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Fünf authentische Kriminalfälle aus Berlin, realistisch, erschütternd und detailliert erzählt vom langjährigen Berliner Kriminalisten Bernd Udo Schwenzfeier – untermauert durch Originalpassagen aus Gutachten und Polizeiberichten. Vor knapp 20 Jahren erschütterte ein brutales Verbrechen Deutschland und die Welt. Zwei norwegische Schülerinnen wurden mißbraucht und anschließend getötet. Der "Pizza-Mord" blieb jahrelang unaufgeklärt – bis eines Tages dank Kommissar Zufall der sadistische Mörder gefaßt werden konnte. Ein Mann erwürgt seine Freundin beim Sex. Gesteht die Tat am Tag danach der Polizei. Ein Unfall? Augenscheinlich ein eindeutiger Fall. Dieser entpuppt sich aber als Gespinst von Lügen, Gewalt und Sex, an dessen Ende eine junge Frau ihr Leben lassen mußte. Der Leser bekommt Einblicke in Polizeiakten, die Denke der Täter, den Leidensweg der Opfer. Die Härte der Realität liegt manchmal an der Grenze menschlicher Belastbarkeit.
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Seitenzahl: 325
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Bernd Udo Schwenzfeier
DERFEINDINMEINEMHAUS
Authentische Kriminalfälle
Meinem lieben FreundPolizeioberkommissar Heinz Georg Müller gewidmet.
Vorwort
Der Pizzamörder
Eine Frage der türkischen Ehre
Der Wolf im Schafspelz
Blut ist nicht immer dicker als Wasser
Der Feind in meinem Haus
Anhang
Erläuterung polizeiinterner Begriffe
Impressum
E-Books von Bernd Udo Schwenzfeier
True Crime
Krimi
Zur vorsätzlichen Tötung eines Menschen hat der neutrale Beobachter schon immer ein ambivalentes Verhältnis gezeigt, sei es, dass er aus einer gewissen Distanz heraus, an Einzelheiten des Tatgeschehens interessiert ist, sich aber andererseits von der Grausamkeit des gewaltsamen Todes abgestoßen fühlt. Diesen Umstand haben sich unzählige Kriminalautoren und Filmregisseure zunutze gemacht und ihre Fantasien in diesem Genre in mehr oder weniger blutrünstigen Romanen niedergeschrieben oder in Filmen umgesetzt, wobei der psychisch kranke Serienmörder mittlerweile schon zum Standard zählt. In diesem Zusammenhang stellen der Roman »Engel des Todes« von Howard Wilson und der Film »Das Schweigen der Lämmer« schon gewisse Höhepunkte dar. Howard Wilson schildert beinahe unerträglich in allen Einzelheiten, über mehrere Seiten hinweg, die Tötung einer Prostituierten und auch der Film zeigt in beklemmender Weise die Aufklärung einer Mordserie, in der die Opfer bestialisch umgebracht wurden und in dem die Zuschauer mit der Realität sehr nahekommenden Bildern konfrontiert werden. Aber nicht weniger grausam als die fiktiven Romane und Filme ist immer noch die reale Welt, in der wir alle leben und in der wir es permanent mit schrecklichen Verbrechen zu tun haben.
Die in diesem Buch beschriebenen sorgfältig recherchierten Fälle sind im Gegensatz dazu keine Fantasiegeschichten, sondern tatsächlich geschehen und haben sich in Berlin zwischen 1982 und 1999 zugetragen und in der Stadt seinerzeit für erhebliches Aufsehen gesorgt. Unter den fünf Fällen werden vier Tötungsdelikte dargestellt, bei denen verschiedene Mordmerkmale, wie z. B. Habgier, Verdeckung einer anderen Straftat oder Befriedigung des Geschlechtstriebes eine Rolle spielen. Die Darstellung der Taten orientiert sich eng an den wesentlichen Fakten und Abläufen der Ereignisse. Um die Authentizität der Beschreibung zu erhöhen, wurden einzelne Passagen der Vernehmungen, medizinischer Gutachten und Gerichtsurteile zum Teil wörtlich übernommen und andere, literarisch gestaltet, eingefügt. Die Namen aller beteiligten Personen wurden verändert. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Namen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Die Untersuchung der Täterpersönlichkeiten in vier der fünf Fälle zeigte eindeutig schwere Defizite innerhalb der einzelnen Familien in Bezug auf eine normgerechte Erziehung, Wertevermittlung oder soziales Umfeld auf. Auch das Fehlen ausreichender sozialer Kontrolle kann als mit entscheidender Faktor späteren kriminellen Handelns angesehen werden. Dieser Mangel wird besonders deutlich in dem Fall von Karl Lehmann, der in einer Familie aufwuchs, in der elterlicher Alkoholgenuss, Gewalt und Asozialität den Tagesablauf bestimmten. Zuneigung und Wärme waren für ihn Fremdwörter geworden und er hatte in seiner Jugend nie gelernt Konflikte ohne Gewalt auszutragen.
Mein Dank gilt meinen Kollegen, Kriminaloberrat Andre Rauhut und Kriminalhauptkommissar Lutz Wieczorek, beide vom LKA 411 .(Mordinspektion), die mir bei meinen Recherchen behilflich waren bzw. die es mir ermöglicht haben, Einblick in entsprechende Unterlagen nehmen zu können.
Auch die Kriminalhauptkommissarin Tülin Kraemer, vom LKA 2324, hat mir aufgrund ihrer türkischen Herkunft wertvolle Tipps und Anregungen gegeben, um besser verstehen zu können, welch hohen Stellenwert die Ehre im Leben eines Türken einnimmt, wie es im Fall der getöteten Leila Ergün mehr als deutlich wird.
Bernd Udo Schwenzfeier
Am 10. März 1982 reiste eine aus 34 Schülerinnen und Schülern im Alter von 17 bis 19 Jahren bestehende Reisegruppe mit drei Lehrern aus Oernes in Norwegen zu einem Studienaufenthalt nach Berlin. Darunter befanden sich die 18-jährige Maerte Christiansen und die 19-jährige bolivianische Austauschschülerin Mercedes Puantaro. Die Gruppe wohnte während der Kurzreise geschlossen in einer Schöneberger Hotel-Pension in der Hauptstraße. Für den 15. März, in den Nachmittagsstunden, war die Rückreise geplant.
Während ihres Aufenthaltes in der geteilten Stadt war neben Gemeinschaftsveranstaltungen auch genügend Zeit zur freien Verfügung. So hatten die jungen Norweger die Möglichkeit, die größte deutsche Stadt auf eigene Faust kennen zu lernen. Die wenigen Abende nutzte man aus, um das Nachtleben zu genießen und in den Diskotheken in der City nach dem neuesten Sound abzutanzen und um lose Kontakte zu gleichaltrigen Deutschen knüpfen zu können. Am 14. März beschlossen einige von ihnen, den in der Kantstraße gelegenen stadtbekannten Jazzkeller »Quasimodo« aufzusuchen. Darunter befanden sich auch die beiden Freundinnen Maerte und Mercedes. Mit der U-Bahn fuhren die beiden und drei weitere Schüler zum Bahnhof Zoo und gingen die wenigen Schritte zu Fuß bis zum Jazzkeller, wo sie gegen 22.00 Uhr eintrafen und in dem sich bereits zwei Lehrer aufhielten. Maerte und Mercedes hatten ihre Kassettenrekorder mitgebracht, um die Musik der Band aufzunehmen und hielten sich deshalb die meiste Zeit in deren Nähe auf.
Kurz nach Mitternacht kamen sie zu ihren Klassenkameraden an die Tische zurück und sagten ihnen, dass sie Hunger hätten und deshalb eine oben im Haus befindliche Pizzeria aufsuchen wollten. Sie nahmen sich ihre Handtaschen und verließen den Jazzkeller. Von diesem Gang kamen sie nicht mehr zurück. Die Gruppe wartete noch eine geraume Zeit und fuhr dann zu ihrem Hotel zurück. Die von den beiden zurückgelassenen Sachen nahmen sie mit. Als die Mädchen am darauf folgenden Morgen nicht in ihrem Quartier auftauchten, erstatteten die besorgten Lehrer Vermisstenanzeige.
Der aufnehmende Polizeibeamte beruhigte die Lehrer:
»Machen Sie sich mal nicht so viele Sorgen. Neun von zehn Vermissten kehren noch am ersten Tag bzw. innerhalb einer Woche zurück. Vielleicht haben die beiden ein paar Jungs getroffen und sind mit ihnen nach Hause gegangen, um dort ’ne Party zu feiern. Immerhin sind sie ja bereits volljährig. Glauben Sie mir, sie werden mit ziemlicher Sicherheit zerknirscht und voller Reue pünktlich zu ihrer Abreise wieder erscheinen. Aber wir werden trotzdem ein Fernschreiben an alle Polizeidienststellen absetzen. Haben Sie vielleicht zufällig von den Mädchen ein Bild dabei?«
Wortlos reichte einer der Lehrer dem Beamten zwei Fotos.
»Wir werden eine Fahndung einleiten. Bereits nach wenigen Minuten hat jede Dienststelle Kenntnis von den beiden Vermissten. Außerdem schalten wir die Kriminalpolizei sofort ein. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.«
Aber an ihren Gesichtern sah der Beamte, dass er ihre Zweifel und Sorgen nicht ausräumen konnte. Nervös und voller Selbstvorwürfe blieben sie zurück, weil sie fühlten, es aber nicht wahrhaben wollten, dass etwas Schreckliches mit den beiden hübschen Schülerinnen geschehen sein musste. Bereits am frühen Nachmittag des 15. März wurden ihre dunklen Ahnungen zur schrecklichen Gewissheit. Die fassungslosen Lehrer erfuhren von Kriminalbeamten, dass Mercedes Puantaro, bestialisch ermordet, aufgefunden worden war. Von Maerte Christiansen fehlte nach wie vor jede Spur. So stand zu befürchten, dass auch sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.
Am 15. März, gegen 06.30 Uhr, fand der zuständige Revierförster Johannes Kunze im Grunewald, Jagen 85, östlich des Teufelssees, die Leiche einer jungen Frau. Ihre schweren Kopf- und Brustverletzungen ergaben sofort den Verdacht eines Kapitalverbrechens. Eine sofort durchgeführte Obduktion bestätigte den Verdacht der erfahrenen Beamten der Mordkommission, dass der Tod durch Überfahren mit einem Kraftfahrzeug und durch massive Schlagverletzungen auf den Kopf eingetreten war. Das zunächst unbekannte Opfer wies außerdem massive Rippenbrüche und Rupturen von Herz und Leber auf. Die Schädelbrüche waren aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem stumpfkantigen Werkzeug herbeigeführt worden. Das Opfer hatte die Gewaltanwendungen nur um wenige Minuten überlebt.
Der Tod der jungen Frau gab den Mordspezialisten zunächst Rätsel auf, denn ein Sexualverbrechen lag nicht vor. Was war in den Stunden nach Mitternacht bis zum frühen Morgen Schreckliches geschehen? Fest stand zunächst nur, dass der Tod etwa zwischen 04.00 Uhr und 05.00 Uhr eingetreten war.
Der Täter hatte sein Opfer allem Anschein nach auf dem unbefestigten alten Schildhornweg überfahren und es dann ca. 30 m in den lichten Hochwald geschleift und es dort einfach liegen lassen. Papiere und andere Gegenstände, die eine Identifizierung ermöglicht hätten, wurden nicht gefunden. Auf dem Weg fand man an einer aufgewühlten Stelle Blutspuren und einige Schmuckstücke der Toten. An dieser Stelle musste der unbekannte Täter das Mädchen mehrfach brutal überrollt haben. Im Tatortbereich konnten auswertbare Reifenspuren der Marke »Michelin« gesichert werden. Mangels individueller Merkmale und der fehlenden Möglichkeit, eine Spurbreite zu ermitteln, schied die Identifizierung eines bestimmten Reifens oder Fahrzeuges von vornherein aus. Auch einige nicht auswertbare Schuheindrücke der Größe 41 bis 43 konnten neben den Schleifspuren gesichert werden. Dem Täter fielen die Handtasche, mehrere Schmuckstücke und Personalpapiere des Opfers, darunter der Reisepass, in die Hände.
Schon nach wenigen Stunden konnte das unbekannte Opfer durch Beamte der 2. Mordkommission identifiziert werden. Eine Nachfrage bei der Vermisstenstelle hatte ergeben, dass eine junge Frau, auf die die Beschreibung der Toten zutraf, erst kürzlich vermisst gemeldet worden war. Es handelte sich bei der Toten zweifelsfrei um die bolivianische Austauschschülerin Mercedes Puantaro. Durch sofortige Befragung der Schüler und der im »Quasimodo« anwesenden Lehrer erfuhren die Ermittler, dass beide Mädchen wegen eines Pizzakaufs kurz nach Mitternacht den Jazzkeller verlassen hatten. Es ergaben sich sonst jedoch keine tatrelevanten Hinweise. Die Pizzeria über dem Jazzkeller, so ergaben die Ermittlungen, war zu diesem Zeitpunkt längst geschlossen. Also mussten sich die beiden Mädchen zu Fuß in eine unbekannte Richtung, auf der Suche nach einem Imbiss oder einem noch offenen Esslokal, entfernt haben und dabei auf ihren späteren Mörder gestoßen sein.
Der erfahrene Kommissariatsleiter KHK Klausen vermutete sofort, dass auch das zweite Mädchen nicht mehr am Leben sei. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass der oder die Täter nur eines der beiden Mädchen zum Grunewald gebracht und dort getötet hatten. Obwohl dem Opfer einige Gegenstände fehlten, hielt er einen Raubmord für unwahrscheinlich. Da musste mehr dahinterstecken, mutmaßte Klausen nicht zu Unrecht. Die spurlos verschwundene Maerte Christiansen musste unter allen Umständen gefunden werden. Da durfte keine Sekunde unnütz vertrödelt werden. So veranlasste er einen sofortigen Großeinsatz der Schutzpolizei zur Absuche der näheren und weiteren Umgebung des Auffindungsortes der Leiche, da nach allen bisher bekannten Umständen damit gerechnet werden musste, dass auch das andere vermisste Mädchen von dem oder den Tätern in diesem unwegsamen Gelände tot zurückgelassen worden war. Es sah nach Regen aus und Eile war geboten, wollte man nicht riskieren, dass unter Umständen wertvolle Spuren verloren gingen.
Eine Öffentlichkeitsfahndung unter Einbeziehung der Medien wurde sofort eingeleitet und der Sender Freies Berlin gebeten, die Bilder der toten Mercedes Puantaro und der verschwundenen Maerte Christiansen in der Abendschau des Fernsehens auszustrahlen. Die Bewohner der Stadt nahmen regen Anteil am schrecklichen Schicksal der Berlinbesucherinnen, deren Leben auf so grausame Weise enden musste.
Auf Anordnung des Leiters der Mordinspektion, Kriminaloberrat Mende, wurde die zuständige Mordkommission auf insgesamt 20 Beamte verstärkt. Schon vom ersten Tage an standen die ermittelnden Beamten unter gewaltigem Erfolgsdruck der Medien, die die sofortige Aufklärung des dem Ansehen Berlins schweren Schaden zufügenden Verbrechens forderten.
Der Großeinsatz im nördlichen Grunewald war am ersten Tag nicht von Erfolg gekrönt und nach Einbruch der Dunkelheit abgebrochen worden, um dann am nächsten Tag mit der Suche erneut zu beginnen.
Die Ausstrahlung der Bilder führte zu einer Reihe von Hinweisen. Darunter war auch der eines Joggers, der am Mittag im Grunewald, auf einem Waldweg zwischen den Jagen 90 und 117, eine frische Pizza hatte liegen sehen, nicht allzu weit vom Auffindungsort der Leiche entfernt. Weil anzunehmen war, dass die aufgefundene Pizza im Tatzusammenhang mit der Tötung der Mercedes Puantaro stehen könnte, wurden sofort Ermittlungen im Stadtbereich rund um den Bahnhof Zoo eingeleitet, um festzustellen, wo die beiden Mädchen sie gekauft haben könnten. Die Befragungen in den verschiedenen Pizzerien in der näheren Umgebung des »Quasimodo« führten am gleichen Abend zunächst zu keinem Erfolg. Niemand konnte sich an zwei Mädchen erinnern, die in der Nacht zuvor etwas Essbares außer Haus kaufen wollten. Man würde am kommenden Tage die Ermittlungen weiter fortführen. Mit dem Hinweisgeber war verabredet worden, dass er am Morgen des 16. März Beamte der Soko zum Lageort der Pizza führt, damit deren Sicherstellung erfolgen konnte.
Weit nach Mitternacht saßen dann die Beamten der Soko erschöpft und müde in den Räumen der Mordkommission in der Keithstraße zusammen. KHK Klausen ließ seinen Blick schweifen und stellte mit Befriedigung fest, dass inzwischen alle von ihren einzelnen Aufträgen zurückgekehrt waren. Kurz und knapp berichtete er über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Bis auf einige Beamte, die noch für weitere Hinweisaufnahmen benötigt wurden, reduzierte er die Anzahl der Kommissionsmitglieder und schloss mit den Worten:
»Kollegen, geht jetzt nach Hause und schlaft euch aus, heute früh geht es mit Hochdruck weiter. Wir müssen unbedingt das andere Mädchen finden, auch wenn ich starke Zweifel habe, dass es noch am Leben ist. Wir stehen erheblich unter Erfolgszwang. Die Medien machen unheimlichen Druck und wir befinden uns zum wiederholten Male im Fokus öffentlicher Betrachtung. Die wollen den Täter auf dem Präsentierteller serviert haben und zwar bald. Eher werden die keine Ruhe geben. Und wir werden auch keine Ruhe finden. Also zieht euch warm an und sagt alle privaten Termine in der nächsten Zeit ab. Das wird eine verdammt harte Nuss werden, die wir allesamt zu knacken haben.«
Als Ruhe eingekehrt war, nahm er sich noch einmal die Akte vor und las sie zum wiederholten Male aufmerksam durch. Dann nahm er den Hinweisordner zur Hand und sah sich die einzelnen Hinweise an. In der kurzen Zeit nach der Ausstrahlung der Opferbilder im Fernsehen waren eine ganze Reihe Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen. Die meisten von ihnen standen eindeutig nicht im Zusammenhang mit der Tat, aber einige wenige boten Ermittlungsansätze, denen man am Tage noch nachgehen würde. Aber das Wichtigste war, dass ein erster wirklich »heißer« Hinweis darunter war. Das konnte kein Zufall sein, dass eine frische Pizza in der weiteren Umgebung der Leiche entdeckt worden war. Die Mädchen hatten demnach aller Wahrscheinlichkeit nach eine Pizza gekauft und waren dann mit ihren späteren Mördern aus der City in den am Rande der Stadt liegenden Grunewald gefahren. Ja, so könnte es gewesen sein. Jetzt musste man nur noch die Pizzeria finden. Klausen spürte die innere Spannung, die sich in ihm aufbaute und er erwartete schon jetzt voller Ungeduld den kommenden Morgen. Wenn seine Vermutungen wirklich zutreffen würden, dann gab es jede Menge Ansatzpunkte und seine Stimmung stieg schlagartig. Alle in der Kommission gingen ohne Ausnahme zu diesem Zeitpunkt von mindestens zwei Tätern aus. Woher sollten sie auch wissen, dass es sich tatsächlich nur um einen handelte? Was hatte die beiden ortsunkundigen Mädchen nur veranlasst, in ein fremdes Auto einzusteigen, ohne ihren Mitschülern oder den Lehrern Bescheid zu sagen? Just in diesem Moment ging die Tür auf und Oberrat Mende steckte den Kopf ins Zimmer: »Manfred, bist du noch aufnahmefähig? Ich würde gerne noch einmal mit dir über die bisherigen Ermittlungen sprechen.«
Er sah ihn fragend an. Klausen blickte hoch und nickte zustimmend. Nachdem Mende Platz genommen hatte, sagte er: »Gerade habe ich die letzte Pressekonferenz beendet. Mann, gehen die einem auf den Keks. Immer wieder dieselben Fragen. Haben sie schon einen konkreten Verdacht? Wann ist mit den ersten Festnahmen zu rechnen? Und so weiter und so fort. Dabei haben wir gerade erst angefangen.«
Er griff sich etwas theatralisch an die Stirn und stieß die Luft aus. »Hast du schon die ganzen Fernschreiben abgesetzt?«, fragte er, um einen Anfang zu finden.
»Aber natürlich«, erwiderte Klausen leicht genervt. Die Benachrichtigungen des Bundeskriminalamtes, der einzelnen Landeskriminalämter und des Bundesgrenzschutzes im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes waren längst erfolgt und die dortigen Fachdienststellen um Mitfahndung ersucht worden. Das gehörte zu den ersten Routinemaßnahmen in einem solchen Fall. Er blickte in das zufriedene Gesicht seines Vorgesetzten. Ohne sich lange weiter mit der Vorrede aufzuhalten, fasste er noch einmal das bisherige Ermittlungsergebnis zusammen, entwickelte Mende gegenüber seine Mordtheorie und gab einen Ausblick auf die geplanten weiteren Ermittlungen des kommenden Tages. Mende hörte konzentriert zu und unterbrach ihn nicht, obwohl er das meiste schon kannte. Dann nickte er zustimmend.
»Du hast recht. Die Sache mit der Pizza ist wirklich interessant. Wenn wir das Lokal finden und die Mädels tatsächlich dort diese Pizza gekauft haben, sind wir einen gewaltigen Schritt vorangekommen.«
Neben der Pizza im Wald wurde ein Pappteller und zum Abdecken der »außer Haus« verkauften Pizza »Silberpapier« gefunden. Die Gegenstände wurden vom Erkennungsdienst sofort auf auswertbare Spuren untersucht. Ein erster Erfolg zeichnete sich ab. Vier brauchbare Fingerspuren konnten gesichert werden, die allerdings weder von Mercedes noch von Maerte stammten. Auch die Ermittlungen hinsichtlich der Pizzeria waren von Erfolg gekrönt. Beamte der Soko legten den Angestellten der Pizzeria »La Bohème« in der Lietzenburger Straße die Fahndungsbilder der beiden Mädchen vor. Die dort tätige Serviererin Manuela Brieske erkannte sie sofort wieder. Demnach hatten die beiden am 15. März etwa gegen 00.30 Uhr das Restaurant betreten und die Pizza gekauft. Die Befragung war mehr als enttäuschend. Die beiden jungen Norwegerinnen waren allein und ohne Begleitung, hielten sich nur an der Theke auf und hatten zu keinem anderen erkennbaren Kontakt. Sofort nach Erhalt der Pizza verließen sie das Restaurant. Sie schienen ausgeglichen und guter Dinge zu sein. Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass sie unter irgendwelchem Druck standen oder unfreiwillig in das Restaurant gekommen waren.
Drei der vier Fingerabdrücke stammten von der Serviererin Brieske, die die Pizza eingepackt und übergeben hatte. Der vierte Abdruck stammte von einem ägyptischen Koch, der unangemeldet dort arbeitete.
Manuela Brieske spielte in diesem schrecklichen Mordfall eine recht dubiose Rolle. Unmittelbar nach den beiden Mädchen betrat ein Gast die Pizzeria, den sie privat näher kannte. Er blieb die ganze Zeit im Hintergrund, stand in der Nähe der Toiletten, nahm aber keinerlei Kontakt zu den Mädchen auf. Auch die Tatsache, dass der junge Mann unmittelbar nach den beiden sofort das Lokal verlassen hatte, veranlasste sie nicht, diesen an sich verdächtigen Umstand den Kriminalbeamten mitzuteilen. Das war eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, wie sich rund zwei Jahre später herausstellte, denn bei dem Bekannten handelte es sich um den Mörder, der in seiner Vernehmung diese Situation ausführlich schilderte. Inwieweit Manuela Brieske absichtlich geschwiegen und den Mörder gedeckt oder ob sie einfach keine Verbindung zwischen ihm und den beiden Mädchen gesehen hatte, ließ sich später nicht mehr mit letzter Sicherheit klären.
Da die Pizzeria der letzte Ort war, wo die beiden Mädchen lebend gesehen worden waren und sich in diesem Teil der Lietzenburger Straße das Dirnenmilieu befindet, wurden intensive Ermittlungen auch in diese Richtung geführt. Mehr als 50 Personen, darunter Inhaber von Lokalen, deren Angestellte und Gäste sowie eine Vielzahl von Dirnen, wurden zum Teil mehrfach befragt, ohne dass sich irgendwelche Verdachtsmomente gegen eine bestimmte Person aus diesem Milieu ergaben.
Auch die Resonanz der Bewohner aus dem Bereich der Lietzenburger Straße und der Umgebung des »Quasimodo« auf eine großangelegte Flugblattaktion, in dem die Kriminalpolizei um Mithilfe bei der Aufklärung dieses brutalen Verbrechens bat, war sehr enttäuschend. Klausen und die Mitglieder der Soko waren ziemlich frustriert, weil sie sich alle mehr oder weniger konkrete Hinweise versprochen hatten, mit deren Hilfe man die Ermittlungen nach den Tätern vorantreiben konnte. Es war zum Verrücktwerden. Nicht ein einziger Hinweis auf verdächtige Wahrnehmungen ging ein. Die Mädchen schienen sich nach Verlassen der Pizzeria buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben.
Die bereits in den frühen Morgenstunden mit großem Personalaufwand wieder aufgenommene systematische Absuche des nördlichen Grunewaldbereiches nach dem zweiten Mädchen war ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt. Sämtliche am Fundort der Leiche der Mercedes Puantaro gesicherten Spuren waren bereits zur Auswertung bei der polizeitechnischen Untersuchungsstelle .(PTU). Ergebnisse lagen von dort aber noch nicht vor. Die Ermittlungen wurden auf Lokale und Imbissstände ausgedehnt, die an den Straßen lagen, die in den Grunewald führten, um gegebenenfalls Hinweise auf verdächtige Umstände zu erhalten. Die Taxi-Innung wurde eingeschaltet. Möglicherweise hatte irgendein Taxifahrer in der relevanten Zeit vor oder in der Nähe des »La Bohème« verdächtige Wahrnehmungen gemacht. Der oder die Täter konnten auch mit einem gestohlenen Auto die Mädchen in den Grunewald gefahren haben oder sie hatten einen Mietwagen benutzt. Alles war möglich. Durch Fernschreiben wurden die Polizeidienststellen aufgefordert, alle infrage kommenden Fahrzeuge bei Auffindung einer gründlichen Spurensuche zu unterziehen, wobei insbesondere auf Blutanhaftungen und Stoffreste sowie auf Teile der persönlichen Habe der Opfer geachtet werden sollte. Durchschriften aller Auffindungsberichte sollten der Soko übersandt und dort noch einmal eingehend geprüft werden.
Die Antworten des BKA und der Landeskriminalämter fielen gleichermaßen enttäuschend aus. Es war bisher keine Tat bekannt geworden, bei denen das entführte Opfer später von dem Täter absichtlich, und auch noch mehrmals, mit einem Kraftfahrzeug überrollt worden war. Auch sonst hatten sich keine sachdienlichen Hinweise ergeben.
Der berühmte Zufall wollte es, dass am 18. März gegen 14.00 Uhr der Polizeibeamte Rolf Pawlowski einen Spaziergang im noch nicht durchsuchten Jagen 120, unweit der Havelchaussee und des Grunewaldturms, machte. Er interessierte sich für die Vogelwelt in heimischen Gefilden und beobachtete einen seltenen Vogel und war dabei etwas vom Weg abgekommen. So stieß er im Unterholz, etwa 15m vom befahrbaren Jagenweg entfernt, auf eine Anhäufung aus Knüppelholz, Zweigen und Laub. Aufmerksam geworden trat er näher und schreckte zurück. Aus dem Gestrüpp ragten ein menschliches Bein und ein Teil eines Kopfes hervor. Die schlimmsten Befürchtungen waren zur grausamen Gewissheit geworden. Die Leiche der spurlos verschwundenen Maerte Christiansen war gefunden worden. Der Täter hatte das Opfer in großer Eile nur oberflächlich abgedeckt. Der Fundort befand sich im relativ lichten Hochwald. Der Boden war mit einer Schicht trockenen Laubes bedeckt. Schleif- oder Kampfspuren waren nicht zu entdecken. Der oder die Täter mussten das Opfer vom Weg zur Ablagestelle getragen haben. Vom Weg aus gesehen, schien die Anhäufung unverfänglich. Erst wenn man unmittelbar davor stand, konnte man die hervorlugenden Körperteile erkennen. Nach vorsichtigem Entfernen der Bedeckung wurde deutlich, dass die Tote auf dem Rücken lag und das Gesicht nach oben wies. Die Leiche war vollständig bekleidet, wobei allerdings die Bluse im vorderen Bereich aufgerissen war und der Bauch und teilweise die Brust frei lagen. Die Cordjeans bedeckten den Unterkörper und die Beine. Der Reißverschluss war zugezogen und der Knopf im Bund geschlossen. Das Opfer trug einen unbeschädigten Slip. Auffallend war, dass die Tote nur eine Socke trug. Auch wiesen die beiden Schnürschuhe unterschiedliche Schleifen auf. Um den Hals war ein blauer Schal geschlungen und im Nacken verknotet. Er gehörte dem Opfer. Die freien Enden waren zu einer Schlaufe zusammengebunden, so dass sie wie eine »Führleine« zu gebrauchen waren. Die Kleidung war mit Erdreich stark verschmutzt und auf der Bluse waren im Bereich des Halses und des Rückens massive Beblutungen erkennbar. Am linken Arm befand sich eine Uhr, und eine goldfarbene Kette fiel bei der Untersuchung der Leiche vom Hals. Die Leichenstarre und Leichenflecke waren voll ausgebildet.
Den Spezialisten der Mordkommission fiel sofort die tiefe, klaffende, vom Hals bis zur Wirbelsäule reichende Verletzung auf. Der untere Wundrand wies mehrere parallele Einschnitte auf. Die Lage der Blutablaufspuren im Halsbereich und das Fehlen solcher Spuren auf der Vorderseite der Leiche ließen darauf schließen, dass die Halsverletzung erst am Fundort dem Opfer gesetzt worden war. Dafür sprach auch die blutdurchtränkte Blätterschicht unterhalb des Halses. Kampfspuren am Fundort fehlten völlig, so dass davon ausgegangen werden musste, dass sich ein wesentlicher Teil des Geschehens an einer anderen Stelle, vielleicht auch in einem Pkw, abgespielt hatte. Aufgrund der schmutzigen Fußsohlen des Opfers konnte man davon ausgehen, dass es wahrscheinlich barfuß zum späteren Fundort geführt worden oder aber an anderer Stelle längere Zeit auf Waldboden gelaufen war.
Klarheit würden hier entsprechende Vergleichsuntersuchungen mit Bodenproben vom Fundort und dem Schmutz an den Sohlen des Opfers bringen. Etwa auf halbem Weg zwischen Fundstelle und Waldweg wurde ein mit Lurexfäden durchwirkter Gummiring gefunden, wie er von Mädchen zum Zusammenbinden ihrer Haare benutzt wird. Einen solchen Ring hatte auch Maerte Christiansen besessen. An der gesamten Bekleidung befanden sich Erd- und Laubanhaftungen. Auch an der Slipeinlage waren Partikel von Erdreich vorhanden. Diese Feststellung wies darauf hin, dass der Unterkörper des Opfers freigelegt worden war und zwischendurch auf dem Boden gelegen haben musste. Weiterhin wurden zwei Stücke Mullbinde gefunden, die zusammengelegt 48 cm Länge hatten. Ursprünglich bestand die Binde aus einem Stück und wurde durch Brandeinwirkung getrennt. Die Gesamtlänge hätte für eine Fesselung ausgereicht. Dem Opfer fehlte eine Schultertasche, in der sich der Reisepass und ein Reisescheck befunden hatten. Auch die fehlende Socke konnte nicht gefunden werden.
Die Obduktion von Maerte Christiansen offenbarte die ganze Brutalität und Grausamkeit, mit der der oder die Täter ihr Opfer zu Lebzeiten gequält und misshandelt hatten. Zum Tode hatte nicht die schwere Halsverletzung, sondern eine nachhaltige Kompression der Halsweichteile geführt, wobei der Schal vermutlich als Drosselwerkzeug gedient hatte. Die klaffende Halswunde ging bis zur Wirbelsäule. Die rechte Halsschlagader, der Kehlkopf und die Speiseröhre waren durchtrennt, die linke Schlagader an verschiedenen Stellen aufgeschlitzt. Da nur geringfügige Unterblutungen der Wundräder und fehlende Aspiration von Blut festgestellt werden konnten, sprach nach Feststellung der Gerichtsärzte alles dafür, dass der Täter die tiefen Schnitte am Hals erst dann gesetzt hatte, als der Kreislauf in diesem Moment im Zusammenbrechen oder das Opfer unmittelbar zuvor gestorben war.
Außerdem wies das Opfer noch eine ganze Reihe leichterer und schwererer Verletzungen auf, insbesondere im Gesicht und an den Brüsten. Starke Schürfungen waren am linken Auge und an der Nase sowie massive Blutunterlaufungen an Ober- und Unterlippe erkennbar, die auf eine Reihe von Faustschlägen hindeuteten. Eine Verletzung im Schambereich könnte in der Agonie oder unmittelbar nach dem Todeseintritt gesetzt worden sein. Schürfungen, Blutunterlaufungen und Hautvertrocknungen an beiden Brüsten könnten auf Bisse zurückzuführen sein, wobei linksseitig eine geringfügige eisenhaltige Verschmutzung .(Werkzeug?) auffiel. Beide Brustwarzen waren geschürft und verschmutzt, wobei diese ebenfalls eisenhaltige Reaktionen zeigten. Die rechte Brustwarze war zusätzlich erheblich unterblutet. Diese Verletzungen und die der Oberlippe dürften einige Zeit vor dem Todeseintritt gesetzt worden sein. Schräg über dem rechten Handrücken verlief ein langer Rötungsstreifen, der von einer Fesselung herrühren dürfte. Eine Analyse der Bodenproben vom Fundort mit den Erdanhaftungen an der Bekleidung und an den Fußsohlen zeigte die gleiche Zusammensetzung und wies auf typischen Waldboden hin. Die Anhaftungen bestanden aus feinstem Sand, verwesendem Laub und Nadeln, also aus Teilen, die die obere Schicht des Waldbodens bilden. Eine regionale Eingrenzung war somit nicht möglich.
Spermaspuren ließen sich am und im Körper nicht nachweisen. Wie auch Mercedes, so wies Maerte nur eine geringfügige Alkoholkonzentration im Blut auf. Beide Opfer waren allem Anschein nach perversen Tätern in die Hände gefallen, wobei Maerte Christiansen zusätzlich noch ein stundenlanges Martyrium erleiden musste. Hauptkommissar Klausen konnte sich nicht erinnern, jemals mit einem solch sadistischen Täterverhalten konfrontiert worden zu sein. Eiskalte Wut kam in ihm hoch, als er das Obduktionsprotokoll gelesen hatte.
Der grausame Doppelmord an den norwegischen Schülerinnen war das Gesprächsthema in der Stadt. Die Presse und auch das Fernsehen berichteten ausführlich über das schreckliche Schicksal der beiden Mädchen. Angst machte sich unter der Bevölkerung breit in dem Bewusstsein, dass unter ihnen, unerkannt, abartige Mörder lebten.
Die Soko arbeitete trotz des großen Erfolgsdrucks, der auf ihr lastete, mit aller Anstrengung an der Aufklärung dieses abscheulichen Verbrechens. Gemeinsam mit Oberrat Mende besprach Hauptkommissar Klausen die weitere Strategie.
»Ulrich, wir müssen unbedingt die Hinweisbearbeitung verstärken. Alle Zeitungen haben ausführlich über den Doppelmord berichtet. Das beunruhigt natürlich die Gemüter, wenn einer oder zwei Mörder unerkannt unter uns in der Stadt leben. Wir haben jetzt schon über 300 Anrufe erhalten. Bisher war leider noch nichts Konkretes dabei. Aber was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte er mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme.
»Nun wirf mal nicht die Flinte ins Korn«, entgegnete Mende, »ich kann dich ja verstehen, aber das Prinzip Hoffnung sollten wir nicht aus den Augen verlieren.«
Klausen lächelte gequält.
»Ich kann mich nicht an einen einzigen Fall erinnern, wo wir drei Tage nach der Tat noch so wie jetzt im Dunkeln getappt haben. Es ist tatsächlich zum Aus-der-Haut-Fahren. Wir haben bisher keine einzige Spur vom Täter, nicht einen einzigen wirklich konkreten Hinweis. Nicht einmal seine Blutgruppe haben wir. Ich habe gerade bei der PTU angerufen, die Auswertung der anderen Spuren dauert erfahrungsgemäß noch einige Tage an. Aber ein Treffer ist wohl nicht darunter. Die nochmalige, eingehende Vernehmung der bereits wieder nach Norwegen zurückgereisten Mitschüler und Lehrer der beiden Opfer habe ich über das BKA veranlasst. Vielleicht ergibt sich doch noch ein konkreter Anhaltspunkt, der uns weiterhelfen könnte. Mit Sicherheit standen sie am 15. März bei der ersten Befragung unter Schock, denn kurz zuvor hatten sie vom Tod ihrer Mitschülerin erfahren. Das kann keiner so einfach abschütteln.
Mit KHK Meissner von M III .(Fachdienststelle für Sexualdelikte) habe ich gesprochen. Die können uns auch nicht weiterhelfen. Bisher war dort keine vergleichbare Tat bekannt geworden, bei der dem Opfer mit einer Zange oder Seitenschneider die Brustwarzen gequetscht worden waren. Das Gleiche gilt im übrigen auch für das BKA und die anderen Landeskriminalämter. Die abschließenden Obduktionsberichte liegen vor. Mir ist es ein Rätsel, wieso kein Sperma bei den beiden Opfern gefunden wurde. Wieso haben die Täter ihre sadistischen Quälereien nur auf den Oberkörper von Maerte Christiansen beschränkt? Entweder hatten sie ein Kondom benutzt, was für einen Vergewaltiger untypisch ist, oder aber es ist aus unerfindlichen Gründen nicht zum gewaltsamen Vollzug des Beischlafes gekommen. Ein derartiger Fall ist mir in meiner langjährigen Praxis bei der Mordkommission noch nicht vorgekommen. Und ich bin immerhin schon gut zwanzig Jahre bei diesem Verein«, schob er kopfschüttelnd nach.
Mende bemerkte natürlich den Frust seines Soko-Leiters. Auch er konnte mit dem bisherigen Ermittlungsergebnis nicht zufrieden sein. Die Presse saß ihm unbarmherzig im Genick und erwartete Ergebnisse. Er dachte schon mit Unbehagen an die nächste Pressekonferenz. Die Soko bestand aus erfahrenen und äußerst motivierten Beamten, und Klausen war ein vorzüglicher Leiter, der gewohnt war, auch über längere Zeit Stress auszuhalten. Auch in diesem Fall würde es nicht anders sein. Er war sich sicher, dass bald der entscheidende Hinweis einging, der die Ermittlungen vorantreiben würde. Mit »Geduld und Spucke«, wie der Berliner sagte, würde es schon weitergehen.
»Manfred, du hast recht, das ist in der Tat mehr als ungewöhnlich. Im Augenblick kann ich mir auch keinen Reim darauf machen. Sag’ mal, hast du noch Leute in der Lietzenburger Straße?«
»Klar, vier Kollegen machen den Treppenterrier und sprechen mit allen erreichbaren Hausbewohnern in der Nähe des »La Bohème«. Vielleicht gibt es den »Rentner vom Dienst«, der wegen Prostataschwäche nachts die Toilette aufgesucht und dabei verdächtige Wahrnehmungen auf der Straße gemacht hat. Es wäre ja nicht das erste Mal.«
»Gut, Manfred. Ich habe vorhin mit Jürgensen vom Stab des Präsidenten gesprochen. Der Präsident wird eine Belohnung in Höhe von 10.000,– DM für Hinweise aussetzen, die zur Ergreifung der oder des Täters führen. Vielleicht motiviert das den einen oder anderen Mitbürger, uns seine für ihn unwichtigen Beobachtungen mitzuteilen.
Was macht denn eigentlich die Aktion mit den gestohlenen Autos und was hat uns denn die Taxi-Innung bisher gemeldet?«
»In einigen Fällen hat VB I .(Sofortbearbeitung der Kriminalpolizei) den Erkennungsdienst und die PTU eingeschaltet. Ein Treffer war bisher nicht darunter. Einen Rücklauf in Sachen Taxis habe ich noch nicht. Aber du kannst davon ausgehen, dass sich einer der Fahrer schon gemeldet hätte, wenn er eine verdächtige Beobachtung gemacht oder wenn einer sogar die beiden Mädchen und ihre unbekannten Begleiter zum Grunewald gefahren hätte. Der Geschäftsführer der Innung hatte uns versprochen, dass bis Ende der Woche ein endgültiges Befragungsergebnis vorliegt.«
»Manfred, mir geht ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Was hältst du denn davon, wenn es nicht zwei oder mehr, sondern nur einen einzigen Täter gibt?«
Klausen sah seinen Chef überrascht an.
»Gut, dass du das ansprichst. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Das letzte Opfer hatte doch einen Schal um den Hals verknotet, die freien Enden waren zu einer Schlaufe gebunden wie eine Führleine. Weißt du was ich glaube? Es war nur ein Täter und ich werde dir auch sagen warum: Die Mädchen sind gemeinsam nach draußen gegangen und standen inmitten einer fremden Stadt. Es war nachts und da sieht vieles anders aus als am Tage. Wie wir wissen, war die Pizzeria im »Delphi« bereits geschlossen. Die beiden sind ein Stück zu Fuß gelaufen, dann hat irgendwo ein Auto angehalten, in dem nur der Fahrer saß. Der hat den Mädchen angeboten, sie zu einer Pizzeria zu fahren. Ich glaube einfach nicht, dass sie auch dann in ein Auto gestiegen wären, wenn da zwei Männer drin gesessen hätten. Ich kann mich noch an die Aussagen ihrer Mitschülerinnen erinnern, die die beiden als schüchtern und vorsichtig beschrieben haben. Die haben einfach keine Gefahr gesehen, denn schließlich waren sie ja zu zweit. Der Unbekannte hat sie dann zum »La Bohème« gebracht. Das wäre zu Fuß ein ganz schönes Stück und warum sollten die beiden gerade zur Lietzenburger Straße gelaufen sein, wenn sie sich in der Innenstadt überhaupt nicht auskannten? Nee, nee, Ulrich. Die sind ganz brav in den Wagen eingestiegen und dorthin gefahren worden. Aber warum fuhr der Täter gerade zum »La Bohème«? Wieso diese Pizzeria? Wollten sie in der Lietzenburger Straße gemeinsam noch das »Ku-Dorf« aufsuchen? Das glaube ich nicht. Es war schon spät und sie wollten mit den anderen gemeinsam zu ihrem Hotel zurückfahren. Ich sag’ dir was. Der Täter fuhr deshalb zum »La Bohème«, weil er es von früher her kannte oder weil er dort vielleicht ein ständiger Gast ist. Ulrich, was sagst du zu meiner Theorie?«
»Da ist in der Tat etwas dran. So könnte es gewesen sein. Die Mädchen steigen aus und gehen allein in die Pizzeria und der Täter wartet seelenruhig im Auto auf ihre Rückkehr. Er wollte nicht gesehen werden. Und das aus gutem Grunde, wie wir jetzt wissen. Die beiden sind danach wieder mit der Pizza eingestiegen, weil er ihnen zuvor sicher versprochen hatte, sie zum »Quasimodo« zurückzubringen. Deshalb haben sie sich auch nicht auffällig in der Pizzeria verhalten. Die hätten doch einfach zu der Serviererin sagen können, da sei ein etwas aufdringlicher Mann und sie möchte ein Taxi für sie rufen. Beide sprachen etwas deutsch. Aber dem war ja nicht so. Er war offensichtlich sehr freundlich und zuvorkommend und die beiden völlig ahnungslos, denn wenn er keine bösen Absichten gehabt hätte, hätte er ja auch mit hineingehen können. Dass er es nicht getan hat, ist ein Zeichen dafür, dass er schon auf dem Wege zur Pizzeria den Entschluss gefasst hatte, die beiden Mädchen zu entführen und zu missbrauchen. Deshalb hat sich bisher auch kein Zeuge gemeldet, der gesehen hat, wie zwei junge Frauen ohne große Eile in ein Auto vor der Pizzeria eingestiegen sind. Da kommen ständig neue Gäste an und andere fahren ab. Das ist doch ein völlig normaler Vorgang, auf den niemand achtet und schon gar nicht in einer Gegend, in der Prostituierte am Straßenrand stehen und die Autos der Freier immer wieder anhalten.«
Klausen war aufgestanden und goss zwei Tassen mit Kaffee voll und reichte eine seinem Chef.
»Dann lass’ mich den Faden weiter spinnen.«
Beide spürten, dass sie mit ihren Überlegungen richtig lagen und das würde für die weiteren Ermittlungen natürlich Konsequenzen haben.
»Ulrich, ich könnte mir vorstellen, dass er die beiden bedroht hat, als sie bemerkten, dass er mit ihnen nicht wieder zurück zum »Quasimodo« fahren würde. Aber da war es für sie zu spät. Er muss sie massiv bedroht haben. Vielleicht hatte er eine Waffe und schüchterte sie ein. Jedenfalls gelangte er mit beiden zum Grunewald. Bevor er etwas mit den beiden anstellen konnte, versuchte Mercedes, in einem günstigen Augenblick, aus dem Auto zu flüchten. Er konnte sie natürlich nicht laufen lassen, denn dann hätte sie ihn identifizieren können. So hat er sie einfach überfahren, immer wieder, bis sie sich nicht mehr gerührt hat und Maerte, das arme Mädchen, musste den Tod ihrer Freundin mit ansehen. Dann hat er Maerte gefesselt und seine perversen »Spielchen« mit ihr getrieben und sie im Wald herumgeführt. Ihm war natürlich klar, dass er auch sie später töten musste. Er wird sie vermutlich in seinem Auto erdrosselt haben und um ganz sicher zu gehen, sie in das Unterholz getragen und ihr mit einem scharfen Gegenstand zusätzlich den Hals durchtrennt haben.«
Es blieb eine Weile still und jeder gab dem anderen Gelegenheit, die Theorie des Ablaufes des Doppelmordes zu verinnerlichen. Schließlich nickte Ulrich Mende.
»Du bist ein glänzender Analytiker. Ich hätte es nicht besser sagen können. Aber das behalten wir zunächst für uns. Wir werden es nur den Mitgliedern der Soko und dem zuständigen Staatsanwalt mitteilen. Und vor allem, wir müssen unsere Ermittlungen daran ausrichten. Ich bin mir auch sicher, dass der Täter mit seinem eigenen und nicht mit einem gestohlenen Fahrzeug unterwegs war. Das war kein gewöhnlicher Autodieb.«
So verfolgte die Soko unter diesen neuen Gesichtspunkten mit Akribie die Suche nach diesem menschlichen Monster, das auf bestialische Weise zwei junge Mädchen getötet hatte.
Nach drei Monaten hatten die Medien ihr Interesse an dem Fall verloren und sich längst anderen aktuellen Themen in dieser schnelllebigen Welt zugewandt. Der Alltag in Berlin war schon lange wieder eingekehrt. Aber davon ließen sich die Soko-Mitglieder nicht beeindrucken. Viel zu oft hatten sie gerade bei Mordfällen erfahren müssen, dass das öffentliche Interesse an dem Fall immer schneller erlosch, je länger die Ermittlungen dauerten. Da gab sich keiner irgendwelchen Illusionen hin. Das ganze Trauerspiel hatte lediglich einen Vorteil, dass man in aller Ruhe an dem Fall weiterarbeiten konnte.
Aber trotz aller Mühen waren die Ermittlungen nicht von Erfolg gekrönt. Es war bereits Anfang Dezember 1982, als sich Klausen und Mende schweren Herzens, nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft, entschlossen, den Fall als »nicht aufgeklärt« vorerst abzuschließen. Die Soko war längst reduziert worden und nur noch zwei Mitarbeiter aus Klausens Kommissariat arbeiteten daran. Gelegentlich erhielten sie mal einen Hinweis, der abgearbeitet werden musste. Immerhin waren 645 Hinweise bis zu diesem Tage eingegangen und bearbeitet worden, ohne dass sich ein konkreter Verdacht ergeben hatte. Zwei Hinweise auf einen BMW und einen weißen Mercedes, bei dem jeder für sich zunächst erfolgversprechend aussah, erwiesen sich nach langwierigen Ermittlungen für den Fall als nicht relevant. Knapp 100 Fahrzeuge der beiden Typen mussten in diesem Zusammenhang überprüft werden.
KHK Klausen brachte die Ermittlungsbände selbst zur Staatsanwaltschaft und nahm an diesem trostlosen und nebligen Dezembertag anschließend dienstfrei. Das erste Mal seit langer Zeit ging er in seinen Keller und holte sich aus dem Weinregal zwei Flaschen »Gutedel« nach oben und betrank sich.
Am 18. Juni 1984 reiste die 24-jährige Astrid Kreuzer mit einer größeren Gruppe junger Leute aus dem beschaulichen Ottobronn nach Berlin, um sich hier für ein paar Tage die geteilte Stadt und größte deutsche Metropole aus nächster Nähe anzusehen. Sie waren die ganze Zeit unterwegs, bummelten über den Kurfürstendamm, machten eine große Stadtrundfahrt, sahen sich das Charlottenburger Schloss an, besuchten den Reichstag und verbrachten auf einem schneeweißen Dampfer ein paar schöne Stunden auf der vom Grunewald umgebenen Havel, vorbei an zahllosen Segelbooten, die auf dem »Großen Fenster« und dem Wannsee kreuzten, dort, wo sich das größte Freibad Europas befindet.