausradiert.«
Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam. Sie müsse sich das alles genau überlegen – was »alles«? Merkwürdig, wie weit nun plötzlich das ganze Oberwiesenfeld hinter ihr liegt, als wäre sie seit vier Wochen nicht mehr dort spaziert. Und es sei doch eigentümlich, daß dieser Eugen sie schon nach zwei Stunden genommen hat und daß das alles so selbstverständlich gewesen ist, als hätte es so kommen müssen. Er sei ja sicher ein guter Mensch, aber er könnte ihr wirklich gefährlich werden, denn es stimme schon,
daß er zu jenen Männern gehört, denen man sich naturnotwendig gleich ganz ausliefern muß – – Nein! sie wolle ihn nie mehr sehen! Sie werde morgen einfach nicht da sein, dort an der Ecke der Schleißheimerstraße. Es hätte doch auch schon gar keinen Sinn, an das Salzkammergut zu denken und das blöde Afrika, all diese dummen Phantasien! Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen und den könne man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht. Der Kastner habe schon sehr recht, sie werde auch die Hetäre markieren, sich für fünfzig Stunden auf das Sofa legen und zehn Mark verdienen und vielleicht wirklich irgendein eigenes Auto kennen lernen, aber man solle nichts verschreien.
So näherte sich also Agnes einem einfachen Schluß, während sie ein ehemaliger Filmstatist, der ursprünglich Zahntechniker war, jedoch eigentlich Journalist werden wollte, fixierte. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte los wie ein schlechtes Feuilleton.
»Diese Angst vor der wahren seelischen Liebe ist eine typische Jungmädchenerscheinung des zwanzigsten Jahrhunderts, aber natürlich keine Degenerationserscheinung, wenn man in deinen wirtschaftlichen Verhältnissen steckt. Es ist dies lediglich eine gesunde Reaktion auf alberne Vorstellungen, wie zum Beispiel, daß die fleischliche Vergattung etwas heiligeres ist, als eine organische Funktion. Wieviel Unheil richtet diese erhabene Dummheit unter uns armen Menschen an!«
Er hielt plötzlich inne in seinen Definitionen und biß sich auf die Zunge, so überrascht war er, daß er tatsächlich mal recht hatte. Er war ja ein pathologischer Lügner.
Doch rasch erholte er sich von der Wahrheit, setzte sich ergriffen über seine Selbstlosigkeit auf den zusammengeleimten Stuhl, vergrub zerknirscht über die menschliche Undankbarkeit den Kopf in den Händen und seufzte: »Ich bin zu gut! Ich bin zu gut!«
»Er ist also wirklich besser, als er aussieht«, dachte Agnes. »Das hängt halt nur von solchen Stiftzähnen ab, daß man meint, das ist ein Schuft. So täuscht man sich. Am End ist auch der Eugen gar nicht so anständig, wie er sich benommen hat. Es gibt wenige gute Leut und die werdn immer weniger.«
Und der Kastner tat ihr plötzlich leid und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die großen und die kleinen.
Am nächsten Morgen erzählte die Tante im Antiquariat ihrer einzigen Freundin, einer ehemaligen Schreibwarengeschäftsinhaberin und Kleinrentnerin, daß Agnes nun endlich eine Stellung bekommen hat. Sie werde von einem hochtalentierten Kunstmaler gemalt und dafür bezahlt und das habe ihr überraschend schnell der Herr Kastner verschafft. Das sei doch ein lieber braver Mensch und sie habe sich also in ihm getäuscht, sie hätte ja schon immer gesagt, daß er geschäftlich höchst unreell ist. Er betrüge sie nämlich und es sei kein Verlaß auf ihn. So habe er ihr Aktfotografien geliefert und sie hätte ihm doch gesagt, sie könnte mit diesen neumodischen Figuren nichts anfangen, das seien ja nur Knochen und die Herren mögen ja nur die volleren Damen, unterwachsen und mollig, auch ohne Bubikopf. Auch wenn die Herren so täten als liefen sie jeder Dürren nach, so sei das doch unnatürlich, denn die Herren fühlten im Grunde ihrer Seele altmodisch, aber heute würden sich die Herren schon gleich schämen, mit einer Dicken über die Straße zu gehen. Neulich habe ihr ein Herr von der Ortskrankenkasse erzählt, daß, wenn eine Üppige ein Restaurant betritt und da sitzen lauter Herren mit lauter mageren Damen, dann fingen alle Herren hinter der Üppigen her heimlich das Trenzen an.
Die Freundin meinte, es sei überhaupt Bruch mit dieser neuen Sinneslust, und sie schimpfte auf die neueingeführte Vierundzwanzigstundenzeit. Ihr Bruder sei Logenschließer im Nationaltheater und der sage auch immer, früher sei an so einer Julia noch was dran gewesen oder gar an der Desdemona, die hätte gleich einen Hintern gehabt wie ein Bräuroß, aber jetzt sähe die Desdemona direkt minderjährig aus und kein Theaterbesucher begreife den Othello, den Mohr von Venedig, daß er sich wegen so ein Krischperl so furchtbar aufregt. Es sei eine Sünde an den Klassikern. – –