Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Darstellung der fünf authentischen Kriminalfälle aus Berlin ist erschütternd realistisch und eng an den Fakten orientiert. Die Abläufe der Ereignisse werden detailliert dargestellt. Der Berliner Kriminalist Bernd Udo Schwenzfeier erhöht die Authentizität der Fallbeschreibungen durch Passagen der Vernehmungen, medizinische Gutachten und Gerichtsurteile. So bekommt der Leser Einblick in die Arbeit der Polizei, die die gnadenlose Härte der Realität aufzeigt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 319
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
BERNDUDOSCHWENZFEIER
Einladung zum Mord
Den Kollegen der 4. Mordkommission in Berlin gewidmet
Vorwort
Einladung zum Mord
Nicht nur im Wein, auch im Müll liegt Wahrheit
Vater, was hast Du mir angetan?
Der letzte Tango
Ein mörderischer Hinterhalt
Anhang
Erläuterung polizeiinterner Begriffe
Polizeidienstgrade
Impressum
E-Books von Bernd Udo Schwenzfeier
True Crime
Krimi
In der Kriminologie .(Lehre von den Ursachen des Verbrechens) nimmt die Viktimologie einen breiten Raum ein. Sie erforscht als Teil der Kriminologie die Beziehungen zwischen dem Rechtsbrecher und seinem Opfer. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Opferverhalten werden in besonderem Maße bei der Aufklärung von Tötungsdelikten verwendet.
Inwiefern hat das bewusste oder unbewusste Verhalten des Opfers zur Begehung einer Straftat beigetragen? Der Umstand, dass sich das spätere Opfer unbewusst in eine kriminogene Situation begibt, entschuldigt natürlich nicht die Tat, erklärt aber oftmals, warum es eigentlich dazu kommen konnte. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff des »prädestinierten« oder auch »potentiellen« Opfers eine wesentliche Rolle.
So leuchtet es jedermann ein, dass eine Prostituierte auf dem »Straßenstrich« besonders gefährdet ist und jederzeit Opfer eines Raubes oder einer Vergewaltigung werden kann. Das Gleiche gilt entsprechend auch für einen Taxifahrer, der immer damit rechnen muss, dass sein Fahrgast unter Umständen Übles im Schilde führt und ihn wegen seiner Einnahmen überfallen könnte.
Aber nicht nur Angehörige besonders gefährdeter Berufsgruppen können Opfer werden, sondern jeder »normale« Mensch, sei es ein unaufmerksames Kind im Straßenverkehr oder eine zu gutgläubige alte Frau, die auf einen Schwindler an der Wohnungstür hereinfällt oder ein angetrunkener Lokalgast, der leichtsinnigerweise sein »volles« Portmonee zeigt.
Ein geradezu klassisches Beispiel für ein »potentielles Opferverhalten« zeigt im vierten Fall eine angetrunkene junge Frau, die sich in tödliche Gefahr begibt, als sie arglos einem Mann in dessen Wohnung folgt, den sie gerade erst vor wenigen Stunden in einem Tanzlokal kennen gelernt hatte.
Dass aber auch Straftäter gelegentlich einem Tötungsdelikt zum Opfer fallen können, beweisen zwei der hier dargestellten Fälle. In diesem Zusammenhang werden im ersten und im fünften Fall die Schicksale zweier einschlägiger Straftäter beschrieben, die sich durch ihr provokantes Verhalten selbst in Gefahr brachten und getötet wurden.
Eine bisher einmalige Straftatenserie in der deutschen Kriminalgeschichte macht deutlich, dass auch ein Täter gleichzeitig Opfer werden kann, wie es der dritte Fall in dramatischer Weise aufzeigt. Begünstigt durch eine Chromosomenanomalie, die Folge einer Entwicklungsstörung war, entwickelte der Täter durch die menschenverachtende Behandlung seines Vaters einen inneren Hang, Straftaten zu begehen. Gerade die entscheidende Phase der Sozialisation in den ersten Lebensjahren war hier durch seinen Vater sträflich vernachlässigt worden, und damit hatte er unbewusst und unabsichtlich den Grundstein für die abscheulichen Straftaten seines Sohnes gelegt. Ein besonders tragischer Fall eines jungen Mannes, dem erst durch die psychiatrische Behandlung während seiner Inhaftierung entscheidend geholfen werden konnte, später ein normales Leben zu führen.
Die in diesem Buch beschriebenen Fälle haben sich zwischen 1968 und 1999 in Berlin zugetragen. Die Darstellung der Taten orientiert sich eng an den wesentlichen Fakten und Abläufen der Ereignisse. Um die Authentizität der Beschreibung zu erhöhen, wurden einzelne Passagen der Vernehmungen, medizinischer Gutachten und Gerichtsurteile zum Teil wörtlich übernommen und andere, literarisch gestaltet, eingefügt. Die Namen aller beteiligten Personen wurden verändert. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Namen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Mein besonderer Dank gilt meinen beiden Kollegen, Erster Kriminalhauptkommissar a. D. Manfred Vogt, ehemaliger und langjähriger Leiter der 4. Mordkommission, und seinem Nachfolger, Kriminalhauptkommissar Lutz Wieczorek, die mir bei meinen Recherchen behilflich waren und damit wesentlich dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstehen konnte.
Bernd Udo SchwenzfeierBerlin, Dezember 2005
Jürgen Venske war mit Leib und Seele Jogger. Regelmäßig zog er sich die Laufschuhe an und lief von seiner Wohnung aus einige Straßenzüge bis hin zum Jahnpark, einer großen Grünanlage im Herzen Berlins, die inmitten der beiden Bezirke Neukölln und Kreuzberg liegt und die von den beiden Straßenzügen Columbiadamm und Hasenheide begrenzt wird.
Es war Dienstag, der 23. Januar 1996, und es war bitterkalt. Aber neun Grad minus und Schnee auf den Wegen hielten den Freizeitsportler nicht davon ab, seinem geliebten Hobby nachzugehen. Nach Rückkehr von seiner Arbeit lief er kurz vor 18 Uhr los und erreichte wenig später den verschneiten Park. Es war stockdunkel und nur einige Radfahrer und andere unverwüstliche Freizeitsportler kreuzten seinen Weg. Er hatte eine feste Route, die er immer einhielt und für die er eine gute Stunde brauchte. Dreimal musste er dazu eine bestimmte Runde laufen. Als er bereits zwei gelaufen war und sich in der Mitte des Parks befand, zerrissen mehrere Knallgeräusche die Stille. Einen Augenblick lang stutzte er, brachte dann aber die Geräusche mit dem Abbrennen von Silvesterknallern in Verbindung. Ein Irrtum, wie sich wenige Minuten später herausstellte. Als er sich auf einem Hauptweg gegenüber dem Naturtheater befand, entdeckte er ein Stück vor sich einen dunklen und großen Gegenstand, der einem prall gefüllten Sack ähnlich sah. Aber es war kein Sack oder ein zusammengerollter Teppich, sondern ein Mann, der bewegungslos am Boden lag. Er lag auf der Seite und rührte sich nicht. Venske beugte sich zu ihm herunter, um ihn anzusprechen und ihm zu helfen. Als er unter dem Kopf des Unbekannten eine Blutlache entdeckte, die sich langsam auf dem Schnee ausbreitete, fuhr er erschreckt zusammen. Nachdem er sich wieder gefasst hatte, wurde ihm klar, dass er dem Mann nicht helfen konnte. Vielleicht war er gestürzt oder sogar Opfer eines Überfalls geworden. So schnell er konnte, lief er durch den Park zurück auf die Straße und alarmierte aus einem Lokal heraus die Feuerwehr und die Polizei. Schon nach knapp fünf Minuten hörte er die Sirene des Rettungswagens rasch näher kommen.
Um 18.40 Uhr erreichte der Notarzt den Tatort. Aber er kam zu spät. Der mit einem dunklen Mantel bekleidete junge Mann war bereits tot. Er wies eine stark blutende Kopfwunde auf. Das war jetzt ein Fall für die Kriminalpolizei geworden. Wenig später traf der erste Funkwagen ein. Inzwischen hatten sich einige Neugierige eingefunden. Die Beamten sperrten sofort den Tatort ab und informierten den Schichtleiter der VB I der örtlichen Kriminalpolizei. Zwei Beamte erschienen wenig später am Ort und übernahmen die weiteren Ermittlungen.
Der Tote lag halb auf der rechten Bauchseite und war mit einer weißen Papierdecke der Feuerwehr bedeckt. Beim Abtasten des Schädels stellten die Beamten auf der stark bebluteten linken Schädelseite ein Loch in der Größe eines Projektils fest – offensichtlich ein Einschuss. Eine Waffe wurde nicht in der Nähe aufgefunden. Das war Grund genug, von einem Fremdverschulden auszugehen und die Mordkommission zu alarmieren.
Gegen 20 Uhr trafen der Leiter der 4. Mordkommission, EKHK Gerhard Voss, und seine Mitarbeiter, KHK Georg Gräbner und KOK Lothar Weimann, am Tatort ein. Von ihnen wurden routinemäßig ein Gerichtsarzt, der zuständige Staatsanwalt, die Spurensicherung und ein Fotograf zum Tatort angefordert. Der Gerichtsarzt stellte bei einer ersten Untersuchung mehrere Einschüsse im Kopf und einen im Brustbereich fest. Der Tatort war inzwischen weiträumig abgesperrt worden und durch eine »Lichtgiraffe« ausgeleuchtet. Dann begann eine akribische Spurensuche. Aber weder die Tatwaffe noch entsprechende Geschosshülsen wurden aufgefunden, obwohl man zusätzlich noch ein Metallsuchgerät eingesetzt hatte. Entweder hatte der Täter die Hülsen aufgesammelt und mitgenommen, oder er hatte einen Revolver für die Tat benutzt.
Schon die ersten Ermittlungen ergaben keinen Hinweis auf einen Raubüberfall.
Dem Opfer fehlten weder Brieftasche noch Hausschlüssel. Gefunden wurden bei ihm unter anderem ein Terminplaner aus dem Jahre 1995, ein Taschenmesser und eine Postbankkarte.
Aufgrund seines Personalausweises konnte das Opfer als der 33-jährige Ralf Peter Altenburg, wohnhaft in der Friedastr. 9 in Berlin-Lichtenberg, identifiziert werden. Wie sich später herausstellte, war das Opfer allein lebend und hatte keine Angehörigen in Berlin. Seine Eltern lebten in Idar-Oberstein. So hatten die Beamten der dortigen Polizeiwache noch in der Nacht die traurige Pflicht, den Eltern die Hiobsbotschaft von der Tötung ihres Sohnes zu überbringen.
Die Leiche Altenburgs war in der Zwischenzeit in die Gerichtsmedizin verbracht worden und wurde noch am gleichen Tage von den Gerichtsärzten Dr. Reiter und Dr. Sammler obduziert.
Insgesamt wurden vier Steckschüsse, davon einer in der Mitte des Hinterkopfes, zwei weitere in der linken Hinterkopfseite und einer im linken Brustbereich, festgestellt. Jeder der Schüsse war für sich allein tödlich. Alle drei Kopfschüsse drangen in das Gehirn, während der Brustschuss durch Herz, Lunge, Milz und Magen gegangen war. Bei den Kopfschüssen handelte es sich um relative Nahschüsse mit Pulverschmauch an den Einschussrändern. Der Täter hatte offensichtlich die Schüsse aus geringer Entfernung auf das bereits am Boden liegende Opfer abgegeben, nachdem es zuvor durch den Brustschuss zu Boden gestreckt worden war. Eine Art Hinrichtung, wie später der bei der Obduktion anwesende KHK Gräbner seinem Chef sarkastisch berichtete. Abwehrverletzungen oder Spuren sonstiger Gewaltanwendungen waren nicht vorhanden. Geringfügige Gesichtsschürfungen konnten mit dem Sturz erklärt werden. Eine Blut- und Harnuntersuchung ergab, dass das Opfer weder Alkohol noch Medikamente zu sich genommen hatte.
Auffällig war, dass das einzige unversehrte Projektil an der Spitze zwei überkreuzte Einschnitte aufwies. Diese Veränderung hatte der Täter vorgenommen in dem Bewusstsein, dem Opfer dadurch noch schwerere Verletzungen zuzufügen – eine wahrhaft diabolische Absicht. Nach Angaben der Waffenuntersuchungsstelle des BKA handelte es sich zweifelsfrei um Revolvermunition des Kalibers 38. Aufgrund der Laufmerkmale kamen als Tatwaffe nur britische Fabrikate wie z. B. »Enfield«, »Webley« oder »Webley & Scott« in Frage. Erste Enttäuschung machte sich bei den Beamten der 4. Kommission breit, als sie erfuhren, dass der Spurenvergleich mit entsprechenden Munitionsteilen der »Zentralen Munitionssammlung« keine Zusammenhänge mit registrierten unaufgeklärten Schusswaffenstraftaten ergeben hatte. Damit war klar, dass der Täter eine »saubere« Waffe benutzt hatte.
Völlig durchgefroren, nach dem mehrstündigen Aufenthalt in der eisigen Nacht, erreichten EKHK Voss und KOK Weimann nach der Aufnahme des Tatbefundes und der ergebnislosen Spurensuche gegen 23 Uhr ihre Dienststelle in der Keithstraße, in der sich mittlerweile auch der Rest der Kommission eingefunden hatte. Wenig später traf auch KHK Gräbner ein, der der Obduktion des Opfers beigewohnt hatte.
Heißer Kaffee und ein paar belegte Brötchen weckten alsbald die Lebensgeister, und Kommissionsleiter Voss fasste das bisherige Ermittlungsergebnis zusammen. Allzu viel konnte er nicht berichten. Die Person des Toten stand zumindest fest, und er hatte eine amtliche Wohnanschrift. Das war nicht immer die Regel und zumindest schon ein guter Anfang. Bei dem Toten handelte es sich um einen kleinen Ganoven, der bisher einige Male wegen verschiedener Delikte im Gefängnis gesessen hatte. Er lebte allein in Berlin. Näheres würde die Befragung seiner Angehörigen ergeben, die in Idar-Oberstein lebten. Es gab keine Tatzeugen, abgesehen von dem Anzeigenden, der die Schüsse gehört und den Toten wenig später entdeckt hatte. Auch die Tatwaffe konnte nicht gefunden werden. Die Spurenausbeute war recht dürftig ausgefallen. Ihre Auswertung würde noch ein paar Tage in Anspruch nehmen.
EKHK Voss blickte in die Runde und sah KHK Bernd Warnke und KOK Uwe Knoll an.
»Ihr fahrt jetzt zur Wohnung des Toten und schaut euch mal um. Vielleicht findet ihr einen Hinweis auf das Tatmotiv. Aber seid vorsichtig. Wir wissen nicht, ob sich eventuell noch andere Personen dort aufhalten. Nehmt bitte mit den Zivilfahndern des zuständigen Polizeiabschnittes Kontakt auf und bittet um Unterstützung. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Er gab ihnen das bei dem Toten gefundene Schlüsselbund. Auch KOK Weimann und KHK Gräbner erhoben sich. Weimann verschwand mit der Stenotypistin Gerda Manske, um den Tatortbericht zu schreiben, während Gräbner sich selbst an die Schreibmaschine setzte, um den Bericht über das Ergebnis der Obduktion zu verfassen.
KHK Lothar Eberhardt sah seinen Chef fragend an.
»Und für mich bleibt wieder nur das Fernschreiben an das BKA und die Pressemeldung übrig, Chef, oder?«, fragte er scheinbar gequält.
Gerhard Voss lächelte ihn an.
»Mensch Lothar, du kannst doch tatsächlich im Zirkus auftreten, denn du kannst ja Gedanken lesen.«
Damit war alles gesagt und Eberhardt verschwand in seinem Zimmer.
KHK Werner Prause und KK Holger Märker bekamen den Auftrag, ein Fahndungsplakat zu entwerfen, damit es am nächsten Tag im Jahnpark und der näheren Umgebung verteilt werden konnte, um weitere Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten.
Nachdem Ruhe eingekehrt war, griff sich Voss den Telefonhörer und rief seinen Vorgesetzen, Inspektionsleiter KOR Ulrich Mende, an, um ihm Bericht zu erstatten.
Er blickte auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach Mitternacht und vor drei Uhr würde er wohl nicht ins Bett kommen. Nachdenklich blätterte er in dem noch recht dünnen Ermittlungsvorgang. In der Tat war dies kein gewöhnliches Tötungsdelikt. Dass Altenburg zufällig Opfer geworden war, schloss er aufgrund des erhobenen Tatbefundes und des Ergebnisses der durchgeführten Obduktion mit ziemlicher Sicherheit aus. Da steckte zweifellos mehr dahinter, vermutlich eine »Beziehungskiste«. Ein so kleiner Ganove wie Altenburg wurde nicht einfach ohne Grund regelrecht hingerichtet. Der Tatbefund und auch die Obduktion hatten dies zweifelsfrei bestätigt. Voss erhoffte sich von der Durchsuchung der Wohnung des Opfers weitere Anhaltspunkte, die zur Aufklärung dieses abscheulichen Verbrechens führen könnten. Bereits nach dem ersten Schuss musste Altenburg zusammengebrochen und auf den eisigen Weg gestürzt sein. Als er dann völlig hilflos auf der rechten Seite am Boden lag, war sein Mörder an ihn herangetreten und hatte ihm aus nächster Nähe erbarmungslos drei Kugeln in den Schädel gejagt.
Seine Überlegungen wurden durch das Klingeln des Telefons gestört. KHK Warnke meldete sich aus der Wohnung Altenburgs. Sie waren ohne jede Schwierigkeiten in die nahezu leere Dreizimmerwohnung gelangt und hatten niemand angetroffen. Nur wenige Möbel und Malerutensilien befanden sich in den Räumen. Auf einem Schreibtisch lag ein Aktenordner, den er zur Durchsicht in die Dienststelle mitnehmen würde. Im Hausbriefkasten fand man eine Telefonrechnung, aus der hervorging, dass im Monat Dezember 1995 und Januar 1996 keine Gespräche von dem Anschluss in der Wohnung geführt worden waren. Demzufolge musste Altenburg die letzten Monate seines Lebens woanders verbracht haben. Voss war ein erfahrener Ermittler und ahnte schon jetzt, dass die Aufklärung dieses Falles viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen würde.
Am nächsten Vormittag fuhren Gerhard Voss und seine Kollegen Prause und Weimann zum Tatort und brachten mit Unterstützung der Schutzpolizei in der Grünanlage Fahndungsplakate an und verteilten sie auch auf den angrenzenden Straßenzügen. Die Lokale in unmittelbarer Tatortnähe wurden aufgesucht und die Gastwirte und ihre Angestellten befragt. Es konnten aber keinerlei Hinweise erlangt werden, dass Altenburg allein oder mit einer anderen Person vor seiner Tötung eines dieser Lokale betreten hatte.
KHK Warnke und KOK Knoll begaben sich noch einmal zum Wohnhaus Altenburgs in der Friedastr. 9 in Lichtenberg und begannen mit der Befragung der Hausbewohner, um etwas über seinen Umgang und mögliche persönliche Kontakte mit Nachbarn in Erfahrung zu bringen. Viel erfuhren sie zunächst nicht, jedoch gab eine Mieterin einen ersten Hinweis auf das Nachbarhaus Nr. 10. Bei einer Frau Agnes Sikurski im ersten Stock sollte sich Altenburg ab und zu aufgehalten haben. Kurz darauf klingelten sie vergeblich an deren Wohnungstür. Enttäuscht hinterließen sie ihr eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf.
Durch die bisherigen Befragungen hatte sich ergeben, dass Altenburg bei seinen Nachbarn nicht den besten Ruf genoss. Er trat großspurig auf und seine häufigen Trinkgelage und gelegentliche Pöbeleien führten immer wieder zu Beschwerden. Wenig später wurden die Beamten auf eine weitere Bekannte aus dem Freundeskreis Altenburgs mit Namen Irmgard Jung hingewiesen, die im Haus Nr. 13 im Parterre wohnen sollte.
Die Frau wurde angetroffen und bestätigte, dass sie Altenburg persönlich näher kannte. So habe sie sich mit ihm einen Tag vor seinem Tod verabredet, damit er aus ihrem Keller einige Gegenstände abholen konnte. Aus ihr unbekannten Gründen hatte er aber den Termin platzen lassen. Diese Verabredung war auch in seinem schwarzen Terminplaner verzeichnet gewesen, den er beim Auffinden in seiner Bekleidung bei sich getragen hatte und der im Hinblick auf die Vielzahl der Notizen und Telefonnummern noch genau ausgewertet werden musste. Frau Jung bezeichnete Altenburg als sehr aggressiv, besonders Frauen gegenüber soll er oftmals herablassend aufgetreten sein. Infolge eines Streites habe er sie sogar einmal gewürgt, aber auf eine Anzeige gegen ihn habe sie verzichtet. Dann spitzten Warnke und Knoll ihre Ohren. Frau Jung erzählte den überraschten Beamten, dass ihr Altenburg am Jahresende gestanden habe, mit einem Mittäter einen Überfall begangen und dabei eine Frau erschossen zu haben. Angeblich hätten sie 1,5 Millionen DM erbeutet. Allerdings gab Frau Jung zu bedenken, dass Altenburg ein »Spinner« gewesen sei, der immer wieder »Fantasiegeschichten« erzählt habe. Deshalb habe sie das Ganze nicht ernst genommen.
Im Zuge der Durchsicht des Terminplaners ergab sich eine erste konkrete Spur für eine neue Wohnanschrift. In einem eingelegten Brief an einen Dieter Nierbach fragt Altenburg nach, ob dieser Interesse an einem Verkauf seines Musikcafés »Kontrast« habe. Eine Antwort sollte an die Adresse eines Siegmar Perkahn in der Richard-Sorge-Str. 67 in Berlin-Friedrichshain gesandt werden.
Ein weiterer Brief war an eine »Susanne« gerichtet, deren Telefonnummer im Terminplaner vermerkt war. Es war die Nummer einer Bäckerei im Nebenhaus. Dort trafen die Beamten auf die Verkäuferin Susanne Stecher, die bestätigte, dass sie mit Altenburg befreundet ist und ihn im Dezember 1995 kennen gelernt habe. Sie berichtete, dass ihr neuer Freund bei einem Herrn Perkahn wohnen würde. Er führe in dessen Wohnung Malerarbeiten durch und nächtige auch dort. Altenburg habe ihr einmal erzählt, dass er eine Wohnung in Lichtenberg hätte, demnächst aber umziehen werde. Für das kommende Wochenende sei sie mit ihm verabredet. Als sie vom Tode ihres neuen Freundes erfuhr, brach sie beinahe zusammen. Unter Tränen gab sie an, dass sie Ralf Peter Altenburg, den alle nur »Pit« nannten, am Vortag gegen 15.30 Uhr in der Bäckerei zum letzten Mal gesehen habe. Von Perkahn wusste sie nur, dass er als »Schließer« in einem Berliner Gefängnis arbeiten sollte. Perkahn wurde durch die Beamten nicht angetroffen. Durch einen Mieter erfuhren sie, dass Perkahn nicht in der JVA Moabit arbeitete, sondern dort inhaftiert sei, jedoch fast täglich Freigang hätte.
Gerhard Voss hörte sehr aufmerksam zu, als Bernd Warnke und Uwe Knoll über das Ergebnis ihrer Hausermittlungen berichteten.
»Da kann man mal sehen, wie wichtig es ist, das soziale Umfeld des Opfers aufzuhellen«, dozierte er und erntete natürlich Zustimmung seiner beiden Mitarbeiter.
Der 52-jährige Perkahn war in der Tat kein unbeschriebenes Blatt, wie eine Nachfrage bei der kriminalpolizeilichen Aktenhaltung ergab. Er saß zurzeit wegen eines begangenen Banküberfalls in Berlin in Haft, hatte aber als Freigänger häufig die Gelegenheit, tagsüber seine Freizeit außerhalb der Gefängnismauern zu verbringen. Ungläubig schüttelte Voss den Kopf, als er dessen Strafregisterauszug las. Mehr als 30 Jahre hatte Perkahn in Gefängnissen zugebracht, die meiste Zeit allerdings in Gefängnissen der DDR. Allein eine Haftstrafe von 15 Jahren im Jahre 1975 wegen Diebstahls sozialistischen Eigentums stand für ihn zu Buche. Da hatte also der kleine Ganove Altenburg tatsächlich bei einem Berufsverbrecher Unterschlupf gefunden. Sollte sein Tod etwa mit der Person Perkahns in irgendeiner Weise zusammenhängen?
»Männer, ich habe da so eine Ahnung«, sagte Voss, »und der müssen wir nachgehen. Nehmt mal Perkahn genau unter die Lupe. Wir sollten auch mal überlegen, ob wir nicht im Knast nach ihm unsere Fühler ausstrecken sollten. Natürlich müssten wir dabei sehr vorsichtig zu Werke gehen.«
Erstaunlicherweise nahm Siegmar Perkahn zuerst Kontakt zur Mordkommission auf. Er meldete sich noch am gleichen Nachmittag per Telefon und erzählte, dass er vom Tode seines Mitbewohners von Susanne Stecher informiert worden war.
Gegen 16.30 Uhr trafen sich KHK Warnke und KOK Knoll mit Perkahn vor dessen Wohnhaus. Gemeinsam betraten sie seine Zweizimmerwohnung, die zurzeit renoviert wurde. Die Beamten erfuhren, dass »Pit« Altenburg häufig bei Perkahn übernachtet und auch einige seiner persönlichen Gegenstände in der Wohnung aufbewahrt hatte, darunter einige Bekleidungsstücke und eine Vielzahl von Aktenordnern. Eine erste Durchsicht erbrachte jedoch keinen erkennbaren Zusammenhang mit seiner Ermordung. Anschließend fuhren sie mit Perkahn zur Dienststelle, um ihn zu vernehmen.
Perkahn wurde von KHK Gräbner noch einmal ausführlich zu seinem Verhältnis zu Altenburg befragt. Dabei trat der dem Beamten eine Spur zu leutselig gegenüber, so als würde er sich mit ihm zum Kaffeekränzchen und nicht zur Vernehmung in einem Mordfall treffen. Allerdings fand Gräbner auch, dass ihm Perkahn unsympathisch war und eindeutig zu viel und ein bisschen zu schnell redete, so dass die Stenotypistin kaum mit dem Protokoll hinterherkam.
Letztmalig habe er seinen Untermieter am Sonntag, den 21. Januar 1996, gesehen, als er gegen 17 Uhr die Wohnung verließ, um wieder in die JVA zurückzukehren. Kennen gelernt hatte er Altenburg in der Berliner Haftanstalt Lehrter Straße, als dieser eine kurze Haftstrafe absitzen musste. Dort wurden erste Kontakte geknüpft, die auch nach der Entlassung nicht wieder abrissen. Im November 1995 bekam Perkahn seine jetzige Wohnung und »Pit« Altenburg half ihm beim Renovieren, wovon dieser tatsächlich etwas verstand. Über dessen persönliche Verhältnisse wusste Perkahn nicht viel zu berichten, nur dass Altenburg ohne Familie in Berlin lebte und seinen Lebensunterhalt von »Stütze« bestritt. Ansonsten konnte er der Kripo nicht viel weiterhelfen. Allerdings stutzte Perkahn, als der Beamte ihm gegenüber den Brief an Nierbach erwähnte, in dem er .(Perkahn) als Interessent am Kauf von dessen Musikcafé aufgeführt worden war. Er bestritt ziemlich aufgeregt, dass er diesen Brief je geschrieben hatte und behauptete vielmehr, der Brief würde von Altenburg stammen. Als ihm Gräbner den Brief zeigte, nickte er mit dem Kopf und sagte:
»Den hat der ›Pit‹ geschrieben. Wusst’ ich’s doch. Ich erkenne seine Unterschrift wieder.«
»Dieses Verhalten«, so erklärte Perkahn, »würde in dessen ›hochstaplerische Ader‹ passen.«
Als KHK Gräbner Perkahn schließlich bat, der Kripo zu gestatten, auch während seiner Abwesenheit die Wohnung aufsuchen zu dürfen, stimmte der spontan zu.
Ein wenig zu schnell, wie auch später Gerhard Voss befand. So ganz koscher fanden ihn beide nicht.
Am frühen Abend meldete sich telefonisch der Vater des Opfers aus Idar-Oberstein bei der 4. Mordkommission. Er berichtete, dass sein Sohn bis vor zirka elf Jahren in der Fremdenlegion gedient habe. Dort sei er dann desertiert und habe für kurze Zeit in seinem Elternhaus gelebt. Vor zehn Jahren zog er plötzlich aus und verschwand spurlos aus dem Leben seiner Familie. Über ein Jahrzehnt lang habe er dann seine Familie über sein Schicksal im Unklaren gelassen. Bis November 1995 gab es von ihm kein einziges Lebenszeichen. Im ersten Telefongespräch mit seinem Vater nach diesem langen Zeitraum habe er dick aufgetragen und behauptet, er hätte ein Geschäft und würde bei einer Frau mit zwei Kindern wohnen. Der verzweifelte Vater teilte noch mit, dass die Formalitäten der Beerdigung seines Sohnes nach Freigabe der Leiche ein Bestattungsinstitut übernehmen würde und bat um entsprechende Benachrichtigung.
Auf das ablehnende Verhalten von Altenburg seinen Eltern gegenüber konnte sich keiner der Mitglieder der Kommission einen Reim machen. Es war in der Tat nicht nachvollziehbar, warum er den Kontakt zu seiner Familie plötzlich und vor allem über diesen langen Zeitraum abgebrochen hatte. Welche Gründe hatten dafür wohl eine Rolle gespielt? Der Einzige, der die Antworten kannte, war tot, brutal ermordet worden. Welche Höllenqualen mussten seine Eltern jetzt durchleiden?
In der Zwischenzeit hatte KOK Weimann auf Wunsch seines Chefs die umfangreiche Personenakte Perkahns ausgewertet.
Perkahn hatte seine Jugend in Greifswald verbracht und war ohne Vater aufgewachsen, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Obwohl nicht auf Rosen gebettet, gelang es der Mutter in der Nachkriegszeit, ihrem Sohn ein harmonisches Zuhause zu bieten. Dieser Zustand änderte sich mit der Rückkehr seines alkoholkranken Vaters, der im Rauschzustand gegenüber seiner Familie immer wieder tätlich geworden war. Nach Abschluss seiner Schule schloss Siegmar Perkahn erfolgreich seine Ausbildung zum Elektriker ab und nahm wenig später ein Studium der Elektrotechnik auf. In dieser Zeit heiratete er. Die Ehe verlief jedoch nicht glücklich und wurde wegen eines Seitensprunges seiner Ehefrau geschieden. Dieses Ereignis schien für ihn ein verhängnisvolles Schlüsselerlebnis gewesen zu sein und führte vermutlich zum Bruch seines bis dahin bürgerlichen Lebens. Wenige Monate später wurde er zum ersten Mal straffällig und hatte seitdem, mit nur kurzen Unterbrechungen, die ganze Zeit über im Gefängnis gesessen – eine wahrhaft grauenhafte Vorstellung und ein Paradebeispiel für eine klassische »kriminelle Karriere«.
Keiner der Kommissionsmitglieder wusste genau, warum ihr Chef so sehr am Leben von Perkahn interessiert war. Auf entsprechende Fragen gab er nur ausweichende Antworten. Alle spürten, dass er etwas in der Hinterhand hatte. Sie kannten ihn und wussten, dass er das nicht ewig für sich behalten konnte.
Kurz vor 20 Uhr erschien die 40-jährige Agnes Sikurski aus der Friedastr. 10 zur Vernehmung.
Sie hatte Altenburg im vergangenen Sommer näher kennen gelernt. Schon nach kurzer Zeit verbreitete er im Hause zu Unrecht, dass er mit ihr ein intimes Verhältnis unterhalten würde. Diese Lüge belastete fortan ihre Beziehung. Sie schilderte »Pit« als aggressiv und cholerisch. Um vor ihm sicher zu sein, erteilte sie ihm schließlich Hausverbot. Kurz vor Weihnachten 1995 sei er noch mal bei ihr erschienen und habe ihre Wohnung betreten. Dort habe er plötzlich aus zwei Plastiktüten zwei Handfeuerwaffen geholt, sie feixend auf den Tisch gelegt und behauptet, es seien lediglich Schreckschusspistolen. Frau Sikurski bestätigte den bisher entstandenen Eindruck über den »Aufschneider« und »Spinner« Altenburg. So berichtete sie, dass er sie oftmals belogen hatte. Einmal wollte er nach Frankreich in sein Haus ziehen, ein anderes Mal erzählte er überall herum, er sei an Blutkrebs erkrankt. Nichts habe gestimmt und langsam hatte keiner mehr aus seinem näheren Umfeld seine Geschichten ernst genommen. Auffällig war für sie, dass er immer über genügend Geld verfügt habe, obwohl er Sozialhilfeempfänger gewesen sei. Und dann sagte sie wörtlich:
»Mir ist da noch was eingefallen. Vor Weihnachten hat mir ›Pit‹ etwas von einem geplanten Raubüberfall auf eine Filiale der ›Metro‹ in Greifswald erzählt. Er sagte, dass ein Familienvater mit zwei Kindern, nicht vorbestraft, den Fluchtwagen fahren sollte. Der Zweite sollte von außen an das zu ebener Erde gelegene Fenster des Raumes treten, in dem die Einnahmen gezählt werden. Er selber wollte an den Kundenkassen vorbei bis zu diesem Raum gehen, dann dort in den Geldzählraum eindringen und abkassieren. Von dort wollte er durch das Fenster das Gebäude verlassen. Er sagte noch, wenn der nicht vorbestrafte Fluchtwagenfahrer den Mund aufmachen würde, dann würden sie ihn erledigen.«
Als sie das ungläubige Gesicht von Bernd Warnke sah, zuckte sie entschuldigend mit den Schultern und sagte:
»Ich habe die Sache überhaupt nicht ernst genommen, weil er immer so viele Geschichten erzählt hat. Das müssen Sie mir einfach glauben!«
Warnke sah ein, dass er ihr unter diesen Umständen keinerlei Vorwurf machen konnte.
Nachdem Gerhard Voss das Vernehmungsprotokoll gelesen hatte, machte er ein noch geheimnisvolleres Gesicht als zuvor, ließ sich aber kein Sterbenswörtchen entlocken. Er sagte nur:
»Ich habe da so eine Theorie ... Noch ist es zu früh, sie hinauszuposaunen, aber wenn ich richtig liege, dann sind wir der Aufklärung des Falles ein ganzes Stück näher gekommen.«
Was er damit sagen wollte, war allen nicht so richtig klar.
Aber bereits wenige Stunden später wussten Warnke und seine Kollegen, dass der Alte mit seiner Ahnung, wie er später behauptete, tatsächlich ins Schwarze getroffen hatte.
Um 22 Uhr hatte Gerhard Voss seine Männer zusammengerufen, um mit ihnen das bisherige Ermittlungsergebnis zu diskutieren.
Abgekämpft saßen sie ihm im größten Zimmer des Kommissariats – dem Geschäftszimmer – gegenüber. Obwohl erst in der Nacht zuvor um 3 Uhr ins Bett gekommen, waren sie heute alle vollzählig um 8 Uhr zum Dienst erschienen. Mittlerweile lagen schon wieder 14 Stunden angestrengte Kommissionsarbeit hinter ihnen. Voss wusste, dass er sich auf seine Kollegen verlassen konnte und niemand von ihnen über die immense Arbeitsbelastung während der Aufklärung dieses Falles klagen würde. Mit Lothar Eberhardt und Georg Gräbner war er schon lange zusammen und kannte sie noch aus ihrer gemeinsamen Zeit bei der Bereitschaftspolizei. Die anderen hatte er sich alle persönlich ausgesucht. Natürlich hatte er sich damit bei seinen Kommissariatsleiterkollegen und Vorgesetzten nicht immer beliebt gemacht und sich gelegentlich handfeste Streitgespräche geliefert.
Gegen seine Argumente »Sehr gute Arbeit wird nur von sehr guten Sachbearbeitern geleistet« und »Der Mitarbeiter muss zudem auch noch teamfähig sein, weil Kommissionsarbeit Teamarbeit ist« war in der Regel kein Kraut gewachsen. Und immer dann, wenn es wirklich einmal eng werden sollte, führte er als letztes As ein treffliches Argument ins Feld, nämlich seine hervorragende Aufklärungsquote. Und spätestens dann kapitulierte sein Chef und bewilligte die Umsetzung eines neuen Mitarbeiters zur 4. Kommission, den Voss unbedingt haben wollte. Voss, der weit über die Grenzen Berlins hinaus als ein hervorragender Ermittler geschätzt wurde, ging es dabei nie um sein eigenes Ego, sondern nur um die Sache, wie er immer wieder mit Nachdruck erklärte. Er selbst galt als harter Hund, der als Erster kam und als Letzter ging, obwohl er der Älteste von ihnen war.
Neben Voss hatte Lothar Weimann Platz genommen, der von ihm als Vorgangsführer dieses Mordfalles bestimmt worden war.
Voss blickte in die Runde und sah in die gespannten Gesichter seiner Mitarbeiter.
Mit kurzen, knappen, schnörkellosen Sätzen skizzierte er den bisherigen Ermittlungsstand und vergaß dabei natürlich nicht, noch einmal ausführlich auf das Opfer einzugehen.
»Was wir bisher über Altenburg wissen, macht ihn nicht besonders sympathisch. Er scheint ein richtiger ›Kotzbrocken‹ gewesen zu sein.«
»Und nicht nur das. Er war auch ein Aufschneider erster Güte«, fiel ihm Lothar Eberhardt ins Wort.
»Genau das ist der Punkt«, bemerkte Voss.
»Mir ist da etwas aufgefallen und ich werde den Gedanken nicht los, dass an der Geschichte mit dem Überfall etwas dran sein könnte. Er hat sowohl seiner Bekannten Irmgard Jung als auch Agnes Sikurski von einem Raubüberfall erzählt, nur mit dem kleinen Unterschied, dass er Frau Jung gegenüber von einem Überfall sprach, bei dem er mit einem Mittäter 1,5 Millionen erbeutet und eine Frau erschossen hätte, während er sich Frau Sikorski gegenüber mit einem geplanten Überfall in Greifswald gebrüstet hatte. Da brachte er einen dritten Mann mit ins Spiel und erzählte einige wichtige Details ihres Plans. Ich dachte auch zuerst, das ist die Geschichte eines Spinners, aber dann fiel als Tatort die Stadt Greifswald und da bin ich zusammengezuckt ...«
Voss machte eine Pause und schien die Situation regelrecht zu genießen.
»Was hat das alles mit dem Mord an Altenburg zu tun?«, fragte Werner Prause neugierig. In seinem Gesicht stand ein einziges Fragezeichen.
Voss wiegte nachdenklich seinen Kopf.
»Ich glaube, ›ne ganze Menge. Ich habe Lothar gebeten, die Personalakte von Perkahn auszuwerten. Bei dem hat Altenburg gewohnt. Beide kannten sich aus dem Knast. Perkahn sitzt wegen eines Banküberfalles. Und wisst ihr was? Der ist in Greifswald geboren und zudem auch noch Freigänger. Ich verwette mein ganzes Weihnachtsgeld. An der Geschichte ist etwas dran. Schön, das mit Greifswald könnte ein purer Zufall sein. Aber ich tue mich mit Zufällen immer schwer, wie ihr wisst.«
Er wandte sich an Lothar Weimann.
»Rufe doch mal in Greifswald an, die haben bestimmt einen Dauerdienst, und frage nach, ob vor Weihnachten in der Gegend ein derartiger Überfall stattgefunden hat. Denn wenn es so ist und Altenburg tatsächlich eine Millionensumme erbeutet hat, haben wir auch zwei mögliche Motive für seine Tötung, entweder Geldgier seiner Mittäter, die die Beute vielleicht nicht durch drei teilen wollten oder aber die Befürchtung, dass er wegen seiner übertriebenen Redseligkeit zu einer konkreten Gefahr geworden war und sie mit ihrer Enttarnung rechnen mussten.«
»Na, was sagt ihr nun?«, fragte er beifallheischend in die Runde.
Alle sahen ihn überrascht an und waren für einen Moment völlig sprachlos. Weimann war der erste, der die Sprache wiederfand.
»Donnerwetter Chef, eine in sich schlüssige und nachvollziehbare Kombination. Das hört sich nicht schlecht an. Ich werde gleich mal dort anrufen.«
Er klemmte sich das Polizeiadressbuch unter den Arm, um die entsprechende Telefonnummer herauszusuchen und verschwand im Nebenzimmer.
Dann berichteten Werner Prause und Holger Märker von dem Ergebnis der Flugblattaktion am Tatort. Die Boulevardpresse hatte in großer Aufmachung von der Ermordung Altenburgs berichtet und die Fragen aufgeworfen, ob in Berlin ein gnadenloser Bandenkrieg herrschen würde und ob die Sicherheit der Berliner durch die Polizei noch gewährleistet wäre. Aber an die manchmal hektischen Reaktionen der Medien waren die Profis der Mordkommission längst gewöhnt und ließen sich durch solche provokanten Fragen nicht aus der Ruhe bringen.
Einige Hinweise aus der Bevölkerung waren bereits eingegangen, aber es war keiner darunter, der die Aufklärung hätte vorantreiben können. Es war scheinbar niemandem aufgefallen, als Altenburg und sein Mörder den Jahnpark betreten hatten.
Lothar Weimann kam zurück. Sein Gesicht war vor Aufregung leicht gerötet.
»Mensch Gerhard«, sagte er und wandte sich an seinen Chef, »du und dein siebter Sinn. Du hattest in allem Recht. Es gab tatsächlich dort einen Raubüberfall am Donnerstag, den 21.12.95, gegen 19.45 Uhr, im ›Marktkauf‹ in Neuenkirchen bei Greifswald. Das, was Altenburg der Sikurski an Einzelheiten erzählt hat, ist reines Täterwissen, zumal er sich bereits vor der Tat damit gebrüstet hatte. Sein Geltungsbedürfnis hat ihn im Nachhinein doch noch verraten. Allerdings gab es bei dem Überfall kein Todesopfer. Da hat er noch einmal kräftig rumgesponnen. Zwar sind den Tätern nicht 1,5 Millionen, aber immerhin noch so um die 540.000 DM in die Hände gefallen. Das ist ja schließlich auch kein Pappenstiel.«
Er machte eine kurze Pause und sagte dann mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme:
»Wenn das kein treffliches Mordmotiv ist, dann ist ab heute der Weihnachtsmann eine Frau.«
Alle lachten.
»Morgen werden wir ein ausführliches Fernschreiben mit allen Einzelheiten erhalten. Ich werde mich gleich zu Dienstbeginn darum kümmern und die nötigen Kontakte zur dortigen Fachdienststelle herstellen«, schob er nach.
Bernd Warnke berichtete von zwei Briefen, die Altenburg seiner Freundin Agnes Sikurski vor Weihnachten 1995 geschickt hatte. »Der eine, datiert vom 13.12.1995, dürfte in Zusammenhang mit dem Raub in Greifswald stehen. So schreibt er ihr von einem Urlaub in der nächsten Woche von Dienstag bis Freitag .(19.12. – 23.12.95) und für den Fall, dass er sich bei ihr nicht melden kann, wünscht er ihr schon jetzt ein ›frohes Weihnachtsfest‹. Im Weiteren schreibt er ›... und plündere meine Wohnung – besser du bekommst es als die Wohlfahrt. In meinen Erinnerungen wirst du immer Platz ›eins‹ haben‹. Nun lässt sich trefflich spekulieren, was er damit gemeint hat, aber ein bisschen klingt das für mich wie nach Abschied. Vielleicht hat er bereits damals damit gerechnet, dass er bei dem Überfall geschnappt oder sogar erschossen werden könnte«, sinnierte Warnke.
Die anderen stimmten ihm zu.
»Und da ist noch etwas. Die Sikurski hatte mir erzählt, dass ein guter Kumpel von Altenburg den Spitznamen ›Sigi‹ trägt. Das könnte doch Siegmar Perkahn sein. Ich habe vorhin in der JVA Plötzensee angerufen und mich nach den Freigängen Perkahns erkundigt. Und wisst ihr was? Der hatte vom 19. Dezember 1995, abends, bis 23. Dezember 1995 ›morgens‹ Hafturlaub. So ist es jedenfalls in seinem Urlaubsschein eingetragen worden. Und dann habe ich auch gleich die Tage im Januar abklären lassen. Am 23. Januar, als Altenburg getötet wurde, hatte Perkahn keinen Urlaub. Das steht nachweislich fest. Er kann also nicht der Täter, aber immerhin der Auftraggeber gewesen sein. Ich glaube, Gerhard hat Recht. Er hat die Zusammenhänge schon sehr früh erkannt.«
»Na, dafür ist er ja auch unser Chef«, frotzelte Lothar Eberhardt. Voss schmunzelte über dessen Bemerkung, verkniff sich aber eine Antwort.
»Wir werden jetzt Schluss machen. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Er wandte sich an Bernd Warnke und Uwe Knoll.
»Vernehmt doch noch einmal beide Frauen ausführlich zu dem Überfall. Wir müssen wissen, wer die Mittäter waren. Denn die sind entweder selber die Mörder oder aber deren Anstifter. Ich werde jetzt noch mit Ulrich Mende reden und ihm den Sachstand mitteilen.«
Er griff sich den Hörer und wählte dessen Privatnummer, die er längst auswendig kannte.
KOR Mende hörte den Ausführungen von Voss zu, ohne ihn zu unterbrechen. Er war hocherfreut, dass die Aufklärung ein großes Stück vorangekommen war und seine Männer auf der richtigen Spur waren. Die Presse saß ihm bereits unbarmherzig im Genick und forderte lautstark Ergebnisse und die Präsentation des Mörders.
Voss bat ihn inständig, noch nichts über Altenburgs Täterschaft bei dem Überfall in Neuenkirchen verlauten zu lassen und die Reporter noch einige Tage mit der Verkündung einiger Floskeln, wie z. B. »Wir haben einige vielversprechende Ansatzpunkte« oder »Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir den Fall aufklären werden« hinzuhalten. Mende versprach’s und wünschte eine ›Gute Nacht‹«.
Nachdem die anderen gegangen waren, saß Voss noch mit Lothar Weimann in seinem Zimmer zusammen, besprach noch einige Einzelheiten und notierte sich die Aufträge für den morgigen Tag.
Frau Jung wurde noch einmal sehr ausführlich von KHK Warnke vernommen. Sie erzählte bereitwillig von ihrer Beziehung zu Altenburg und dass sie ihn als Freigänger kennen gelernt habe und für zwei Monate zu ihm in seine Wohnung in der Friedastr. 9 gezogen sei. Dann bekam sie ihre eigene Wohnung nur wenige Häuser weiter. Sie hielt weiter Kontakt zu ihm, weil sie von ihm einfach nicht losgekommen sei, obwohl er viel trank und dann Frauen gegenüber immer sehr ausfallend auftrat. Von seinen Kumpels erwähnte er immer wieder »Sigi«, bei dem er in der letzten Zeit wohnen würde. Auf den Überfall noch mal angesprochen erwähnte sie, dass ihr Altenburg in der ersten Januarwoche 1996 von dem Überfall erzählt habe. Sie konnte sich noch an einige Einzelheiten erinnern. So sagte sie unter anderem:
»Er hätte 1,8 Millionen DM erbeutet. Dieses Geld will er irgendwo gebunkert haben. Das hat er mir erzählt, als ich ihn rausschmeißen wollte, weil er meinen Katzen den Hals umdrehen wollte. Und dann hat er mich gewürgt. Er hat mir gedroht, dass er mich mit einem Kopfschuss erschießen würde – er hat immer eine Pistole bei sich –, wenn ich zu den Bullen gehen würde. Er sagte, er sei durch den Haupteingang reingegangen und hätte eine entsicherte Handgranate gehabt. Wenn die Polizei gekommen wäre, hätte er sich in die Luft gejagt, weil er keinen Mut gehabt hätte, sich zu erschießen. Er soll dann Geldbomben aus dem Fenster gereicht haben und durch dieses wäre er dann auch abgehauen. Das Gitter dieses Fensters hätten sie schon einen oder zwei Tage vorher durchgesägt. Ich habe ihn gefragt, wo er das Geld hat und er sagte nur, dass er das gebunkert hätte. Er müsste es liegen lassen, bis es nicht mehr so ›heiß‹ wäre.
Nach dem Überfall hätten sie sich dann den ganzen Tag in einem kleinen Wäldchen verbarrikadiert und zwar so lange, bis die Straßensperren der Polizei wieder aufgehoben waren und sie entkommen konnten.«
Zum Abschluss ihrer Vernehmung sagte sie:
»Geglaubt habe ich die ganze Sache natürlich nicht, denn wenn er den Mund aufgemacht hat, fing seine Märchenstunde an.«