Vorträge und Reden - Albert Camus - E-Book

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Albert Camus

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Beschreibung

Dieser Band vereint 34 Reden und Vorträge aus den Jahren 1936 bis 1958. Albert Camus attestiert seiner Zeit eine «Krise des Menschen» und will dazu beitragen, all denen, die politisch und historisch zum Verstummen gebracht wurden, ihre Stimme und ihre Würde zurückzugeben. Für Camus besteht die Berufung des Menschen darin, dem Unglück der Welt entgegenzutreten, um Leid zu verringern. Und auch der Schriftsteller kann sich dieser Berufung nicht entziehen, die Aufgabe und Ehre zugleich ist: «Mir sind Menschen, die sich engagieren, lieber als engagierte Literatur. Mut im Leben und Talent im Werk, das ist nicht das Schlechteste.»

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Seitenzahl: 482

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Albert Camus

Vorträge und Reden

1937 – 1958

 

 

Aus dem Französischen von Andreas Fliedner

 

Über dieses Buch

Ein Schriftsteller seiner Zeit.

Ein Schriftsteller unserer Zeit.

 

Dieser Band vereint 34 Reden und Vorträge aus den Jahren 1937 bis 1958. Albert Camus attestiert seiner Zeit eine «Krise des Menschen» und will dazu beitragen, all denen, die politisch und historisch zum Verstummen gebracht wurden, ihre Stimme und ihre Würde zurückzugeben. Für Camus besteht die Berufung des Menschen darin, dem Unglück der Welt entgegenzutreten, um Leid zu verringern. Und auch der Schriftsteller kann sich dieser Berufung nicht entziehen, die Aufgabe und Ehre zugleich ist: «Mir sind Menschen, die sich engagieren, lieber als engagierte Literatur. Mut im Leben und Talent im Werk, das ist nicht das Schlechteste.»

Vita

Albert Camus wurde am 7. November 1913 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Von 1933 bis 1936 studierte er an der Universität Algier Philosophie. 1934 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama «Caligula», das 1945 uraufgeführt wurde. Camus zog 1940 nach Paris. Neben seinen Dramen begründeten der Roman «Der Fremde» und der Essay «Der Mythos des Sisyphos» sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall.

Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.

 

Andreas Fliedner (*1966) studierte Religionswissenschaft, Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er übersetzt aus dem Französischen und Englischen. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bilden politische Philosophie und Ideengeschichte, daneben legte er auch literarische Übersetzungen vor.

Vorwort

Dieser Band vereint die Texte der vierunddreißig öffentlichen Ansprachen, die Albert Camus gehalten hat und deren letzte seine bisher unveröffentlichte Tischrede beim Diner der Vereinigung L’Algérienne am 13. November 1958 in Paris war. Mit Ausnahme des Vortrags Die einheimische Kultur. Die neue Mittelmeerkultur aus dem Jahr 1937 fallen alle diese Vorträge und Reden in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Camus war zu diesem Zeitpunkt bereits ein berühmter Romancier, Essayist, Dramatiker und Verfasser von Leitartikeln und wurde sowohl in Frankreich als auch in anderen Ländern immer wieder um Stellungnahmen zu politischen und moralischen Zeitfragen gebeten.

Allerdings war Camus kein leidenschaftlicher Redner: Er sah in öffentlichen Auftritten die Gefahr, sich zu Themen äußern zu müssen, über die zu sprechen er sich weder für kompetent noch berechtigt hielt. «Ich bin noch nicht im Alter für Vorträge», bemerkte er 1946. Doch trotz dieser Bedenken wurde die öffentliche Stellungnahme, die ihm sowohl die Möglichkeit zur Zeitdiagnose als auch zur kämpferischen Einmischung bot, zu einer der Formen seines Engagements.

Es liegt in der Natur einer solchen Zusammenstellung, dass sich rhetorische Figuren, prägnante Zitate, ja gelegentlich ganze Textpassagen wiederholen. In der Gesamtlektüre entsteht ein eindringliches Bild von Camus’ politischen Anliegen und seiner Methode, sie je unterschiedlichen Zuhörerschaften anschaulich zu machen.

In keinem der vorliegenden Texte verweist Camus auf sein eigenes literarisches Werk oder die von ihm geschaffenen literarischen Figuren: Die Tätigkeit des schöpferischen Schriftstellers scheint mit der des gelegentlichen Vortragsredners kaum etwas gemein zu haben. Dennoch steht die Frage nach dem gesellschaftlichen Engagement des Künstlers im Zentrum dieser öffentlichen Äußerungen, von Die Krise des Menschen (New York 1946) bis zu den beiden berühmten schwedischen Reden des Jahres 1957, die Camus in Stockholm und Uppsala hielt. Es gibt keinen Bruch, so scheint er uns bedeuten zu wollen, zwischen dem Engagement des Bürgers und dem des Schriftstellers, solange Letzterer sich in seinem Werk so getreu wie möglich an einer menschlichen Wahrheit zu orientieren versucht, die mehr denn je durch Terror, Lüge, bürokratische und ideologische Entmenschlichung und Ungerechtigkeit bedroht ist. «Wo der Eroberer gleichmacht, unterscheidet der Künstler. Der Künstler, der auf der Ebene des Menschen aus Fleisch und Blut und der Leidenschaft lebt und schafft, weiß, dass nichts einfach ist und dass der andere existiert.» Und dieser Mensch aus Fleisch und Blut kann glücklich oder unglücklich sein.

Camus’ Revolte spielt sich im Herzen des Absurden ab, im gleichzeitigen Bewusstsein des gemeinsamen Schicksals und der individuellen Freiheit. Das ist das Fundament dieser Wortmeldungen. In jeder seiner Ansprachen gibt Camus einem Engagement Ausdruck, bei dem es darum geht, jenen ihre Stimme, ihre menschliche Gestalt und ihre Würde wiederzugeben, denen all dies von einem halben Jahrhundert des Lärms und des Zorns genommen wurde, von einer Epoche, in der der Missbrauch der Worte und die Maßlosigkeit der Ideen den Menschen dem Menschen zum Wolf hat werden lassen. Für Camus gilt es, diese höllische Dynamik der Nachkriegszeit zu durchbrechen, «unser Verlangen nach Hass in ein Verlangen nach Gerechtigkeit [zu] verwandeln» und unsere «vergifteten Herzen zu heilen». Über diese Erfahrung einer Generation legt der Schriftsteller hier Rechenschaft ab.

Es gibt eine «Krise des Menschen». Man muss sie in Worte fassen, sie begreifbar machen. Und der Redner widmet sich dieser Aufgabe, indem er die Gründe und die Symptome dieser Krise immer und immer wieder benennt, ohne Scheu vor der Wiederholung. Doch das Wichtigste ist, einen Weg aus der Krise zu finden, mit Hilfe der Hoffnung, die der Mensch aus sich selbst zu schöpfen vermag, jener «Freude am Menschen, ohne die die Welt nie etwas anderes sein wird als eine unermessliche Einsamkeit». Den Künstlern und Schriftstellern kommt dabei eine bescheidene, aber notwendige Rolle zu.

Für Camus ist der Mensch dazu berufen, sich dem Unglück der Welt zu widersetzen, um es zu lindern – jeder Einzelne nach seinem Vermögen. Seine Autorität als Intellektueller und sein persönlicher Lebensweg verleihen seinen Worten besonderes Gewicht in einer Welt, die sich unter dem Einfluss von Totalitarismus und Imperialismus bereits globalisiert hat. Camus’ Engagement macht nicht an nationalen Grenzen halt. Seine Hauptsorge und oft auch seine Empörung gilt Europa – so etwa, wenn dieses Europa sich ohne Skrupel mit Franco gemeinmacht. Doch Camus ergreift ebenfalls das Wort, wenn seine Brüder und Schwestern im Osten Europas der Unterdrückung durch einen wahnwitzigen Totalitarismus ausgesetzt sind, der in vollständiger Missachtung der menschlichen Person und der Gerechtigkeit alle Freiheiten zunichtemacht.

Es geht Camus nicht so sehr um die Kultur als vielmehr um die Zivilisation und um das geschwisterliche Gefühl, das die Menschen im Kampf gegen ihr Geschick miteinander verbindet. Hier zeichnen sich die Umrisse einer persönlichen Ethik ab: Die Berufung des Menschen ist ein Prozess des Lernens und der Selbsterziehung, der sich Tag für Tag abspielt und das ganze Leben lang dauert: «Mir sind engagierte Menschen lieber als engagierte Literatur», notierte Camus in sein Tagebuch. «Mut im Leben und Talent im Werk, das ist nicht das Schlechteste.»

Die einheimische Kultur. Die neue Mittelmeerkultur

1937

Nachdem er im Sommer 1935 der Kommunistischen Partei Algeriens (PCA) beigetreten war, stürzte sich Camus in die Kulturarbeit und gründete das Théâtre du travail (Theater der Arbeit), eine Schauspieltruppe, die er selbst leitete und in der er zugleich als Autor, Dramaturg, Regisseur und Schauspieler tätig war. Gleichzeitig wurde er Generalsekretär der Maison de la culture von Algier, wo er Filmvorführungen, Konzerte und Vorträge organisierte. Bei der Einweihung des Kulturhauses am 8. Februar 1937 hielt Camus, der zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt war, die folgende Rede. Der Text wurde im April 1937 in der ersten Nummer der Zeitschrift der Maison de la culture, Jeune Méditerranée, abgedruckt. Im Herbst desselben Jahres trat Camus aus der Kommunistischen Partei aus.

I

Das Kulturhaus, das sich Ihnen heute vorstellt, will der mediterranen Kultur dienen. Getreu dem allgemeinen Auftrag, den die Häuser dieser Art haben, will es im regionalen Rahmen am Aufbau einer Kultur mitwirken, deren Lebendigkeit und Bedeutung ich Ihnen nicht weiter vor Augen führen muss. Dabei mag es vielleicht erstaunen, dass Intellektuelle der Linken sich in den Dienst einer Kultur stellen, die mit ihrer Sache auf den ersten Blick nichts zu tun hat und sogar gelegentlich – wie im Fall von Maurras – von Parteigängern der Rechten für sich in Anspruch genommen wurde.

Sich einem Mittelmeer-Regionalismus zu verschreiben, könnte in der Tat den Anschein erwecken, man wolle einen leeren und überholten Traditionalismus wiederbeleben oder, noch schlimmer, die Überlegenheit einer Kultur über andere feiern und beispielsweise – in einer Art umgekehrtem Faschismus – die lateinischen gegen die nordischen Völker ausspielen. Hier gibt es ein ewiges Missverständnis. Ziel dieses Vortrags ist der Versuch, es aufzuklären. Der ganze Irrtum liegt darin, dass man die Welt des Mittelmeers mit der lateinischen Welt verwechselt und damit Rom zuschreibt, was in Athen begonnen hat. Dass es nicht um eine Art Nationalismus der Sonnenländer gehen kann, liegt für uns auf der Hand. Wir können uns nicht in den Dienst von Traditionen stellen und unsere lebendige Zukunft an Errungenschaften knüpfen, die längst tot sind. Tradition ist Vergangenheit, welche die Gegenwart verfälscht. Der Mittelmeerraum, der uns umgibt, ist dagegen ein lebendiges Land, voller Spiele und voller Lächeln. Andererseits hat sich der Nationalismus durch seine Taten selbst sein Urteil gesprochen. Nationalismen treten in der Geschichte stets als Symptome der Dekadenz auf. Erst als das mächtige Gebäude des Römischen Reiches in sich zusammenstürzte, erst als seine geistige Einheit auseinanderbrach, aus der so viele unterschiedliche Weltregionen ihren Lebenssinn bezogen, erst in dieser Phase des Niedergangs bildeten sich die Nationalitäten. Seitdem hat das Abendland seine Einheit nicht wiedergefunden. Heute versucht der Internationalismus, ihm seinen wahren Sinn und seine Berufung wiederzugeben. Allerdings ist das zugrunde liegende Prinzip nicht mehr christlich, nicht mehr das päpstliche Rom des Heiligen Römischen Reiches. Heute ist das Prinzip der Mensch. Die Einheit ist keine Einheit des Glaubens mehr, sondern eine Einheit der Hoffnung. Eine Zivilisation kann nur in dem Maße von Dauer sein, wie ihre Einheit und ihre Größe auf einem geistigen Prinzip beruhen, das über allen Nationalitäten steht. Indien, das beinahe so groß wie Europa ist und keine Nationen und keinen Souverän kannte, hat selbst nach zwei Jahrhunderten englischer Herrschaft sein eigenes Antlitz bewahrt.

Darum lehnen wir das Prinzip eines Mittelmeernationalismus von vorneherein ab. Zudem kann von einer Überlegenheit der mediterranen Kultur keine Rede sein. Der Mensch drückt sich in Übereinstimmung mit seinem Land aus. Und im Bereich der Kultur ist es allein diese Übereinstimmung, die Überlegenheit ausmacht. Es gibt keine mehr oder weniger bedeutenden Kulturen. Es gibt nur mehr oder weniger wahrhaftige Kulturen. Das Einzige, was wir wollen, ist, einem Land dabei behilflich zu sein, seine eigene Stimme zu finden. Vor Ort. Nicht mehr und nicht weniger. Die eigentliche Frage lautet: Lässt sich eine neue Mittelmeerkultur verwirklichen?

II Befunde

Zum einen ist da das Mittelmeer als ein Meerbecken, das ein Dutzend Länder miteinander verbindet. Die Menschen, die sich in den spanischen Cafés cantantesdie Seele aus dem Leib singen, die durch den Hafen von Genua oder über die Kais von Marseille schweifen, jener weltoffene und starke Menschenschlag, der an unseren Küsten lebt, sie alle entstammen derselben Familie. Wenn man durch Europa gereist ist und wieder nach Italien oder in die Provence kommt, dann trifft man mit einem Seufzer der Erleichterung jene ungezwungenen Menschen wieder, jenes kräftige und farbige Leben, das wir alle kennen. Ich habe mich in Mitteleuropa, zuerst in Österreich und dann in Deutschland, zwei Monate lang gefragt, woher jene merkwürdige Bedrückung kam, die auf meinen Schultern lastete, jene dumpfe Unruhe, die mich erfüllte. Vor kurzem habe ich es begriffen. Die Leute dort waren immer zugeknöpft bis oben hin. Zwanglosigkeit war ihnen fremd. Was Fröhlichkeit ist, wussten sie nicht, jene Fröhlichkeit, die etwas ganz anderes ist als das Gelächter. Geht man von solchen Beobachtungen aus, gewinnt sogar der Begriff Vaterland eine akzeptable Bedeutung. Das Vaterland ist dann nicht mehr jene Abstraktion, in deren Namen sich die Menschen gegenseitig umbringen, sondern ein gewisser Geschmack am Leben, der bestimmten Menschen gemeinsam ist und durch den ich mich einem Genuesen oder einem Mallorquiner näher fühle als jemandem, der in der Normandie oder im Elsass zu Hause ist. Das ist das Mediterrane, dieses Aroma, dieser Duft, den in Worte zu fassen aussichtslos ist: Wir alle spüren ihn mit unserer Haut.

Es gibt noch weitere Befunde, und zwar geschichtliche. Jedes Mal, wenn eine neue Weltanschauung ihren Weg ins Mittelmeerbecken fand, war es stets das Mediterrane, das unversehrt aus dem folgenden Zusammenprall der Ideen hervorging: Stets hat die Landschaft über die Weltanschauung gesiegt. Das Christentum war in seinen Ursprüngen eine zwar erschütternde, aber unzugängliche und vor allen Dingen jüdische Lehre, die keine Zugeständnisse kannte – hart, ausschließlich und bewundernswert. Aus seiner Begegnung mit dem Mittelmeerraum ist eine neue Weltanschauung hervorgegangen: der Katholizismus. Zu dem Bündel Gefühlsimpulse, das am Anfang stand, trat eine philosophische Weltanschauung. Das erhabene Gebäude wurde vollendet und ausgeschmückt – für den Menschen bewohnbar gemacht. Dem Mittelmeer ist es zu verdanken, dass das Christentum sich der Welt zuwenden konnte, um dort jene wundersame Erfolgsgeschichte zu beginnen, die wir kennen.

Später war es dann ein mediterraner Mensch, Franz von Assisi, der aus dem Christentum der Innerlichkeit und der Askese einen Hymnus an die Natur und die unbefangene Freude gemacht hat. Und den einzigen Versuch, das Christentum wieder von der Welt zu trennen, unternahm ein Mann des Nordens: Luther. Der Protestantismus ist genau genommen nichts anderes als ein dem Mittelmeer und seinem zugleich zersetzenden und hebenden Einfluss entrissener Katholizismus.

Schauen wir uns die Sache noch etwas genauer an. Für jemanden, der sowohl in Deutschland als auch in Italien gelebt hat, ist es offensichtlich, dass der Faschismus in beiden Ländern ein ganz unterschiedliches Gesicht hat. In Deutschland spürt man ihn überall, in den Mienen der Menschen, in den Städten auf der Straße. Die Militärstadt Dresden erstickt unter einem unsichtbaren Feind. In Italien spürt man vor allem das Land. Was man in einem Deutschen auf den ersten Blick sieht, ist der Hitleranhänger, der einen mit «Heil Hitler!» begrüßt. In einem Italiener hingegen ist es der umgängliche und fröhliche Mensch. Auch hier scheint die Weltanschauung hinter das Land zurückzutreten – und es ist eines der Wunder des Mediterranen, dass es Menschen, die menschlich denken, erlaubt, in einem Land mit unmenschlichen Gesetzen frei zu atmen.

III

Diese lebendige Wirklichkeit des Mittelmeerraums ist für uns nichts Neues. Und man könnte meinen, dass diese Kultur das Spiegelbild jener lateinischen Antike ist, welche die Renaissance versucht hat, am Ende des Mittelalters wiederzufinden. Das ist die Latinität, die Maurras und die Seinen für sich beanspruchen wollen. Im Namen dieser lateinischen Ordnung unterzeichneten vierundzwanzig abendländische Intellektuelle in der Äthiopien-Affäre ein Manifest der Schande, mit dem sie die zivilisatorische Leistung Italiens im barbarischen Äthiopien feierten.

Doch nein. Das ist nicht die mediterrane Kultur, auf die sich unser Kulturhaus beruft. Denn es ist nicht die wahre, sondern vielmehr jene abstrakte und konventionelle Mittelmeerkultur, die von Rom und den Römern verkörpert wird. Dieses Volk phantasieloser Nachahmer brachte gerade genug Vorstellungskraft auf, um den künstlerischen Geist und den Sinn für das Leben, die ihm fehlten, durch den Kriegsgeist zu ersetzen. Jene Ordnung, die man uns so sehr rühmt, war eine Ordnung der Gewalt und keine Ordnung des Geistes. Selbst da, wo die Römer kopierten, gerieten ihnen die Kopien farblos. Und dabei war es nicht einmal der wahre Geist Griechenlands, den sie nachahmten, sondern das, was seine Dekadenz und seine Verirrungen hervorgebracht hatten. Nicht das kraftvolle und harte Griechenland der großen Tragiker und Komödiendichter, sondern die Niedlichkeit und Geziertheit der griechischen Spätzeit. Nicht das Leben hat Rom von Griechenland übernommen, sondern die kindische und vernünftelnde Abstraktion. Das Mediterrane ist anderswo. Es ist geradezu die Negation Roms und des römischen Geistes. Weil es lebendig ist, interessiert es sich nicht im Geringsten für die Abstraktion. Und man kann Mussolini gern zugestehen, dass er der würdige Nachfolger Cäsars und der antiken Kaiser ist, denn wie sie opfert er die Wahrheit und die Größe der seelenlosen Gewalt.

Es ist nicht die Freude am Philosophieren und an der Abstraktion, die wir für uns in Anspruch nehmen, sondern es ist das mediterrane Leben: die Promenaden, die Zypressen, die Paprikaschoten, die man an Schnüren zum Trocknen aufhängt – Aischylos und nicht Euripides – der dorische Apoll, nicht die Kopien im Vatikan. Es ist Spanien mit seiner Kraft und seinem Pessimismus, nicht die römische Aufschneiderei; es sind die von der Sonne ausgedörrten Landschaften und nicht die Theaterkulissen, in denen sich ein Diktator an seiner eigenen Stimme berauscht und sich die Massen gefügig macht. Das, was wir wollen, ist nicht die Lüge, die in Äthiopien triumphiert, sondern die Wahrheit, die in Spanien gemordet wird.

IV

Der Mittelmeerraum als Sammelbecken vieler Nationen, von allen erdenklichen Strömungen durchzogen, ist vielleicht die einzige Region, die die großen östlichen Denkrichtungen zusammenführt. Denn er ist nicht klassisch und geordnet, sondern diffus und quirlig, wie seine arabischen Viertel oder die Häfen von Genua und Tunesien. Der Geschmack von Lebensfreude, das Gefühl drückender Langeweile, die menschenleeren Plätze am Mittag in Spanien, die Siesta: Das ist die wahre mediterrane Welt, die dem Orient näher ist als dem lateinischen Abendland. Nordafrika ist eine der wenigen Regionen, wo Orient und Okzident zusammenleben. Und in diesem Schmelztiegel gibt es keinen Unterschied zwischen der Art, wie ein Spanier oder ein Italiener in den Hafenvierteln von Algier lebt, und der Lebensweise der Araber um sie herum. Der Wesenskern des mediterranen Geistes entspringt vielleicht dieser geschichtlich und geographisch einzigartigen Begegnung zwischen Orient und Okzident (zu dieser Frage kann man nur auf Audisio[1] verweisen).

Diese Kultur, diese mediterrane Realität offenbart sich auf ganzer Linie:

Zunächst in der sprachlichen Einheit: Jede romanische Sprache lässt sich leicht erlernen, wenn man bereits eine andere beherrscht; dann in der Einheit des Ursprungs: Ritterorden, religiöse Orden, Feudalherrschaft usw. In all diesen Punkten bietet uns der Mittelmeerraum das Bild einer lebendigen und bunten Zivilisation, einer sinnlichen Zivilisation, welche die Weltanschauungen nach ihrem eigenen Bild umprägt und die Ideen in sich aufnimmt, ohne ihr eigenes Wesen zu verändern.

Aber warum, so wird man vielleicht fragen, sollte man es nicht bei dieser Feststellung bewenden lassen?

V

Deshalb, weil eben dieser Landschaft, die bereits so viele Weltanschauungen verändert hat, die Aufgabe zufällt, auch die heutigen Weltanschauungen zu verändern. Ein mediterran geprägter Kollektivismus wird sich grundlegend vom ursprünglichen russischen Kollektivismus unterscheiden. Das Schicksal des Kollektivismus entscheidet sich nicht in Russland. Es entscheidet sich im Mittelmeerbecken und in Spanien, jetzt, zu dieser Stunde. Gewiss, der Mensch spielt sein Spiel schon lange, aber vielleicht hat es hier und jetzt seinen tragischen Höhepunkt erreicht, und vielleicht halten wir hier und jetzt die meisten Trümpfe in der Hand. Wir sehen uns Realitäten gegenüber, die stärker sind als wir. Unsere Ideen passen sich ihnen an, gleichen sich ihnen an. Das ist der Grund, warum unsere Gegner mit all ihren Einwänden falschliegen. Man hat kein Recht, im Namen der Vergangenheit über das zukünftige Schicksal einer Weltanschauung zu urteilen, über unsere Zukunft zu urteilen, selbst wenn diese Vergangenheit die Vergangenheit Russlands ist.

Hier und jetzt stehen wir vor der Aufgabe, das Mediterrane wieder in sein Recht zu setzen, es denjenigen zu entreißen, die es zu Unrecht mit Beschlag belegen, und es auf jene Formen wirtschaftlicher Organisation vorzubereiten, in denen seine Zukunft liegt.

Das bedeutet, herauszufinden, was daran konkret und lebendig ist, und es bedeutet, sich bei jeder Gelegenheit für seine Vielfalt einzusetzen. Wir sind umso besser auf diese Aufgabe vorbereitet, als wir in direktem Kontakt mit jenem Orient stehen, von dem wir in dieser Hinsicht so viel lernen können. Wir stehen hier mit der Mittelmeerwelt gegen Rom. Und die entscheidende Rolle, die Städte wie Algier oder Barcelona dabei spielen können, ist, in ihrem bescheidenen Rahmen jenen Aspekt der mediterranen Kultur zu vertreten, der es dem Menschen erlaubt, sich zu entfalten, statt ihn in den Staub zu drücken.

VI

Dem Intellektuellen kommt in unserer Zeit eine schwierige Rolle zu. Es ist nicht an ihm, geschichtliche Veränderungen zu bewirken. Entgegen anderslautenden Meinungen werden zuerst die Revolutionen gemacht, und danach folgen die Ideen. Daher erfordert es heute großen Mut, dem Geist die Treue zu halten. Aber wenigstens ist dieser Mut nicht umsonst. Wenn die Bezeichnung «Intellektueller» heute so viel Verachtung und Missbilligung hervorruft, dann steht dahinter die Vorstellung eines gescheit daherredenden Herrn, der jede Bodenhaftung im Leben verloren hat und dem sein Ego wichtiger ist als der Rest der Welt. Doch für diejenigen, die ihre Verantwortung ernst nehmen, besteht die wesentliche Aufgabe darin, den Geist wieder in sein Recht zu setzen, indem sie den Gegenstand erneuern, den er bearbeitet: Damit der Geist seine ganze und wahre Bedeutung wiedererlangt, muss der Kultur ihr wahres Gesicht von Gesundheit und Sonnenschein wiedergegeben werden. Und wie ich bereits sagte, der Mut, der dafür nötig ist, ist nicht umsonst. Denn auch wenn es nicht Sache des Geistes ist, geschichtliche Veränderungen zu bewirken, so liegt seine eigentliche Aufgabe doch darin, auf den Menschen einzuwirken, der die Geschichte macht. Zu dieser Aufgabe haben wir etwas beizutragen. Wir möchten die Kultur wieder mit dem Leben verbinden. Das Mittelmeer, das uns mit Lächeln, Sonne und Meer umgibt, lehrt es uns. Xenophon berichtet in seinem Zug der Zehntausend, dass die griechischen Soldaten, die nach Asien vorgedrungen waren, auf dem Rückweg in die Heimat, halb verhungert und verdurstet, verzweifelt nach unzähligen Niederlagen und Demütigungen, einen Berggipfel erreichten, von dem aus sie das Meer sehen konnten. Da begannen sie zu tanzen und vergaßen ihre Erschöpfung und ihren Abscheu davor, wie sich ihr Leben abgespielt hatte. Auch wir wollen uns nicht von der Welt zurückziehen. Es gibt nur eine Kultur, und das ist nicht jene, die von Abstraktionen und Schlagworten lebt. Nicht jene, die verdammt. Nicht jene, die das Unrecht und die Toten in Äthiopien rechtfertigt und den Geschmack an der brutalen Eroberung für rechtmäßig erklärt. Solche Unkultur kennen wir nur allzu gut, und wir lehnen sie ab. Was wir wollen, ist die Kultur, die in den Bäumen, in den Hügeln und in den Menschen lebt.

Das ist der Grund, warum heute linke Menschen vor Ihnen stehen, um sich in den Dienst einer Sache zu stellen, die auf den ersten Blick nichts mit ihren politischen Ansichten zu tun hat. Ich hoffe, Sie sind jetzt – wie wir – vom Gegenteil überzeugt. Alles, was lebendig ist, gehört zu uns. Die Politik wird für die Menschen gemacht, nicht die Menschen für die Politik. Für mediterrane Menschen bedarf es einer mediterranen Politik. Wir wollen nicht mit Märchen abgespeist werden. In der Welt der Gewalt und des Todes, in der wir leben, gibt es keinen Platz für die Hoffnung. Aber es gibt möglicherweise Platz für die Zivilisation, jene wahre Zivilisation, die die Wahrheit dem Märchen vorzieht und das Leben dem Traum. Und diese Zivilisation kann mit Hoffnungen nichts anfangen. Der Mensch lebt dort von seinen Wahrheiten.[*]

Dieser gemeinsamen Anstrengung müssen sich die Menschen des Abendlands anschließen, und im Rahmen des Internationalismus kann das gelingen. Wenn jeder Einzelne dazu bereit ist, in seinem Wirkungskreis, seinem Land, seinem Bereich, einen bescheidenen Beitrag zu leisten, dann ist der Erfolg nicht fern. Was uns angeht, wir kennen unser Ziel, unsere Grenzen und unsere Möglichkeiten. Wir müssen nur die Augen öffnen, um uns unserer Aufgabe bewusst zu werden: zu zeigen, dass eine Kultur, die diesen Namen verdient, im Dienst des Lebens stehen muss und dass der Geist nicht der Feind des Menschen sein kann. Genau wie die Sonne des Mittelmeers für alle Menschen dieselbe ist, muss das Werk des menschlichen Geistes ein gemeinsames Erbe sein und keine Quelle von Krieg und Mord.

Lässt sich eine neue Mittelmeerkultur verwirklichen, die mit unserem gesellschaftlichen Ideal vereinbar ist?

Ja. Aber es liegt an uns und an Ihnen, bei ihrer Verwirklichung mitzuhelfen.

Den Geist hochhalten

1945

Nach vierjähriger Unterbrechung während des Krieges nahm die katholische Wochenzeitung Temps présent ihr Erscheinen im August 1944 wieder auf. Am 15. März 1945 lud die Zeitung unter der Schirmherrschaft der Vereinigung Amitié française (Französische Freundschaft) die «geistig interessierte Jugend» zu einer Versammlung in der Pariser Mutualité ein. Neben Rednern wie dem Chefredakteur von Temps présent Stanislas Fumet, André Mandouze[1], Emmanuel Mounier[2] und Maurice Schumann[3] richtete auch Camus das Wort an die Zuhörer. Den Geist hochhalten wurde erstmals Ende 1945 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Variété veröffentlicht. 1950 nahm Camus den Text in den Sammelband Actuelles I auf, eine Auswahl seiner zeitgeschichtlichen und politischen Essays und Leitartikel, wo er ihn der Rubrik «Pessimismus und Tyrannei» zuordnete.

 

Wenn die französische Freundschaft[4], von der hier die Rede ist, sich in gefühlvollen Ergüssen Gleichgesinnter erschöpfte, würde ich nicht viel auf sie geben. Es wäre am bequemsten, aber es wäre vollkommen unnütz. Und ich nehme an, dass die Veranstalter unter diesem Namen etwas anderes anstrebten, eine schwierigere, eine konstruktive Freundschaft. Um uns vor der Versuchung des geringsten Widerstands und der Beschränkung auf gegenseitige Lobhudeleien zu bewahren, möchte ich die zehn Minuten, die mir zur Verfügung stehen, dazu nutzen, die Schwierigkeiten dieses Unternehmens aufzuzeigen. Zu diesem Zweck könnte ich kein besseres Thema wählen als das, was jederzeit der Widersacher der Freundschaft ist, nämlich Lüge und Hass.

Wir werden in der Tat nichts für die französische Freundschaft vollbringen, wenn wir uns nicht von Lüge und Hass freimachen. Denn leider sind wir in gewissem Sinn noch darin verhaftet. Allzu lange schon gehen wir durch ihre Schule. Und vielleicht bedeuten die zurückbleibenden schändlichen Male selbst in den Herzen der Menschen, die den Hitlerismus mit aller Kraft bekämpft haben, gerade dessen letzten und dauerhaftesten Sieg. Wie denn auch nicht? Seit Jahren ist diese Welt einer Flut von Hass ausgeliefert, wie es ihresgleichen nie gegeben hat. Vier Jahre lang haben wir im eigenen Land die bewusste Einübung dieses Hasses erlebt. Menschen wie Sie und ich, die morgens in der Métro Kindern über den Kopf streichelten, verwandelten sich abends in gewissenhafte Folterknechte. Sie wurden zu Beamten von Hass und Tortur. Vier Jahre lang haben diese Beamten ihren Verwaltungsapparat in Gang gehalten: Die Kinder ganzer Dörfer wurden zu Waisen, man schoss Menschen ins Gesicht, um sie unkenntlich zu machen, man trampelte die Leichen von Kindern mit dem Absatz in zu kleine Särge, man folterte den Bruder im Beisein der Schwester, man züchtete Feiglinge, man brach die stolzesten Seelen. Es scheint, dass diese Geschichten im Ausland keinen Glauben finden. Aber vier Jahre lang mussten sie wohl oder übel in unserem Fleisch und in unserer Herzensangst Glauben finden. Vier Jahre lang erhielt jeder Franzose jeden Morgen seine Ration Hass und seine Ohrfeige. Und zwar wenn er die Zeitung aufschlug. Unmöglich konnte das alles spurlos an uns vorübergehen.

Davon ist uns der Hass geblieben. Davon ist uns jenes Aufbrausen geblieben, das kürzlich in Dijon einen Vierzehnjährigen dazu trieb, sich auf einen gelynchten Kollaborateur zu stürzen, um ihm das Gesicht zu zerfetzen. Davon ist uns die blinde Wut geblieben, die uns in der Erinnerung an bestimmte Szenen und Gesichter die Seele versengt. Die Antwort auf den Hass der Henker war der Hass der Opfer. Und als die Henker abzogen, blieben die Franzosen mit einem ungesättigten Rest Hass zurück. Noch stehen sie sich grollend gegenüber.

Nun, dies alles müssen wir zuerst einmal überwinden. Es gilt, die vergifteten Herzen zu heilen. Und morgen werden wir den schwersten Sieg, den wir über den Feind zu erringen haben, in uns selbst erkämpfen müssen, dank jener höherstrebenden Anstrengung, die unser Verlangen nach Hass in Verlangen nach Gerechtigkeit verwandeln wird. Dem Hass nicht nachgeben, der Gewalttätigkeit kein Jota zugestehen, nicht zulassen, dass unsere Leidenschaften blind werden – das ist es, was wir künftig für die Freundschaft und gegen den Hitlerismus tun können. Noch heute lassen einzelne Zeitungen sich zu Maßlosigkeit und Schmähungen hinreißen. Aber damit gehorcht man wiederum dem Gesetz des Feindes. Wir müssen vielmehr bestrebt sein, die Kritik nie in Beleidigung ausarten zu lassen, wir müssen als möglich annehmen, dass unsere Gegner recht haben oder zumindest, dass auch ihre schlechten Gründe uneigennützig sein können. Und schließlich müssen wir unser politisches Denken erneuern.

Was bedeutet das, genau besehen? Es bedeutet, dass wir den Geist bewahren müssen. Denn ich bin überzeugt, dass darin der Kern des Problems liegt. Als die Nazis eben an die Macht gekommen waren, vermittelte Göring eine treffende Vorstellung von ihrer Philosophie, indem er erklärte: «Wenn ich das Wort Kultur höre, ziehe ich meinen Revolver.» Und diese Philosophie griff weit über Deutschland hinaus. Zur gleichen Zeit wurden allenthalben im zivilisierten Europa die Ausschweifungen des Geistes und die Makel der Intellektuellen gebrandmarkt. Aus einer merkwürdigen Reaktion heraus beteiligten sich nicht zuletzt die Intellektuellen selbst an diesem Prozess. Überall triumphierten die Philosophien des Instinkts im Verein mit jener üblen Romantik, die das Fühlen über das Verstehen stellt, als wäre das eine ohne das andere möglich. Seither ist der Geist unablässig angeklagt worden. Es kam der Krieg, dann die Niederlage. Vichy hat uns eingetrichtert, der Hauptschuldige sei der Geist. Die Bauern hatten zu viel Proust gelesen. Und es ist sattsam bekannt, dass Paris-Soir[5], Fernandel und Vereinsbankette als Zeichen von Geist galten. Die Mittelmäßigkeit der Eliten, an der Frankreich krankte, hatte ihren Ursprung anscheinend in der Literatur.

Noch immer wird der Geist schlecht behandelt. Das ist nur der Beweis dafür, dass der Feind noch nicht besiegt ist. Schon wenn man sich um unvoreingenommenes Verstehen bemüht oder bloß das Wort Sachlichkeit in den Mund nimmt, wird einem Spitzfindigkeit angekreidet und Überheblichkeit unterstellt. Nein und nochmals nein! Gerade das muss anders werden. Wohl kenne ich wie jedermann die Ausschweifungen des Geistes, wohl weiß ich wie jedermann, dass der Intellektuelle ein gefährliches, leicht zu Verrat neigendes Tier ist. Aber der Geist, um den es sich dabei handelt, ist nicht der richtige. Der Geist, den wir meinen, stützt sich auf den Mut, der Geist, den wir meinen, hat vier Jahre lang den nötigen Preis gezahlt, um das Recht auf Achtung zu erwerben. Wenn dieser Geist erlischt, bricht die Nacht der Diktatur an. Deshalb müssen wir ihn in allen seinen Pflichten und in allen seinen Rechten hochhalten. Nur dann wird die französische Freundschaft einen Sinn haben. Denn die Freundschaft ist die Kunst der freien Menschen. Und es gibt keine Freiheit ohne Einsicht und gegenseitiges Verständnis.

Zum Schluss will ich mich an euch Studenten richten. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die euch Tugend predigen. Zu viele Franzosen verwechseln sie mit Blutleere. Wenn ich im Geringsten das Recht dazu besäße, würde ich euch vielmehr Leidenschaftlichkeit predigen. Aber ich wünschte, die französische geistige Elite von morgen werde wenigstens in einem oder zwei Punkten entschlossen sein, niemals klein beizugeben. Ich wünschte, sie werde nie klein beigeben, wenn man ihr einreden will, der Geist sei immer überflüssig, wenn man ihr beweisen will, es sei gestattet, zu lügen, um leichter ans Ziel zu gelangen. Ich wünschte, sie werde weder der Verschlagenheit noch der Gewalt noch der Charakterlosigkeit je gehorchen. Dann wird vielleicht eine französische Freundschaft möglich sein, die sich nicht in eitlem Geschwätz erschöpft. Dann wird vielleicht in einer freien und wahrheitshungrigen Nation der Mensch wieder anfangen, die Freude am Menschen zu empfinden, ohne die die Welt nie etwas anderes sein wird als eine unermessliche Einsamkeit.

Einige Worte an das Rumänische Radiopublikum

1945

Als Camus die folgenden Worte an die rumänischen Radiohörer richtete, machte ihr Land gerade eine schwere politische Krise durch. Die Regierung der nationalen Einheit, die im August 1944 nach der Niederlage der deutschen und rumänischen Truppen gegen die Rote Armee eingesetzt worden war, trat im Oktober 1945 unter kommunistischem Druck zurück und wurde durch eine prosowjetische Regierung unter Führung von Petru Groza abgelöst. Nach den Wahlen von 1946 und der Abdankung von König Michael I. im Jahre 1947 wurde Rumänien eine «Volksdemokratie» unter sowjetischem Einfluss. Wann und in welchem Rahmen Camus’ Ansprache gesendet wurde, ist nicht bekannt. Möglicherweise hatten Pierre Kauffmann und Serge Karski, die sich als Rumänienkorrespondenten der Tageszeitung Combat – deren Chefredakteur Camus zu diesem Zeitpunkt noch war – ablösten, die entsprechenden Kontakte zum rumänischen Radio hergestellt.

 

Der Franzose, der heute zu Ihnen spricht, richtet mit keinem anderen Recht das Wort an Sie als dem, vier Jahre lang Bürger eines Landes gewesen zu sein, das ebenso geknechtet und erniedrigt wurde wie Rumänien. Daher ist das, was ich Ihnen heute übermitteln will, weder eine offizielle Verlautbarung noch ein persönliches Bekenntnis, wie es sich bedeutendere Zeitgenossen erlauben könnten. Aber vielleicht kann ich zu Ihnen als einer jener Millionen namenlosen Menschen sprechen, die während der Jahre der Unterdrückung das französische Volk ausmachten.

Wie jeder in meinem Land kenne ich die Bande, die traditionell zwischen Rumänien und Frankreich bestehen. Doch diese Bande, die in den Verlautbarungen der Staatskanzleien oder in akademischen Reden beschworen werden, kamen mir stets ziemlich abstrakt vor. Wenn ich nur über sie sprechen dürfte, hätte ich Ihnen nichts zu sagen. Doch seit vier Jahren gibt es eine Gemeinschaft der Europäer, in der das französische und das rumänische Volk Bande einer anderen Art geknüpft haben: eine Gemeinschaft des Leids. Und darüber kann ich sprechen.

Ich halte nichts von rhetorischen Vorsichtsmaßnahmen. Und deshalb sage ich, was ich denke, nämlich dass Rumänien und Frankreich gleichzeitig in die Schmach geraten sind und sich gleichzeitig aus der Schmach erhoben haben. Darin sind wir einander ähnlich, darin besteht unser gemeinsames Schicksal. Und das ist es, was uns dabei helfen sollte, uns besser zu verstehen. Denn wenn nicht die Schmach und die gemeinsame Auflehnung die Völker einander näherbringen, dann vermag es auch sonst nichts auf dieser Welt, und sie sind zu ewiger Einsamkeit verdammt.

Kaum der Nacht der Unterdrückung entronnen, hat Europa keine andere Wahl, als sich auf seine Verbundenheit zu besinnen. Wir wissen inzwischen, dass alles, was die Freiheit der Rumänen bedroht, auch die Freiheit der Franzosen bedroht und umgekehrt: Jeder Schlag, der einen Franzosen trifft, trifft zugleich die freien Menschen Rumäniens. Wir wissen, dass wir uns entweder gemeinsam retten werden, zusammen mit allen anderen Völkern Europas, oder dass wir gemeinsam zugrunde gehen. Und das ist gut so. Was uns in den Tagen, als der Geist frei und glücklich war, nicht gelungen ist, wird uns vielleicht nach all diesen Jahren gelingen, in denen der Geist beleidigt und zur Verzweiflung getrieben wurde.

Ich weiß, dass einige unter Ihnen beunruhigt auf Frankreich schauen und sich an seine frühere Größe erinnern. Ich weiß, dass Sie sich fragen: «Was tut Frankreich? Was hat es vor?» Ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten. Wenn sie an ihr Land denken, dann empfinden die Franzosen meines Alters eine Angst, die sie niemandem begreiflich machen können. Aber ich kann Ihnen zumindest sagen, worüber wir uns gewiss sind. Wir wissen, dass der Wiederaufbau Frankreichs – und der Wiederaufbau Europas mit ihm – nicht von heute auf morgen vonstattengehen wird. Wir wissen, dass man in der Politik Größe schneller verliert als gewinnt. Doch wir wissen auch, dass es Größe gibt, die überdauert, auch wenn sie mühevoll zu erlangen ist.

Nach solcher Größe streben wir, weil sie nicht auf Hass oder Unterdrückung gegründet ist. Ihre Namen sind Gerechtigkeit und Freiheit. Wir, die wir die Ungerechtigkeit so sehr verabscheut haben, wir, in denen so viele Jahre lang die Hoffnung auf Freiheit gebrannt hat, wir wollen kein Land mehr, in dem Ungerechtigkeit herrscht, und wir wollen nicht mehr in einem unterdrückten Land leben. Es scheint mir, meine rumänischen Freunde, dass Sie und ganz Europa diese Größe ohne Furcht mit uns teilen können.

Die Krise des Menschen

1946

Im Frühjahr 1946 wurde Albert Camus von der Abteilung für kulturelle Beziehungen des französischen Außenministeriums eingeladen, eine Reihe von Vorträgen in den USA zu halten. Während der Überfahrt verfasste er Die Krise des Menschen. Camus hielt den Vortrag erstmals am 28. März 1946 bei einer Veranstaltung in der Columbia University, bei der auch Vercors[1] und Thimerais[2] sprachen. Während seines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten trug er den Text noch mehrfach in einer leicht erweiterten Version vor, deren Typoskript im Nachlass von Dorothy Norman[3] (Beinecke Library, Yale University) entdeckt wurde. Diese Fassung liegt der folgenden deutschen Übersetzung zugrunde. Dorothy Norman veröffentlichte Die Krise des Menschen Ende 1946 in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Twice a Year in einer englischen Übersetzung von Lionel Abel.

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

als man mir vorschlug, in den Vereinigten Staaten von Amerika Vorträge zu halten, kamen mir sogleich Bedenken, und ich zögerte. Ich bin noch nicht im Alter für Vorträge und fühle mich wohler beim Nachdenken, als wenn ich gezwungen bin, apodiktische Aussagen zu treffen. Denn ich wähne mich nicht im Besitz dessen, was man gemeinhin die Wahrheit nennt. Nachdem ich meine Bedenken vorgebracht hatte, antwortete man mir überaus freundlich, es gehe nicht darum, ob ich eine persönliche Meinung hätte. Wichtig sei, dass ich in der Lage wäre, meinen Zuhörern jene wenigen grundlegenden Informationen über Frankreich zu vermitteln, anhand derer sie sich ihrerseits eine Meinung bilden könnten. Also schlug man mir vor, meine Zuhörer über die aktuelle Lage des französischen Theaters, der französischen Literatur und sogar der Philosophie zu unterrichten. Ich antwortete, es wäre vielleicht ebenso interessant, über die außerordentlichen Leistungen der französischen Eisenbahner zu sprechen oder über die Bedingungen, unter denen die Bergleute in Nordfrankreich arbeiten. Daraufhin machte man mich zutreffend darauf aufmerksam, dass man stets bei seinem Leisten bleiben solle und Spezialfragen am besten von Fachleuten behandelt würden. Da ich mich schon seit längerem für Fragen der Literatur interessiere, während ich, was das Stellen von Weichen betraf, keinerlei Kenntnisse vorweisen könne, liege es nahe, dass man mich über Literatur sprechen lassen wolle statt über die Eisenbahn.

Jetzt hatte ich endlich begriffen. Es ging, kurz gesagt, darum, über etwas zu sprechen, worin ich mich auskannte, und auf diese Weise eine Vorstellung von Frankreich zu vermitteln. Und genau darum habe ich mich entschlossen, weder über die Literatur noch über das Theater zu sprechen. Denn in der Literatur, im Theater, in der Philosophie, in der geistigen Suche und den Anstrengungen eines ganzen Volkes spiegelt sich nichts anderes wider als eine grundlegende Ungewissheit, ein Kampf um das Leben und um den Menschen: Und das ist bei uns die alles entscheidende Frage des Augenblicks. Die Franzosen spüren, dass der Mensch unaufhörlich bedroht ist, und sie spüren zudem, dass sie nicht weiterleben können, wenn eine bestimmte Idee vom Menschen nicht aus der Krise gerettet wird, welche die Welt erschüttert. Daher, aus Treue zu meinem Land, habe ich mich entschieden, über die Krise des Menschen zu sprechen. Und da es darum ging, über etwas zu sprechen, womit ich mich auskenne, habe ich es für das Beste gehalten, so präzise wie möglich das geistige Erleben der Menschen meiner Generation nachzuzeichnen. Denn sie haben diese weltumspannende Krise in ihrem ganzen Ausmaß erlebt, und ihre Erfahrungen können sowohl das absurde Geschick der Franzosen als auch einen Aspekt ihres heutigen Weltempfindens ein wenig erhellen.

Lassen Sie mich zunächst den Standort dieser Generation bestimmen. Die Menschen meines Alters in Frankreich und Europa wurden kurz vor oder während des Ersten Weltkriegs geboren, haben als Jugendliche die Weltwirtschaftskrise erlebt und waren bei Hitlers Machtergreifung zwanzig Jahre alt. Um ihren Bildungsweg zu vervollständigen, folgten der Spanische Bürgerkrieg, das Münchner Abkommen, der Krieg von 1939, die Niederlage und vier Jahre Besatzung und Untergrundkampf. Man kann also davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um das handelt, was man eine interessante Generation nennt. Und daher wird es für Sie, meine Damen und Herren, vermutlich informativer sein, wenn ich weniger in meinem eigenen Namen spreche als vielmehr im Namen einer gewissen Anzahl von Franzosen, die heute dreißig Jahre alt sind und die ihre Geistes- und Herzensbildung während jener schrecklichen Jahre erworben haben, in denen sie sich, gemeinsam mit ihrem Land, von der Schmach genährt und ihre Lebenskraft aus der Auflehnung bezogen haben.

Ja, es handelt sich um eine interessante Generation, vor allem, weil sie, angesichts der absurden Welt, in die sie hineingeboren wurde, an nichts glaubte und in einem Zustand der Auflehnung lebte. Die Literatur ihrer Zeit lehnte sich auf gegen die Klarheit, das Erzählen, ja den Satz als solchen. Die Malerei lehnte sich auf gegen das Sujet, die Realität und die schlichte Harmonie. Die Musik verweigerte sich der Melodie. Was die Philosophie anging, so lehrte sie, dass es keine Wahrheit gäbe, sondern nur Phänomene: dass es zwar einen Mister Smith, einen Monsieur Durand und einen Herrn Vogel geben könne, dass diese drei Einzelphänomene jedoch nichts miteinander gemeinsam hätten. Die moralische Haltung dieser Generation war noch entschiedener: Der Nationalismus erschien ihr überholt, die Religion eine Ausflucht. Fünfundzwanzig Jahre internationaler Politik hatten sie gelehrt, an jeder reinen Lehre zu zweifeln, und sie zu der Überzeugung gebracht, dass niemand unrecht hatte, da jeder recht haben konnte. Was die überlieferte Moral unserer Gesellschaft anging, so erschien sie uns als das, was sie stets gewesen war, nämlich eine ungeheure Heuchelei.

Wir verneinten also alles. Natürlich war das nichts Neues. Andere Generationen, andere Länder haben in anderen geschichtlichen Epochen dieselbe Erfahrung gemacht. Neu war jedoch, dass ebendiese Menschen, denen alle Werte fremd waren, eine persönliche Haltung angesichts von Mord und Terror finden mussten. In dieser Situation drängte sich ihnen der Gedanke auf, dass es möglicherweise eine Krise des Menschen gab, denn sie sahen sich gezwungen, im schmerzhaftesten aller Widersprüche zu leben. Sie sind wahrhaftig in den Krieg gegangen, wie man das Tor zur Hölle durchschreitet, wenn es zutrifft, dass die Hölle die Selbstverleugnung ist. Sie hatten weder Geschmack am Krieg noch an der Gewalt, doch sie mussten den Krieg akzeptieren und selbst Gewalt anwenden. Das Einzige, was sie hassten, war der Hass. Und doch mussten sie die schwierige Kunst des Hassens erlernen. In offenkundigem Widerspruch zu sich selbst, ohne auf irgendwelche überlieferten Werte zurückgreifen zu können, mussten sie das quälendste Problem lösen, das sich den Menschen je gestellt hat. Wir haben also auf der einen Seite eine ganz eigentümliche Generation, wie ich sie gerade beschrieben habe, und auf der anderen Seite eine die ganze Welt und das gesamte menschliche Bewusstsein umfassende Krise, die ich nun so klar wie möglich charakterisieren will.

Worin also besteht diese Krise? Statt sie im Allgemeinen zu charakterisieren, möchte ich sie zunächst durch vier kurze Geschichten veranschaulichen, die aus einer Zeit stammen, die die Welt bereits zu vergessen beginnt, die uns jedoch noch immer ein Pfahl im Fleisch ist.

1) In einem von der Gestapo genutzten Gebäude einer europäischen Hauptstadt sitzen nach einer Verhörnacht zwei Beschuldigte noch blutend und gefesselt da, während die Concierge anfängt, sorgfältig Ordnung zu machen – in aller Seelenruhe, da sie zuvor wohl gut gefrühstückt hat. Als ihr einer der beiden Gefolterten Vorhaltungen macht, antwortet sie empört mit einem Satz, der übersetzt etwa lauten würde: «Ich stecke meine Nase nie in die Angelegenheiten meiner Mieter.»

2) In Lyon wird einer meiner Kameraden aus seiner Zelle geholt und zum dritten Mal zum Verhör gebracht. Da man ihm bei einem vorherigen Verhör die Ohren in Fetzen geschlagen hat, trägt er einen Verband um den Kopf. Der deutsche Offizier, der ihn abführt, war schon bei den ersten Verhörsitzungen dabei, und doch erkundigt er sich mit einem Anflug von Anteilnahme und Fürsorge: «Und, wie geht es unseren Ohren heute?»

3) In Griechenland will ein deutscher Offizier nach einer Partisanenaktion drei Brüder erschießen lassen, die er als Geiseln genommen hat. Die alte Mutter wirft sich ihm zu Füßen, und er willigt ein, einen der Brüder zu verschonen, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie selbst ihn auswählt. Weil sie sich nicht entscheiden kann, stellt man alle drei an die Wand. Da wählt sie den Ältesten, weil er eine Familie zu ernähren hat, aber im selben Atemzug verurteilt sie damit die beiden anderen zum Tode – so wie es der deutsche Offizier wollte.

4) Eine Gruppe von Frauen, unter denen sich eine unserer Kameradinnen befand, wird aus der Deportation über die Schweiz nach Frankreich zurückgebracht. Kaum auf Schweizer Territorium angelangt, treffen sie auf eine zivile Beerdigung. Und dieser Anblick allein reicht aus, um sie in hysterisches Gelächter verfallen zu lassen: «So also behandelt man hier die Toten» ist ihr einziger Kommentar.

Ich habe diese Geschichten nicht ausgewählt, um Sie zu schockieren. Ich weiß, man muss auf die Empfindsamkeit der Leute Rücksicht nehmen, und meistens verschließen sie lieber die Augen und wollen ihre Ruhe haben. Ich habe diese Geschichten ausgewählt, weil ich so auf die Frage, ob es eine Krise des Menschen gibt, mit mehr als einem schlichten «Ja» antworten kann. Sie ermöglichen mir, dieselbe Antwort zu geben wie all die Menschen, von denen ich berichtet habe: Ja, es gibt eine Krise des Menschen, weil in unserer Welt der Tod oder die Folterung eines menschlichen Wesens mit Gleichgültigkeit oder freundlichem Interesse oder wie eine Versuchsanordnung oder einfach passiv betrachtet werden können. Ja, es gibt eine Krise des Menschen, weil der Tötung eines menschlichen Wesens mit anderen Empfindungen zugesehen werden kann als mit dem Entsetzen und der Empörung, die sie eigentlich hervorrufen müsste. Weil menschliches Leid hingenommen wird wie eine unangenehme Notwendigkeit, nicht anders als die Lebensmittelkarten oder die Tatsache, dass man für ein paar Gramm Butter anstehen muss.

Und man macht es sich in dieser Hinsicht zu einfach, wenn man allein Hitler die Schuld gibt und sagt, mit seinem Tod sei das Gift unschädlich gemacht worden. Denn wir wissen nur zu gut, dass das Gift noch da ist und dass jeder von uns es in seinem Herzen trägt. Wir spüren es in der Art, wie die Nationen, die Parteien und die einzelnen Menschen einander immer noch mit einem Rest von Zorn ansehen. Ich war immer der Auffassung, dass zu einer Nation ihre Verräter ebenso gehören wie ihre Helden. Doch auch eine Zivilisation, und insbesondere die weiße Zivilisation, ist für ihre Verirrungen ebenso verantwortlich wie für ihre Großtaten. Aus diesem Blickwinkel sind wir alle verantwortlich für den Hitlerismus, und wir sind verpflichtet, die allgemeineren Ursachen zu ergründen, die dieses entsetzliche Übel möglich gemacht haben, das das Antlitz Europas entstellt hat.

Versuchen wir daher, mit Hilfe der vier Geschichten, die ich Ihnen erzählt habe, die eindeutigsten Symptome der Krise zu benennen. Das sind zunächst:

1) Die Eskalation des Schreckens, die durch eine Pervertierung der Werte hervorgerufen wird: wenn ein Mensch oder eine geschichtliche Kraft nicht mehr unter dem Gesichtspunkt seiner oder ihrer Würde beurteilt wird, sondern unter dem Gesichtspunkt seines oder ihres Erfolgs. Die ganze Krise der Moderne zeigt sich darin, dass kein abendländischer Mensch sich seiner unmittelbaren Zukunft sicher ist und alle mit der mehr oder weniger konkreten Angst leben, auf die eine oder andere Art von der Geschichte zermalmt zu werden. Wenn man möchte, dass dieser Elende, dieser moderne Hiob nicht an seinen Geschwüren zugrunde geht, während er in der Asche sitzt, muss man ihm zunächst diese Last aus Furcht und Angst von den Schultern nehmen, damit er die geistige Freiheit wiederfindet, ohne die er keines der Probleme lösen kann, die sich dem modernen Bewusstsein stellen.

2) Die Krise des Menschen beruht zudem auf der Unmöglichkeit, den anderen zu überzeugen. Die Menschen leben und können nur mit dem Gedanken leben, dass sie etwas gemeinsam haben, worin sie sich stets wiederfinden können. Wenn man sich auf menschliche Weise an einen Menschen wendet, dann wird er menschlich reagieren, das setzt man immer voraus. Nun haben wir jedoch festgestellt, dass es Menschen gibt, die man nicht überzeugen kann. Für den Insassen eines Konzentrationslagers gab es keine Hoffnung, die SS-Leute, die ihn prügelten, davon zu überzeugen, dass sie es unterlassen sollten. Die griechische Mutter, von der ich berichtet habe, konnte den deutschen Offizier nicht davon überzeugen, dass es gegen den menschlichen Anstand verstieß, sie in jene Zwangslage zu bringen, wie er es tat. Der Grund ist, dass die SS-Männer oder der deutsche Offizier nicht mehr als Menschen vor ihrem Gegenüber standen, sondern als Vertreter eines Instinkts, der auf die Stufe einer Idee oder einer Theorie gehoben worden war. Eine Leidenschaft, selbst eine mörderische Leidenschaft, wäre dem vorzuziehen gewesen. Denn die Leidenschaft verraucht irgendwann, und eine andere Leidenschaft, ein anderer Schrei des Fleisches oder des Herzens kann sie beschwichtigen. Doch ein Mensch, der fähig ist, sich teilnahmsvoll nach jenen Ohren zu erkundigen, die er zuvor in Fetzen geschlagen hat, ein solcher Mensch wird nicht von seinen Leidenschaften getrieben. Er ist ein Mathematiker, den nichts und niemand aufhalten oder umstimmen kann.

3) Ein weiterer Aspekt der Krise des Menschen besteht darin, dass man den natürlichen Gegenstand durch die Drucksache ersetzt, mit anderen Worten im Aufstieg der Bürokratie. Der heutige Mensch baut zwischen sich und der Natur eine immer abstraktere und kompliziertere Maschinerie auf, die ihn in die Einsamkeit zurückwirft. Wenn es kein Brot mehr gibt, dann tauchen die Bezugsscheine auf. Die Franzosen haben nur Anrecht auf 1200 Kalorien pro Tag, aber sie benötigen dafür mindestens sechs unterschiedliche Papiere und hundert Stempel auf diesen Papieren. Und so ist es überall auf der Welt, wo die Bürokratie sich unaufhaltsam vermehrt. Um von Frankreich nach Amerika zu kommen, habe ich in beiden Ländern eine Menge Papier verbraucht. So viel Papier, dass ich ohne weiteres diesen Vortrag in ausreichend vielen Exemplaren darauf hätte drucken lassen können, um sie hier zu verteilen, ohne mich persönlich herbemühen zu müssen. Mit Hilfe von Papieren, Büros und Beamten erschafft man eine Welt, aus der die menschliche Wärme schwindet, in der kein Mensch mehr mit dem anderen in Berührung kommt, außer durch das Labyrinth dessen, was man die Formalitäten nennt. Der deutsche Offizier, der sich teilnahmsvoll nach den verletzten Ohren meines Kameraden erkundigte, fand nichts dabei, weil es zu seiner Arbeit als Beamter gehört hatte, sie in Fetzen zu schlagen, und das konnte nichts Schlechtes gewesen sein. Kurz gesagt, man stirbt, man liebt und man tötet nur noch stellvertretend. Das, so vermute ich zumindest, nennt man wohl eine gute Organisation.

4) Die Krise des Menschen besteht nicht zuletzt darin, dass man an die Stelle des wirklichen Menschen den politischen Menschen setzt. Es gibt keinen Raum mehr für individuelle Leidenschaften, sondern nur noch für kollektive Leidenschaften, mit anderen Worten: abstrakte Leidenschaften. Wir alle sind Teil der Politik, ob wir wollen oder nicht. Was zählt, ist nicht mehr, das Leid einer Mutter zu respektieren oder zu lindern, was zählt, ist, einer Weltanschauung zum Sieg zu verhelfen. Und der menschliche Schmerz sorgt nicht mehr für Empörung, er ist nur noch eine Zahl in einer Addition, deren entsetzliche Summe sich noch nicht ziehen lässt.

5) Es liegt auf der Hand, dass man all diese Symptome in einem einzigen zusammenfassen kann, dem, was sich zugleich als der Kult der Zweckmäßigkeit und der Abstraktion bezeichnen lässt. Hier liegt der Grund, warum der europäische Mensch heute nichts als die Einsamkeit und das Schweigen kennt. Deshalb, weil er sich nicht mit den anderen Menschen zusammenfinden kann, in Werten, die er mit ihnen teilt. Und da er nicht mehr unter dem Schutz eines Respekts vor dem Menschen steht, der auf menschlichen Werten beruht, hat er von nun an nur noch die Wahl, entweder Opfer oder Henker zu sein.

II

Das ist es, was die Menschen meiner Generation begriffen haben, und das ist die Krise, mit der sie konfrontiert waren und immer noch sind. Und wir mussten diese Krise bewältigen, mit den Werten, über die wir verfügten, das heißt mit nichts als dem Bewusstsein der Absurdität, in der wir lebten. So mussten wir uns dem Krieg und dem Terror stellen, ohne Trost und ohne Gewissheit. Wir wussten nur, dass wir den Ungeheuern, die überall in Europa ihr Haupt erhoben, nicht weichen durften. Doch wir vermochten nicht, diese Pflicht, in der wir standen, zu begründen. Mehr noch, die klarsichtigsten unter uns begriffen, dass es in ihrem Denken bisher kein Prinzip gab, das ihnen eine Grundlage dafür geboten hätte, sich dem Terror entgegenzustellen und dem Mord abzuschwören.

Denn wenn man tatsächlich an nichts glaubt, wenn nichts einen Sinn hat und wir keinen Wert bejahen können, dann ist alles erlaubt, und nichts hat eine Bedeutung. Dann gibt es weder Gut noch Böse, und Hitler hatte weder recht noch unrecht. Dann macht es keinen Unterschied, ob man Millionen Unschuldige in die Öfen der Krematorien schickt oder sich der Pflege von Leprakranken widmet. Man kann mit der einen Hand Ohren in Fetzen schlagen, während man sie mit der anderen verarztet. Man kann inmitten von Gefolterten die Hausarbeit erledigen. Und es spielt keine Rolle, ob man die Toten ehrt oder wie Abfall behandelt. All das kommt aufs Gleiche heraus. Und da wir dachten, nichts habe einen Sinn, drängte sich der Schluss auf, dass derjenige recht hat, der sich durchsetzt. Und tatsächlich werden Ihnen selbst heute noch eine Menge intelligenter und skeptischer Leute versichern, wenn Hitler diesen Krieg gewonnen hätte, dann hätte die Geschichte ihn gefeiert und wäre vor dem abscheulichen Piedestal auf die Knie gefallen, auf dem er sich hätte huldigen lassen. Und zweifellos hätte die Geschichte – zumindest das, was man sich heute unter der Geschichte vorstellt – Hitler angebetet und Terror und Mord gerechtfertigt, so wie wir es alle tun, wenn wir bereit sind, zu denken, dass nichts einen Sinn hat.

Gewiss, einige von uns haben gemeint, sie könnten, in Ermangelung jedes höheren Wertes, darauf vertrauen, dass wenigstens die Geschichte einen Sinn hat. Zumindest haben sie oft so gehandelt, als ob sie darauf vertrauten. Sie sagten, dass dieser Krieg notwendig sei, weil er die Epoche der Nationalstaaten beenden und das Zeitalter der Imperien einläuten würde, auf das – sei es auf gewaltsamem oder auf friedlichem Wege – die Weltgesellschaft und das Paradies auf Erden folgen würden.

Aber damit kamen sie zum selben Ergebnis wie wir, nämlich dass nichts einen Sinn hat. Denn wenn die Geschichte einen Sinn hat, dann hat sie entweder als Ganze einen Sinn oder gar keinen. Diese Leute dachten und handelten so, als ob die Geschichte einer übergeordneten Dialektik gehorche und wir uns alle gemeinsam auf ein endgültiges Ziel zubewegen. Sie dachten und handelten nach dem verabscheuenswürdigen Prinzip Hegels: «Der Mensch ist für die Geschichte gemacht und nicht die Geschichte für den Menschen.» Tatsächlich gehorcht der gesamte politische und moralische Realismus, der heute die Geschicke der Welt lenkt, oft ohne es zu wissen, einer Geschichtsphilosophie nach deutscher Art, der zufolge sich die gesamte Menschheit entlang von der Vernunft vorgezeichneten Wegen auf einen Endzustand der Welt zubewegt. Man hat an die Stelle des Nihilismus den absoluten Rationalismus gesetzt, und das Ergebnis ist dasselbe. Denn wenn es zutrifft, dass die Geschichte einer übergeordneten und schicksalhaften Logik gehorcht, wenn es – ebenjener deutschen Philosophie zufolge – zutrifft, dass auf einen herrschaftslosen Zustand zwangsläufig die Feudalordnung folgt und auf die Nationen die Imperien, um schließlich in die Weltgesellschaft zu münden, dann ist alles gut, was diesem zwangsläufigen Verlauf dient, und die Ergebnisse der Geschichte sind unhintergehbare Wahrheiten. Und da diese Ergebnisse nur durch die üblichen Mittel, also Kriege, Intrigen und individuellen und kollektiven Mord, herbeigeführt werden können, werden alle Handlungen nicht danach gerechtfertigt, ob sie gut oder schlecht, sondern danach, ob sie zweckmäßig sind.

Und daher waren die Menschen meiner Generation in der heutigen Welt seit Jahren der zweifachen Versuchung ausgesetzt, entweder zu meinen, dass nichts wahr ist, oder zu meinen, dass die einzige Wahrheit darin liegt, sich dem schicksalhaften Verlauf der Geschichte zu fügen. Viele sind der einen oder der anderen Versuchung erlegen. Und so blieb die Welt dem Willen zur Macht ausgeliefert, und das heißt schlussendlich: der Herrschaft des Schreckens. Denn wenn nichts richtig oder falsch ist, wenn nichts gut oder schlecht ist und wenn der einzige Maßstab der Erfolg ist, dann geht es letztlich nur darum, wer der Erfolgreichste ist, mit anderen Worten: der Stärkste. Die Welt teilt sich nicht mehr in Gerechte und Ungerechte auf, sondern in Herren und Sklaven. Wer sich den anderen untertan macht, hat recht. Die Concierge hat recht gegenüber den Gefolterten. Der deutsche Offizier, der foltert, und derjenige, der Geiseln erschießt, die SS-Leute, die zu Totengräbern werden – sie stehen in dieser neuen Welt für die Vernunft. Schauen Sie sich um und fragen Sie sich, ob es nicht heute noch genauso ist. Wir sind in den Fängen der Gewalt, und wir ersticken darin. Ob auf der Ebene der Nationen oder im Weltmaßstab: Misstrauen, Verbitterung, Gier und Machtstreben sind dabei, eine düstere und verzweifelte Welt hervorzubringen, wo jeder gezwungen ist, in der Gegenwart zu leben, während allein schon das Wort «Zukunft» für ihn alle Ängste verkörpert. Abstrakten Mächten ausgeliefert, ausgezehrt und abgestumpft durch ein sich immer mehr beschleunigendes Leben, ist er abgeschnitten von den natürlichen Wahrheiten, dem klugen Müßiggang und dem schlichten Glück. Vielleicht ist für Sie, die Sie im noch glücklichen Amerika leben, das, was ich Ihnen geschildert habe, nicht oder nur verschwommen erkennbar? Aber die Menschen, von denen ich Ihnen berichte, sehen es seit Jahren, spüren das Übel in ihrem Fleisch, lesen es in den Gesichtern derjenigen, die sie lieben – und aus der Tiefe ihres kranken Herzens erhebt sich mit einem Mal ein entsetzliches Aufbegehren, das schließlich alles mit sich fortreißt. Zu viele ungeheuerliche Bilder quälen sie noch, als dass sie sich vorstellen könnten, es wäre leicht, doch sie haben das Grauen dieser Jahre zu tief empfunden, um seine Fortsetzung hinzunehmen. Und hier beginnt für sie die eigentliche Aufgabe.

III

Wenn es zutrifft, dass die Charakteristika dieser Krise der Wille zur Macht, die Herrschaft des Schreckens, die Ersetzung des wirklichen Menschen durch den politischen und geschichtlichen Menschen, die Herrschaft der Abstraktionen und der Zwangsläufigkeit und die Einsamkeit ohne Zukunft sind, und wenn wir diese Krise lösen wollen, dann muss eine Veränderung bei diesen Charakteristika ansetzen. Das war die ungeheure Aufgabe, vor der unsere Generation stand, mit allem, was sie verneinte. Aus ebendieser Verneinung musste sie die Kraft zum Kämpfen beziehen. Es war vollkommen zwecklos, uns zu sagen: Ihr müsst an Gott oder an Plato oder an Marx glauben, denn gerade diese Art von Glauben hatten wir verloren. Die einzige Frage war, ob wir uns mit dieser Welt abfinden würden, in der man nur noch die Wahl hatte, Opfer oder Henker zu sein. Und natürlich wollten wir weder das eine noch das andere sein, denn im Grunde unseres Herzens wussten wir, dass diese Unterscheidung trügerisch ist und es letztlich nur Opfer gibt und Mörder und Ermordete am Ende in derselben Niederlage vereint sein würden. Es ging, kurz gesagt, nicht mehr darum, ob wir uns mit diesem Zustand der Welt abfinden wollten oder nicht, sondern darum, herauszufinden, mit welcher Begründung wir uns ihm widersetzen konnten.

So kam es, dass wir unsere Gründe in unserer Auflehnung selbst suchten, die uns ohne erkennbare Gründe dazu gebracht hatte, uns für den Kampf gegen das Böse zu entscheiden. Und so begriffen wir, dass wir uns nicht nur um unserer selbst willen aufgelehnt hatten, sondern um einer Sache willen, die allen Menschen gemeinsam war.

Wie war das möglich?

Was bedeutete unsere Auflehnung in dieser Welt ohne Werte, in dieser Wüste des Herzens, in der wir leben? Sie machte uns zu Menschen, die Nein sagten. Doch zugleich waren wir Menschen, die Ja sagten. Wir sagten Nein zu dieser Welt, zu ihrer grundlegenden Absurdität, zu den Abstraktionen, die uns bedrohten, zu der Zivilisation des Todes, in der wir unseren Platz einnehmen sollten. Indem wir Nein