Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion - Charlotte Wegen - E-Book

Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion E-Book

Charlotte Wegen

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Beschreibung

Bertolt Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Ariadne auf Naxos von Hugo von Hofmannsthal: zwei Opern, deren Kultur- und Kapitalismuskritik oft nur vordergründig wahrgenommen wird. Charlotte Wegen geht in ihrer Studie einer kapitalismuskritischen Dimension in beiden Opern nach, die sich auf übergeordneter Ebene manifestiert: in der Gestik und Metaphorik des Textes, in Wiederholungen, Schablonierungen und Monologisierungen. Es sind Merkmale einer entleerten Zeit, einer Gegenwart ohne Zukunft, die sich im Kontext mythischer und religiöser Phänomene artikulieren und bereits im Bild der Ariadneschen Insel und der Wüste von Mahagonny ihren ersten Ausdruck finden.

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Charlotte Wegen

Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und ReligionEine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Recherchen 163

© 2022 by Theater der Zeit

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Verlag Theater der Zeit

Verlagsleiter Harald Müller

Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany

www.theaterderzeit.de

Gestaltung: Tabea Feuerstein

Umschlagabbildung: Christofer Kochs: Rückseite der Wirklichkeit, 2020, Holzschnitt, Öl auf Papier, 34 x 26 cm, www.christofer-kochs.com

Grafische Konzeption und Gestaltung der Buchreihe: Agnes Wartner, kepler studio

Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-407-8 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95749-442-9 (ePDF)

ISBN 978-3-95749-443-6 (EPUB)

Recherchen 163

Charlotte Wegen

Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion

Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Inhalt

Danksagung

I.Einleitung

1.Faden und Netz

2.Ariadne und der Mythos

2.1Ariadne als mythologische Oper

3.Mahagonny und die Religion

3.1Brechts Verhältnis zur Bibel

4.Kultur – Industrie

4.1Kulturindustrie bei Ariadne und Mahagonny

5.Bemerkungen zur Vorgehensweise

5.1Wege spinnen

5.2Webstücke / Netzteile

5.2.1Ariadne

5.2.2Mahagonny

5.3Risse / Lücken

II.Faden der Ariadne

1.Geschichte der Ariadne: Entstehung und Wirkung

2.Das Vorspiel

2.1Zwei Gattungstraditionen – zwei Operndestillate

2.2opera seria und opera buffa

3.Gestik und Metaphorik des Vorspiels

3.1Paraphrase

3.2Komponist

3.3Zerbinetta

3.4Begegnung als Folie

3.5Schwerfällige Handlung

4.Wüste Insel Naxos

4.1»Bei dir lass Ariadne sein«

4.2Zwei Seelen

5.Der Text in seiner Gestalt

5.1Das Entgegen-Stehen bei Zerbinetta

5.2Das Nicht-Verstehen

5.2.1Die Arie der Zerbinetta

5.2.2Die Sprengkraft der Zerbinetta

5.3Absolute Zuständlichkeit

5.3.1Toter Keim der Zukunft

5.3.2Sprache als Schablone

5.3.3Erloschenes Begehren

5.4Die Verwandlung und ihr Missverstehen

5.5Sinnentleertheit als moderner Topos

6.Der Ariadne-Mythos

6.1Skizze des Überlieferten

6.2Der Faden der Aufklärung

6.3Naturbeherrschung

6.3.1Die Tilgung der Unform

6.3.2Ariadne als plurales Wesen

6.4Minotauros, das Andere

6.4.1Problem der Identität

6.4.2Die Suche nach Identität

6.5Minotauros, eine Chimäre

6.5.1Verschlingende Sphinx

6.6Vernichtung des konstitutiven Außen

7.Der Blitz, der vom Kunstwerk die Welt durchschlägt

III.Das Netz von Mahagonny

1.Geschichte von Mahagonny: Entstehung und Wirkung

2.Aufstieg und Fall

2.1Zustände aus unserer Zeit

3.Dynamik des Textes

3.1Mahagonny, Gegengründung oder Schein?

3.2Geschminkte Kapitalismuskritik

3.2.1Andeutung von Moral

3.2.2Das aufsteigende Bild

3.2.3Momente unverfälschten Glücks

3.2.4Korrumpiertes Bewusstsein der Rezeption

3.3Jennys Eigenwert

3.4Der Surrealismus und seine Kraft

4.Schatten, auf den Licht fällt

4.1Subjekte ohne Subjektivität

4.2Ich, Paule Ackermann

4.3Macht der Masse

4.4Der Mensch als Naturgewalt

4.5Entleerte Zeit

5.Kapitalismus: unterschiedliche Perspektiven

5.1Entfremdung bei Marx

5.1.1Das Geld als Selbstzweck

5.1.2Gossenlauf der Zivilisation

5.2Der Geist des Kapitalismus

5.2.1Entsagung und Entzauberung

5.2.2Leeres Gehäuse

5.3»Kapitalismus als Religion«

5.3.1Utilitarismus

5.3.2Entheiligte Zeit

5.3.3Der Schuldzusammenhang

5.3.4Gottes Nicht-Sein

6.Das Scheitern von Mahagonny

6.1Materialistische Deutung

6.1.1Eingeholte Utopie

6.1.2Historische Entleerung

6.1.3Erlöschen des Glutkerns

6.2Mit Weber Mahagonny denken

6.2.1Die Gesetze menschlicher Glückseligkeit

6.2.2Askese als Form des Rausches

6.3Mahagonny und der Gott des Kapitalismus

6.3.1Geste des Exzesses

6.3.2Das Aufblitzen einer anderen Welt

6.3.3Die verlorene messianische Zeit

IV.Der Tod in Ariadne und Mahagonny: Schluss und Ausblick / Ende. Weiter.

V.Literatur

1.Siglenverzeichnis

2.Literaturverzeichnis

Endnoten

Die Autorin

Danksagung

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommene Dissertation. Ihre Verteidigung fand am 3. Juli 2018 statt. Für den Druck bzw. die Vervielfältigung wurde sie geringfügig überarbeitet. Mit dem Motiv und Buchumschlag Rückseite der Wirklichkeit des Künstlers Christofer Kochs hat sie eine vorangestellte sowie rahmengebende Untermalung erfahren, die beides, Faden und Netz, Linie und Rhizom gleichermaßen und vielleicht sogar im wahrsten Sinne ins Bild setzt.

An diese Stelle gehören gleich mehrere Danksagungen, die über die Stelle der Form halber hinausgehen. Danken möchte ich meinem Doktorvater und Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Günther Heeg, zum einen für die Entscheidung, dieses über die Jahre gewachsene und liebgewonnene Thema vertrauensvoll in meine Hände als sogenannte Überlassung eines Dissertationsthemas zu geben. Zum anderen aber auch für die persönliche Art der Betreuung, die den Mut zur Entdeckung von Denkräumen und die Lust an der Verbindung von Gedankenketten zum Arbeitsmodus werden ließ.

Für diese besonderen und prägenden Jahre der Begleitung im Denken werde ich immer dankbar sein.

Dieser Dank ist unmittelbar geknüpft an einen zweiten, nicht minder herzlichen, der Frau Juniorprof. Dr. Veronika Darian gilt. Für ihre mir sehr teure Bereitschaft, diese Arbeit als Zweitgutachterin zu begleiten, ihr »offenes Ohr«, an das immer auch ein offener Gedankenaustausch geknüpft ist, sowie ihr Zutrauen in das Geschriebene danke ich ihr sehr.

Außerdem danken möchte ich meinem Freund und Weggefährten, Darko Specht, für die vielen Stunden gemeinsam verbrachter Denkliebe.

Und zu guter Letzt wie auch allen voran danke ich meiner Familie und Freunden für die fortwährende Unterstützung, für die vielen Worte ihres Zuspruchs und vor allem für die unendliche Geduld mit einem vertieften Kopf, der sich in dieser Zeit zu gerne in Gedanken verlor. Dank Dir sehr, lieber Julian.

I.Einleitung

1.Faden und Netz

Auf den ersten Blick mag es vielleicht erstaunen, dass die vorliegende Arbeit zu ihrem Gegenstand die Analyse zweier Opernwerke wählt, die in der Literatur so bislang noch nicht zusammengedacht worden sind. Dieses Staunen gilt allerdings nur dem ersten, nicht aber dem zweiten Blick:

Ariadne auf Naxos1 und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny2 implizieren nämlich in der Tat einen Zusammenhang, der eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Texten bzw. dem Text, wie er sich aus der Analogie ergibt, lohnenswert macht. Warum die vorliegende Arbeit sich also mit zunächst erkannten, später dann offengelegten Verbindungen zwischen Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny auseinandersetzen wird, geht in erster Linie aus der Feststellung hervor, dass beiden Opernwerken in ihren unterschiedlichen Auslegungen vorrangig ein kulturpessimistisches, wenn nicht gar kapitalismuskritisches Timbre beschieden wird.

Es handelt sich dabei um ein Textverständnis im Sinne des semplice: Überdeutliche Textzeichen werden in eine naheliegende Deutung gebettet, die sich kaum des Verdachts bemüßigt sieht, hinter der oberflächlichen Textebene vielleicht noch eine weitere textliche, gleichsam subversive Spur zu vermuten.

So einleuchtend diese Lesart von Ariadne und Mahagonny im ersten Moment ihrer jeweiligen Betrachtung auch erscheinen mag, so schnell erschöpft sie sich in einem exegetischen Ansatz, der neben einer Abbildtheorie zudem eher auf autorenbezogenen Assoziationen als innertextlichen Merkmalen zu gründen scheint. So sei im Falle der Ariadne im Hinblick auf Werkgeschichte und Briefwechsel unbestritten, »daß die vom deutschen Kaiser praktizierte Form des ›Mäzenatentums‹ eines der Hauptangriffsziele des Autorenpaares Hofmannsthal und Richard Strauss war«3, was nicht selten dazu verleitet, das psychisch-intellektuelle Unbehagen der beiden Autoren gegenüber Wilhelm II., diesem »mit staatlicher Macht ausgestattete[n] Usurpator unter den Kunstrichtern«4, zu einem kulturkritischen Sujet der Moderne zu erheben.5 Und auch Bertolt Brecht, der in seinen Werken Gesellschaft und Kunst einer radikalen Kritik unterzieht, sieht sich als etikettierter Kommunist immer wieder der Meinung ausgesetzt, sein marxismusaffines Denken müsse sich quasi eins zu eins in seinem ästhetischen Tun niederschlagen. Statt eine wie auch immer geartete Ebene hinter dem Text anzunehmen, ist diese Arbeit dem Text als Prozess gewidmet und damit einem Text, dessen spezifische Dynamik sie im Folgenden zu begreifen versucht.

Beiden Opern – sowohl Ariadne als auch Mahagonny – wird ein vergleichbar tragisches Schicksal zuteil: Ihre Rezeption ist von der einstweiligen Behauptung bestimmt, die Autoren Hofmannsthal und Brecht hätten ihre jeweiligen Texte einer kultur- bzw. kapitalismuskritischen Sicht versprochen, die sich bei Ariadne vorrangig durch den Mäzen, dem »Willen dessen, der bezahlt«6, und in Mahagonny am Beispiel eines sozialen Zusammenhangs, »in dem sich das Leben allein nach den Gesetzen des Marktes zu richten hat«7, verwirklicht sieht.

Ausgehend von der Beobachtung, dass Ariadne und Mahagonny auffallend häufig in den Kontext einer konventionellen Kultur- bzw. Kapitalismuskritik eingebunden werden, entstand die Idee, sich wissenschaftlich mit diesen beiden Opernwerken gerade im Hinblick auf dieses eine, sie verbindende Element auseinanderzusetzen. Es handelt sich in der nachfolgenden Untersuchung also um eine Arbeit, deren Gegenstand es sein soll, sich gerade mit den innertextlichen Voraussetzungen von Ariadne und Mahagonny zu befassen, die im Text wirksam werden respektive im einzelnen Text über den Text hinausweisen. Zugleich ist an diese Feststellung auch die These geknüpft, dass beide Operntexte auf einer anderen, übergeordneten Ebene durchaus kritische Bezüge zu einem Zeitalter herstellen, das in seinen spätkapitalistischen Ausformungen allen voran die Kulturproduktion bezeichnet. Ebenjener Themenkomplex – Kapitalismus und Kulturproduktion – wird in Ariadne und Mahagonny auf solche Art und Weise verhandelt, dass die Kritik von Hofmannsthal und Brecht nicht in ihrem bloßen Kritik-Sein stehen bleibt, sondern ihrer subversiven Hinterfragung gleichzeitig auch ein Ausweg im Sinne eines utopischen Potentials eingesprengt ist.

Diese beiden Beobachtungen bilden zusammengenommen die Grundlage dieser Arbeit. Sie setzt sich dabei maßgeblich zum Ziel, die konstatierte Analogie zwischen Ariadne sowie Mahagonny und einer impliziten Kultur- bzw. Kapitalismuskritik anhand folgender struktureller Besonderheiten der zwei untersuchten Libretti aufzuzeigen:

Sowohl Ariadne als auch Mahagonny beschreiben zwei Opernwerke, die von einem durchweg statischen Zustand gekennzeichnet sind. Verloren hangeln sich ihre Figuren an einem starren Handlungsgerüst entlang, das – ohne wirkliches Motiv und ohne richtige Konsequenz – in eine Leere, ein Nirgendwo, nachgerade in ein Nichts mündet. Die a-dynamische Form, die sowohl in Ariadne als auch Mahagonny weit über die gattungsspezifische Schwerfälligkeit einer prototypischen Opernstruktur mit ihren »zirkulären Arienformen, der gedehnten musikalischen Zeitstruktur und dem Artefakt des singenden Menschen auf der Bühne«8 hinausreicht, bringt jede dramatische Handlung noch vor ihrer Erstehung zu Fall. Im aufgelösten Nebeneinander von Zuständen ist die Handlung weder bei Ariadne noch in Mahagonny imstande, die für ihre Entwicklung notwendige Kraft aus sich selbst heraus hervorzubringen. Stattdessen ist ihr Fortgang geprägt von einer »Verflüchtigung des Stofflichen«9, die das verbindliche Gefüge eines Textes, seine kohärente Logik endgültig in eine undramatische Dekomposition zerfallen lässt.

Die Beliebigkeit, Austauschbarkeit, schlussendlich auch Gleichgültigkeit, mit denen die Protagonisten in ihrem jeweiligen Tun verfahren, die Resultate ihres unreflektierten Treibens bilden gleichzeitig Primärmerkmale der noch darzustellenden Kulturproduktion im Spätkapitalismus ab: All diese Symptome, die eine stillstehende, ja entleerte Zeit anzeigen, finden in Ariadne und Mahagonny entsprechende, wenngleich unterschiedlich gestaltete Versinnbildlichung, deren nähergehende Betrachtung nicht nur eine librettistische Form, sondern auch ihr besonderes Verhältnis zur Gegenwart nicht nur im Sinne der klassischen Moderne10, sondern auch darüber hinaus beschreibt.

Entstehungsgeschichtlich sind beide Texte, wenngleich sie zum Libretto bestimmt und nicht als Drama konzipiert wurden, der klassischen Moderne zuzuordnen, jener literarischen Epoche, die Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas11 umrissen hat und die von 1880 bis 1950 – von manchen literaturwissenschaftlichen Theorien auch nur als Zeitraum zwischen 1880 bis 1930 abgesteckt12 – andauern sollte. So wurde dem Epigonentum in der Literatur ab 1880 eine Mannigfaltigkeit neuer Dramenformen entgegengesetzt, die in ihrer Zeitlichkeit auch jener stilistischen Pluralität entsprach, die für die literarische Moderne des deutschsprachigen Raums bis 1950 beispielhaft gewesen sein muss.13

In diese auch unter historischen Gesichtspunkten bewegte literarische Epoche fallen sowohl Ariadne als auch Mahagonny. Ihr jeweiliger Entstehungsprozess bzw. die faktische Dokumentation ihrer Genese sollte sich dabei weder bei Hofmannsthal/Strauss noch bei Brecht/Weill ganz linear und chronologisch vollziehen. So stellte das Auftragswerk Ariadne zunächst ein als Verbindung konzipiertes Gattungskonglomerat zwischen musikalischem Divertissement des Opernaktes Ariadne auf Naxos (ohne Vorspiel) und einer Zwischenszene von Hofmannsthal und Molières Ballettkomödie Le Bourgeois gentilhomme dar14, das – 1912 in Stuttgart mit mediokrem Erfolg uraufgeführt15 – seine bis heute überlieferte Werkfassung erst im Jahre 1916 durch ein in seinen Grundzügen verändertes Libretto erhalten sollte.16 Gleichermaßen modifikativ ist denn auch die Arbeit an Mahagonny erfolgt, hatte Brecht, der im Gegensatz zu seinem Komponisten Kurt Weill17 die librettistische Arbeit an Mahagonny im Wesentlichen bereits 1927 als abgeschlossen betrachtete18, doch noch einige erkennbare Umformungen des Textes bis zu seiner Leipziger Uraufführung 1930 vorgenommen.

Im Hinblick auf die nachfolgenden Untersuchungen von Ariadne und Mahagonny werden drei in ihrer Definition als heterogen zu bewertende Termini einen besonderen Stellenwert einnehmen: Mythos, Religion und Kulturproduktion, so lauten die Schlüsselbegriffe, die sich teilweise bereits im Titel dieser Arbeit vertreten sehen. Dabei ist zunächst der Bemerkung Vorschub zu leisten, dass die Bespiegelung des Mythos in Ariadne respektive der Religion in Mahagonny sich auf Mythos und Religion als literarisch gestaltete Textformen beziehen, welche in ihrem Versuch, Vertrauen in die Welt zu bringen, jenes besondere Weltverhältnis begründen, das das kollektive Selbstverständnis wesentlich geprägt haben muss. Im Beispiel der Ariadne wird konkret auf die Geschichte der kretischen Königstochter Ariadne rekurriert und damit auf eine schier unergründliche Frauenfigur in der antiken griechischen Mythologie, deren Enigma bis in die Gegenwart reicht.19

In der Mahagonny-Oper indes kommen eine Vielzahl von textlichen Innuendi zum Tragen, die auf biblische Passagen des Alten wie auch des Neuen Testaments anspielen und damit auf prototypisch gründende Ereignisse und Handlungen des Christentums als Religion bildsymbolisch referieren. Damit einher geht auch die Feststellung, dass die Bezüge, die in Ariadne und in Mahagonny hergestellt werden, deshalb unterschiedlich gestaltet sind, weil sie bereits in ihrer Beschaffenheit die prägende Differenz zwischen Mythologie und Religion eröffnen. So wenig wie der Mythos nur Mythos und Religion halt Religion ist, so wenig wie die mythische Ariadne-Erzählung im Libretto Hofmannsthals den verhandelten biblischen Motiven20 in Brechts Mahagonny gleichgesetzt werden kann, so wenig ist auch das jeweilig angewandte literarische Verfahren der Autoren Hofmannsthal und Brecht einfach auf eine Stufe zu stellen. Wenn diese Arbeit also jene zwei Thesen entfaltet, dass beide Libretti zum einen wie auch immer geartete mythische respektive religiöse Phänomene anzeigen, denen zum anderen eine kultur- bzw. kapitalismuskritische Dimension innewohnt, dann soll im Zentrum die Frage stehen, welche textlichen Aspekte von Mythos, Religion respektive der Differenz von Mythos und Religion im Text aktualisiert werden. Die Bezeichnungen Mythos und Religion, aber auch Kulturproduktion bilden ein begriffliches Instrumentarium, das es näherhin behutsam und im Bewusstsein der ständigen Vorläufigkeit begrifflicher Fixierungen zu bestimmen gilt.21

2.Ariadne und der Mythos

In ihrer Auseinandersetzung mit dem Ariadne-Topos muss die vorliegende Arbeit jeden Versuch suspendieren, die Mannigfaltigkeit der bestehenden Mythentheorien wissenschaftlich diskutieren zu wollen.22 Es kann daher für die Zwecke dieser Untersuchung nur ausreichen, den Mythos in seiner ganzen begrifflichen Polyvalenz anzuerkennen und im selben Zuge einer definitorischen Eingrenzung zu unterziehen, die zugleich eine Form einer Mythostheorie manifestiert.

Wenn hier also vom Mythos die Rede ist, so ist damit in erster Linie eine orale Erzählüberlieferung in literarischer Gestaltung gemeint, die mit ihrer wiederkehrenden Urzeitschilderung die Funktion einnimmt, die chaotische Welt zu erläutern und zu begründen: »Er [der Mythos, Anm. C.W.] macht nicht nur gegenwärtige Ordnungen verständlich und legitimiert sie über ihre göttliche Einsetzung, sondern geht auf älteste Ursprünge und Schöpfungsprozesse zurück, von denen her er das Sein und die Ordnung der Welt überhaupt begreift.«23

Mythos als umfassende Weltdeutung sei demnach die Bemühung um die menschliche Orientierung in der Welt, fungiere als Wirklichkeitsaneignung und stelle zugleich Daseinsbewältigung dar.24 Sein narrativer Gehalt mitsamt seiner a-logischen Struktur sowie seinen irrationalen Elementen deutet dabei immer auch auf ein Anderes hin, dessen numinose Bezüge der Verstand in den Ursprung einer transzendentalen Wahrheit verortet. Dass das Begreifen dieser Wahrheit in allen mythomorphen Formen ihres Auftretens eine kosmogonische Bemühung bleibt, ist »Arbeit am Mythos«25, »Arbeit des Logos an der uns bedrängenden Lebenswirklichkeit«26 und damit Auseinandersetzung mit dem »Absolutismus der Wirklichkeit.«27 In dieser Sichtweise wird dem Mythos eine anthropologische Komponente zugeschrieben, die die existenziellen Erfahrungen als Phänomene ebendieser absolutistischen Faktizität in Worte fasst (fassen im doppelten Sinne) und so dem Unnennbaren einen Namen gibt. In einem eher modernen Vokabular könnte man von einer Äußerung und Darstellung des Prozesses sprechen, in dem sich der Mensch die Welt aneignet: Das Gegenwärtig-Ungegenwärtige wird zum Gegenstand einer »sich immer wieder selbst antreibenden Depotenzierung dessen, was noch hinter dem Mythos als das selbst Unmythische, weil Bildlose und Gesichtslose ebenso wie Wortlose steht: das Unheimliche, Unvertraute – Wirklichkeit des Absolutismus«.28 Dieser Aneignungsprozess indes bleibt sui generis lückenhaft; das Andere, das der Mythos seiner Grundstruktur nach behandelt, will sich allerdings nicht ausschließlich als Numen verstanden wissen: Wenngleich Mythologemen eine transzendentale Dimension innewohnt, so verweist das Andere zugleich auf eine Fremdheit, die nicht nur im Außen des Ich, im Über des Irdischen zu suchen ist, sondern auch im Eigenen offenbar wird.29 Und obwohl die Erwähnung jener Fremdheit auf Überlegungen einer zivilisationstheoretischen Kulturkritik rekurriert, welche erst im späteren Verlauf zum Tragen kommen sollen, so sei doch auf die ihnen zugrunde liegende Absicht verwiesen, im Mythos bereits aufklärerische Momente erblicken zu wollen. In einer solchen Betrachtung ist die Bedeutung des Mythos nicht allein in seiner sozialintegrativen Funktion der Sinn- und Einheitsstiftung entfaltet, stattdessen spricht sie ihm eine zivilisationstheoretische Größe zu, die sich in der Philosophiegeschichte bei Friedrich Nietzsche und in ihrem weiteren Verlauf bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dunkel leuchtend vertreten sehen darf. Mythos ist hier nicht bloß ein Werkzeug, um die Welt zu deuten, vielmehr wird Weltdeutung als ein Akt der Naturbeherrschung und damit als ein Instrumentarium der menschlichen Weltbearbeitung verstanden, die immer auch aufklärerische Strukturen enthält.30

Die philosophische Ausdeutung des Mythos als solchem misst seinem Begriff eine dialektische Komponente bei, in der das mythische wie auch das aufklärerische Moment vermittelt sind: »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«31 – mit diesem Theorem ist der ganze Brandherd um die Herrschaftsverhältnisse in der Welt entfacht. Jene Theorie steht an dieser Stelle nicht nur, um das spezifische, hiermit explizierte Mythosverständnis für diese Arbeit zu beschreiben, sondern leitet auch zur Kulturproduktion einer spätkapitalistischen Gesellschaft über, wie sie nur aus dem Mythos als erstes Herrschaftsprinzip des Menschen über die äußere sowie innere Natur und Praxis der Aufklärung entstehen konnte.32

2.1Ariadne als mythologische Oper

Die dezidierte Konkretion, mit der die Ariadne Hofmannsthals auf ihren Hypotext, den Ariadne-Mythos verweist, beschreibt sie nicht nur formal als »mythologische Oper[n]«33, in deren »›gefährliche[n]‹ Gefilde der angestammten heroisch-mythologischen Oper mit ihren starren Typen und Idiomen«34 sich Hofmannsthal begeben hatte. Vielmehr verdeutlicht sie auch den Rückgriff auf mythische Topoi als moderne Verfahrenstechnik der Re,- Ent- und Neumythisierung antiker Stoffe.35 Hierfür sei das Gesamtwerk des ›mythischen Dichters‹ Hugo von Hofmannsthal beispielgebend, dessen Antikerezeption zunächst im Zeichen ästhetizistischer Kleinformen wie lyrische Szenen und Einakter gestanden habe (Fragment Die Bacchen des Euripides 1892, Idylle 1893, Alkestis 1893), dieser am lyrischen Drama orientierte Formtypus dann aber nach 1900 von einer monumentalen, expressiven Bühnendichtung abgelöst worden sei (Elektra 1903, Ödipus und die Sphinx 1906, Übersetzung des König Ödipus 1910), um schließlich und in Zusammenarbeit mit Richard Strauss antike Stoffe ins Genre der mythologisierenden Oper zu kleiden (Ariadne auf Naxos 1912/16, Szenarium Danae oder die Vernunftheirat 1919, Die ägyptische Helena 1928).36 Dabei wird der Ariadne-Topos, dessen mythischer Stoff »unter den zahllosen Opern des 17. und 18. Jahrhunderts« in »mehr als vierzig« Werken Behandlung erfährt37 und damit »mit der Geschichte der Oper aufs engste verknüpft«38 ist, bei Hofmannsthal nicht nach dem gängigen Muster des 19. Jahrhunderts behandelt, vielmehr komplementiert er mit der sublimen Begegnung zwischen Ariadne und Dionysos bzw. Bacchus jene melodramatische Repräsentationsform des Mythos39, welche sich mit der Uraufführung von Georg Bendas Duodrama Ariadne auf Naxos mit Text von Johann Christian Brandes 1775 in Gotha im deutschsprachigen Raum etabliert hatte.40 Mit seiner Ariadne, deren »im Textbuch gegebene Bezeichnung Duo-Drama« kaum gerechtfertigt sei, »da im ersten Teile nur Theseus, im zweiten nur Ariadne spricht«41, hatte Brandes einerseits eine neue Gattung ins Leben gerufen42 und andererseits den klassischen Mythos in die melodramatisch redigierte Gestalt eines einzigen Klageliedes umgewandelt, das nicht länger Theseus’ Fortgang von Ariadne, sein achtloses Zurücklassen der Geliebten auf einer Insel zu seinem Thema macht, sondern um den Schmerz einer verlassenen Frauenfigur kreist. Hier weiß sich Ariadne in ihrer Trauer nicht anders zu helfen, als suizidal vom Felsen ins Meer zu stürzen: »Es ist nicht die Geschichte einer Ariadne, die wir in dem Melodram vernehmen sollten, […] es ist die Verzweiflung einer zärtlich Liebenden, die wir mit ihr empfinden wollen.«43 Jene Modifikation des Mythos scheint bei Hofmannsthal durch die Wiedereinführung des erlösenden Moments – das Erscheinen von Dionysos bzw. Bacchus auf der Insel Naxos – aufgehoben und damit die (zweifelhafte) Apotheose des göttlichen Paares im weitesten Sinne rehabilitiert. Das von Hofmannsthal angewandte Verfahren in Ariadne ließe sich also als eines der Revision beschreiben, das die Vermählung von Ariadne und Dionysos, die sich in der Literatur des 20. Jahrhunderts überwiegend ironisch kommentiert sieht44, wiederherstellt.45 So ziele das Formexperiment der Verbindung der beiden Genres bei Hofmannsthal und Strauss »auf mehr [ab] als die parodistische Brechung des Seriösen durch das Komische«.46 Wie aber ist diesem »mehr«, wie Theresia Birkenhauer es nennt, auf die Spur zu kommen?

Hofmannsthals Ariadne wird von einer Denkfigur bestimmt, die sich ausdrücklich mit dem Motiv der Verwandlung befasst47 und deren Gehalt nicht nur von einem spezifischen Antiken- und Mythenverständnis bei Hofmannsthal, sondern auch von einer dezidierten Auseinandersetzung des Autors mit der Gegenwart zeugen könnte: »Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.«48

Diese Spiegelmetapher Hofmannsthals – sofern sie als ein Streben des Autors nach Verwandlung des Bestehenden im Sinne einer Abwertung der Gegenwart gedeutet werden kann – ist bzw. wäre in dieser Interpretation auf einen »kulturkritische[n] Impuls[e]« zurückführen: »Was die Gegenwart bestimmt, ist ›unrein‹ und soll durch die retrospektive Bezugnahme auf eine frühere Epoche verwandelt und geläutert werden.«49 Die Rekonstruktion dieses mutmaßlichen Strebens nach Verwandlung einer wohl ungenügenden Gegenwart soll in der Beschäftigung mit Hofmannsthal nicht erfolgen, stattdessen muss für die vorliegende Untersuchung zunächst die Bemerkung ausreichen, dass die mythologische Welt von Ariadne, die in der Tat mehr als ein Formexperiment anstrebt, ihre Sprengkraft auf andere bzw. weitere Weise als über etwa Persiflage, Parodie oder Verwandlung entfaltet: So bringt das spezifische Arrangement gegenläufiger Bewegungen bei Hofmannsthal eine Brechung des Sublimen durch das Profane hervor, eine Brechung, die die Art und Weise, wie die Oper unterschwellig funktioniert, ablesbar macht und die im Laufe dieser Arbeit herausgeschält werden soll.

3.Mahagonny und die Religion

Während Hofmannsthal sein Libretto dem nach Rezeptionsvorbildern geschaffenen Mythos einer verlassenen Frauenfigur widmet und damit zumindest teilweise den Ariadne-Topos der Antike zum Gegenstand seiner librettistischen Opernarbeit von 1912 wie auch von 1916 macht, nimmt die Mahagonny-Oper Rekurs auf verschiedene Bibelpassagen, die in Mahagonny allerdings nicht in originärer Gestalt auftauchen, sondern in ihrem zitathaften Erscheinen Züge des Komischen als verfremdendes Mittel tragen. Es ist in erster Linie das Verdienst von Gunther G. Sehm, den Nachweis zahlreicher Bibelzitate im Zuge seiner These, Mahagonny sei »in seinen Grundstrukturen nichts anderes als eine Parodie der Bibel«,50 herausgearbeitet zu haben. Eine Paraphrase dessen, was längst zum Standardwerk der kanonisierten Brecht-Forschung zählt, soll nicht das Ansinnen dieser Untersuchung sein.

Da die Bibel als Glaubensfundament christlicher Religion unbedingten Wahrheits- und Geltungsanspruch erhebt, ist sie unter dem Gesichtspunkt ihrer sakralen Textualität von Mythen, wie sie die griechische Antike prägen, zu unterscheiden. Dass dieses Abgrenzen nicht ganz einfach von der Hand geht, mag sicherlich auch damit begründet sein, dass die griechische Mythologie, die griechische Kultur für das deutsche Bürgertum insofern paradigmatisch war, als es das griechische Ideal in die jetzige Zeit als deutsche Kultur zu übertragen suchte.51 Die Geschichte der historischen Bibelkritik vom 18. Jahrhundert bis zu Rudolf Bultmanns ›Entmythologisierungsthesen‹52, die man wohl mit dem problematischen Hinweis zu entkräften suchte, bei den biblischen Erzählungen handele es sich ja gar nicht um Mythen, »zeigt den prekären Status sakraler Literatur in nachmythischen Kulturen«.53

Dabei erfolgte die Rettung der Bibel »vergleichbar der Rettung antiker Mythen, einerseits euhemeristisch (nach dem Motto ›Und die Bibel hat doch recht‹, hierher gehören auch die Diskussionen um den historischen Jesus oder um die Qumran-Texte), andererseits allegorisierend, als Suche nach höheren Wahrheiten.«54 Gerade im Hinblick auf jene Entmythologisierungsbestrebungen des 20. Jahrhunderts wird der bibelwissenschaftliche Diskurs über etwaige mythologische Elemente in der Heiligen Schrift (insbesondere des Alten Testaments) nochmals deutlich.55 Das muss vor allem damit zusammenhängen, dass die Bibel als mehr oder weniger institutionell fixierter Textkörper an das Subjekt andere hermeneutische Herausforderungen stellt als der nicht kanonisierte bzw. nicht kanonisierbare Mythos. Die Feststellung, dass Religion und Mythos, allen konstitutiven Verschränkungen56 und denotativen Unschärfen zum Trotz, eines Differenzierungsversuches im jeweiligen begriffsmäßigen Einsatz, in ihrem Weltverhältnis bedürfen, kann jedoch nur eine Facette der Beobachtung sein. In diesem Sinne ist denn auch die Religion im Verhältnis zum Mythos als der zweite von drei Kernbegriffen in dieser Arbeit einstweilen darzustellen.57

Was etwaige Begriffsbestimmungen betrifft, so übersehen »die gängigen, von der Phänomenologie herkommenden Definitionen« von Religion »als ›Erlebnis des Heiligen‹ oder ›des Transzendenten‹ oder ›des Numinosen‹ geflissentlich, daß das ›Erlebnis‹ nicht spontan gegeben, sondern stets durch Institutionen vorgeprägt und vermittelt« sei.58 Als eine nennenswerte phänomenologische Betrachtung erweist sich da beispielsweise die (nicht ganz unumstrittene Argumentation) von Ernst Cassirer59, die im Abgrenzungsdiskurs von Mythos und Religion60 das ausschlaggebende Merkmal ihrer Distinktion auf Seiten des Rezipienten, im menschlichen Bewusstsein selbst bestehen sieht. Mit dem Aufkommen von Religion begründet sich also ein neues Bewusstsein, das im Gegensatz zum mythischen Weltverständnis um die Bedingungen für die Möglichkeit seiner Erkenntnis, um den unbedingten Eigenanteil, um seine »aktive Rolle des menschlichen Geistes im Akt der Erkenntnis«, am Verstehen der Welt und damit um des Menschen Part an der Erscheinung des Göttlichen in den artefaktischen Symbolen solcher Offenbarung weiß61:

Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn »hinweisen«, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.62

Die Ausbildung einer neuartigen reflexiven Dimension im menschlichen Geist hat damit eine Erkenntnisform zur Folge, die religiöses Denken vom mythischen Denken in gewisser Weise scheidet.63 Das Bewusstsein, zum einen der Zeichenhaftigkeit von Symbolen, zum anderen des Unterschieds zwischen dem Selbst als Subjekt und der Welt als Objekt gewahr, bekundet den Beginn einer individuierenden Weltanschauung. Die Veränderung dieses Weltverhältnisses durch die Religion, die mit dem aufkommenden »Gefühl der Individualität«64 zugleich eine neuartige Beziehung zum Heiligen setzt65, hat das mythische Lebensgefühl, ungebrochener Teil einer Einheit, eines Ganzen zu sein, weit hinter sich gelassen. »So entspricht einem Individuum, das von sich weiß, die Vorstellung einer ihrerseits individuierten Gottheit«66, wie sie in individuierenden Glaubensrichtungen und ihrem bereits abstrahierten Weltbild offenbar wird. Was dem mythischen Verständnis nach noch ununterschiedenes Seinsganzes war, wird im Zuge dieses neuen Gefühls von Individuation gelöst und in Kategorien gebracht, die sich nicht länger als symbiotisch verstehen: Transzendenz und Immanenz, Gut und Böse67 lauten jene Begriffspaare, an deren Anfang sich die Distanz zwischen Mensch und Gott setzt. Neben dem moralischen Bewusstsein68 bringen individuierende Religionen mit ihrem höheren Grad an Abstraktion aber auch ein rationalisiertes Verhältnis zur Natur dergestalt hervor, dass sie sie der Sphäre von Gesetz und Gesetzesmäßigkeit zuordnen: »Es ist dieses Moment, an dem deutlich wird, dass auf dem Weg zum rationalen Weltbild der wissenschaftlichen Erkenntnis die Ablösung der Religion vom Mythos einen entscheidenden Schritt darstellt.«69

Das kulturgenealogische Theorem Cassirers und damit seine neumethodische kritische Analyse der Ursachen kultureller Verarmung am Phänomen der Ambivalenz mythischer Kulturursprünge70 mutet zwar auf den ersten Blick wie eine Form von Dialektik der Aufklärung an71, doch ist diese speziöse Nähe zur Kritischen Theorie in wissenschaftlichen Diskursen zumindest kontrovers diskutiert worden.72 Ohne seine Philosophie in ihrer ganzen Reichweite tatsächlich kommentieren zu können, sei an dieser Stelle lediglich auf den kulturkritischen (nicht aber kulturpessimistischen) Part insbesondere der späteren Argumentation Cassirers verwiesen73, die im kulturellen Fortschritt allen voran das Kräfteringen von Mythos und Vernunft erblickt. Dass dies Ringen sich aber weder in der strukturellen Vermitteltheit von Mythos und Aufklärung begründet noch in der Instrumentalität menschlicher Vernunft realisiert sieht74, gehört an dieser Stelle ebenfalls vermerkt. Vielmehr gilt Cassirers diagnostische Beobachtung jenen Symbolwelten, denen er auch sein gesamtes philosophisches Tun widmete. Gerade in ihnen entdeckt er nämlich eine Potentialität, hinter sich selbst zurückzufallen und damit eine Möglichkeit qua natura, welche symbolische Welten bereits in ihrer Konstitution mit dem Dispositiv der Depravation versieht.75 Dabei führt der Rückfall immer zurück in jenen Zustand, an dem die Herausbildung von Kultur überhaupt erst ansetzt, der also kein Differenzbewusstsein kennt und dessen unumgrenztes Welterleben auch bei Cassirer als Mythos beschrieben wird: Mythos als kulturelles Urprinzip von Weltgestaltung, als Fundament jedweden Fortschritts menschlicher Freiheit, aber auch als indifferente Denkform, »die in der kulturellen Realisierung dieser Freiheit überwunden werden muss«76. Eben in diesem Überwindungsmoment findet sich jene unauflösliche Verwobenheit der Inhalte von Mythos und Religion wieder, die in ihrem Übergang von Mythos zu Religion auch die »Dialektik des mythischen Bewusstseins«77 markiert.

Damit ist keine Zersetzung des Mythos als Logik des Scheins im Sinne Immanuel Kants gemeint, sondern eine Bewegung, die sich mit der Genese von Religion, dem aus ihr erwachsenen Differenzbewusstsein und der für ihr Bestehen erforderlichen Negation des Mythos in Gang gesetzt fühlt. Die Religion selbst bleibt nämlich – allen Abgrenzungstendenzen gegenüber dem Mythos zum Trotz – auf den Vorgang der Symbolbildung und damit auf die mythische Symbolwelt wesentlich angewiesen:

»In dem Hinausstreben über die mythische Welt der Bilder und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit eben dieser Welt liegt ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst«; die höchste geistige Sublimierung, die die Religion erfahre, bringe diesen Gegensatz nicht zum Verschwinden, sondern diene dazu, ihn – ganz im Gegenteil – immer schärfer kenntlich zu machen.78 Religion, gebunden an eine tradierte Symbolsprache und im Bann selbstreferenzieller Wirklichkeitsannahmen, vermag den menschlichen Geist, der das Zeichen- und Bildsystem von Gottessymbolen kraft seiner Vorstellung schafft, sie also in Darstellungen seiner Ideen wandelt, nicht zu erfassen. So wagt sie nicht den Sprung in eine Freiheit, wo der Mensch – die symbolische Welt nunmehr als Selbstoffenbarung seines eigenen Geistes dekuvrierend – seine unabdingbare Autonomie erfährt. Stattdessen bleibt Religion im stetigen Rückbezug auf eine mythische Symbolsprache in einer Welt verhaftet, der sie zugleich fremd geworden ist: »Denn, was sich an der Entwicklung vom Mythos zur Sprache wohl zeigen läßt, nämlich der zunehmende Wirklichkeitsverlust und die zunehmende Entfremdung durch Abstraktion als Preis einer Freiheit, die sich als Weltdistanz manifestiert, läßt sich bereits am Beispiel der Religion demonstrieren.«79 Religion ist der erste Schritt, der gegenüber der Welt entfremdet.80

Damit sei Religion nicht nur im Sinne einer definitorischen Annäherung beschrieben, sondern auch ihre problematische Stellung in nachmythischen Kulturen kurz dargestellt.

3.1Brechts Verhältnis zur Bibel

Brecht macht das Thema der Religion81, ihre problematische Stellung in der gegenwärtigen Gesellschaft, für seine eigene literarische Arbeit fruchtbar82: So zeugen seine Werke von »der Haltung Brechts zu Christentum und Religion überhaupt«.83 Die Berechtigung der Annahme, dass Brecht maßgeblich von der Bibel beeinflusst war und diese Prägung schon immer ein ambivalentes Verhältnis zu ebenjenem textualisierten Zeugnis jahrtausendealter Menschheitsgeschichte bedeutet hat, wird nicht nur anhand seiner wohl prominentesten Aussage zur Bibel als literarisches Machwerk deutlich. Diese Äußerung Brechts geht auf eine Umfrage der Berliner Zeitung zurück, die den Autor nach dem Buch mit dem wohl stärksten Eindruck befragt und auf die er wie folgt geantwortet haben soll: »Sie werden lachen: die Bibel.«84 So hat die ernsthafte intellektuelle Beschäftigung Brechts mit dem Wort Gottes als Geschichtenbuch, als »leere Transzendenz«, die sich auch nicht schlechthin als Nihilismus fixieren lässt, weil dem »Tod Gottes« die Wirklichkeit der geglaubten Fiktion widerstreitet, schon viel früher, nämlich bereits in den jungen Jahren eines Heranwachsenden, angesetzt.85

Davon zeugt nicht zuletzt sein Tagebucheintrag als knapp Achtzehnjähriger, in welchem er zum einen den Zauber, zum anderen aber auch die Grausamkeit, mit der der biblische Stoff ins offene Leben greift, zur Sprache bringt:

Ich lese die Bibel. Ich lese sie laut, kapitelweise, aber ohne auszusetzen: Hiob und die Könige. Sie ist unvergleichlich schön, stark, aber ein böses Buch. Sie ist so böse daß man selber böse und hart wird und weiß daß das Leben nicht ungerecht sondern gerecht ist und daß das nicht angenehm ist, sondern fürchterlich. Ich glaube David hat den Sohn der Bathseba selber getötet, von dem es heißt daß Gott ihn getötet hat (der doch für die Sünde Davids nichts konnte), weil David Gott fürchtete und das Volk beruhigen wolle. Es ist böse, das zu glauben; aber die Bibel glaubt es vielleicht auch, sie ist voller Hinterlist, so wahr ist sie.86

Diese Auseinandersetzung mit der Bibel, die sich bei Brecht auf einer fast schon sinnlichen Ebene vollzieht, bricht mit dem allmählichen Adoleszieren nicht ab, im Gegenteil. So schreibt er als Student im September 1920 über ein Passionsspiel in Augsburg: »Abends in der ›Großen Deutschen Passion‹ der Brüder Faßnacht. Elender Text, geschmacklose Aufmachung. Aber gewisse Bibelworte nicht totzukriegen. Sie gehen durch und durch. Man sitzt unter Schauern, die einem, unter der Haut, den Rücken lang herunterstreichen, wie bei der Liebe.«87 Mit diesem Zitat ist zum Ausdruck gebracht ein ganz wesentlicher Aspekt der biblischen Strahlkraft, die dieses Buch für Brecht entfaltet haben muss. Es scheint also in erster Linie die besondere Sprachlichkeit, die poetische Erzählkraft zu sein, mit der die Bibel ihre jeweiligen Botschaften transportiert, die Brecht nicht nur persönlich berühren, sondern auch seinen literarischen Kosmos nachhaltig prägen sollten.88

Mit den Worten von Jan Knopf: »Die Bibel fesselte – vor allem im Alten Testament – durch ihre großartigen und lebensprallen Geschichten, lenkte das Hauptaugenmerk auf die Fabel, an der Brecht ein Leben lang festhielt, und bestach – zumal in der Übersetzung Luthers – durch ihre Sprache, die dem Volk zwar aufs Maul schaute, ihm aber nicht nach dem Mund redete.«89 Und dennoch kann die von Brecht so bestaunte Literarizität der Bibeltexte nicht die einzige Wirkungskomponente gewesen sein, die sein künstlerisches Schaffen seit Anbeginn so substanziell bestimmten sollte. So verfolgt Peter Paul Schwarz die These, dass es mitunter die »Fiktion der Transzendenz« bzw. die »Mächtigkeit der fiktionalen Transzendenz«, ihre Auflösung und der daraus folgende Nihilismus gewesen sei, die Brechts ironische Stilhaltung, wie sie beispielsweise seine frühe Lyrik kennzeichne und im ironischen »risus mortis« angesichts der mit dem »Tod Gottes« unverbindlich gewordenen Glaubensformen begründet liege, nach und nach ausgebildet habe.90 Jener ironische Stil sei bei Brecht aber immer im Zusammenhang der ihm notwendig eingeschriebenen Kritik zu betrachten:91

Ließ sich das Freiwerden von Ironie, Parodie, Provokation und Satire […] aus dem Zusammenbruch des religiösen Weltbilds erklären, so darf doch daneben die kritische Intention der Brechtschen Ironie nicht übersehen werden, welche die Kategorieen [sic] der religiösen Wertewelt im Sinne Nietzsches ironisch zu verkehren sucht, ohne sich indessen ganz aus ihrem Bann lösen zu können.92

Das erinnert an Georg Lukács’ Sentenz, die Ironie sei die negative Mystik gottloser Zeiten.93 Bedenkt man nun die Vielzahl und Mannigfaltigkeit, mit der biblische Elemente in wie auch immer gearteter Form in Brechts Œuvre verhandelt werden, so liegt die Vermutung nahe, dass Brecht etwas über die Literarizität Hinausgehendes in der Bibel entdeckt haben muss, das ihn gleichsam zur stofflichen Verarbeitung auch in Mahagonny motivierte. Anders als Ariadne aber ist Mahagonny keine explizite Transposition einer biblischen Geschichte, wie sie in Ariadne als mythologische Oper (oder gar als Antikendrama) und demgemäß in ihrer strukturellen Verschränkung mit dem Ariadne-Mythos aufgezeigt ist.

Nach Reinhold Grimm seien die Bibelentlehnungen bei Brecht einer Ästhetik der Verfremdung gewidmet und damit Mittel, um den Stoff systematisch zu verfremden:

»Das biblische Muster verfremdet den Vorgang im Stück; zugleich aber bedeutet die Wahl dieses Musters eine extreme und durchaus mit beabsichtigte Blasphemie: die Spannungen zwischen den beiden Bereichen wirken dialektisch.«94 Dieses besondere, dem Autor sehr eigene Verfahren könnte sich – wie wohl in so vielen Werken Brechts95 – denn auch in der Oper Mahagonny mit ihren parodistischen Bibelbezügen wiederfinden. Doch muss an dieser Stelle dem Missverständnis vorgebeugt sein, Brecht habe mit seiner Parodie ein Lächerlich-Machen des Gegenstandes im Sinn gehabt. Wenn Brecht sich in Mahagonny des biblischen Themas annimmt, sich ihm auf parodistische, überzeichnende, komisch-verzerrende Weise nähert, die Bibel als parodierten Gegenstand also extrapoliert darstellen lässt, so ist diese Auseinandersetzung dialektisch zu denken. Die Parodie bezeichnet demnach eine besondere Form des Realismus, ist Realästhetik dergestalt, dass ihr realistisches Vorbild in jedem Moment ihrer Parodie erkennbar bleibt, im Verständnis der Parodie sogar erkennbar bleiben muss. So schreibt Michail Bachtin über die Parodie:

Eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Formen der Abbildung des fremden direkten Wortes ist die Parodie. Worin besteht nun die Eigenart der parodistischen Form? Da gibt es zum Beispiel die parodistischen Sonette, mit denen Don Quijote eröffnet wird. Obwohl sie unzweifelhaft als Sonette gebaut sind, können wir sie keinesfalls zur Gattung des Sonetts rechnen. Sie sind hier Teil des Romans; auch wenn es für sich steht, kann das parodistische Sonett nicht einfach der Gattung des Sonetts zugerechnet werden. Die Form des Sonetts ist im parodistischen Sonett keineswegs eine Gattung, das heißt nicht die Form des Ganzen, sondern Gegenstand der Abbildung; das Sonett ist hier der Held der Parodie. In der Parodie auf das Sonett müssen wir das Sonett erkennen, seine Form, seinen spezifischen Stil, seine Art und Weise, die Welt zu sehen, auszuwählen und zu bewerten, seine sozusagen sonetteigene Weltanschauung. Die Parodie kann diese Besonderheiten des Sonetts besser oder schlechter, gründlicher oder oberflächlicher abbilden und verspotten. Aber es liegt jedenfalls kein Sonett vor, sondern ein Bild des Sonetts.96

In Bezug auf Brecht hat Marianne Kesting dieses Verfahren wie folgt beschrieben:

An Mahagonny schließt sich eine entscheidende Betrachtung über das epische Theater, in diesem Fall über die epische Oper an. »Die Oper Mahagonny wird dem Unvernünftigen der Gattung Oper bewußt gerecht«, schrieb Brecht. Dieses »Unvernünftige der Gattung Oper« wurde von Brecht bewußt zur Kritik und Parodie einer unvernünftigen gesellschaftlichen Ordnung eingesetzt: »Also sollte etwas Unvernünftiges, Unwirkliches und Unernstes, an die rechte Stelle gesetzt, sich selbst aufheben, in doppelter Bedeutung.« Es wiederholt sich, auf anderer Ebene, ein ähnlicher Vorgang wie in Tiecks Gestiefeltem Kater, wo die Realität in der Parodie wieder erreicht wird, oder auch wie in der Dreigroschenoper[,] die, indem sie den »unvernünftigen« Wünschen der Zuschauer bewußt Rechnung trägt, diese Wünsche ad absurdum führt und in der Parodie richtigstellt.97

Brechts Intention ist es nicht, die Bibel bloß ins Lächerliche zu ziehen, sie mittels übertreibender Stilistik zu verspotten oder gar – und das wäre eines der Grundaspekte der Blasphemie – zu verhöhnen: »Natürlich steckt in alldem viel mehr als eine bloße, durch das Zitat fixierte Anspielung. Mit Recht sieht Reinhold Grimm in den meisten Bibelzitaten eine Anwendung des Verfremdungsprinzips, ein dialektisches Reizverhältnis zwischen Ursprung und Aktualisierung des Bibelwortes.«98 Oder mit eigenen Worten ausgedrückt: Die Parodie als eine in Mahagonny angewandte, notwendig intertextuelle Form gilt vielmehr dem sehr ernsten Versuch der Aktualisierung, in der die Geisteshaltung, die sich in den biblischen Texten vermittelt, zwangsläufig wieder aktuell wird. Eine solche Aktualisierung der Bibel vollzieht sich bei Brecht nicht unter den Voraussetzungen der Lutherzeit, sondern unter den Bedingungen der Jetzt-Zeit, sie sucht mit dem Bewusstsein der Historizität von Texten nach neuen Antworten, die die Bibel als eine der wohl primärsten Beschäftigungen mit den Grundfragen, mit den Grundproblemen menschlicher Existenz nach Brecht zu geben vermag. Man könnte diese Aktualisierung im Sinne Benjamins als Skizzen eines von bürgerlicher Teleologie freien historischen Materialismus99 denken, als eine Aktualisierung, in der die Zeit gerade durch ihr Verhältnis zum Abwesenden aufscheint, als Mandat eines Noch-nicht, das in der Gegenwart je neu gewonnen und bestimmt werden müsste. In dieser Lesart würde es Brecht in seiner sehr kritischen Beschäftigung mit der Bibel nicht um eine Depotenzierung derselben gehen, vielmehr könnte ihm an der Herausschälung ihres Potentials gelegen sein, das sich dem Menschen im Kontext einer Aktualisierung unter den Voraussetzungen der Jetzt-Zeit auf je neue Weise zeigt.

Es erscheint unter diesem Gesichtspunkt lohnenswert, die blasphemische Qualität, wie sie auch von Hans Mayer mit seiner Beobachtung: »Blasphemie, Anspielung, Verfremdung. Trotzdem ist da noch mehr«100, festgehalten wurde, mit ein, zwei Sätzen näherhin zu charakterisieren. Zum einen muss der, wenn man so will, blasphemische Charakter in Brechts Texten im Zusammenhang seines genuin anerkennenden (anerkennend nicht im Sinne von zustimmend), wenngleich »›kompromißlos ablehnend[en]‹«101 Verhältnisses zur Bibel als primärem Text, auf dessen Basis sich die Problematiken menschlichen Daseins in der Welt verhandelt sehen, betrachtet werden. Zum anderen sollte über die Parodie nicht insofern hinweggegangen werden, als das Mehr, nach dem auch Mayer fragt, keinesfalls über der Parodie stehen darf, sondern die Parodie als das zum Einsatz kommende Verfahren bereits als das Mehr anzusehen ist. Um dem besonderen biblisch-theologischen Überschuss102 bei Brecht, »dem ›Mehr‹ an Funktion, um das es [also] geht, auf die Spur zu kommen«103, geht Gotthard Lerchner wie folgt vor:

Die Herstellung von Bezügen zwischen Bibelaussage und kapitalistischer Umwelt mit ihren sozialen Gebrechen, ihrer Ungerechtigkeit und ihren gesellschaftlich sanktionierten Verbrechen entlarvt eine bürgerliche Ethik und Moral, die sich selbst als christlich versteht und aus der Bibel ihre Rechtfertigung ableitet. So wird zum Beispiel die antihumanistische Anbetung des Geldes im Kapitalismus (Mahagonny) als eine der alttestamentlichen »Eitelkeiten« (das heißt Nichtigkeiten) bloßgestellt, »by revealing the ›sacred origins‹ of the city and by ›blessing‹ the founding of the city and ist continuance with quotations from Genesis, Wisdom literature and Psalms«. Es können auch die sozialen Forderungen insbesondere des Neuen Testaments der ihnen völlig widersprechenden bürgerlich-»christlichen« Alltagspraxis als Folie unterlegt werden, indem die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung in der Ausbeuterordnung gezeigt wird […] Oder herbe Kritik wendet sich gegen die Bibel selbst, deren Geschichten, Gleichnisse und Lehren die Möglichkeit für eine Rechtfertigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung liefern […]104

So könnte sich bei Brecht bzw. in seiner steten Bibelreferenz eine Sozial- und Religionskritik105 begründet sehen, die in ihrer alt- und neutestamentarischen Motivik weniger um die Existenz Gottes kreist, als vielmehr die Faktizität der Welt selbst bespielt, in die das menschliche Leben sich geworfen sieht. In Mahagonny rückt also der Mensch in den Fokus und damit ein In-der-Welt-Sein, das immer auch nach Maßstäben, nach Werkzeugen strebt, die ihm dabei helfen, sich im opaken Diesseits zu orientieren. Die biblischen Bezüge, die Brecht in die Mahagonny-Oper einbaut, verweisen dabei auf eine seinem Denk- und Schreibgebilde immanente Kritik, die im institutionalisierten Glauben vor allem erst einmal ein Instrumentarium zur Durchsetzung eines Machtanspruches entdeckt und so als ununterschieden von einem staatspolitischen System definiert werden kann. Beide Ordnungen machen sich zu eigen, »eine schlechte gesellschaftliche Wirklichkeit zu rechtfertigen«.106 Ausgehend von einer Ordnung, die einen wie auch immer gearteten Nexus zur Religion markiert, sollen in der Analyse von Mahagonny gerade die Bezüge von System und Religion ausgeleuchtet werden, die diese Oper mit ihrem Scheitern thematisiert.

4.Kultur – Industrie

Der dritte Schlüsselbegriff, der den Zusammenhang der beiden Opernwerke in dieser Arbeit bestimmen wird, ist der der sogenannten Kulturproduktion. Er bezieht sich dabei wesentlich auf das von Horkheimer und Adorno geprägte Theoriemotiv der Kulturindustrie107 und damit auf die kritische Analyse massenkultureller Phänomene in schematisierten Gegenwartsgesellschaften, die die DdA zu ihrem Gegenstand erklärt. Bereits in der begrifflichen Zusammenführung von Kultur und Industrie zeigt sich die »Kritik am gegenwärtigen Zustand der Kultur […], die von industriellen Maximen wie Standardisierung, Mechanisierung und Technisierung«108 verwaltet scheint.

In der Tat machen es sich Horkheimer und Adorno in ihrem Gemeinschaftswerk zur Aufgabe, Kultur und Kunst als in der spätkapitalistischen Wert-und-Ware-Welt aufgegangen und demzufolge als Eigenwerte, als Praxis gänzlich aufgelöst zu skizzieren. Fasst man ihre Beobachtungen zusammen, so bildet sich diese Immanenz bereits in der deutlichen Verschiebung im Warencharakter kultureller Produkte ab. Zwar habe sich die mehr oder weniger autonome Kunst immer auch als Ware verstanden, die geistigen Gebilde normierter Kulturindustrie aber seien nicht länger nach dem eigenen Gehalt und seiner stimmigen Gestaltung ausgelegt, sondern gänzlich vom Prinzip der Verwertung bestimmt und damit Ware »durch und durch«.109 In diesem Verwertungszusammenhang steht denn auch die Entwicklung, die die Gesellschaft bis hin zu ihrer spätbürgerlichen, letztendlich postliberalen Prägung genommen hat: So machen Horkheimer und Adorno das Aufkommen einer instrumentellen sowie technischen Rationalisierung aus, das den Menschen nicht länger als Subjekt beschreibt, sondern als eine in der Masse und schlussendlich im System aufgehende Größe. Als ebenso objektivierbare wie formbare Einheit kann der nunmehr verdinglichte Mensch bruchlos vom Produktionsprozess jener Mächte konsumiert werden, die zugleich die Durchkapitalisierung sämtlicher gesellschaftlicher Räume zu erreichen suchen. Die erfolgreiche Heranbildung solcher Subordinationsmechanismen im Bereich der Kultur zeichnet sich anhand kultureller Phänomene ab, die im Kapitel »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« der DdA expliziert werden. Demnach scheint das Prinzip der Individuation nicht länger Gültigkeit zu besitzen110, sondern von einer Maxime der Degradation abgelöst worden zu sein. Das nunmehr zum bloßen Konsumenten herabgestufte Individuum wird auf diese Weise einer Kulturindustrie teilhaft, die allein dem Amüsement gewidmet ist.111

Dabei sind die schillernd leuchtenden Amüsierwaren, die sie fortwährend fabriziert, mit dem Ziel versehen, nur dem Schein nach tatsächliche Inhalte zu vermitteln112, denn »was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Vorrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße«.113 Daran, so die These der Kulturindustriekritik, kranke unheilbar alles Amüsement, ein Spaß, der deshalb so gefährlich für das Bewusstsein sei, weil das zur Langeweile erstarrte Vergnügen, um Vergnügen zu bleiben, jeder Form von Anstrengung tunlichst vorzubeugen, ja seinen (Denk)Radius zwangsläufig auf ausgefahrene Assoziationsgeleise zu beschränken habe.114 Was zunächst nach eskapistischem115, der bestehenden Gesellschaftsordnung zwar dienlichem, allenfalls aber äußerlichem (Frei)Zeitvertreib klingt, zeitigt zugleich ein an die Kulturindustrie angeglichenes, manieriertes Innen des Menschen:

Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt und absolviert, der Tonfall am Telephon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch, ja das ganze nach den Ordnungsbegriffen der heruntergekommenen Tiefenpsychologie aufgeteilte Innenleben bezeugt den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht. Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, daß die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen. Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.116

Kaum eine zweite Idee scheint ambivalenter besprochen, ja stärker missverstanden worden zu sein, als die in der DdA vorgestellte Beschreibung einer kulturindustriellen Ideologie. Nicht selten wird sie gelesen als eine überzeichnete Vorstellung bloßen kulturkonservativen Denkens.117 Nach Frederic Jameson beispielsweise sei die Kulturindustrie gar nicht erst als Theorie der Kultur, sondern als »Theorie einer Industrie, eines Zweiges der miteinander verquickten Monopole des Spätkapitalismus, der Geld aus dem schlägt, was gewöhnlich Kultur genannt wurde«118, anzusehen, eine Lesart, der zufolge das dialektische Spannungsfeld des Kulturindustriebegriffs gänzlich aufgelöst werde. Problematisch ist es auch, Horkheimers und Adornos Studie lediglich als bloß am Phänomen orientierte kulturwissenschaftliche Studie zu lesen und den Hintergrund der Aporie auszublenden, vor der die an Marx orientierten Denker der Kritischen Theorie in der Moderne stehen; nämlich als eigentlich schon liquidierte bürgerliche Intellektuelle Statthalter des revolutionären Subjekts sein zu müssen, das sich doch nicht im Proletariat verwirklicht und verkörpert hat. Wer diese ins Negative, nachgerade Tragische gewendete Spannung der Kritischen Theorie übersieht, für den bedeutet die Kritik an der Kulturindustrie »bei Horkheimer, Adorno, Löwenthal und Marcuse [die] kritische Analyse des Warencharakters der Kultur, nicht die Verdammung des Kommerzes«.119 Dabei ist es doch der Kommerz als die Verwirklichung der sich ständig weiter selbst verwertenden Welt, der Mehrwertschöpfung als alles überstrahlender letzter Zweck, der das aristotelische ›gute Leben‹ abgelöst hat. Mit Kulturindustrie, so Detlev Claussen, haben »die Autoren den gesamten kulturindustriellen Produktions- und Distributionszusammenhang« bezeichnet und eben deshalb keine kulturkonservative Legitimation von Kunst gegenüber Massenkultur geliefert.120 Diese kritische Analyse der Warenförmigkeit von Kultur ist es, bei der Jürgen Habermas seine Kritik ansetzt und die er daher im negativen Sinne korrekt als das eigentliche Fundament der Analyse der DdA begriffen hat. Demnach sei die herausgestellte Wert- und Warenhaftigkeit kulturindustrieller Produkte als eine den Charakter unterkomplex behandelnde Fehlinterpretation einzustufen, da das Kulturindustriekonzept bzw. dessen Tauschwerttheorie technische Medien allein als Geldmedien begreife, ohne sie genauer auf ihren komplexen symbolischen Gehalt hin zu überprüfen.121

Wie dieser von Habermas geltend gemachte Einwand, der sich gegen die Kritik der Kulturindustrie und ihre theoretische Orientierung an der Marx’schen Warencharakterdefinition122 richtet, sollten die Betrachtungen von Horkheimer und Adorno in erster Linie als eine streng an Marx orientierte Theorie der Massenmedien und Massenkultur rezipiert werden; eine Theorie der Kulturindustrie also, die nach Douglas Kellner zugleich das Kernstück der Argumentation in der DdA einnehme.123 Kellner und seine an das Kulturindustriekonzept gerichteten Kritikpunkte aber bilden bis heute Repliken argumentativer Beweisführung: Hielt er die Kulturindustrie zunächst und allgemein für den »Scheitelpunkt eines historischen Prozesses, in dem schließlich Technologie, wissenschaftliche Organisation und Verwaltung alle Formen des Denkens und der Erfahrung bestimmen«124, so ist für ihn weiterführend doch mindestens fragwürdig, ob erstens das System tatsächlich so monolithisch und manipulativ wirksam sei wie in der DdA angenommen125, und zweitens, inwieweit die Kulturindustrie wirklich so »einfach wiederholend und in monolithischer, eindimensionaler Weise die Ideologien der bestehenden Gesellschaft«126 reproduziere.127

Überspitzt hat dies Roger Behrens formuliert, indem er die Vorstellung von der Kulturindustrie als Zentralfabrik, »bei der vorne lastenweise Bands, Moden und Musikstile reingekippt werden und hinten Tonträger, Subkulturen und Szenen herauskommen«128, als »präjudiziert« beschreibt. Zudem sei – Kellners Bedenken abschließend – drittens jene Pauschalisierung fraglich, die Horkheimer und Adorno in ihrem Kulturindustriemodell vornehmen, indem sie nämlich unterschiedslos Erfahrungen der Weimarer Zeit, des Faschismus und der USA zur Zeit des New Deal verallgemeinerten, »ohne auf das Besondere der Kulturindustrie in den verschiedenen fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften einzugehen«.129

In der Rezeptionsgeschichte der Kulturindustrietheorie ist der Zweifel an einem totalen Herrschafts- und Verblendungszusammenhang übergreifend130, zu einfach sei das Schema der Kulturindustrie-Hypothese131, zu veraltet der Ansatz.132 Die korrumpierende Wirkung kulturindustrieller Produkte, die die DdA bedeutend macht und die Leo Löwenthal als »umgekehrte Psychoanalyse«133 bezeichnet, führt mitunter auch den gegnerischen Vorwurf herbei, es handele sich bei dem Kulturindustriekonzept lediglich um die »Fetischisierung des Manipulationszusammenhangs«134, welche auf dem »Negativismus der Kritischen Theorie« und ihrer als höllisch bezichtigten Ontologie fuße135 und deshalb bereits in den Grundzügen als elitäravantgardistisch wahrzunehmen sei.136 Dass die in der DdA festgehaltenen Erkenntnisse über die Kulturindustrie insgesamt durchaus als »monolithische[n] Aussagen«137 gedeutet werden können, ist nicht zuletzt auch Adornos Überzeugung zuzuschreiben, Erkenntnis sei, und keineswegs per accidens, Übertreibung.138 Dabei gilt die Übertreibung, die dem Adorno’schen Gestus sein Gepräge verleiht, »im Sinne des Wesentlichen und Typischen, das in seiner Reinheit den Grenzbegriff einer realen Tendenz angibt, unbeschadet entgegenwirkender Ursachen«139, sie fetischisiert weder Totalität noch Absolutheit.

Im gleichen Zuge ist denn auch die Annahme einer Monokausalität, mit der Horkheimer und Adorno manipulative Wirkungen begründen, Teil eines sich fortsetzenden Stigmas, das immer wieder nur und nicht minder vereinfachend auf den tausendfältig konstatierten und stets übervereinfachten Manipulationszusammenhang abzielt140:

Auch die vorsichtig vor allem von Benjamin und Löwenthal, später auch von Marcuse und ab den sechziger Jahren von Adorno geäußerten Hoffnungen auf ein gewisses Maß an Resistenz der Individuen gegen die Mystifizierungen in Arbeit und Freizeit konnten nicht verhindern, daß in der Rezeptionsgeschichte der Frankfurter Schule die völlige Hegemonie des Verblendungszusammenhangs in der negativen Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung zur Dominanz gelangt.141

Ein solcher universelle Verblendungszusammenhang, der die ganze Welt durch den »Filter der Kulturindustrie geleitet« glaubt142, sieht die so verstandene Kulturindustrie mit der herrschenden Ordnung zusammenfallen: Denn statt Heimatstätte einer autonomen Kunst143 zu sein, reproduziert sie den Status quo jener gegebenen Ordnung, mit der sie auch gemeinsame Sache macht. Sie zu wahren, lautet das Bestreben, das in seiner Unbedingtheit auch bruchlose Anpassung fordert. Bei Adorno wird diese Anpassungsleistung an das Bestehende, dieses ›Füge dich‹ als der kategorische Imperativ der Kulturindustrie bezeichnet; gemeint ist damit ein Zustand, der kein kritisches Bewusstsein mehr kennt.144 In dem monopolbildenden System, in dem der Mensch Konsument und die Kunst zur Ware geworden ist, findet sich auch die Kultur ihres revolutionären Potentials beraubt. Das »ungebärdig Widerstehende«145 hat sie verloren an eine Kultur, die »alles mit Ähnlichkeit [schlägt]«146. Was fortwährt, ist die stete Wiederholung desselben, denn »was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über die Kultur die Vorherrschaft gewann«.147 Damit sei das Motiv der Kulturindustrie für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ausreichend dargestellt.

4.1Kulturindustrie bei Ariadne und Mahagonny

Wenn diese Untersuchung die Opern Ariadne und Mahagonny in Verbindung mit dem Begriff der Kulturproduktion setzt, so tut sie dies aus der Überzeugung, dass beide Werke thematisch im kulturproduktiven Kontext und damit im wie auch immer gearteten Zeichen des Kapitalismus stehen. Auf der ersten Betrachtungsebene könnte hierfür gewiss das Vorspiel in Ariadne herhalten, das mit seiner »Zwangsvereinigung von ›Tanzmaskerade‹ und ›Trauerspiel‹«148 und der mehr oder weniger ad nauseam diskutierten mäzenatischen »Willkür des Hausherrn« nicht spießigen Geschmack, »sondern die Macht des Geldes über die Kunst offenbart«.149 Es geht also zunächst und offenbar »um das Ringen des genialen Menschen um einen unverstellten Ausdruck, der durch die aufoktroyierten Formalia von Produkten der Kunst getrübt wird, die mit der ursprünglichen Inspiration nichts mehr zu tun haben«150, denn es »treiben nunmehr gegen den Willen des Komponisten in Ariadne auf Naxos mitbeteiligte Kulturproduzenten sein Werk über die Grenzen dessen, was er seinem Schaffen als Rahmen gesetzt hat«.151 Ähnlich naheliegend ist denn auch das antikapitalistische Element in Mahagonny, das sich allen voran in der Hinrichtungsszene des dritten Aktes prominent besprochen sieht:

Der Holzfäller Paul Ackermann […] wird an dem einzigen Tabu scheitern, das in Mahagonny herrscht und das zu verletzen einem Verbrechen gleichkommt: Ihm fehlt das Geld, um drei Flaschen Whiskey und eine Storesstange zu bezahlen. Kein Geld zu haben, was das größte Verbrechen ist / Das auf dem Erdenrund vorkommt, wird in Mahagonny mit der Todesstrafe geahndet. Brechts Oper versteht sich als Spiegelbild kapitalistischer Realität, in der Geld den menschlichen Alltag beherrscht und die sozialen Beziehungen einer totalen Verdinglichung unterwirft.152

Das Du darfst, das Paul Ackermann eigens für die Stadt Mahagonny entworfen hat, richtet sich in aller Härte gegen ihn selbst, das eigene Leben, kurzum: des Menschen Freiheit. Dabei offenbart das neue Gesetz seinen asozialen Charakter »völlig erst in der asozialen Gesellschaft des Kapitalismus, dessen anarchische Organisation es an die Oberfläche des gesellschaftlichen Verhaltens befördert […] Die totale Freiheit schlägt um in totale Unfreiheit, gerät sie unter die universale Herrschaft des Geldes«.153 In Ariadne ist die Kunst, bei Mahagonny die Freiheit explizit zur Ware geworden, kurzum die Welt, von der die jeweilige Oper handelt, ist vom Takt des Geldes geleitet – und damit käuflich. Sie impliziert mindestens in Teilen genau das, was die Kulturindustrietheorie und ihre Warencharakterdefinition moderner Gesellschaften so dezisiv prophezeite. Doch kann dies wahrlich nicht als jenes ausschlaggebende Bindeglied gehandhabt werden, das das Phänomen der Kulturproduktion an seine metaphorisch geltend gemachten Bezüge in Ariadne und Mahagonny koppelt. Wie die ersten Worte der Einleitung bereits besagten, sind es die primären Elemente von Kulturproduktion, die sich in den beiden Opernwerken übergeordnet zu erkennen geben: Im Zentrum ihrer Analyse steht die für Gegenwartsgesellschaften charakteristische Immergleichheit, ihr »Ausschluß des Neuen«154, die Wiederholung mit »starr repetierten, ausgehöhlten und halb schon preisgegebenen Inhalte[n]«155, ihre Beliebigkeit sowie die statische Handlung, der »hämisch der Fortgang verweigert [wird]«156.

In Ariadne ist es der Mythos, bei Mahagonny die Religion, die direkt in die kulturelle Produktion einer durch und durch verwalteten Welt überführen. Der Weg, der dorthin geleitet, wird nun im Weiteren zu zeigen sein.

5.Bemerkungen zur Vorgehensweise

5.1Wege spinnen

Um die eingangs dargestellte Kernthese dieser Arbeit näherhin entfalten zu können, wird die hier vorliegende Arbeit wie folgt vorgehen: Beide Opernwerke sollen je einzeln und für sich betrachtet sein und sich so gegenseitig – und unter Verzicht eines schulischen Vergleichs – erhellen. Zunächst wird Ariadne auf ihre besondere Gestik und Metaphorik hin untersucht werden. Dabei gliedert sich das ihr gewidmete Kapitel »Faden der Ariadne« in mehrere Untersuchungsabschnitte: So wird der erste Abschnitt die textimmanenten Merkmale des Librettos beleuchten. Dabei soll analysiert werden, wie der Text als Text funktioniert. Es wird zu erkennen sein, dass die Dynamik der Oper in Wirklichkeit fernab von jeder expliziten kulturpessimistischen Auseinandersetzung eine absolute Form der Statik bezeichnet.

Die Verschiebung der Rhetorik der Affekte zu einer Psychologie der Leidenschaften, die nach der Entstehung von Empfindungen aus der Eigenheit der Person und deren Stellenwert für die Begründung von Handeln fragt, hat auch für Ariadne zur Folge, »daß die durch den mythischen oder ständischen Typus festgelegte ›Rolle‹ durch den ›Charakter‹ ersetzt wird«.157 In dem Sinne, wie der durch Motive definierte Seelenzustand erst dadurch dramatisch wird, »daß er sich im zielgerichteten Handeln entlädt und auf Widerstand stößt«, in dem Sinne also, wie die Handlung sich in Spiel und Gegenspiel entfaltet, muss »die Statik des Ariadne-Komplexes für undramatisch« gehalten werden.158 Die Analyse umfasst beide einaktigen Elemente von Ariadne in ihrer chronologischen Reihenfolge: Vorspiel und Oper, in dieser Abfolge sollen sie beschrieben stehen. Den Ausgangspunkt des zweiten Teils bildet der Ariadne-Topos der griechischen Mythologie und damit die literarisierte Erzählung von Ariadne und Theseus: Anhand ihres Mythologems, dem Faden der Ariadne, welcher Theseus durch das Labyrinth geleitete und mit dessen Hilfe er den Minotauros tötete, soll die Dialektik von Mythos und Aufklärung, und damit die Verschränkung von Kultur, Kunst und Ökonomie aufgezeigt werden. Mittels des mythischen Stoffes wird so auf eine bereits vormoderne Auseinandersetzung mit einer mythisch verstandenen Natur verwiesen, die elementare Vorformen einer aufgeklärten Naturbeherrschung erkennbar macht und die in einer modernen Welt der Verdinglichung, der Vergesellschaftung und der Entfremdung gipfelt. Vor diesem Hintergrund erscheint es klar, dass sich eine moderne Transformation des ja sui generis unabgeschlossenen, offenen, ursprungslosen Mythos gerade anhand jener Elemente und Aspekte ausgestaltet. In diesem Problemfeld, das unter Bezugnahme abendländischer Philosophieliteratur erörtert werden soll, wird sich schließlich auch das Konfliktfeld der Kulturproduktion ergeben und den dritten Untersuchungsabschnitt eröffnen. In diesem sollen weniger die Mechanismen moderner Vergesellschaftung diskutiert werden, vielmehr wird jener Abschnitt, der zugleich den Schluss der Untersuchung von Ariadne bildet, das Überschüssige, die subversive Kraft, die jeder Kulturleistung als Produkt menschlicher Tätigkeit innewohnt, in den Blick nehmen. Es bleibt also zu erörtern, wie ein Ausweg aus der Maschinerie der Kulturproduktion möglich sein könnte.

Im Anschluss an die Analyse von Ariadne soll die Oper Mahagonny und die Dynamik ihres Textes untersucht werden. Ihre Struktur wird dabei folgende Gestalt annehmen: Im ersten Untersuchungsabschnitt sollen anhand einzelner Szenen jene Momente auskristallisiert werden, in denen eine bessere Welt in Mahagonny aufscheint und damit jedwede Theorie, die von einem Mahagonny als verräumlichte Verdichtung allen menschlichen Übels ausgeht, widerlegt sein. Im zweiten Kapitel werden dann diejenigen Augenblicke aufgezeigt, die dieses Aufblitzen solcher Momente, in denen eine andere Welt gedacht wird, als bloße Andeutungen, als verschwindende Ahnungen offenbaren; nicht aber, um daraus einen pessimistische Deutung zu gestalten, sondern um das subversive Potential des Werkes zu betonen. In der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von utopischen und dystopischen Elementen, die das Oszillierende des Textes manifestieren, wird sich dann auch die Frage abzeichnen, wie das Scheitern von Mahagonny zu beurteilen ist. Der dritte Untersuchungsabschnitt soll also erörtern, inwiefern Mahagonnys Aufstieg und Fall materialistisch oder ideengeschichtlich zu bewerten ist und damit die kapitalistische Dimension in Mahagonny implizieren. Dabei wird die Perspektive, die den »Kapitalismus als Religion« vertritt, den Abschluss der Analyse bilden: Sie ist dabei weniger dem Gedanken gewidmet, dass »die Schreckensrhetorik der christlichen Eschatologie […] in der ganz diesseitig gewordenen Mahagonny-Welt ihren Adressaten verloren«159 hat, vielmehr ist diese Welt in ihrer kapitalistischen Ausformung strukturell religiös. Das Scheitern von Mahagonny, an dessen Ende der »behauptete Traum-Ort der Glückseligkeit hinter seiner Glitzerfassade als dauernder Höllen-Raum der Verdammnis sichtbar« geworden ist und bei dem eine andere Welt ganz einfach nicht mehr verfügbar scheint160, wird dabei das Ende von allem, die Apokalypse völliger Immanenz beschreiben. Gerade diesem Ende als dem Ende von Geschichte ist eine subversive Kraft eingeschrieben, die zwar aus dem Scheitern des Menschen keinen Ausweg mehr weiß, allerdings die Wege vorher vor Augen führt, die der Mensch hätte beschreiten können, um sein eigenes Scheitern zu verhindern.

5.2Webstücke / Netzteile

5.2.1Ariadne

Für den Untersuchungsabschnitt, der die Analyse von Ariadne enthält, soll anhand der DdA