Der Familiciifluch - Barbara Cartland - E-Book

Der Familiciifluch E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Delphine, die Witwe Lord Bramwells und Tochter Marcus Stanleys kommt nach mehrjähriger Abwesenheit nach Hause zu Queen's Rest, um ihre Schwester Nerissa und Bruder Harry zu bitten, ihr zu helfen, den Duke von Lynchester für sich zu gewinnen und eine der höchst angesehensten Damen der englischen Gesellschaft zu werden. Der Duke ist bekannt als wahrer Sportsmann – aber auch als Frauenheld. Auf Queen's Rest trifft er jedoch Nerissa und Harry and lädt diese mit deren Vater ein, nach Schloss Lyn zu kommen, einem elisabethanischen Bau, den der Architekturexperte schon seit langem besichtigen wollte. Harry ist begeistert, da auch an diesem Wochenende ein Pferdeshow stattfindet und Nerissa, die seine Leidenschaft teilt, trifft den Duke auf einem ihrer Ausritte. Dieser ist mehr und mehr von ihr eingenommen und tritt auch als ihr Beschützer auf, als einer der Gesellschaftsgäste Nerissa bedrängt. Wird sich Nerissa gegen ihre ältere und erfahrene Schwester Delphine durchsetzen können und die Liebe des Dukes gewinnen? Wird es dem Duke gelingen, den Fluch der auf der Familie liegt zu lösen, und wahre und währende Liebe finden?

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1 ~ 1818

»Du kommst spät«, sagte Nerissa, als ihr Bruder ins Haus trat und die Reitpeitsche auf einen Stuhl in der kleinen Halle warf.

»Ich weiß«, gab er zur Antwort. »Verzeih mir, aber heute hab' ich ein Pferd geritten, das den Teufel im Leib hatte. Ich kann jedoch sagen, dass ich zum Schluss ganz gut damit zurechtgekommen bin.«

Nerissa lächelte.

Sie wusste, wie versessen ihr Bruder aufs Reiten war und dass er für ein gutes Pferd auf jedes andere Vergnügen leichten Herzens verzichten konnte.

Oft, wenn sie sich im Haushalt abrackerte, wenn sie Schwierigkeiten mit dem Küchenherd hatte, der zu alt war, um noch ordentlich zu funktionieren, oder wenn die Sorgen um das Wirtschaftsgeld sie quälten, stellte sie sich vor, dass eines der Bücher ihres Vaters Erfolg hätte, dass er berühmt und die Familie plötzlich reich sein würde.

Es war ein so abwegiger Traum, dass sie darüber in lautes Lachen ausbrach und dachte: Mein Gott, wie kannst du nur so naiv und kindisch sein!

Hinter diesem Traum verbarg sich der Wunsch, wenigstens so viel Geld zu besitzen, dass sie es sich leisten konnten, Harry ein oder zwei Reitpferde zu kaufen. Dies und einige Anzüge, die ihn genauso elegant und modisch aussehen ließen wie seine Freunde und Studienkollegen in Oxford.

Niemand konnte besser aussehen als Harry. Selbst in dem verschossenen Reitanzug, den er seit Jahren trug und der bereits an vielen Stellen geflickt war, machte er eine großartige Figur und stahl manchem Dandy die Schau.

Ein Wunder war das allerdings nicht, denn sein Vater, obwohl bereits grauhaarig und mit vielen Falten im Gesicht, war immer noch ein ungewöhnlich gutaussehender Mann.

Und oft genug fragte sich Nerissa, weshalb nach dem Tod der Mutter keine einzige Frau den Versuch gemacht hatte, sich ihren Vater einzufangen.

Doch gleich darauf musste sie darüber lachen, wie sehr die Fantasie wieder einmal mit ihr durchging.

Es war nämlich äußerst zweifelhaft, ob Marcus Stanley, der Bücherwurm, der Mann, der an einer umfangreichen Ausgabe der Geschichte der Architektur Englands arbeitete, überhaupt wahrnahm, dass es Frauen auf der Welt gab. Zu interessieren schien ihn jedenfalls keine einzige.

Marcus Stanley schrieb Bücher. Sein Wissensgebiet war die Architektur, und er galt als außergewöhnlicher Kenner und Experte der Materie.

Harry gab offen zu, dass ihm die Intelligenz fehlte, um das Werk seines Vaters zu verstehen. Und auch Nerissa fand die detaillierten Beschreibungen englischer Bauwerke manchmal ausgesprochen langweilig - und das, obwohl sie ihrem Vater mit kindlicher Liebe zugetan war.

Die englische Architektenvereinigung war von der Arbeit ihres berühmten Mitglieds natürlich begeistert, und je umfangreicher die einzelnen Bände gerieten, um so enthusiastischer war der Beifall.

Nerissa hatte wenig Verständnis für solche Reaktionen. Sie sah nur die bedrückende Tatsache, dass die Einkünfte aus dem Verkauf der Bücher im umgekehrten Verhältnis zu deren Umfang zu stehen schienen.

Das hielt sie natürlich nicht davon ab, so etwas wie Stolz und Bewunderung zu empfinden, wenn sie beim Staubwischen in der Bibliothek die stattliche Reihe von vier dickleibigen Folianten sah, die alle den Namen ihres Vaters trugen.

Harry zog die mit Lehm bedeckten Reitstiefel aus.

»Ich hoffe«, sagte Nerissa, »du hast dich bei Mister Jackson bedankt, dass er dir eines seiner Pferde überlässt, um damit auszureiten.«

»Umgekehrt ist es richtig«, erwiderte Harry. »Er muss sich bei mir bedanken. Und das tut er auch. Heute sagte er mir, nach dem Kauf des Tieres habe er regelrecht Angst gehabt, sich auf dessen Rücken zu schwingen. Stell dir vor, er hat schon auf meine Heimkehr gewartet, denn er weiß, wenn einer das Pferd zureiten kann, dann bin ich es.«

Nerissas Blick wanderte zu den lehmbeschmierten Stiefeln, dann zu Harrys Hose, die auch nicht mehr ganz blütenweiß war. Ihr Bruder wusste sofort, was sie dachte.

»In Ordnung!« verteidigte er sich. »Zweimal hat es mich abgeworfen. Beim zweiten Mal hatte ich einige Mühe, es wieder einzufangen. Aber auf dem Rückweg zum Hof begann es zu kapieren, wer sein Meister ist.«

Nerissa lächelte.

»Dann hast du sicher Hunger«, meinte sie. »Wasch dir die Hände, und komm ins Esszimmer. Ich sage indessen Papa Bescheid, dass das Essen fertig ist. Er braucht ja nicht unbedingt zu wissen, dass dies schon seit einer Stunde der Fall ist.«

Sie ging in die Küche, wo es einladend nach gebratenem Hasen duftete. Eine alte Frau mit gichtgekrümmten Händen versuchte soeben mit ungeschickten Bewegungen, eine heiße Fleischplatte aus dem Backofen zu holen.

»Lassen Sie mich das machen, Mrs. Cosnet«, rief Nerissa hastig. Sie wusste, was die alte Köchin in der letzten Zeit schon alles zerdeppert hatte.

Es gelang ihr, die Platte im letzten Augenblick zu retten. Sie trug den Hasen ins Esszimmer und holte danach die Schüsseln mit den Kartoffeln und dem Gemüse aus dem Ofen und stellte sie auf den Esszimmertisch.

Nach einem prüfenden Blick auf die gedeckte Tafel lief sie in die nicht sehr geräumige Halle hinaus und von dort ins Arbeitszimmer ihres Vaters.

»Das Mittagessen ist angerichtet, Papa«, rief sie. »Bitte, beeil dich ein wenig. Harry ist schon zurück und stirbt fast vor Hunger.«

»Wie, ist es schon Mittag?« fragte ihr Vater geistesabwesend.

Nerissa widerstand der Versuchung, ihm zu erwidern, dass es bereits ein Uhr sei und dass nicht nur Harry Hunger hatte, sondern sie selbst auch.

Zögernd erhob sich Marcus Stanley. Die Trennung von seinem vor ihm liegenden Manuskript fiel ihm offensichtlich schwer. Aber dann gab er sich einen Ruck und folgte seiner Tochter ins Esszimmer.

»Bist du heute Morgen gut vorangekommen, Papa?« fragte Nerissa, während sie ihm ein Stück Hasenbraten auf den Teller legte, wobei sich sie bewusst war, dass er bereits eine ziemlich harte Kruste hatte. »Nach dem Essen musst du unbedingt einen Spaziergang machen, bevor du dich wieder an den Schreibtisch setzt. Du weißt, dass es nicht gut ist, wenn du zu wenig frische Luft bekommst.«

»Ich bin in meinem Kapitel über die elisabethanische Bauperiode gerade an einem hochinteressanten Abschnitt angelangt«, antwortete ihr Vater. »Die Tatsache, dass ich Bezug auf dieses Haus nehmen kann, erleichtert mir die Sache natürlich kolossal. Ich kann zum Beispiel aus eigener Anschauung beschreiben, wie haltbar die Ziegel aus dieser Zeit sind, auch wenn sie im Laufe der Jahre poröser und weicher wurden. Jedenfalls haben sie der Zeit und der Witterung erstaunlich getrotzt. Sie befinden sich zumindest in einem weitaus besseren Zustand als die Steine, die zweihundert Jahre später gebrannt wurden.«

Nerissa antwortete nicht, denn in diesem Moment kam Harry ins Zimmer.

»Tut mir leid, dass ich zu spät komme, Papa«, sagte er. »Aber ich hatte einen prächtigen Ritt auf einem Pferd, das einige Zeit brauchte, um zu kapieren, wer von uns beiden den Ton angibt.«

Marcus Stanleys Blick ruhte nachdenklich auf dem lächelnden Gesicht seines Sohnes, als er sagte:

»Ich erinnere mich noch gut: In deinem Alter war ein noch nicht zugerittenes Pferd eine unwiderstehliche Herausforderung für mich.«

»Ich bin sicher, es würde dir jetzt noch genauso viel Spaß machen«, erwiderte Harry.

Er bediente sich von der Platte, die seine Schwester ihm reichte, und begann mit Heißhunger zu essen.

Nerissa beobachtete ihn. Sie fragte sich besorgt, ob sie es wohl schaffen würde, während der Semesterferien so viel Lebensmittel im Haus zu haben, dass sie Harry immer satt bekam.

Schon wenn er nicht zu Hause war, fiel es ihr schwer, mit dem Wirtschaftsgeld, das ihr Vater ihr gab, so umzugehen, dass sie nicht zu hungern brauchten.

Doch mit Harry, der sie noch arm essen würde, wie sie es auszudrücken pflegte, war es unmöglich, mit dem geringen Betrag auszukommen, der ihr im Monat zur Verfügung stand.

Sie würden Schulden machen müssen, wenn sie nicht wollte, dass ihr Bruder Abend für Abend mit halbleerem Magen ins Bett ging.

Hasen waren ihr Hauptnahrungsmittel, wenigstens in der längsten Zeit des Jahres.

Nerissa dachte daran, dass die Farmer bald mit dem Schießen der Tauben beginnen würden, die über die junge Saat herfielen. Und Harry hatte ihr oft gesagt, dass gebratene Tauben, so wie sie sie zubereitete, ein wahrer Leckerbissen seien.

Ein wenig wehmütig erinnerte sie sich daran, dass im Augenblick die Zeit der jungen Lämmer war. Doch es war eine Ewigkeit her, seit sie gebratenes Lamm auf ihrem Speisezettel hatten.

Was sie sich allenfalls leisten konnten, war ein altes Schaf im vorgerückten Jahr, wenn die Preise fielen, weil das Fleisch dann bereits sehr zäh war, mochte man sich bei der Zubereitung auch noch so viel Mühe geben.

Ein Glück, dachte sie, während sie ein Stück Hasenfleisch auf die Gabel nahm, dass Mutter eine so außergewöhnlich gute Köchin war. Vor ihrem Tod hatte sie Nerissa beigebracht, wie die Gerichte zubereitet wurden, die ihr Vater und Harry bevorzugten.

Kartoffeln waren natürlich unersetzbar. Gekocht, geröstet oder in Fett im Backofen gebraten, mussten sie immer dann als Lückenbüßer herhalten, wenn die Fleischportion aus Kostengründen sehr klein ausfiel.

»Ist noch was da?« unterbrach Harry ihre Gedanken.

»Ja, natürlich«, erwiderte sie.

Sie gab ihm alles, was auf der Platte lag, bis auf einen Rest, den sie ihrem Vater zuteilte.

Wie immer hielt er sich in den Tagen Elisabeths auf. Er aß automatisch und, wie es ihr vorkam, ohne wirklich zu wissen, womit er sich eigentlich den Magen füllte.

Auf dem Tisch lag ein frischer Laib Bauernbrot, und Harry schnitt sich eine dicke Scheibe ab, um damit die Soßenschüssel zu säubern.

»Lecker!« sagte er schmatzend und leckte sich die Lippen. »Niemand macht den Hasen so gut wie du, Nerissa. Das, was man uns in Oxford als Hasen vorsetzt, ist einfach ungenießbar.«

Nerissa lächelte über das Lob, stellte die Teller und Schüsseln zusammen und trug sie in die Küche.

Vorausschauenderweise hatte sie noch einen Nachtisch vorgesehen, einen Rührkuchen, der wundervoll aufgegangen war und eine goldbraune Kruste hatte. Sie brauchte nur noch die selbstgemachte Erdbeermarmelade darüber zugießen, die sie im Jahr zuvor eingekocht hatte.

Harry stürzte sich mit Begeisterung auf den Topfkuchen, und nachdem es zum Abschluss noch ein Stück Käse gegeben hatte, schien er einigermaßen satt zu sein.

Es war der letzte Käse gewesen, den Nerissa in der Vorratskammer hatte, und sie nahm sich vor, am Nachmittag ins Dorf zu gehen und einzukaufen.

Nach dem Topfkuchen hatte ihr Vater sich erhoben und gesagt:

»Entschuldigst du mich, Nerissa? Ich muss wieder an die Arbeit gehen.«

»Nein, Papa«, erwiderte Nerissa fest. »Du weißt, du brauchst unbedingt etwas Bewegung. Ich schlage vor, du spazierst bis zum Ende des Obstgartens und siehst nach, ob die Obstbäume angewachsen sind, die wir im vergangenen Herbst gesetzt haben. Du weißt, wir mussten etwas tun, nachdem einige unserer besten Bäume bei den Märzstürmen zu Schaden gekommen sind.«

»Ja, natürlich.«

Dann, als wollte er eine unangenehme Aufgabe möglichst schnell hinter sich bringen, rannte er in die Halle hinaus. Er setzte sich den alten Filzhut auf und trat durch die Hintertür in den sonnenbeschienenen Garten.

Harry lachte.

»Du tyrannisierst ihn. Das weißt du!«

»Aber er braucht dringend frische Luft. Es ist nicht gut für ihn, Tag und Nacht in diesem stickigen Studierzimmer zu hocken.«

»Für seine Gesundheit mag es vielleicht nicht gut sein, aber ihn macht es glücklich.«

Es entstand eine Pause, bevor Nerissa meinte:

»Da bin ich nicht so sicher. Oft habe ich das Gefühl, dass Mama ihm mehr fehlt, als er es vor sich selbst zugeben will. Ich denke, dass er sich nur deshalb so wild in seine Arbeit stürzt, weil er nur so den Schmerz über ihren Tod betäuben kann.«

Ihre Stimme klang sanft und leise. Harry blickte seine Schwester forschend an.

»Dir fehlt Mama auch?«

»Schrecklich«, antwortete Nerissa. »Alles ist so anders ohne sie. Wenn du nicht da bist und Papa manchmal so tut, als wäre ich überhaupt nicht auf der Welt, glaube ich, das Leben nicht mehr ertragen zu können.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Harry mitfühlend. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie dir zumute ist. Und wenn ich denke, dass ich mich in Oxford amüsiere, während du hier die Arbeit einer Dienstmagd verrichtest, komme ich mir richtig schäbig vor.«

»Es macht mir nichts aus, die Arbeit einer Dienstmagd zu verrichten, wie du es nennst«, sagte Nerissa. »Es ist nur die Einsamkeit, unter der ich leide. Oft sehe ich tagelang keine Menschenseele - außer, wenn ich ins Dorf gehe. Die Leute sind auch alle sehr nett zu mir, aber es ist nicht mehr so wie in der Zeit, als Mama noch lebte, die mich zu ihren Freundinnen mitnahm oder hier von ihnen besucht wurde.«

»Nein, natürlich nicht«, gab Harry zu. »Was ist eigentlich mit ihnen? Mit Mamas Freundinnen, meine ich.«

»Nach Mamas Tod waren sie auf ihre Art sehr nett zu mir, aber es waren ihre Freundinnen, nicht meine. Sie kamen her, um sich mit ihr zu unterhalten, nicht mit einem siebzehnjährigen Mädchen, das ich damals war. Trotzdem haben sie mich des Öfteren zu irgendwelchen Gesellschaften eingeladen, doch ich hatte nie Gelegenheit, dorthin zu kommen. Und, was noch schlimmer ist, ich hatte nichts anzuziehen für solche Einladungen.«

Harry schwieg einen Moment. Dann sagte er:

»Ich bin nur noch ein Jahr in Oxford. Danach werde ich wohl in der Lage sein, mein erstes Geld zu verdienen. Ich hoffe, es geht uns dann ein wenig besser. Das Studium mittendrin und ohne Examen aufzugeben, halte ich für wenig sinnvoll. So lange musst du noch durchhalten, Nerissa!«

Nerissa stieß einen entsetzten Laut aus.

»Nein, um Gottes willen nicht!« sagte sie dann mit erhobener Stimme. »Es ist ganz wichtig, dass du dein Studium zu Ende führst! Ein Abschluss ist sehr wichtig. Es wäre alles umsonst, wenn du abbrichst.«

»Ja«, sagte Harry. »Außerdem habe ich in diesem Semester hart gearbeitet. Mein Tutor ist sehr zufrieden mit mir.«

Nerissa ging um den Tisch herum. Sie legte die Arme um den Hals des Bruders und küsste ihn auf die Wange.

»Ich bin sehr, sehr stolz auf dich«, sagte sie. »Du musst dir nichts draus machen, wenn ich einmal brummig bin. Ich bin so froh, dich hier zu haben - und ich möchte auch Papa nicht missen. Falls er überhaupt wahrnimmt, dass ich da bin. Es ist sehr undankbar von mir, zu quengeln wie die alte Mrs. Withers.«

Die letzten Worte waren eine Anspielung auf ein Dorforiginal, und Harry lachte laut. Dann legte er die Arme um die Hüfte der Schwester und sagte:

»Ich werde mir etwas ganz Besonderes für dich einfallen lassen - ein Party. Sorge jedenfalls schon mal für ein neues Kleid, das du dir nähst.«

»Ein neues Kleid!« rief Nerissa entsetzt. »Was denkst du wohl, wo ich das Geld dafür hernehmen soll?«

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!« erwiderte Harry leichthin. »Nanny hat das immer gesagt, wenn wir uns bei ihr herausreden wollten. Vielleicht legen wir einfach einen Fastentag ein. Das Geld, das wir auf diese Weise einsparen, wird sicher reichen, um dich einzukleiden wie die Königin von Saba.«

»Das ist allerdings eine Idee!« Nerissa lachte hellauf. »Ich sehe das Kleid schon plastisch vor mir, in dessen Besitz mich dieses grauenhafte Opfer bringen wird.«

»Ich werde dir verraten, welcher Einfall mir gerade gekommen ist«, begann Harry, verstummte aber dann.

Von der Haustür her ertönte nämlich ein lautes, unerwartetes Klopfen.

Bruder und Schwester blickten einander an.

»Wer kann das sein?« fragte Harry. »Doch wer es auch ist, er scheint sehr ungeduldig zu sein. Erwartest du die Duns oder Bailift, die dir eine unbezahlte Rechnung präsentieren wollen?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Nerissa.

Sie nahm die Schürze ab, die sie zum Abtragen des Geschirrs umgebunden hatte, und ging durch die Halle zur Haustür.

Harry rührte sich nicht von der Stelle, doch er nutzte die Gelegenheit, um sich das große Stück Topfkuchen, das vom Nachtisch übriggeblieben war, in den Mund zu schieben.

Er hörte, wie seine Schwester einen Laut der Überraschung ausstieß.

Während er sich auf die Tür des Speisezimmers zubewegte, sagte Nerissa gerade:

»Das kann doch nicht wahr sein! Delphine - du?«

»Ich dachte mir, du würdest überrascht sein bei meinem Anblick«, antwortete eine kultivierte Stimme.

Harry eilte in die Halle und starrte fassungslos auf die Frauengestalt, die soeben das Haus betreten hatte.

Sie war nach der neuesten Mode gekleidet. Ihr hochkroniger Hut war mit einer Pfauenfeder geschmückt. Seine Farbe war genau auf die des Kleides abgestimmt, über dem sie einen pelzbesetzten Umhang trug.

Die Lady machte ein paar Schritte in die Halle, blickte sich naserümpfend um und sagte:

»Ich hatte ganz vergessen, wie klein hier alles ist.«

»Wir dachten, du hättest uns vergessen«, sagte Harry unverblümt. »Wie geht's dir denn, Delphine? Oder ist die Frage überflüssig?«

Die Erscheinung verharrte und starrte Harry an. Die Augen zusammengekniffen, musterte sie ihn.

»Du bist groß geworden, Harry!« sagte sie.

»Wundert dich das?« erwiderte Harry. »Schließlich hast du mich sechs Jahre nicht gesehen!«

Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr:

»Was dein Aussehen betrifft, so muss ich sagen, es lässt nichts zu wünschen übrig!«

»Danke«, entgegnete Delphine mit einer Spur von Sarkasmus in der Stimme. Dann wechselte sie abrupt den Ton und setzte fast ein wenig brüsk hinzu:

»Ich habe mit euch zu reden, und ich hoffe, es gibt einen Platz, wo wir uns hinsetzen können.«

»Komm ins Wohnzimmer«, sagte Nerissa. »Es hat sich nichts darin verändert, und ich bin sicher, du wirst dich noch daran erinnern.«

Sie öffnete eine Tür und betrat einen Raum mit niedriger Decke, den ihre Mutter nur zu besonderen Gelegenheiten benutzt hatte.

Dort befanden sich die besten Möbel und alle Kunstgegenstände von einigem Wert. Darunter auch die Gemälde der Stanley-Ahnen, die würdevoll von der dunklen Holztäfelung auf den Betrachter niederblickten.

Delphine trat ein, während die seidenen Petticoats unter ihrem Kleid leicht über den Boden schleiften und ein distinguiertes Rascheln erzeugten.

Sie legte den Umhang mit dem kostbaren Hermelinbesatz ab und reichte ihn Nerissa, bevor sie sich in den Lehnsessel vor dem Kamin sinken ließ. Ohne die Schwester anzusehen, schaute sie sich im Zimmer um.

»Alles noch so wie früher«, sagte sie. »Und natürlich wirkt es am besten im Kerzenschein am Abend.«

»Wir sitzen seit Mutters Tod nur noch selten hier«, erklärte Nerissa. »Stattdessen benutzen wir Papas Studierzimmer oder, wenn Harry zu Hause ist, das Morgenzimmer.«

Während sie sprach, hatte sie den Eindruck, dass die Schwester ihr nicht zuhörte. Sie fragte sich, aus welchem Grund Delphine wohl hergekommen und plötzlich ohne jede Voranmeldung bei ihnen aufgetaucht war.

Delphine war vier Jahre älter als Harry und fünf Jahre älter als Nerissa. Mit achtzehn hatte sie Lord Bramwell geheiratet. Er hatte sie auf einer Gartenparty des Lord Lieutenants der Grafschaft kennengelernt und sich sofort in sie verliebt.

Er war sehr viel älter als sie, und Delphines Mutter hatte große Bedenken gehabt, ob ihre Tochter das Richtige tat, als sie seinen Antrag annahm.

»Du solltest dir das sehr genau überlegen, Liebes«, hatte sie gesagt. »Schließlich kennst du nur sehr wenige Männer, und Lord Bramwell ist so viele Jahre älter als du.«

»Er ist reich und einflussreich, Mama, und ich möchte ihn heiraten«, hatte Delphine starrsinnig erwidert.

Sie hatte alle Bitten der Mutter, den Entschluss noch einmal zu überdenken oder die Verlobungszeit wenigstens möglichst lange hinauszuschieben, in den Wind geschlagen.

Da der große Altersunterschied der einzige Grund für Mr. und Mrs. Stanley gewesen war, ihrer Tochter von einer Heirat mit Lord Bramwell abzuraten, hatte Delphine ihren Willen durchgesetzt und sich in geradezu überstürzter Hast trauen lassen.

Und als sie in einer eleganten Kutsche, die von vier edlen Pferden gezogen wurde, davongefahren war, war sie auch aus dem Leben ihrer Eltern und Geschwister entschwunden - wie es schien, für immer.

Zurückblickend konnte Nerissa das Geschehene immer noch nicht fassen.

In dem einen Moment war Delphine noch ein Mitglied der Familie gewesen, allem Anschein nach glücklich darüber, zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern in dem alten elisabethanischen Haus mit dem Namen Queen‘s Rest zu leben. Eine Minute später war sie einfach nicht mehr dagewesen, und es war ihnen allen so vorgekommen, als hätte es sie nie gegeben.

Als Mrs. Stanley vier Jahre nach Delphines Hochzeit gestorben war, hatte ihre Tochter sich in Paris aufgehalten. Sie hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, zur Beisetzung der Mutter nach Hause zu kommen. Sie hatte ihrem Vater lediglich einen kurzen, ziemlich kühlen Beileidsbrief geschrieben und danach nie wieder etwas von sich hören lassen.

Für Nerissa, die ihre Schwester liebte, einfach weil sie ein Familienmitglied war, hatte ein solches Verhalten etwas Unfassbares, ja Unverschämtes gehabt. Selbst die Entschuldigung, dass Lord Bramwells Landsitz am anderen Ende der Insel liege, tröstete Nerissa nicht. Für sie war es so, dass sie nicht nur die Mutter, sondern auch die Schwester verloren hatte.

»Ich habe ihr zum Geburtstag geschrieben«, sagte sie einmal zu Harry. »Aber sie hat mir nie darauf geantwortet.«

»Delphine braucht uns nicht mehr«, entgegnete Harry. »Sie gehört nun zur feinen Gesellschaft Londons und gilt als eine der Schönheiten von St. James.«

»Woher weißt du das?« fragte Nerissa.

»Meine Studienkollegen in Oxford reden über sie, und ihr Name steht fast täglich in den Gesellschaftsspalten. Vergangene Woche hieß es, sie sei die schönste Frau im Devonshire House gewesen. Und dort soll es auf einem Quadratmeter mehr weibliche Schönheiten geben als sonst in einer ganzen Grafschaft.«

Harry lachte, und Nerissa wusste, dass es ihn amüsierte.

Für sie jedoch war es nicht nur unfassbar, dass Delphine sich nicht mehr um ihre Familie kümmerte, sie fühlte sich durch die Gleichgültigkeit der Schwester auch tief verletzt.

Während sie die Schwester nun betrachtete, konnte sie verstehen, dass man sie für die schönste Frau in London hielt.

Delphine sah sehr reizvoll aus. Ihr Haar schimmerte golden wie reifes Korn. Ihre Augen erstrahlten in einem lebendigen Blau, und die Beschaffenheit ihrer Haut war makellos.

Sie war der gleiche Typ wie Georgina, die Duchess von Devonshire, und wie die anderen Ladys, von denen Harry ihr erzählt hatte, die von den jungen Männern im Gefolge des Prinzregenten umschwärmt wurden.

Delphine war schlanker, als Nerissa sie in Erinnerung hatte, und sie hatte sich eine gezierte Art, die Hände zu bewegen, angeeignet. Ihr Gang hatte etwas Hoheitsvolles, und der hohe Hals und der freimütige Halsausschnitt verliehen ihrer Erscheinung Eleganz und Sinnlichkeit.

Nun, nachdem auch Harry sich gesetzt hatte, entstand eine kleine Pause, ehe Delphine sagte:

»Ich nehme an, ihr seid überrascht, mich zu sehen. Doch ich bin hergekommen, weil ich eure Hilfe brauche.«

»Unsere Hilfe?« stieß Harry hervor. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie diese Hilfe aussehen könnte. Von den Pferden deines Mannes habe ich wahre Wunderdinge gehört, und ich weiß, dass er vor zwei Jahren das Zweitausend-Guineen-Rennen gewonnen hat.«

Eine Pause entstand.

Dann sagte Delphine:

»Mein Mann ist tot!«

»Tot?«

Nerissa richtete sich kerzengerade auf. Fassungslosigkeit lag auf ihren Zügen.

»Soll das etwa heißen, dass du Witwe bist, Delphine?« fragte sie. »Aber warum haben wir das nie erfahren?«

»Ich vermute, eine Zeitung könnt ihr euch nicht leisten, wie?« fragte Delphine höhnisch. »Er starb vor zwölf Monaten. Das Trauerjahr ist zu Ende, wie ihr seht.«

»Tut mir leid«, sagte Nerissa weich. »Fehlt er dir sehr?«

»Keineswegs«, erwiderte Delphine kalt. »Und das ist auch der Grund, weshalb ich eure Hilfe brauche.«

»Er kann dich doch nicht mittellos zurückgelassen haben, Delphine. Oh, wie können wir dir nur helfen?«

»Nein, er hat mich natürlich nicht mittellos zurückgelassen«, rief Delphine unwillig. »Wenn ich Geld brauchte, wäre ich bestimmt nicht zu euch gekommen. Mit Geld bin ich bestens versorgt. Es geht um etwas ganz anderes.«

»Und was könnte das sein?« fragte Harry. »Übrigens hast du Papa und Nerissa tief gekränkt, dass du nie etwas von dir hören ließest.«

Delphine machte eine huldvolle Handbewegung.

»Etwas von mir hören zu lassen war gar nicht so einfach für mich«, erwiderte sie. »Mein Mann war an meiner Familie nicht interessiert. Weshalb sollte er auch?«

»Und deshalb warst du froh, uns los zu sein?« fragte Harry unverblümt.

»Ganz so war es nicht«, antwortete Delphine. »Ich hatte ein neues Leben begonnen und wollte das frühere Elend einfach vergessen.«

»Das frühere Elend?« fragte Nerissa erstaunt.

»Ja, das Knausern und Sparen all die Jahre«, erwiderte Delphine. »Nie gab es mal ein ordentliches Kleid, nie satt zu essen. Ich hatte genug von den Entbehrungen und dem ständigen Hungern.«

Nerissa hielt den Atem an. Noch bevor sie etwas auf die Worte der Schwester erwidern konnte, fuhr diese bereits fort:

»Aber wir sind immer noch Geschwister, und ich kann nicht glauben, dass ihr mir meinen Wunsch abschlagen werdet.«

»Verrate uns zuerst einmal, wie dieser Wunsch aussieht!« verlangte Harry.

Die Art, wie er sprach, ließ Nerissa vermuten, dass er trotz Delphines Beteuerung immer noch der Meinung war, sie wollte Geld von ihnen. Vielleicht fürchtete er, er müsste die Universität verlassen, denn eine andere Möglichkeit der Geldbeschaffung sah er wohl nicht.

Unwillkürlich, ohne sich dessen bewusst zu sein, streckte Nerissa eine Hand nach ihrem Bruder aus, als Delphine sagte:

»Es mag euch überraschen, aber ich werde den Duke von Lynchester heiraten.«

Nun war es an Harry, sich von seinem Stuhl hochzufahren.

»Lynchester?« rief er aus. »Unmöglich!«

»Das ist ja wenig schmeichelhaft für mich«, entgegnete Delphine. »Und ich habe mir eingebildet, ihr würdet stolz darauf sein, wenn ich die Gemahlin des Ersten Duke von Großbritannien und des wichtigsten Edelmannes im Königreich werden würde!«

»Wenn du die Wahrheit wissen willst«, sagte Harry. »Es wäre ein Wunder. Ein wahrhaftes Wunder! Wann soll denn die Hochzeit sein?«

Es folgte eine merkliche Pause, bevor Delphine erwiderte:

»Um ehrlich zu sein, er hat noch nicht um mich angehalten. Aber ich weiß, dass er es tun wird!«

»Dann darf ich dir einen Rat geben«, sagte Harry. »Zähle deine Hühner nicht, ehe du sie geschlachtet hast. Ich hab' über Lynchester eine Menge gehört - wer hat das nicht? Obwohl seine Pferde jedes Rennen gewinnen, ist es noch keiner Frau gelungen, ihm den Weg zum Traualtar zu zeigen.«

»Aber genau das werde ich tun!« schwor Delphine mit scharfer Stimme.

Da sie spürte, dass Harry starke Zweifel am Gelingen ihres Plans hatte, schaute sie ihn herausfordernd an. Die Augen der beiden verhakten sich sekundenlang trotzig ineinander.

Dann sagte Nerissa:

»Wenn der Duke dich glücklich macht, werden wir diesem Glück nicht im Weg stehen und dir alles Gute wünschen. Und was Papa betrifft, bin ich sicher, dass er sehr stolz sein wird, wenn du ihm deine Verlobung mitteilst.«

»Vor allem wird er sehr interessiert sein«, mischte sich Harry ein. »Lynchester besitzt das schönste elisabethanische Haus in England - und das ist genau die Periode, an der Papa im Augenblick arbeitet.«

»Wenn dem tatsächlich so ist, könnte das eine große Hilfe für mich sein«, sagte Delphine aufgeregt.

»Hilfe?« fragte Nerissa. »Wozu?«

Ihre Schwester schwieg.

Nach einer Weile sagte sie:

»Nun versucht zu verstehen, was ich euch jetzt sage. Der Duke von Lynchester weicht schon seit zwei Monaten nicht mehr von meiner Seite. Ich bin fast sicher, dass es nur noch eine Frage von Tagen ist, bis er um meine Hand anhält.«

Sie ließ einen Laut hören, der wie ein Triumphschrei klang. Dann fuhr sie fort:

»Stellt euch vor, was das heißt. Nach der Königsfamilie werde ich die wichtigste Person im Land sein. Ich werde die Herrin Dutzender von Häusern sein, unter denen das herrlichste und prächtigste Lyn in Kent ist! Ich werde Schmuck tragen, der jede Frau vor Neid erblassen lässt. Und ich werde in die Geschichte eingehen als die schönste aller Herzoginnen von Lynchester!«

Ihre Stimme war immer laut, immer triumphierender geworden. Nachdem sie geendet hatte, blickte sie sich beifallsheischend im Zimmer um.

Nach einer Pause sagte Nerissa ruhig:

»Liebst du ihn sehr?«

»Ihn lieben?« fragte Delphine und schwieg.

Wieder folgte ein kurzes Schweigen, dann sagte sie:

»Er ist ein äußerst schwieriger Mann. Man weiß nie so recht, was er denkt. Außerdem verhält er sich sehr abweisend und zynisch Frauen gegenüber, die sich ihm zu Füßen werfen und glücklich sind, wenn er nur Notiz von ihnen nimmt.«

Sie lachte hektisch und fügte hinzu:

»Von mir hat er Notiz genommen. Er hat mich auserwählt aus der Masse der anderen und mich zum Gesprächsthema von London gemacht. Ja, er ist verrückt nach mir. Im Augenblick sind wir Gäste auf einer Hausparty, die der Marquis von Swire veranstaltet.«

Harry hob die Brauen.

»Dann weilst du also auf Schloss Swire?« rief er. »Das sind ja nur fünf Meilen von hier.«

»Genau«, antwortete Delphine. »Deshalb konnte ich ja herkommen. Ich benutze die Gelegenheit, während sich die Gentlemen auf einem Ausritt befinden.«

»Ich wette, sie haben einige wundervolle Tiere dabei«, murmelte Harry versonnen vor sich hin.