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Als der vermögende ältere Immobilienhändler Johannes Obermaier die wesentlich jüngere Roswitha Schulke in seinem Unternehmen einstellt, meint er, sein Glück gefunden zu haben. Sie wird seine Geliebte und zieht zu ihm in seine mit Antiquitäten und Kunstgegenständen eingerichtete Villa. Roswitha hat es allerdings nur auf sein Geld abgesehen und schreckt auch vor Mord nicht zurück, der jedoch wie Selbstmord aussehen soll. Zur Ausführung ihres ebenso raffinierten wie perfiden Planes hat sie ihren ahnungslosen Geliebten Rüdiger erkoren, den sie auf hinterhältige Weise emotional und finanziell von sich abhängig gemacht hat. Basierend auf einem realen Fall, der sich in Berlin zugetragen hat, erzählt Bernd Udo Schwenzfeier, wie durch Geldgier und Skrupellosigkeit drei Leben ruiniert werden, und schildert zugleich, wie es Kriminalhauptkommissar Clemens Rathmann und seiner Kollegin Carina Hase durch sorgfältige Recherche gelingt, ein fast perfektes Verbrechen aufzuklären.
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Seitenzahl: 700
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Bernd Udo Schwenzfeier
Vorwort
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Epilog
Danksagung
Impressum
Dieser Roman wurde in Anlehnung an einen ähnlichen Fall geschrieben, der sich vor Jahren in einer großen deutschen Stadt abgespielt hat.
Es ist eine Mordgeschichte der etwas anderen Art, die sich von den meisten anderen dadurch unterscheidet, dass der Leser von Anfang an die Täter, ihre Motivation und später den Plan des Mordes kennt und damit auch jede Einzelheit, die zur Aufklärung des Mordes führen könnte. Er kann also Schritt für Schritt verfolgen, mit welchen Mitteln Kriminalhauptkommissar Clemens Rathmann und seine junge Kollegin, Kriminalkommissarin Carina Hase, die Tat, den Tatort und die Spuren in Beziehung zum Täter setzen und zu welchem Ergebnis beide kommen.
Ich habe im Handlungsablauf auf eine realistische Darstellung des Tatgeschehens und der Polizeiarbeit insgesamt und auf die der Kriminalpolizei am Tatort, bei der Spurenauswertung und bei den Vernehmungen besonderen Wert gelegt. Es kam mir darauf an, glaubwürdig und ohne billige Effekthascherei, einen Mordfall in all seinen Facetten darzustellen.
Es war mir auch wichtig, ausführlich zu schildern, mit welch raffinierten Tricks und gemeinen Machenschaften ein charakterlich nicht sehr gefestigter Mensch dazu gebracht werden kann, einen anderen zu töten.
Es sind gerade die kleinen Gemeinheiten, die einzeln für sich vielleicht nicht so sehr ins Gewicht fallen würden, die aber in ihrer zunehmenden Niedertracht einen labilen Menschen zu einem Verbrechen treiben können, wie es hier in meinem Roman beschrieben wird.
Wenn der Leser unter diesen Gesichtspunkten den Roman zu lesen beginnt, wird er an der „Sezierung“ eines hinterhältigen Mordes, wie auf der Tribüne sitzend, in aller Spannung teilnehmen können.
Die Namen aller beteiligten Personen sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Namen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Bernd Udo SchwenzfeierJanuar 2008
Johannes Obermaier war ein typischer Bayer, der in Mittenwald geboren war. Er war von großer und massiger Gestalt. Auffallend an ihm war sein schlohweißes, volles und gewelltes Haar, das er sorgfältig pflegte. Er war, wie der Volksmund so sagt, in der Blüte seiner Jahre oder in den buchstäblich besten Jahren. Seinen leichten Bauchansatz kaschierte er dank eines guten Schneiders perfekt. Seine große Leidenschaft aber waren Rostbratwürste auf Sauerkraut und Schweinshaxe. Dazu ein gutes bayerisches Bier, und der Tag war gerettet. Vor etwa vierzig Jahren war er aus dem beschaulichen Mittenwald wegen einer flüchtigen Liebschaft nach Berlin gespült worden. Die Liebschaft nahm ein baldiges Ende, aber die Liebe zu dieser geteilten Stadt war geboren und wurde von Jahr zu Jahr tiefer. Er schaffte sich eine Existenz und machte in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms ein kleines Immobilienbüro auf. Er war tüchtig und bemüht, trat aber buchstäblich auf der Stelle. Erst als er die wohlhabende Offizierstochter Felicitas Müllerhoff kennenlernte, ging es mit ihm steil bergauf. Nicht nur, dass er durch sie in andere Kreise kam, nein, auch das Glück war ihm mit einem Schlage hold. Sie erschloss ihm einen neuen Kundenstamm, und bald darauf standen Käufer und Verkäufer Schlange vor seinem vergleichsweise bescheidenen Büro. Obermeier verdiente kräftig, und sein Konto wuchs schneller, als dass er laufen konnte. Bald war das Büro zu klein, und er zog in ein feudales Geschäftshaus um. Aber damit nicht genug. Er warb unablässig um Felicitas. Einen Blumenladen am Adenauerplatz machte er damit reich, dass er jeden Tag einen Rosenstrauß orderte und ihn per Boten zu ihrer Wohnung bringen ließ. Und es kam wie es kommen musste. Sie konnte und wollte seinem Werben nicht widerstehen. An einem Tag im April machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie sofort annahm. Schon im August läuteten die Hochzeitsglocken in der Steglitzer Dorfkirche. Viele illustre Gäste waren eingeladen und hatten auch dankend zugesagt. Johannes und Felicitas wurden ein glückliches Paar. Sie zähmte diesen manchmal rauen und ungehobelten Urbayer, und er gab ihr die finanzielle Sicherheit, die sie brauchte. Schließlich stammte sie aus gutem Hause und wusste immer wieder auf ihre Vorfahren hinzuweisen, die Wissenschaftler, Politiker und mehrere Generäle der deutschen Armee hervorgebracht hatten. Da musste man auch entsprechend repräsentieren und Gesellschaften geben, Künstler, Intellektuelle, Politiker und reiche Geschäftsleute einladen, und nicht zu vergessen, den alten Adel dieser Stadt.
Bei einem Spaziergang entdeckten beide eine wunderschöne alte Villa aus der Gründerzeit mit kleinen Türmchen und verwinkelten Erkern. Sie befand sich auf einem großen, waldähnlichen Grundstück in Wannsee, von großen alten Bäumen umgeben, und stand zufällig zum Verkauf. Sie mussten beide nicht lange überlegen. Aber erst nach zähen und sehr schwierigen Verhandlungen erreichten sie, dass der Eigentümer seine Unterschrift unter den Kaufvertrag setzte. Aufwendig wurde das alte Gemäuer restauriert, die wunderbaren Stuckarbeiten erneuert und ein neues Dach aus schiefergrauen Ziegeln aufgesetzt. Felicitas, die gelernte Innenarchitektin war, richtete das Haus mit viel Geschmack ein. Überall sah man warme Farben, teure Teppiche und moderne Kunst, bunt gemischt mit alten Meistern, an den Wänden. Schon bald war ihre Adresse Treffpunkt der High Society. Es war eine bewegte Zeit, und beide genossen das Leben in vollen Zügen. Johannes war nie so glücklich wie in dieser Phase seines Lebens. Aber manchmal war das Schicksal grausam und schlug unerbittlich zu.
Es war ein wunderbarer Herbsttag. Die Sonne schien, und die bunten Farben der Blätter leuchteten in der milden Mittagssonne. Johannes hatte sich einen Tag freigenommen. Er musste endlich einmal ausspannen. Auf der Terrasse hatte er eine Liege aufgestellt und sich dann mit einer warmen Decke zugedeckt. So lag er ganz entspannt und beobachtete die Spatzen, die keck bis zur Brüstung kamen in der Hoffnung, ein paar Krumen zu finden. Es war still im Park, nur in der Ferne hörte man einen Specht klopfen. Er genoss den Augenblick und schloss die Augen. Felicitas hatte einen Termin bei ihrer Kosmetikerin und wollte gegen 16.00 Uhr zurück sein. Er musste eingeschlafen sein, denn die aufkommende Kühle weckte ihn auf. Er sah auf seine Armbanduhr, es war schon 17.00 Uhr, und die Sonne hatte sich bereits hinter den hohen Bäumen versteckt. Er streckte sich ein wenig und stand auf. Komisch …, wo war Felicitas? Es war ungewöhnlich still im Haus. Auch ihr Wagen stand nicht in der Auffahrt. Er wurde unruhig und ging in die Diele, nahm das Telefonverzeichnis zur Hand. Nachdem er die Nummer des Salons gefunden hatte, rief er kurz entschlossen an. Es war sonst nicht seine Art, seiner Frau hinterherzuspionieren. Aber manchmal, so fand er jetzt, gab es eben Ausnahmen. Ungläubig hörte er, dass sie schon vor über einer Stunde den Salon verlassen hatte und auf direktem Wege nach Hause fahren wollte. Er hatte gerade den Hörer auf die Gabel gelegt, als er das Geräusch eines ankommenden Wagens hörte. Er schaute durch das Fenster zur Einfahrt. Dort hielt ein Funkwagen an. Ein Beamter in Uniform stieg aus und kam mit eiligen Schritten auf das Haus zu. Eine eisige Hand griff nach seinem Herzen. Instinktiv spürte er, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Sein Mund wurde trocken, und sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Da ertönte auch schon die Klingel. Er öffnete die Tür. Der Beamte stellte sich kurz vor. „Ich bin Hauptmeister Hartung vom Polizeiabschnitt 43. Kann ich kurz hereinkommen?“
Johannes nickte und trat zur Seite. Der Beamte nahm seine Mütze ab und drehte sie ein wenig verlegen in den Händen. „Was wollen Sie mir denn sagen?“, fragte er den Polizisten.
Der suchte nach den richtigen Worten und gab sich nach einigem Zögern einen Ruck. „Herr Obermaier …, Sie sind doch Herr Obermaier?“, fragte er mit unsicherer Stimme und wartete auf eine Bestätigung. Johannes nickte. „Herr Obermaier, ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie. Ihre Frau hatte einen schweren Unfall.“ Er machte eine kleine Pause, um Johannes die Möglichkeit zu geben, die Nachricht zu verdauen. Seine Stimme zitterte leicht, als er fortfuhr: „Es war ein sehr schwerer Unfall. Ihre Frau ist ohne erkennbaren Grund von der Fahrbahn abgekommen, gegen einen Baum gefahren und kam schwer verletzt ins Klinikum Steglitz. Sie wurde sofort operiert, aber leider kam jede Hilfe zu spät. Sie ist noch auf dem Operationstisch gestorben.“
Johannes sah ihn fassungslos an. Alles in ihm weigerte sich, diese unumstößliche Tatsache zu begreifen. „Sie ist tot … tot!“, murmelte er tonlos, griff nach einem Stuhl und ließ sich darauf fallen. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und eine einzige Frage stand darin.
Der Beamte schüttelte bedauernd den Kopf.
„Herr Obermaier, der Notarztwagen war nur ein paar Minuten später vor Ort. Er konnte nicht mehr viel für Ihre Frau tun. Trotzdem haben sie einen Hubschrauber angefordert. Schon etwa fünfzehn Minuten nach dem Unfall lag sie auf dem OP-Tisch. Aber die Verletzungen waren zu schwer. Alle ärztliche Kunst war vergebens.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern.
„Wo ist denn der Unfall überhaupt geschehen?“, fragte Johannes mit tränenerstickter Stimme.
„Ihre Frau fuhr auf der Straße Unter den Eichen gegen einen Baum. Es herrschte kein großer Verkehr. Warum sie gegen den Baum fuhr, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Es gibt zwei Zeugen, aber die können uns auch nicht weiterhelfen. Vielleicht ist Ihre Frau bewusstlos geworden. Hatte sie denn irgendwelche gesundheitlichen Probleme?“
„Ja, sie hatte leichtes Herzasthma. Aber sonst …“, Johannes schüttelte den Kopf. „Sie war bei Professor Glasbach in Behandlung. Vielleicht weiß der mehr. Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.“
„Danke für den Hinweis. Sie erhalten in ein paar Tagen eine Vorladung. Wir müssen ein Protokoll anfertigen. Ach ja, was ich noch sagen wollte: Der Wagen Ihrer Frau wird untersucht werden. Vielleicht ergibt sich da noch ein Hinweis auf einen möglichen technischen Defekt. Nun gut, das wäre es fürs erste, Herr Obermaier. Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen diese schlimme Nachricht überbringen zu müssen.“ Er sah Johannes mitfühlend an und tätschelte ihm leicht den Arm. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Funkwagen zurück.
Johannes hingegen war wie gelähmt. Felicitas war tot, seine schöne, lebenslustige Frau, sein Lebensmittelpunkt war einfach weg, grausam ausgelöscht in wenigen Sekunden. Sie würde nie wieder durch diese Tür kommen. Panik erfasste ihn, und dann schrie er, so laut er konnte, immer wieder verzweifelt ihren Namen.
Von dieser Stunde an hatte er buchstäblich sein Lachen verloren. Es wurde still im Haus. Er wollte niemanden mehr sehen und verkroch sich regelrecht hinter seiner Arbeit. Meist kam er spät in der Nacht aus seinem Büro zurück in das leere, kalte und einsame Haus. Verbittert stand er vierzehn Tage später regungs- und teilnahmslos an ihrem Grab. Die Ansprache des Pfarrers rauschte wie ein Bach an ihm vorbei, aber er vernahm nur Wortfetzen. Manchmal hörte er auch ihren Namen. Er war wie ausgebrannt und fühlte sich innerlich wie abgestorben. Felicitas, seine große Liebe, war tot, und er würde sie niemals mehr wiedersehen. Er musste sich regelrecht überwinden, auf den schweren Eichensarg zu blicken, der tief unter ihm auf der dunklen, feuchten und kalten Erde ruhte. Voller Schmerz ließ er einen Strauß lilaweißer Hibiskusblüten aus seiner Hand gleiten. Als ihre Lieblingsblumen auf den Sarg fielen, konnte er sich nicht mehr beherrschen, wendete sich ab und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Die nächsten Monate arbeitete er wie besessen und vermehrte dadurch sein Vermögen immer mehr. Aber das spielte für ihn keine Rolle. Die viele Arbeit war für ihn nur der Ersatz für etwas, was er unwiderruflich verloren hatte. Er sprach nie wieder mit einem anderen über Felicitas Tod, aber jeder wusste, wie sehr er unter ihrem Verlust litt. So ließ er jegliche gesellschaftliche Verpflichtung aus und schottete sich stattdessen immer mehr von seinem persönlichen Umfeld ab. Er wollte allein um Felicitas trauern. Niemand sollte an seinem Schmerz teilhaben. Aber eines Tages änderte sich seine Gemütsverfassung von einer Sekunde zur anderen. In seinem Büro erschien eine junge Frau von ungefähr dreißig Jahren. Ihr Kostüm war sicherlich nicht billig gewesen, aber eine Spur zu eng und der Rock eine Winzigkeit zu kurz. Sie war wirklich tadellos proportioniert, und jedes ihrer Pfunde saß an der richtigen Stelle. Sie hatte schulterlange platinblonde Haare, hieß Roswitha Schulke, wohnte am Prenzlauer Berg und hatte sich auf eine Zeitungsannonce hin für eine Stelle als Verkaufsleiterin beworben. Johannes’ Sekretärin beäugte sie misstrauisch. Pure Eifersucht war in ihren Augen zu erkennen. Instinktiv spürte sie, dass von dieser prallen Blondine akute Gefahr ausging. Und sie sollte Recht behalten.
Johannes war restlos von ihr begeistert. Seine Sekretärin konnte sich später nicht mehr erinnern, wann er jemals so aufgeräumt und gut gelaunt gewesen war. Als die Blondine in sein Zimmer kam und er sie erblickte, war es um ihn geschehen. Es traf ihn wie ein Hammerschlag, und er stierte sie wortlos an. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich wieder gefangen hatte. Er bot ihr einen Sessel an und setzte sich ihr gegenüber. Das nutzte Roswitha Schulke geschickt aus. Sie zeigte etwas mehr Bein als nötig und setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf. Aber sie sah nicht nur tadellos aus, sondern hatte auch eine ganze Menge in ihrem schönen Kopf. Sie war graduierte Betriebswirtin und hatte ihr Examen mit guten Noten abgeschlossen. Johannes war überwältigt. Nicht nur, dass sie ihm ausgesprochen gut gefiel, sie verfügte zudem auch noch über einen ausgezeichneten Sachverstand, das musste der Neid ihr lassen. Allerdings stellte sich bei ihm kurz ein Anflug von Misstrauen ein. Sie schien für diesen Posten überqualifiziert zu sein. Warum hatte sie sich in seiner relativ kleinen Firma beworben? Ihr stand doch mit diesem Aussehen und außergewöhnlichem Können die ganze Welt offen. Mercedes, Telekom oder Siemens wären die richtigen Arbeitgeber gewesen. Warum nur seine Immobilienfirma? Als er sie danach fragte, lächelte sie ihn bezaubernd an. Ihre weißen Zähne blitzten, als sie die vollen Lippen öffnete. „Wissen Sie, Herr Obermaier, Ihre Firma ist als eine der seriösesten und besten hier in Berlin bekannt. Sie genießt einen ausgezeichneten Ruf. Bei Ihnen habe ich ganz andere Möglichkeiten. In diesen großen Firmen geht der Einzelne buchstäblich unter. Und das will ich nicht. Ich möchte mich entfalten und den Erfolg hautnah spüren können.“
Ihre Augen blitzten, als sie sprach. Johannes war total begeistert, und der letzte Anflug von Misstrauen schmolz wie Schnee in der Sonne. Er war, wie viele Männer, eitel und genoss ihre Worte wie ein Glas köstlichen Champagner. „Gut, ich werde es mit Ihnen versuchen“, hörte er sich antworten und wunderte sich dennoch, wie schnell er sich entschieden hatte.
Sie konnte sofort anfangen. Schon eine Woche später bezog sie ihr Büro, das er nach ihren Wünschen eingerichtet hatte. Seine Entscheidung brauchte er nicht zu bereuen. Sie war ungemein fleißig und geschickt. Ihre Abschlüsse waren perfekt. Daran gab es nichts zu deuteln, auch wenn seine Sekretärin das ein oder andere Mal an Kleinigkeiten herummäkelte. Typisch Weiber, dachte er amüsiert und maß ihren Klagen keinerlei Bedeutung bei. Das war nicht sein einziger Fehler gewesen, wie er allerdings erst sehr viel später sich selbst gegenüber zerknirscht eingestehen musste. Mit ihrem geschäftlichen Erfolg und ihrer täglichen Präsenz kehrten auch bei ihm parallel dazu seine gute Laune und das Interesse am anderen Geschlecht zurück. Sie war gottlob nicht liiert. Das passte geradezu ideal. So blieb es nicht aus, dass er sie zum Essen einlud. Es wurde ein wunderbarer, amüsanter Abend. Der Champagner floss in Strömen, und am Ende war er ziemlich betrunken. Im Taxi brachte er sie nach Hause. Erstaunt musste er feststellen, dass sie in einem alten, etwas heruntergekommenen Mietshaus wohnte. Sie wollte sich von ihm auf der Straße verabschieden. Aber er bestand als Kavalier alter Schule darauf, sie bis zur Wohnungstür zu bringen. Er hoffte natürlich, dass sie ihn mit in die Wohnung nehmen würde. Aber da irrte er sich gewaltig. Ohne Scheu zeigte sie ihm seine Grenzen auf, bedankte sich artig für den schönen Abend und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Bis Morgen, Herr Obermaier“, kicherte sie, als sie die Tür aufschloss. Blitzschnell drehte sie sich in den Türspalt und schlug dann die Tür zu. Obermaier war völlig verblüfft. So hatte ihn noch nie eine Frau abblitzen lassen. Zuerst war er ein bisschen wütend, aber als er wieder in das Taxi einstieg, war sein Ärger verflogen. Donnerwetter, dachte er, die Frau hat Stil, lässt sich nicht gleich am ersten Abend vernaschen. Sein Interesse für sie war geweckt, und ihm wurde bald klar, hätte sie sich anders verhalten, er wäre ziemlich enttäuscht gewesen.
Von Stund an machte er ihr den Hof. Dabei ging er sehr geschickt vor. Seine Aufmerksamkeiten dosierte er und vermischte sie mit einem gelegentlichen Lob oder einem kleinen Geschenk. So kamen sie sich mit der Zeit immer näher, und ihr Ton zueinander wurde immer vertrauter. Bald war er verliebt wie ein Teenager und hatte den Blick für jede Realität verloren. Nun gab sie den Ton an. Bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit war sie in seiner Nähe und machte sich buchstäblich unentbehrlich. Aber das kümmerte Johannes nicht. Er genoss ihre Aufmerksamkeit und fühlte sich einfach nur noch wohl in ihrer Nähe. Dabei übersah er, dass sie alle anderen Mitarbeiter an die Wand drückte. Immer mehr Vollmachten setzte sie für sich durch. Bald war sie für ihn unersetzlich geworden.
Im Anschluss an ein Geschäftsessen brachte er sie wieder einmal nach Hause. Er hatte seit seiner damaligen Abfuhr wohlweislich keinen Versuch mehr unternommen, ihr zu nahe zu treten. Sie ließ es zu, dass er sie umarmte und nach oben zu ihrer Wohnungstür brachte. Er war auch nicht betrunken, obwohl er einige Gläser Wein zu sich genommen hatte. Sie wandte sich ab. Auf ihrem Gesicht stand ein siegessicheres Lächeln, als sie die Tür aufschloss und den ahnungslosen Johannes mit hineinzog. Es war für ihn wie eine erneute Geburt, und er lag später noch fassungslos in seinem Bett und konnte das Wunder nicht fassen. Er, ein Mann von fast sechzig Jahren, war von einer jungen Frau geliebt worden. Voller Leidenschaft hatte sie sich ihm hingegeben. Und er hatte für ein paar Stunden sein Alter und all das, was ihm wichtig war, völlig verdrängt. Ein Wunder war geschehen. Er hatte für kurze Zeit Felicitas aus seiner Erinnerung verbannt. Mit einem Mal spürte er, dass es für eine zweite Chance nicht zu spät war. Als der Morgen graute, schlief er zufrieden und sehr zuversichtlich ein.
Es begann für ihn eine neue Zeitrechnung. Und es war keine große Überraschung, als sie nach rund vier Wochen bei ihm einzog. Viel brachte sie nicht mit. Nur ein paar recht abgenutzte Koffer wurden aus der Taxe ausgeladen und ins Haus geschafft. Johannes war wie verzaubert. Alles war für ihn nur noch wunderbar. Er konnte sein Glück nicht fassen.
Als er nach ein paar Tagen zur Ruhe gekommen war, besuchte er nach langer Zeit wieder einmal den Friedhof, auf dem Felicitas ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Die Wipfel der Bäume rauschten leise im Wind, als er mit ihr ein stummes Zwiegespräch hielt. Irgendwie hatte er wohl gehofft, dass sie ihm ein Zeichen geben würde. Aber da hatte er offenbar zu viel erwartet. Dennoch fühlte er sich später erleichtert, und die letzten Gewissensbisse wegen seiner neuen Liebe waren gänzlich verschwunden.
Die erste Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Sie setzte völlig neue Prioritäten. Aber er liebte sie inzwischen viel zu sehr, als dass er in der Lage gewesen wäre, sich gegen ihre psychische und physische Dominanz durchzusetzen. Das ganze Innere des Hauses wurde buchstäblich nach außen gekehrt. Die alte und ihm so lieb gewordene Einrichtung wurde gegen seinen schwachen Protest einfach auf den Müll geworfen. Nichts sollte ihn mehr an seine verstorbene Frau erinnern. Das sagte sie ihm knallhart ins Gesicht, und als er sie wütend anschaute und sie bemerken musste, dass sie offenbar zu weit gegangen war, setzte sie spontan ihr bezauberndstes Lächeln auf und ließ es zu, dass er einige Bilder Felicitas und das ihrer Hochzeit in seinem Arbeitszimmer aufstellte. Sie richtete das Haus mit neuen Möbeln, viel Glas, Stein und Metall ein. Viele moderne Skulpturen und exotische Pflanzen wurden aufgestellt. Die schwere Ledercouch und Sessel wurden durch moderne, leichte und helle Korbmöbel ersetzt. Das musste man ihr wirklich lassen. Geschmack hatte sie, und die vielen Gäste, die später in das Haus kamen, sprachen sich lobend über sie aus. Da musste auch Johannes letztendlich Abbitte leisten. An einem regnerischen Abend vor dem Kamin zog er aus seiner Jackentasche einen Diamantring und steckte ihn der verdutzten Roswitha an den Finger. Als sie ihn mit großen Augen überrascht ansah, murmelte er verlegen: „Es ist nur ein Einkaräter, einen anderen hatte der Juwelier nicht im Angebot.“
Den Preis von rund siebeneinhalbtausend Euro verschwieg er ihr. Sie sah ihn strahlend an, erhob sich aufreizend langsam und ging rückwärts in Richtung Schlafzimmer, wobei sie ihm mit dem Zeigefinger zuwinkte und flüsterte: „Komm, mein großer Bär, hol dir deine Belohnung ab.“
Von nun an wurde dies zu einem regelrechten Ritual. Er schenkte ihr etwas Kostbares, und sie gestattete ihm, mit ihr zu schlafen. Johannes war viel zu verliebt, um irgendetwas Ungewöhnliches an dieser stillschweigenden Abmachung zu entdecken. Auch in seiner Firma tat sich etwas. Eines Tages kam sie in sein Büro, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich lasziv und mit hoch gerutschtem Rock vor ihm auf die Tischplatte. „Hannes, mein Lieber, meinst du nicht, es wäre an der Zeit, den Leuten hier reinen Wein einzuschenken und mich als deine Lebenspartnerin vorzustellen? Ich glaube, einige haben schon etwas bemerkt. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt, als ich heute Frau Brieger wegen eines Buchungsfehlers abgemahnt habe. Schließlich bin ich ja auch noch deine Geschäftsführerin.“
„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Komm, schlag mir etwas vor“, erwiderte er leicht genervt. Nun fing das auch schon im Büro an, was er heimlich befürchtet hatte. Nicht einmal hier ließ sie ihn in Ruhe.
„Aber natürlich, mein Bärchen“, säuselte sie. „Es gibt eine perfekte Lösung. Du erklärst den Leuten unsere Situation, und ich werde mit dem heutigen Tage aus der Firma ausscheiden und mich nur noch unserem Haus und dem großen Garten widmen. Ich glaube, das wäre die beste Lösung. Da gibt es dann kein Kompetenzgerangel mehr, und die Leute haben nur noch einen einzigen Chef, so wie früher. Nun, was sagst du zu meinem Vorschlag?“
Sie sah ihm dabei offen ins Gesicht. Er war völlig verwirrt. Was sollte das? Wieso trat sie plötzlich den Rückzug an? Das passte doch gar nicht zu ihr. Aber sein Gehirn war noch immer viel zu sehr vernebelt, um ihre wahren Absichten zu erkennen. Sie war verdammt klug und nicht minder gerissen. Diesen Schachzug hatte sie geschickt eingefädelt. Woher sollte er auch wissen, dass sie nicht die geringste Lust verspürte, den ganzen Tag im Büro zu hocken und den Kunden schöne Augen zu machen. Vielmehr wollte sie den Reichtum, der sie umgab, in vollen Zügen genießen und nicht die Tage unter der Woche mit anstrengender Arbeit vertrödeln.
Johannes kam ins Grübeln. Sie zu Hause und er wieder allein in der Firma. Das hörte sich doch gut an. Endlich konnte er wieder Entscheidungen treffen, ohne mit ihr über jede Kleinigkeit zu diskutieren. Da er völlig ahnungslos war, stimmte er ihr spontan zu. „Gut, Liebes, du hast Recht. Es ist tatsächlich besser so. Dann kehrt wieder Ruhe in der Firma ein. Allerdings werde ich dich bestimmt ab und zu um Rat fragen. Du kannst deshalb immer dein Handy eingeschaltet lassen.“
Es war für ihn eine gute Entscheidung und für sie nicht minder. Endlich konnte er wieder in seiner Firma schalten und walten wie in früheren Tagen – und sie konnte unkontrolliert den Tag verbringen. So verfiel sie in einen regelrechten Kaufrausch. Dass es aber dazu kam, musste sie viel Überredungskunst aufbringen und ihren Körper einsetzen. Längst sah Johannes klarer als noch vor Wochen, aber sein Verlangen nach ihr und seine Gefühle waren so groß, dass sie seinen Verstand kontrollierten. Es gelang ihr schließlich, dass er ihr mehrere Kreditkarten zur Verfügung stellte – und zwar ohne Limit. Irgendwann hatte sie den Hals voll und besann sich. Sie durfte nicht übertreiben und musste sein Verlangen nach ihr aufrechterhalten. Nur dann war ihr luxuriöser Lebensstil auf Dauer gesichert. Sie war endlich oben angekommen und wollte sich um keinen Preis der Welt mehr von dort vertreiben lassen. So begann sie, wohl dosiert, erst kleine und dann immer größere Gesellschaften zu geben. Bald war es wie zu Zeiten von Felicitas. Johannes lebte sichtlich auf. Er hatte ein großes Herz und war froh, dass seine Geliebte endlich etwas Nützliches tat. Seine Geschäftsfreunde und männlichen Gäste waren von ihr begeistert und machten ihr allesamt den Hof. Sie genoss ihre Aufmerksamkeit sichtlich, nahm jedes Kompliment mit einem koketten Lächeln zur Kenntnis und hatte doch nur Augen für Johannes.
Eines Tages kamen erste Zweifel an ihrer Treue auf. Einer von Johannes’ engsten Freunden berichtete ihm hinter vorgehaltener Hand, dass er sie in Begleitung eines gut aussehenden jungen Mannes Hand in Hand in einem Café, nahe Savignyplatz, gesehen habe. Die Situation sei eindeutig gewesen. Johannes mochte es nicht glauben. Rosi war ihm untreu? Nein, das durfte einfach nicht sein. So tat er völlig unbeteiligt und verteidigte sie vehement. Es war absurd. Er konnte den Abend nicht abwarten, und als er endlich zu Hause war, stellte er sie zur Rede. Er gab sich alle Mühe, locker und ruhig aufzutreten, aber im Inneren brodelte ein Vulkan. Ohne Verzug konfrontierte er sie mit den Beobachtungen seines Freundes. Sie hatte sich verdammt gut in der Gewalt, das musste man ihr lassen. Sie sah ihn an, ihre Augen strahlten, und sie trat ganz dicht an ihn heran. Er sah nur noch ihr Gesicht, sah ihr inniges Lächeln, und dann war sie bei ihm.
„Du dummer alter Bär, wie kannst du nur denken, ich wäre dir untreu?“, flüsterte sie. Ihre roten Lippen waren seinen ganz nah. Er spürte ihren zarten Parfümduft, der ihn wie eine Nebelwolke einhüllte. Er war irritiert. Sie tat so unschuldig. Sollte sich sein Freund möglicherweise geirrt haben? „Na ja, du musst doch einsehen, dass die Situation ziemlich eindeutig gewesen ist. Und Frank ist ein guter Beobachter. Soweit ich weiß, sind seine Augen bestens in Ordnung. Komm, Rosi, sag schon, wer ist der junge Mann, mit dem du dich heimlich triffst?“
Sie wurde augenblicklich ernst und schob ihn ein Stück von sich weg. „Nun ist aber gut, ich habe nicht gewusst, dass du deinem Freund mehr glaubst als mir. Ich war zu dieser Zeit im Fitnessstudio und habe an meiner Figur gearbeitet. Frag doch meinen Fitnesstrainer, der wird dir meine Anwesenheit zu dieser Zeit bestätigen können.“ Als sie den zweifelnden Ausdruck in seinem Gesicht sah, schob sie nach: „Komm, ich hole dir das Telefon. Stell mich bloß, wenn du einem eifersüchtigen Freund mehr glaubst als mir.“ Als Johannes zögerte, wiederholte sie: „Nun mach schon. Ruf an, blamiere mich, aber ruf jetzt um Gottes Willen an, damit du endlich Klarheit hast und die Sache vom Tisch ist.“ Sie reichte ihm den Telefonhörer und wählte die Nummer an.
Er starrte sie an. Sie spielte ein gewagtes Spiel, und der Einsatz war verdammt hoch. Sie lächelte noch immer, keine Spur von Unsicherheit. Er schwankte. Log sie ihn perfekt an, oder hatte sich Frank geirrt? Was sollte er jetzt tun? Wenn er jetzt anrufen würde und im Unrecht wäre, würde er sich lächerlich machen. Im anderen Fall hätte sie ein Problem. Er hörte bereits das Freizeichen. Die Verbindung war hergestellt. Er musste sich blitzschnell entscheiden. Und er wusste in diesem Augenblick, dass er verloren hatte. Er würde nicht anrufen, er hatte nicht den Mut dazu. Er winkte resigniert ab. „Lass es gut sein. Ich glaube dir. Ich werde noch einmal mit Frank reden.“ Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie nur geblufft hatte, und er wollte auch nicht, dass er sich wie ein alter Narr benahm. Wenn sie tatsächlich ein Verhältnis haben sollte, gab es andere Mittel und Wege, dies festzustellen. Er ging deshalb in die Offensive. „Machen wir uns einen schönen Abend, sehen fern und trinken eine gute Flasche Wein, und dann reden wir nicht mehr darüber. Der Fall ist erledigt und vergessen. Das ist doch auch in deinem Sinne?“
Er sah sie fragend an. Sie war begeistert. Und er hatte Recht behalten. Es wurde tatsächlich ein schöner Abend, ein ausgesprochen schöner Abend sogar mit einem krönenden Abschluss. Sie war sehr lebendig und schier unersättlich. Ermattet sank er weit nach Mitternacht in seine Kissen und schlief sofort ein.
Als er am nächsten Morgen aus dem Haus gegangen war, telefonierte sie. Es war ein sehr kurzes Gespräch. Erleichtert legte sie danach den Hörer auf die Gabel. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
Johannes’ Misstrauen hingegen war geweckt, und er fing an, sie zu kontrollieren. Mehrfach rief er zu unbestimmten Zeiten zu Hause an, aber sie war immer da. Dann engagierte er einen Detektiv und ließ sie überwachen. Aber außer Spesen war nichts gewesen. Der Bericht zeigte ihm, wie unrecht er ihr getan hatte. Keine verdächtigen Kontakte, weder in der Stadt beim Einkaufen noch im Fitnessstudio. Irgendwann wurde es ihm leid, ihr hinterher zu spionieren und er brach die Sache ab. Zu vorschnell, wie sich später herausstellte. Aber manche Fehler ließen sich eben nicht mehr reparieren. Roswitha gab sich von nun an alle Mühe, den Anschein einer braven, treuen und mustergültigen Lebenspartnerin zu erwecken. Sie tat einfach alles, um bei Johannes auch den kleinsten Zweifel an ihrer Treue und Zuverlässigkeit zu zerstreuen. Sie las ihm jeden Wunsch von den Augen ab, ordnete sich seinem Lebensstil völlig unter und ging fortan richtig sparsam mit dem ihr zur Verfügung gestellten, recht großzügigen Haushaltsgeld um. Ihr Taschengeld reichte für Kosmetika, Friseur, Körperpflege, Fitness, schicke Klamotten und ihren silbernen Mercedes SLK. Am Ende des Monats blieb immer noch so viel Geld übrig, dass eine vierköpfige Familie mit Hund und Wellensittich gut einen Monat davon hätte leben können. Alles hätte eigentlich so schön sein können, wenn da nicht bei ihr eine Art unstillbare Gier nach Reichtum und Luxus festzustellen gewesen wäre. Diesem Ziel ordnete sie alles unter: ihre Jugend, ihre Freiheit und ihre Würde. Johannes ahnte nichts von alledem und wusste natürlich auch nicht, dass sie seine Gesellschaft und seine körperliche Nähe nur noch widerwillig ertrug. Nur die Vorstellung, dass sie ihren aufwendigen Lebensstil durch seine Großzügigkeit ausleben und dennoch genug Geld für sich persönlich abzweigen konnte, tröstete sie über den tristen Alltag mit dem alternden Mann an ihrer Seite hinweg.
Nach mehreren Monaten spürte sie, dass ihr Johannes wieder vorbehaltlos vertraute. So nahm sie ihr altes Leben wieder auf. Sie wusste nur zu genau, dass sie damals haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschlittert war. Nur die fehlende Courage von Johannes hatte verhindert, dass sie ins Bodenlose gestürzt war. Noch jetzt spürte sie den kalten Hauch der Angst, die damals schlagartig in ihr hochgestiegen war, als sie ihm provokativ den Hörer hingehalten hatte. Nie wieder durfte es zu einem solch gefährlichen Zwischenfall kommen. Sie musste künftig vorsichtiger zu Werke gehen.
Johannes hatte den besagten Zwischenfall am Savignyplatz längst vergessen, und Roswitha gab ihm auch keinen Anlass dazu, erneut an ihrer Treue zu zweifeln. So war er bald wieder verliebt wie am ersten Tag und zeigte es ihr unverhohlen durch seine fordernde Leidenschaft. Obwohl sie beide nach außen hin als ein glückliches Paar galten, lebte jeder sein eigenes Leben. Er wusste nicht, was sie tagsüber tat, und sie wollte nicht von ihm wissen, wie er seine Tage verbrachte.
Es war an einem Mittwoch, als Johannes früher als sonst von der Firma nach Hause kam. Er hatte vorsorglich angerufen, damit sie auch zu Hause war. Er war mächtig aufgeräumt und guter Dinge. Unter dem Arm trug er eine Flasche Champagner der Marke Dom Perignon. Rosi sah ihn neugierig an und fragte: „Kommt heute noch Besuch, oder gibt es etwas zu feiern?“ Ihre Stimme zitterte leicht vor Neugierde.
Er lachte breit. „Besuch zwar nicht, mein Liebling, aber zu feiern allemal“, erwiderte er geheimnisvoll.
Sie wurde ungeduldig. „Bärchen, nun spann mich nicht so lange auf die Folter.“
Sie zog eine Schippe wie ein beleidigtes Kind und schmiegte sich an ihn. Er spürte ihren warmen, weichen und begehrenswerten Körper. Sinnliches Verlangen kam in ihm hoch. Er umfasste sie, presste seinen Körper hart gegen ihren und küsste sie auf ihren vollen roten Mund. So gab er sich spontan seinen Gefühlen hin und sie gurrte dabei wie eine wilde Taube.
Später saßen sie vor dem Kamin. Rosi rutschte schon ungeduldig auf ihrem Sessel hin und her. Man merkte ihr die Spannung an, unter der sie stand. Er sah es mit voller Freude und ließ sie bewusst zappeln. Dabei kostete er jede Sekunde aus, jedoch wollte er auch die schöne Stimmung, die gerade jetzt zwischen ihnen bestand, nicht zerstören. Er beugte sich vor, griff nach dem halbvollen Champagnerkelch, trank einen kleinen Schluck und richtete sich auf. Einen Augenblick war es völlig still, und die Stille wurde nur durch das gelegentliche Knacken der brennenden Buchenscheite im Kamin unterbrochen. „Rosi, mein Liebes, hör mir zu“, er räusperte sich, „ich habe mir Gedanken über mein weiteres Leben gemacht und deshalb einen Entschluss gefasst.“ Er machte eine kurze Pause und sah sie voller Liebe an.
Rosi blickte ihm direkt in die Augen und spürte instinktiv, dass er ihr etwas ganz Wichtiges sagen wollte. Hatte er vielleicht vor, ihr einen Heiratsantrag zu machen? Eine innere Spannung erfasste sie schlagartig, und sie musste sich alle Mühe geben, um nicht zu zittern. Reiß dich jetzt zusammen, warnte eine Stimme in ihr, und sie gab sich alle erdenkliche Mühe, um nicht hektisch zu erscheinen.
Aber Johannes merkte nichts von ihrer inneren Anspannung. Er sah sie nur an und bewunderte ihre reife und üppige Schönheit. Stolz kam in ihm hoch, und er hätte schreien können vor Glück. „Ich war heute bei meinem Notar, Doktor Wunderlich, und habe mit ihm ein längeres Gespräch geführt. Wie du weißt, werde ich in diesem Jahr sechzig Jahre alt, und es ist an der Zeit, die Frage zu klären, wer einmal alles übernimmt, wenn ich sterbe.“ Er brach ab und sah sie ernst und gleichzeitig voller Liebe an.
Sie hingegen schnellte hoch, sah ihn ungläubig an und rief scheinbar erregt: „Bärchen, was soll denn das? Du bist doch in der Blüte deines Lebens, und da redest du von Tod und Erbschaft. Ich will so etwas nicht hören. Und schon gar nicht heute nach diesem wundervollen Abend.“ Sie biss sich auf die Zunge. Hatte sie nicht ein bisschen zu dick aufgetragen? Aber ihre Sorge war völlig unberechtigt. Ihr scheinbarer zur Schau gestellter Protest überzeugte ihn restlos.
Er wirkte auf einmal wie befreit. Sein größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Sie liebte ihn wohl doch um seiner selbst willen und nicht nur wegen seines Vermögens. Die vorgetragenen Befürchtungen Doktor Wunderlichs schienen sich glücklicherweise als haltlos herauszustellen. Er atmete tief durch, stand auf und zog sie zu sich heran. „Mein Schatz“, flüsterte er ihr ins Ohr, „ich habe heute mein Testament gemacht, und du wirst nach meinem Tode alles erben. Du erhältst alles: meine Firma, mein gesamtes Vermögen und dieses wunderbare Haus. Ich kenne keinen anderen Menschen, der geeigneter wäre als du.“
Sie erstarrte regelrecht in seinen Armen. Nach einigen Sekunden, die wie eine Ewigkeit dauerten, schob sie ihn von sich und sah ihn fassungslos an. „Johannes, lieber Johannes …“, stammelte sie ergriffen, „ich kann es gar nicht glauben“, schluchzte sie, und ihre Augen wurden feucht. „Warum tust du das? Du hast doch ein paar entfernte Verwandte in Bayern, die haben doch auch ein Anrecht …“
Er unterbrach sie brüsk. „Ich habe mich nun einmal entschieden. Du bist mein ganzer Lebensinhalt, hast mich aus meinen tiefen Depressionen herausgeholt und meinem Leben wieder einen neuen Sinn gegeben. Schon deshalb hast du die Erbschaft verdient. Und nun lass uns nicht mehr darüber reden.“
In ihrem Inneren tobte ein wahrhaftiger Orkan. Was sie soeben gehört hatte, vermochte sie nicht zu glauben. Die wie vom Himmel auf sie heruntergefallene Mitteilung hatte ihr einen regelrechten Schock versetzt. Dennoch schaffte sie es, ein paar Tränen herauszudrücken. Im Stillen beglückwünschte sie sich für ihre schauspielerische Leistung. Sie lag später noch lange wach, und tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, während Johannes neben ihr lag und schnarchte.
Rüdiger Pinkowski war ein junger Mann von neunundzwanzig Jahren und ein typischer Frauenschwarm. Er war von großer Gestalt, muskulös, breitschultrig und hatte dunkelblondes, leicht gewelltes Haar, das er sehr modisch trug. Aber das Aufregendste an ihm war sein Lächeln, das jede Frau, egal welchen Alters, in seinen Bann zog. Und er kannte seine Wirkung auf Frauen. Gerade die etwas Älteren um die vierzig konnten seinem manchmal etwas dick aufgetragenen Charme nur schwer widerstehen. Rüdiger, den seine Freunde alle Pinky nannten, hatte schon viel erlebt, nur waren die letzten beiden Jahre nicht seine erfolgreichsten gewesen. Als Kind hatte er auf der Sonnenseite des Lebens gestanden. Sein Vater war ein bekannter Chirurg mit einer gut gehenden Praxis, und seine Mutter unterrichtete als Professorin an der Musikhochschule in Potsdam. Die Eltern waren immer berufstätig gewesen, wenn man von der kurzen Babypause seiner Mutter einmal absah. So hatte er von Anfang an als kleiner Junge oftmals die Einsamkeit gespürt und war nicht nur in seiner Kindheit auf viele seiner Freunde glühend eifersüchtig gewesen, wenn sie ihm von den gemeinsamen Unternehmungen mit ihren Eltern berichteten. Dafür gab es eine Haushälterin, die sich um ihn kümmerte, wenn seine Eltern nicht da waren. In der Villa in Zehlendorf war genügend Platz. Sein Zimmer war riesig und voll mit Spielzeug und später mit allerlei elektronischem Gerät. Aber das konnte ihm das schmerzlich empfundene Fehlen seiner Eltern nicht ersetzen. So wuchs er ohne die Wärme und Geborgenheit auf, die ein Kind dringend benötigt. Trotzdem war er ein überdurchschnittlich guter Schüler. Seine Zuneigung galt einem jungen Sportlehrer, der für ihn wie ein großer Bruder war. Diese enge Bindung war auch entscheidend dafür, dass er später selber einmal Lehrer werden wollte. Das Abitur bestand er glänzend, sodass einer Karriere nichts mehr im Wege stand. Er studierte Sport, Geschichte und Englisch. Das Studium bedeutete für diesen intelligenten Burschen keine großen Schwierigkeiten, und das Examen bestand er mit glänzenden Noten. Durch die Verbindungen seiner Eltern bekam er sofort eine Anstellung am Emanuel-Geibel-Gymnasium.
Schon die ersten Sportstunden sorgten für helle Aufregung unter den weiblichen Teens der Schule. Aber auf Dauer konnte es nicht gut gehen. So kam es eines Tages für ihn knüppeldick. Eine Schülerin hatte ihn bei der Polizei angeschwärzt. Es war Melanie Wolf, ein frühreifes, knapp sechzehn Jahre altes Mädchen, das immer wieder seine Nähe gesucht und ihm eindeutige Angebote gemacht hatte. Sie verfügte über eine wirkliche Topfigur, und jeder Fremde schätzte sie auf mindestens achtzehn Jahre. Ihr eilte ein denkbar schlechter Ruf voraus. Besonders bei den Lehrern war sie unbeliebt, weil sie es bisher bei jedem versucht hatte, ihn in eine eindeutige Situation zu bringen. Sogar der Direktor, ein alter Freund seines Vaters, hatte ihn ausdrücklich vor diesem sinnlichen Teenager gewarnt. Logischerweise versuchte sie es auch bei ihm. Aber er hatte ihren Avancen, sehr zu ihrem Ärger, bisher erfolgreich widerstanden. Er liebte seinen Beruf und wollte wegen einer wahnwitzigen Affäre mit einer frühreifen Minderjährigen seine Existenz und damit seine Zukunft nicht aufs Spiel setzen. Melanie war ständig hinter ihm her. Später berichteten ihre Freundinnen, dass sie sich in den Kopf gesetzt hätte, ihn unter allen Umständen zu verführen. Sie stellte ihm nach, wo immer es ging. Aber er widerstand all ihren plumpen Annäherungsversuchen. Eines Tages kam sie ihm ins Umkleidezimmer hinterher. Er stand gerade in Unterhosen da, als sie die Tür öffnete und sich ihm eindeutig nähern wollte. Er wurde ziemlich wütend. Was nahm sich diese liebestolle Schülerin nur heraus? Die ganze Sache musste endlich ein Ende haben, und so nahm er sie sich regelrecht zur Brust.
„Hör zu, Melanie, begreif doch endlich die Situation. Ich bin dein Lehrer und du meine Schülerin. Es gibt für uns keine gemeinsame Zukunft, und vor allem will ich deine Zuneigung nicht. Hör endlich auf, mir nachzustellen! Die ganze Schule redet schon über uns. Ich will nicht zum Gespött der Leute werden. Lass mich endlich in Frieden und such dir einen Freund, der zu dir passt. Hast du mich verstanden?“ Seine Stimme klang energisch und entschlossen.
Melanie sah ihn entgeistert an. „Findest du mich nicht hübsch, gefalle ich dir nicht?“ Sie öffnete mit raschen Bewegungen die Knöpfe ihrer Bluse und zeigte ihm ihre großen Brüste.
Er sah sie jedoch nur ärgerlich an „Melanie, ich sage es nicht noch einmal. Ich will dich nicht, und ich brauche dich nicht. Zieh dich endlich wieder an und verlasse sofort den Raum. Es wird nie etwas zwischen uns geben. Ist dir das endlich klar?“
Melanie wurde blass. Sie sah ihn ungläubig mit schmalen Augen an. „Das wirst du mir büßen. Ich mach dich fertig, du kleiner hochnäsiger Pauker, verlass dich drauf“, zischte sie hasserfüllt. Sie drehte sich um und verließ den Raum.
Krachend fiel die Tür ins Schloss. Instinktiv spürte er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Aber nun war es zu spät. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen erst mit dem Rektor und dann mit den Eltern ein klärendes Gespräch zu führen. Eins war allerdings jetzt schon völlig klar: Sie musste sofort die Klasse wechseln. Sie durfte unter keinen Umständen länger seine Schülerin sein. Er hatte sie gründlich unterschätzt. Und das rächte sich schon am nächsten Vormittag. Jeder in der Schule wusste, dass er sein altes Cabrio nie abschloss, weil es daraus nichts zu entwenden gab. Und natürlich wusste das auch Melanie. Niemand konnte sich erklären, wie sie in den Besitz eines kleinen Päckchens Kokain gekommen war. Auf jeden Fall wurde es später bei einer Durchsuchung durch die Kripo entdeckt. Es lag gut versteckt in einem Hohlraum unter einer kleinen losen Stelle der Seitenverkleidung der Fahrertür. Er befand sich gerade im Unterricht, als sich die Tür öffnete und der Rektor mit ernstem Gesicht hereinkam und ihm ein Zeichen gab. Die Schüler sahen den Rektor neugierig an. „Herr Kollege, können Sie einen Augenblick den Unterricht unterbrechen und ins Lehrerzimmer kommen? Da sind zwei Herren von der Kriminalpolizei, die haben ein paar Fragen an Sie.“
Die Schüler sahen sich überrascht an und begannen zu tuscheln. Beim Hinausgehen trafen sich seine Blicke mit denen von Melanie. Sie sah ihn triumphierend an und lächelte boshaft. Da wusste er, dass sie etwas angestellt und sich für ihre gestrige Abfuhr gerächt hatte. Und er hatte sich nicht getäuscht.
Im Lehrerzimmer befanden sich zwei Kriminalbeamte des Drogendezernats. Sie hielten ihm ein kleines Plastiktütchen mit weißem Pulver und ihre Kripomarken vor die Nase. „Herr Pinkowski“, fragte der eine, „gehört Ihnen das Golf Cabrio mit dem Kennzeichen B – BH 234?“
„Warum fragen Sie? Das wissen Sie doch bereits“, erwiderte Rüdiger verunsichert.
Der Beamte nickte. „Nun ja, in diesem Fahrzeug haben wir soeben aufgrund eines anonymen Hinweises ein Päckchen mit suspekter Substanz gefunden. Eine Schnellprobe bestätigte den Verdacht. Es handelt sich um Kokain. Bevor Sie aber dazu Stellung nehmen, muss ich Sie belehren. Sie brauchen sich nicht selber zu belasten, und Sie können jederzeit einen Anwalt befragen. Haben Sie das verstanden?“
Völlig sprachlos schüttelte Rüdiger den Kopf. Aber dann dämmerte ihm die Erkenntnis, dass Melanie damit etwas zu tun haben musste. Dieses verdammte Miststück, dachte er wütend. Da hatte sie ihre Androhung tatsächlich in die Tat umgesetzt. In seinem Hirn herrschte Chaos. „Hören Sie, ich weiß nicht, wie das Päckchen da in meinen Pkw hineingekommen ist. Das müssen Sie mir einfach glauben. Da hat sich jemand einen bösen Scherz mit mir erlaubt.“
Die beiden Beamten sahen ihn lächelnd an. „Wissen Sie, wie oft wir diesen Ausspruch schon gehört haben? Aber die Tatsachen sprechen nun einmal für sich. Wir werden ein Ermittlungsverfahren gegen Sie einleiten. Nun kommen Sie mit, wir werden jetzt Ihre Wohnung durchsuchen.“
Es hatte keinen Zweck. Die Beamten hatten Recht. Alles sprach gegen ihn. Er sah den Rektor hilflos an. Der zuckte nur mit den Schultern. Von dem war sowieso keine Hilfe zu erwarten. Resignierend ergriff er seine Jacke und Tasche und folgte den Beamten nach draußen. In seiner Wohnung wurde nichts Belastendes gefunden. Wie auch? War er doch so rein und unschuldig wie eine Jungfrau, soweit es sich um Rauschgiftbesitz handelte. Nachdem die Beamten seine Wohnung verlassen hatten und er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde ihm bewusst, dass seine Existenz in akuter Gefahr war. So entschloss er sich zur Flucht nach vorn. Er rief bei den Eltern von Melanie an. Aber sie waren offensichtlich nicht da, denn Melanie nahm den Hörer ab. Ihre Stimme klang ätzend: „Na, lieber Rüdiger, das hast du nun davon. Mit mir treibt man keine Spielchen. Ich lasse mich auch nicht von einem Pauker wie dir verarschen. Nun sieh mal schön zu, wie du aus der Sache herauskommst. Und vor allem, ruf hier nie wieder an. Verstehst du!“
Ehe er etwas antworten konnte, hörte er das Freizeichen. Diese kleine Schlange hatte einfach aufgelegt.
Am nächsten Tag gab es ein kurzes Gespräch mit dem Rektor. „Lieber Herr Pinkowski, eine sehr unangenehme Sache für Sie und natürlich auch für die Schule. Wir können uns einen Lehrer, der Rauschgift in seinem Besitz hat oder damit handelt, natürlich nicht leisten. Ich habe dem Schulrat die Angelegenheit gemeldet, und der hat entschieden, dass Sie ab sofort vom Schuldienst suspendiert sind. Da Sie ja noch ein Anstellungsverhältnis auf Probe haben, wissen Sie ja, was das zu bedeuten hat. Es tut mir für Sie und Ihren Vater leid, den ich gut kenne und sehr schätze. Ich hoffe, Sie kommen gut aus der Sache heraus. Und nun entschuldigen Sie mich.“
Er ließ ihn einfach stehen. Das war nun das Ende. Seine Zukunft sah ziemlich düster aus. Seine Anstellung hatte er verloren, und nun drohte ihm ein Strafverfahren. Natürlich wurde er nicht wieder angestellt und außerdem zu einer Bewährungsstrafe wegen illegalen Betäubungsmittelbesitzes verurteilt. Seine Zukunft als Lehrer konnte er sich abschminken. Er wusste glasklar, dass er keine neue Anstellung mehr finden würde. Aber für Selbstvorwürfe war es jetzt zu spät. Vielleicht hätte er die Situation mit diesem frühreifen Mädchen anders handeln müssen. Aber so spielte eben das Leben, und wenn man aus dem Rathaus kam, war man klüger als zuvor. Eine alte Binsenweisheit zwar, aber in seinem Fall absolut zutreffend. Seine Eltern waren verständlicherweise nicht sehr erfreut, mussten sie doch um ihr Ansehen fürchten.
Sein Vater führte dann eines Abends mit ihm ein kurzes, aber folgenreiches Gespräch. „Es ist an der Zeit, dass du dein Leben in die eigenen Hände nimmst, mein Junge. Du bist erwachsen genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Es ist deshalb wohl besser, und zwar für uns alle, wenn du dir eine neue Bleibe suchst. Da du im Augenblick kein Geld verdienst, werde ich dir etwas geben, damit du ein kleines Startkapital zur Verfügung hast. Im Übrigen sieht das deine Mutter genauso.“
Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ihm war klar, dass das unter diesen Umständen die beste Lösung war. „Gut, Vater, du hast sicherlich Recht. Ich habe auch keine Lust, ständig eure anklagenden Blicke zu ertragen. Was geschehen ist, ist nun einmal geschehen. Ich habe euch meine Version des Geschehens dargestellt. Wenn ihr trotzdem Zweifel habt, kann ich euch auch nicht helfen. Ich bin es leid, mir eure Vorwürfe ständig anzuhören. Allerdings ist mir jetzt eins klar geworden. Ich habe einen Fehler gemacht.“
Sein Vater sah ihn zweifelnd an und fragte: „Wie meinst du das?“
„Vater, das liegt doch auf der Hand. Ich hätte damals gleich ausziehen müssen. Das war mein Fehler. Aber das hole ich jetzt nach. Ich packe ein paar Sachen, telefoniere kurz, und dann seid ihr mich los. Und noch etwas, Vater: Euer Geld brauche ich nicht. Wenn ich etwas benötige, borge ich es mir von meinen Freunden, die ich ja gottlob noch habe und die weiter an mich glauben.“ Sein Vater wollte protestieren, aber Rüdiger winkte ab. „Lass es gut sein. Ihr erfahrt Adresse und Telefonnummer noch früh genug, und wenn ihr Sehnsucht nach eurem einzigen Sohn haben solltet, dann könnt ihr mich ja anrufen.“ Sein Vater schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich ab.
Rüdiger führte ein paar Telefonate. Kurze Zeit später rollte das alte Cabrio, voll gepackt mit persönlichen Gegenständen, vom Grundstück. Irgendwie fühlte er sich erleichtert. Endlich war er erwachsen geworden und stand auf eigenen Füßen. Und eins wusste er ganz genau. Er würde nicht mehr in sein Elternhaus zurückkehren. Dieser Abschnitt seines Lebens war endgültig abgehakt, aus und vorbei. Er kam in einer Wohngemeinschaft von vier Studenten unter, die in einer großen Fünfzimmerwohnung lebten. Zufällig war ein Zimmer freigeworden, weil ein Mitbewohner nach München zurückgegangen war. Das Zimmer war recht geräumig, sonnig und lag zur Hofseite hin. Als er ihnen seine prekäre finanzielle Situation schilderte, winkten sie lachend ab. „Das hat noch Zeit, Pinky, suche dir erst einmal eine vernünftige Arbeit, verdiene Geld, und dann sehen wir weiter.“
Das war ein Wort. Dankbar umarmte er sie. Damit war die Angelegenheit erledigt. Er packte seine Sporttasche und fuhr zum Fitnessstudio, das sich am Hindenburgdamm, nahe dem Klinikum Steglitz, befand. Er wollte durch den Sport abschalten und endlich zur Ruhe kommen. Im Studio war es nicht voll, und so konnte er sich intensiv den Geräten widmen. Nach einer Stunde floss der Schweiß in Strömen. Er fühlte sich richtig gut. Später saß er an der Bar, trank einen Vitaminsaft und kam mit der Inhaberin, einer ehemaligen Spitzensportlerin, ins Gespräch. Dabei erfuhr er beiläufig, dass sie einen Fitnesstrainer suchte, zwar nur für zwanzig Stunden in der Woche, aber immerhin ein Anfang. Als sie hörte, dass er Sport studiert und auch genug Erfahrung mit den Geräten hatte, bot sie ihm spontan den Job an. Natürlich sagte er zu. Mit dem Verdienst konnte er zwar nicht Millionär werden, aber für den Anfang reichte es allemal. So war der erste Schritt getan. Er konnte seinem Hobby frönen und dabei auch noch Geld verdienen. Schon zwei Tage später fing er an. Es war ein Tag im April, draußen war es stürmisch und regnerisch. Da hatten die Sportbegeisterung und der Wunsch nach Fitness ihre Grenzen erreicht. Dieser Umstand war ganz nach seinem Sinne. So konnte er in aller Ruhe die Räume, die Geräte und die sanitären Anlagen inspizieren. Nur wenige Besucher verloren sich in dem großen Saal, der durch die Wandspiegel um ein Vielfaches größer wirkte. Es war gegen 14.00 Uhr, als sich sein Leben schlagartig veränderte. Er hatte gerade ein Standfahrrad in die richtige Position zurückgezogen und sich wieder aufgerichtet, als er eine vorbeigehende Frau leicht berührte. Überrascht stammelte er: „Tut mir leid, ich habe Sie zu spät bemerkt.“
Als er sie ansah, verfing sich sein Blick in einem strahlend blauen Augenpaar. Die Frau lächelte, und er sah zwischen ihren roten Lippen zwei Reihen perlweißer makelloser Zähne.
„Es ist nichts passiert“, erwiderte sie und musterte ihn mit interessiertem Blick. „Ich kenne Sie gar nicht, sind Sie ein neues Mitglied?“ In ihrer Stimme war eine winzige Spur von Neugierde.
„Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Rüdiger Pinkowski und ab heute der neue Trainer hier im Studio.“
„Ah, ja, ich heiße Roswitha Schulke und wollte eigentlich ein bisschen trainieren. Werden Sie mir dabei helfen?“
„Mit Vergnügen. Sie müssen mir nur sagen, welche Geräte Sie benutzen wollen und welche Übungen Sie bevorzugen. Aber zuerst sollten Sie sich ein wenig warm machen.“
Sie sah ihn amüsiert an. „Was glauben Sie? Bin ich heute zum ersten Mal hier?“, entgegnete sie ihm kokett.
Er musste schlucken. Donnerwetter, das war eine Frau. Topfigur, vielleicht eine Idee zu dick um die Hüften, aber tolle Beine und eine wohlgeformte Brust, die sich unter ihrem engen Trikot plastisch abzeichnete. Das ließ sein Herz schneller schlagen. Er atmete tief aus. Sie tat so, als wenn sie seine bewundernden Blicke nicht bemerken würde. Obwohl sie die Übungen machte und er nur die Anweisungen gab, war er nach dem Training völlig durchgeschwitzt. Er war total verwirrt. Noch niemals hatte ihn eine Frau so aus dem Gleichgewicht gebracht. Als sie sich verabschiedeten, sah sie ihn einen Augenblick unverwandt an und hielt seine Hand einen winzigen Moment länger als nötig. Das reichte aus, um ihm den Nachtschlaf zu rauben. Die nächsten Tage konnte er kaum erwarten, sie wiederzusehen. Er dachte nur noch an sie. Aber dann kam die Ernüchterung, schmerzhaft und völlig überraschend. Er hatte sich das Wiedersehen ganz anders vorgestellt. Sie kam, grüßte ihn kühl, absolvierte die Übungen, sprach nur das Nötigste, kurzum, sie behandelte ihn wie einen Fremden. Keine frauliche Geste, kein Lächeln, nicht die Spur von Interesse. Er verstand die Welt nicht mehr. Er wusste, wie er aussah und auch, dass er bei jeder Frau landen konnte, wenn er nur wollte. Hier, bei dieser unglaublich attraktiven Blondine, machte er eine gänzlich andere Erfahrung. Nun gut, dachte er, wenn ich dir so gleichgültig bin, dann muss ich wohl eben dein Interesse wecken. Damit übernahm er die Initiative. Als sie sich nach dem Duschen an die Bar setzte und einen Vitamindrink bestellte, sprach er sie an. „Was ist los mit Ihnen, habe ich etwas falsch gemacht? Sie waren heute im Gegensatz zur letzten Woche so kühl, ja schon beinahe abweisend. Was ist passiert?“
Sie drehte lässig ihren Kopf und sah ihn offen an. „Rüdiger, ich darf Sie doch so nennen?“ Sie wartete seine Antwort gar nicht ab und fuhr fort: „Nein, es gibt nichts. Wissen Sie, ich will hier nur trainieren und keine Bekanntschaften machen. Ich bin so gut wie verheiratet und habe überhaupt kein Interesse an irgendeiner anderen Beziehung, verstehen Sie? Das bringt nur Ärger, nichts weiter. Und wenn überhaupt, dann schon gar nicht mit meinem Fitnesstrainer.“
Das hatte gesessen. Rüdiger war völlig perplex. So eine Abfuhr hatte er noch nie erlitten. Aufkommendes Schamgefühl und Enttäuschung hielten sich die Waage. Aber dann regte sich Widerstand in ihm, und sein Ego meldete Protest an. Das werden wir schon sehen, du eingebildete Schickimicki-Tussi, dachte er ärgerlich. Wie konnte er wissen, dass er sich gewaltig in ihr getäuscht hatte. Insgeheim triumphierte Roswitha. Sie hatte sehr wohl seine bewundernden Blicke bemerkt und gespürt, dass er mehr als nur interessiert war, ihre Bekanntschaft zu machen. Sie musste sich eingestehen, dass er verdammt gut aussah und wahrscheinlich der Richtige fürs Bett war. Ob er auch der richtige Mann für ihre dunklen Pläne war, musste sie noch herausfinden. Er war wirklich ein sympathischer Kerl, und sie musste aufpassen, dass sie sich nicht noch in ihn verliebte. Das hieß für sie nicht mehr oder weniger, als dass sie ihre Gefühle ständig unter Kontrolle halten musste. Aber sie wusste schon jetzt, dass es nicht leicht sein würde, seinem Charme zu widerstehen. Aber das bekam sie bestimmt auf die Reihe, und ein bisschen Spaß und guter Sex blieben da für sie auch noch übrig.
Einen ganzen Monat lang ließ sie ihn zappeln. Sie tat nicht mehr als nötig. So dosierte sie in den kommenden Wochen langsam ihr Interesse an ihm, mal mehr, und mal weniger. Er wusste lange Zeit nicht, woran er bei ihr war. Spielte sie nur mit ihm, oder war sie sich nicht sicher, ob er es ernst meinte? Aber er baggerte von Tag zu Tag mehr, und so entschloss sie sich, seinem Werben scheinbar nachzugeben. Er war ein richtiger Glückstreffer, den sie da gelandet hatte, und nun galt es, ihn sich auf Dauer warmzuhalten. Schon nach ihrem ersten Zusammentreffen hatte sie es für möglich gehalten, ihn in ihren Plan mit einzubauen, und ihre Absicht wurde durch sein offensichtlich starkes Interesse an ihr nur bestärkt. Langsam nahm bei ihr der Gedanke Gestalt an, dass er der Mann fürs Grobe werden könnte. Sie musste es nur geschickt anstellen, dann würde sie es bald in Erfahrung bringen. Die Gelegenheit dazu ergab sich schneller, als sie es sich gedacht hatte. Nach einem Training vermisste sie ihren Schrankschlüssel. Sie war sich nicht mehr sicher, wo sie ihn verloren hatte. Weder im Trainingsraum, noch in der Bar oder im Aufenthaltsraum konnte sie ihn finden. Hilfesuchend wandte sie sich an Rüdiger. Nur zu gerne kam er ihr zu Hilfe. Aber die Suche verlief erfolglos. Aus dem Schlüsselschrank holte er schließlich den Generalschlüssel und ging mit ihr in den Umkleideraum zurück. Sie waren allein. Er nutzte die einmalige Gelegenheit. „Roswitha, endlich sind wir einmal einen Augenblick ungestört. So kann es zwischen uns nicht weitergehen. Ich bin mir sicher, dass Sie längst bemerkt haben, was ich für Sie empfinde. Auch wenn Sie sich durch mein Geständnis bedrängt fühlen sollten, so muss ich Ihnen es trotzdem sagen. Ich habe mich rettungslos in Sie verliebt. Ich kann einfach nicht anders. Ich musste es Ihnen sagen. Nun können Sie sofort gehen und sich über meine Zudringlichkeit bei der Geschäftsführerin beschweren, dann bin ich meinen Job los, aber das ist mir völlig egal, oder Sie treffen sich nachher mit mir unten im Café bei Maurice, und wir reden über uns. Sie entscheiden über meine Zukunft in jedem Fall.“
Der letzte Satz klang etwas theatralisch, und sie musste lächeln. Er war ein starker Typ, voller Gefühl und ehrlich. Sie fühlte sich auf unwiderstehliche Art zu ihm hingezogen. Sie sah ihn an, und seine Knie wurden weich. Wie reagierte sie auf sein Geständnis, und was würde sie ihm antworten? Die nächsten Sekunden mussten die Entscheidung bringen. Er hatte keine Angst mehr und war froh, dass er den Mut aufgebracht hatte, ihr seine Gefühle zu offenbaren. „Komm her, komm etwas näher, du dummer Kerl“, sagte sie leise. Ihr roter Mund hatte sich etwas geöffnet, und ihr Lächeln brachte ihn fast um den Verstand. Er griff nach ihr, etwas hart, aber voller Leidenschaft, umarmte sie und küsste sie wortlos. Zuerst lag sie etwas steif in seinen Armen, aber dann gab sie sich auch ihrem Gefühl hin. Sie erwiderte seinen Kuss, er drückte seinen Körper an den ihren. Sie spürte seine muskulöse Brust und seinen harten, flachen Bauch. Eine ungeahnte Erregung ergriff sie. Instinktiv verglich sie ihn mit Johannes. Das Ergebnis fiel für Letzteren verheerend aus. Zum ersten und letzten Mal kamen bei ihr Skrupel auf. Was tue ich ihm an, dachte sie beschämt. Ein Rest von Anstand meldete sich, der aber nicht geeignet war, ihre moralische Verworfenheit zu zerstören. Gefühlsduseleien waren fehl am Platze, weil sie schon viel zu viel investiert hatte. Sie durfte jetzt nicht schwach werden, schon gar nicht wegen dieses Mannes. Vielleicht war auch sie für ihn nur eine seiner zahllosen Eroberungen und würde nach ein paar heißen Nächten abgelegt werden, was bei seinem blendenden Aussehen in der Vergangenheit bestimmt schon vielen ihrer Vorgängerinnen passiert war. Dazu war sie sich auch wieder zu schade. Er wurde immer erregter, sein Körper immer drängender. Sie schob ihn abrupt zurück. Er starrte sie entgeistert an. In seinem Gesicht stand eine einzige Frage. Aber ehe er etwas sagen konnte, legte sie ihm einen Finger auf den Mund. „Nicht hier, nicht in diesem Raum, in dem es so nach Schweiß riecht. Außerdem könnte jemand plötzlich hereinkommen und uns überraschen. Ich will unter keinen Umständen kompromittiert werden, das kann ich mir auf keinen Fall leisten. Und du willst doch nicht deinen Job verlieren, oder?“
„Du hast ja Recht“, erwiderte er gepresst. „Tut mir leid, mir sind die Pferde durchgegangen.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich wollte es ja auch, und es war schön. Aber lass es jetzt gut sein.“
„Sehen wir uns nachher?“
„Nein, Rüdiger, nicht heute. Es ging alles so schnell. Ich muss über uns erst einmal nachdenken. Du bist ein netter Kerl, aber ich habe eine Menge zu verlieren. Wenn mein Lebensgefährte etwas von uns erfahren würde, wäre es das Ende für mich. Das musst du verstehen. Und eins noch: Stell jetzt bitte keine Fragen. Ich werde dir später alles noch erklären.“
„Das ist okay. Mir ist klar, dass eine so tolle Frau wie du an jedem Finger zehn Männer haben könnte und dass du nicht auf mich gewartet hast. Das leuchtet mir natürlich ein. Aber ich habe mich nun einmal in dich verliebt. Was soll ich dagegen tun?“ Er hob die Unterarme hoch und breitete die Hände aus, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Gib mir eine Chance, ich bin mit allem einverstanden. Stell du die Regeln auf, aber gib mir eine Chance.“