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Albert Camus

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Beschreibung

Einer der wichtigsten Textes des französischen Existenzialismus und der letzte vollendete Roman des Nobelpreisträgers Albert Camus in neuer Übersetzung: «Der vielleicht schönste und am wenigsten verstandene seiner Romane» Jean-Paul Sartre Im Amsterdamer Hafenviertel legt Jean-Baptiste Clamence, ehemals angesehener Anwalt, eine atemberaubende Beichte ab: Selbstgefälligkeit und Opportunismus seien die eigentlichen Triebfedern seines Rechtsbewusstseins gewesen. Denn als er eines Nachts eine Frau auf einer Brücke stehen sah, im Begriff, in den Fluss zu springen, hat er sie nicht daran gehindert. Seitdem befindet sich sein Leben im freien Fall, und er stellt sich selbst und den anderen Fragen: Warum tut man, was man tut? Warum lebt man, wie man lebt? Mit einem Nachwort von Iris Radisch.

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Albert Camus

Der Fall

Roman

 

 

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

 

Mit einem Nachwort von Iris Radisch

Über dieses Buch

«Wenn die Zuhälter und Diebe immer und überall verurteilt würden, hielten sich ja alle rechtschaffenen Leute ständig für unschuldig! Und meiner Meinung nach muss gerade das verhindert werden.»

 

In einer atemberaubenden Beichte bekennt im Amsterdamer Hafenviertel Jean-Baptiste Clamence, ehemals angesehener Anwalt, der sich stets für einen Wohltäter der Menschen gehalten hat, Selbstgefälligkeit und Opportunismus als Triebfedern seines einstigen Rechtsbewusstseins. Als er eines Nachts eine Frau auf einer Brücke stehen sah, im Begriff, in den Fluss zu springen, hat er sie nicht daran gehindert. Seitdem befindet sich sein Leben im freien Fall, und er stellt er sich selbst und den anderen Fragen: Warum tut man, was man tut? Warum lebt man, wie man lebt?

 

Dieser Roman, einer der berühmtesten Texte des Existenzialismus, ist Camus’ letztes vollendetes Prosawerk. Ein Jahr nach seinem Erscheinen erhielt der Autor den Literaturnobelpreis.

Vita

Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman Die Pest. Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall.

 

Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman.

Impressum

Die französische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel «La Chute» bei Librairie Gallimard, Paris.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023

Copyright © 1957 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«La Chute» Copyright © 1956 by Librairie Gallimard, Paris

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung satoru takahashi/iStock

ISBN 978-3-644-00455-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

I

Mit Verlaub, Monsieur, dürfte ich Ihnen meine Dienste anbieten, ohne Sie zu belästigen? Ich fürchte, Sie werden sich bei dem achtbaren Gorilla, der die Geschicke dieses Hauses lenkt, kein Gehör verschaffen können. Er spricht nämlich nur Holländisch. Er wird nicht erraten, dass Sie einen Genever wünschen, es sei denn, Sie gestatten mir, Ihre Sache zu vertreten. Na bitte, ich wage zu hoffen, dass er mich verstanden hat; dieses Kopfnicken muss wohl bedeuten, dass er meiner Argumentation folgt. Er schickt sich, in der Tat, er beeilt sich mit besonnener Langsamkeit. Sie haben Glück, er hat nicht geknurrt. Wenn er es ablehnt zu bedienen, genügt ihm ein Knurren: Niemand besteht weiter darauf. Seiner Launen König zu sein, ist das Privileg der Großtiere. Und ich ziehe mich zurück, Monsieur, erfreut, Ihnen behilflich gewesen zu sein. Ich danke Ihnen und nähme gern an, wenn ich sicher wäre, keiner dieser viel zitierten Lästigen zu sein. Sie sind zu gütig. So stelle ich mein Glas denn neben das Ihrige.

Sie haben recht, seine Stummheit ist ohrenbetäubend. Das ist das Schweigen der Urwälder, volles Rohr geladen. Bisweilen erstaunt mich die Sturheit, mit der unser schweigsamer Freund den zivilisierten Sprachen schmollt. Sein Beruf besteht darin, Matrosen aller Nationalitäten in dieser Amsterdamer Bar zu empfangen, die er übrigens, wer weiß warum, Mexico-City genannt hat. Bei derartigen Aufgaben möchte man doch befürchten, seine Ignoranz sei unangenehm, meinen Sie nicht? Stellen Sie sich den Cro-Magnon-Menschen als Bewohner des Turms von Babel vor! Er litte wohl mindestens unter Fremdheit. Aber nein, dieser hier spürt sein Exil nicht, er geht seiner Wege, nichts ficht ihn an. Einer der wenigen Sätze, die ich aus seinem Mund vernommen habe, besagte, es sei immer entweder oder. Was war entweder oder? Zweifellos unser Freund selbst. Ich muss gestehen, diese Geschöpfe so ganz aus einem Guss ziehen mich an. Wenn man viel über den Menschen nachgesonnen hat, ob von Berufs wegen oder aus Berufung, kommt es vor, dass man sich nach den Primaten zurücksehnt. Sie haben wenigstens keine Hintergedanken.

Wiewohl unser Wirt, ehrlich gesagt, schon einige hat, mag er sie auch im Dunkeln nähren. Durch das viele Nicht-Verstehen dessen, was in seiner Gegenwart gesagt wird, ist er misstrauisch geworden. Daher der leicht scheue Ernst seiner Miene, als hätte er zumindest den Verdacht, dass bei den Menschen irgendetwas nicht in Ordnung sei. Diese Gemütsverfassung erschwert jede Verhandlung über Dinge, die nicht seinen Beruf betreffen. Schauen Sie zum Beispiel das leere Rechteck dort an der Rückwand an, über seinem Kopf, das die Stelle eines abgehängten Bildes markiert. Dort hing tatsächlich ein Bild, und zwar ein besonders interessantes, ein wahres Meisterwerk. Nun ja, ich war zugegen, als der Hausherr es empfangen und als er es wieder abgegeben hat. Beide Male tat er es mit dem gleichen Misstrauen, nach wochenlanger Grübelei. In diesem Punkt hat die Gesellschaft, das muss man zugeben, seine freimütige, einfache Natur ein wenig verdorben.

Beachten Sie wohl, dass ich kein Urteil über ihn fälle. Ich halte sein Misstrauen für begründet und würde es durchaus teilen, wenn sich meine, wie Sie sehen, mitteilsame Natur dem nicht widersetzte. Ach, wie bin ich doch so redselig! und binde mich nur allzu leicht. Obwohl ich den gebührenden Abstand zu wahren weiß, ist mir jede Gelegenheit recht. Als ich noch in Frankreich lebte, konnte ich keinem Mann von Geist begegnen, ohne dass ich ihn sogleich in meine Gesellschaft gezogen hätte. Oh! ich sehe, Sie mucken auf bei meinen Konjunktiven. Ich gestehe meine Schwäche für diesen Modus und für die schöne Sprache überhaupt. Eine Schwäche, die ich mir vorwerfe, glauben Sie mir. Ich weiß sehr wohl, dass die Vorliebe für feine Wäsche nicht notwendigerweise dreckige Füße voraussetzt. Trotzdem. Wie Popeline verdeckt auch der Stil zu oft ein hässliches Ekzem. Ich tröste mich, indem ich mir sage, jene, die stammeln, sind schließlich auch nicht rein. Aber ja, nehmen wir noch einen Genever.

Haben Sie vor, lange in Amsterdam zu bleiben? Schöne Stadt, nicht wahr? Faszinierend? Sieh an, ein Adjektiv, das ich seit langer Zeit nicht mehr gehört habe. Genau genommen, seit ich Paris verlassen habe, und das ist Jahre her. Aber das Herz hat sein eigenes Gedächtnis, und ich habe nichts vergessen von unserer schönen Hauptstadt und ihren Quais. Paris ist eine wahre Augentäuschung, eine fantastische Kulisse, bewohnt von vier Millionen Silhouetten. Fast fünf Millionen nach der letzten Volkszählung? Na, hören Sie, die müssen Junge gemacht haben. Was mich allerdings nicht wundert. Mir wollte schon immer scheinen, zwei Leidenschaften entzündeten den Furor unserer Mitbürger: die Ideen und die Unzucht. Blindlings drauflos, gewissermaßen. Doch hüten wir uns, sie zu verdammen; sie sind nicht die Einzigen, in ganz Europa ist es so weit. Manchmal träume ich davon, was die künftigen Historiker über uns sagen werden. Für den modernen Menschen wird ein Satz genügen: Er trieb Unzucht und las Zeitung. Mit dieser starken Definition wird das Thema, wenn ich so sagen darf, erschöpft sein.

Die Holländer, o nein, die sind längst nicht so modern! Die haben Zeit, schauen Sie sich doch nur die Anwesenden an. Was tun sie? Nun ja, diese Herren leben von der Arbeit jener Damen. Es sind übrigens, männlich wie weiblich, höchst bürgerliche Geschöpfe, die gewöhnlich entweder aus Mythomanie oder aus Dummheit hergekommen sind. Aus überschäumender oder mangelnder Einbildungskraft letztendlich. Von Zeit zu Zeit zücken diese Herren das Messer oder den Revolver, aber glauben Sie nicht, ihnen wäre daran gelegen. Die Rolle verlangt es, das ist alles, und sie sterben vor Angst, wenn sie die letzten Patronen abfeuern. Davon abgesehen finde ich sie moralischer als die anderen, die im trauten Kreis der Familie töten, durch Zermürbung. Haben Sie nicht bemerkt, dass die Organisation unserer Gesellschaft auf diese Art der Liquidierung ausgerichtet ist? Sie haben doch sicher von den winzigen Fischen in den Flüssen Brasiliens gehört, die zu Tausenden über den leichtsinnigen Schwimmer herfallen, ihn im Nu mit schnellen kleinen Bissen säubern und nur ein blank geputztes Skelett übrig lassen? Nun, genau das ist ihre Organisation. «Wollen Sie ein sauberes Leben? Wie jedermann?» Sie sagen Ja, natürlich. Wie sollten Sie auch Nein sagen? «Einverstanden. Man wird Sie reinigen. So ist das hier, ein Beruf, eine Familie, organisierte Freizeit.» Und schon fallen die kleinen Zähne über das Fleisch her, putzen es weg bis auf die Knochen. Aber ich bin ungerecht. Es sollte nicht heißen ihre Organisation. Es ist schließlich die unsrige: Wer den anderen reinigt, hat gewonnen.

Endlich kommt unser Genever. Auf Ihr Wohlsein! Ja, der Gorilla hat den Mund aufgemacht, um mich Doktor zu nennen. Hierzulande ist jeder ein Doktor oder ein Professor. Sie zollen gern Respekt, aus Güte oder aus Bescheidenheit. Bei ihnen ist die Bosheit wenigstens keine nationale Institution. Im Übrigen bin ich kein Arzt. Wenn Sie es wissen wollen, vor meiner Zeit hier war ich Anwalt. Jetzt bin ich Bußrichter.

Aber gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Jean-Baptiste Clamence, stets zu Ihren Diensten. Erfreut, Sie kennenzulernen. Sie sind wahrscheinlich in Geschäften tätig? So ungefähr? Ausgezeichnete Antwort! Und stichhaltig dazu; wir sind in allem nur so ungefähr. Also sehen wir mal, erlauben Sie mir, Detektiv zu spielen. Sie haben ungefähr mein Alter, den kundigen Blick der über Vierzigjährigen, die ihre Runde an Erfahrungen so ungefähr gemacht haben, Sie sind so ungefähr gut gekleidet, das heißt, wie man es bei uns gewöhnlich ist, und Sie haben glatte Hände. Folglich ein Bourgeois, so ungefähr! Aber ein kultivierter Bourgeois! Bei gewissen Formen des Konjunktivs aufzumucken, beweist Ihre Bildung gleich doppelt, zum Ersten, weil Sie sie erkennen, und dann, weil Sie sich daran stoßen. Kurzum, ich amüsiere Sie, was, ganz ohne Eitelkeit, eine gewisse Offenheit Ihrerseits voraussetzt. Sie sind demnach so ungefähr … Aber was soll’s? Die Berufe interessieren mich weniger als die Sekten. Gestatten Sie mir, Ihnen zwei Fragen zu stellen, die Sie nur beantworten mögen, wenn sie Ihnen nicht indiskret erscheinen. Besitzen Sie Reichtümer? Einige? Gut. Haben Sie die mit den Armen geteilt? Nein. Demnach sind Sie, was ich einen Sadduzäer nenne. Wenn Sie nicht bibelkundig sind, gebe ich zu, bringt Sie das nicht weiter. Doch, es bringt Sie weiter? Dann kennen Sie also die Bibel? Wahrhaftig, Sie interessieren mich.

Ich für meinen Teil … Nun, urteilen Sie selbst. Gemessen an der Größe, den Schultern und diesem Gesicht, von dem man mir oft gesagt hat, es sehe grimmig aus, dürfte ich eher den Eindruck eines Rugbyspielers erwecken, nicht wahr? Aber nach der Konversation zu urteilen, muss man mir wohl ein wenig Schliff zugestehen. Das Kamel, aus dessen Haar mein Mantel besteht, litt wahrscheinlich an der Räude; dafür habe ich saubere Fingernägel. Auch ich bin kundig, und doch vertraue ich mich Ihnen ohne Vorbehalte an, gehe allein nach Ihrem Aussehen. Schließlich bin ich, trotz guter Manieren und schöner Sprache, ein Stammgast der Matrosenkneipen des Zeedijk. Ach, lassen wir das, suchen Sie nicht länger. Mein Beruf ist doppelter Natur, das ist alles, wie die gesamte Kreatur. Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich bin Bußrichter. Nur eins ist einfach in meinem Fall, ich besitze nichts. Ja, ich bin reich gewesen, nein, ich habe nichts mit den anderen geteilt. Was das beweist? Dass auch ich ein Sadduzäer war. Oh! hören Sie die Sirenen vom Hafen her? Es wird Nebel geben heute Nacht über der Zuiderzee.

Sie wollen schon gehen? Verzeihen Sie mir, Sie womöglich aufgehalten zu haben. Aber gestatten Sie, Sie werden nicht bezahlen. Im Mexico-City sind Sie bei mir zu Hause, es war mir eine besondere Freude, Sie hier zu empfangen. Ich bin sicher morgen wieder da, wie jeden Abend, dann werde ich Ihre Einladung dankbar annehmen. Ihr Weg … Nun ja … Aber sagen Sie, hätten Sie etwas dagegen, das wäre das Einfachste, wenn ich Sie bis zum Hafen begleitete? Von dort aus werden Sie unter Umgehung des Judenviertels zu den Prachtstraßen gelangen, auf denen Trambahnen voller Blumen und lärmender Musik vorbeifahren. Ihr Hotel liegt an einer von ihnen, dem Damrak. Nach Ihnen, ich bitte Sie. Ich? Ich wohne im Judenviertel oder was sich jedenfalls so nannte, bis unsere Hitlerbrüder dort Platz geschaffen haben. Was für eine Auswaschung! Fünfundsiebzigtausend deportierte oder ermordete Juden, das ist die perfekte Säuberung. Ich bewundere diesen Eifer, diese methodische Geduld. Wer keinen Charakter hat, muss sich wohl eine Methode zulegen. Hier hat sie Wunder gewirkt, ganz unbestritten, und ich wohne am Tatort eines der größten Verbrechen der Geschichte. Vielleicht ist es das, was mir hilft, den Gorilla und sein Misstrauen zu verstehen. Dadurch kann ich gegen jene naturgegebene Neigung ankämpfen, die mich unwiderstehlich zur Sympathie verleitet. Sobald ich ein neues Gesicht sehe, schlägt jemand in mir Alarm. «Achtung, immer langsam. Gefahr!» Selbst wenn die Sympathie obsiegt, bin ich auf der Hut.

Wissen Sie, dass ein deutscher Offizier bei einer Vergeltungsaktion in meinem kleinen Dorf eine alte Frau mit aller Höflichkeit gebeten hat, sie möge denjenigen ihrer beiden Söhne auswählen, der als Geisel erschossen werden solle? Auswählen, stellen Sie sich das vor! Den da? Nein, diesen hier. Und zusehen, wie er von dannen zieht. Bohren wir nicht weiter nach, aber glauben Sie mir, Monsieur, alle Überraschungen sind möglich. Ich kannte einen Mann reinen Herzens, der jedes Misstrauen verweigerte. Er war Pazifist, libertär, er liebte die gesamte Menschheit und die Tiere gleichermaßen. Eine erhabene Seele, ja, das steht fest. Und dann, während der jüngsten Religionskriege in Europa, hatte er sich aufs Land zurückgezogen. Er hatte über die Schwelle seines Hauses geschrieben: «Woher ihr auch kommet, tretet ein und seid daheim.» Wer, was meinen Sie, nahm diese schöne Einladung an? Milizionäre, die eintraten, als wären sie zu Hause, und ihn niedermetzelten.

Oh! Pardon, Madame! Sie hat übrigens nichts verstanden. Diese vielen Leute, was, so spät und trotz des Regens, der seit Tagen nicht aufhören will! Zum Glück gibt es den Genever, der einzige Schimmer in dieser Finsternis. Spüren Sie das goldene, kupferrote Licht, das er in Ihnen entzündet? Ich liebe es, in der Hitze des Genevers abends durch die Stadt zu wandern. Ich wandere nächtelang, träume oder spreche endlos mit mir selbst. Wie heute Abend, ja, und ich fürchte, Sie mit meinem Wortschwall ein wenig zu betäuben, danke, Sie sind zu freundlich. Aber es quillt einfach über: Sobald ich den Mund aufmache, fließen die Sätze. Im Übrigen inspiriert mich dieses Land. Ich liebe dieses Volk, das auf den Gehwegen wuselt, festgesetzt in einem begrenzten Raum aus Häusern und Gewässern, umschlossen von Nebel, kaltem Erdboden und dem wie ein Waschkübel dampfenden Meer. Ich liebe es, weil es doppelt ist. Es ist hier und anderswo zugleich.

Aber ja! Wenn Sie die schweren Schritte auf dem fetten Pflaster hören, wenn Sie die Leute träge zwischen ihren Läden voller goldbraun gebackener Heringe und Schmuck in den Farben von Herbstlaub umherschlurfen sehen, dann glauben Sie wohl, sie wären heute Abend alle hier? Offenbar sind Sie wie die anderen, Sie halten diese rechtschaffenen Menschen für ein Volk von Syndizi und Kaufleuten, die ihre Taler mit der Aussicht auf ein ewiges Leben zählen, und deren einziger Überschwang darin besteht, zuweilen, mit breitkrempigen Hüten bedeckt, den Lehrveranstaltungen in Anatomie beizuwohnen? Weit gefehlt. Sie gehen neben uns, das ist wohl wahr, und doch, schauen Sie, wo ihre Köpfe sind: in einem von den roten und grünen Leuchtschildern herabsinkenden Nebel aus Neon, Genever und Minze. Holland ist ein Traum, Monsieur, ein Traum aus Gold und Dunst, dunstiger bei Tage, goldener bei Nacht, und ob nächtens oder tags ist dieser Traum mit Lohengrins bevölkert, gleich denen hier, die verträumt auf ihren schwarzen Fahrrädern mit hohen Lenkern einherradeln, Trauerschwäne, die rastlos durchs ganze Land ziehen, rund um die Seen, die Grachten entlang. Sie träumen, den Kopf in kupferroten Wolken, sie fahren im Kreis, sie beten schlafwandelnd im goldenen Weihrauch des Nebels, sie sind nicht mehr hier. Sie sind abgereist, Tausende von Kilometern weit, nach Java, der fernen Insel. Sie beten zu den Fratzen schneidenden Göttern Indonesiens, mit denen sie all ihre Schaufenster geschmückt haben und die jetzt über uns umherirren, ehe sie sich wie prächtige Affen an Aushängeschilder und Treppengiebel klammern, um den nostalgischen Kolonisten in Erinnerung zu rufen, dass Holland nicht nur das Europa der Kaufleute ist, sondern auch das Meer, das Meer, das nach Cipangu und zu jenen Inseln führt, wo die Menschen wahnsinnig und glücklich sterben.

Aber ich lasse mich gehen, ich plädiere! Verzeihen Sie. Die Gewohnheit, Monsieur, die Berufung, aber unterdessen auch der Wunsch, Ihnen diese Stadt und das Herz der Dinge wirklich verständlich zu machen! Denn wir sind hier im Herzen der Dinge. Ist Ihnen aufgefallen, dass die konzentrischen Grachten von Amsterdam den Kreisen der Hölle gleichen? Der bürgerlichen Hölle, natürlich von schlechten Träumen bevölkert. Je mehr Kreise man von außen kommend durchquert, desto dichter, desto finsterer werden das Leben und mithin seine Verbrechen. Hier sind wir im letzten Kreis. Dem Kreis des … Ach! Das wissen Sie? Teufel noch eins, es wird schwieriger, Sie einzuordnen. Aber Sie verstehen jetzt, warum ich sagen kann, hier sei der Mittelpunkt der Dinge, obwohl wir uns am äußersten Ende des Kontinents befinden. Ein empfindsamer Mensch versteht solche Bizarrerien. Jedenfalls können die Zeitungsleser und Unzuchttreibenden hier nicht weiter. Sie kommen aus allen Ecken Europas und halten am Rand des Binnenmeeres inne, auf dem ausgebleichten Strand. Sie lauschen den Sirenen, suchen vergeblich die Silhouetten der Schiffe im Nebel, dann ergeben sie sich, überqueren erneut die Grachten und kehren durch den Regen zurück. Durchgefroren kommen sie ins Mexico-City, um in allen Sprachen Genever zu verlangen. Dort erwarte ich sie.

Auf morgen denn, Monsieur und lieber Landsmann. Nein, Sie werden Ihren Weg jetzt finden; ich verabschiede mich an dieser Brücke. Ich gehe nie bei Nacht über eine Brücke. Das folgt aus einem Gelübde. Nehmen Sie doch einmal an, jemand stürzte sich ins Wasser. Eins von beiden: Entweder Sie springen hinterher, um ihn herauszufischen, und in der kalten Jahreszeit riskieren Sie das Schlimmste! Oder Sie geben ihn auf und stellen fest, dass zurückgehaltene Kopfsprünge bisweilen einen seltsamen Muskelkater hinterlassen. Gute Nacht! Wie bitte? Die Damen in den Schaufenstern? Der Traum, Monsieur, preisgünstig zu haben, die Reise nach Indien! Diese Personen parfümieren sich mit Gewürzen. Man tritt ein, sie ziehen die Vorhänge zu und die Schifffahrt beginnt. Die Götter steigen auf die nackten Leiber nieder und die Inseln treiben ab, irre geworden, mit einem Strubbelkopf zerzauster Palmen im Wind. Versuchen Sie es.

II

Was ein Bußrichter ist? Oh! ich habe Sie stutzig gemacht mit dieser Geschichte. Das war nicht böse gemeint, glauben Sie mir, und ich will mich gern deutlicher erklären. In gewissem Sinne gehört das sogar zu meinen Aufgaben. Aber zunächst muss ich Ihnen einige Tatsachen darlegen, die Ihnen helfen werden, meinen Bericht besser zu verstehen.