Die Totengräber - Bernd Udo Schwenzfeier - E-Book

Die Totengräber E-Book

Bernd Udo Schwenzfeier

4,9

  • Herausgeber: Virulent
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Mörder und Kinderschänder werden aus Beweismangel freigesprochen – doch wenige Wochen später kommen sie unter mysteriösen Umständen ums Leben. Was wie eine Reihe von Zufällen erscheint, hat System – und ein Boulevardjournalist entdeckt die Organisation, die dahinter steht. Eine lebensgefährliche Entdeckung. Die Mitglieder von "Phönixx" rekrutieren sich aus den Eliten Deutschlands und fühlen sich berufen, das Land zu säubern. Dabei ist jedes Mittel recht. Sie verbünden sich mit einer Gruppe von Polizisten, die traumatisiert und seelisch zerstört aus Afghanistan zurückgekommen sind und denen die Kameradschaft der Wüste mehr bedeutet als Recht und Gesetz. So entsteht eine Situation, in der Männer des SEK gegen Supercops zum Showdown antreten. Der Autor, selbst erfahrener Polizeibeamter, schildert den Versuch, einen Staat im Staat zu bilden. Die packende Krimihandlung legt den Finger auf die Wunde Demokratieverdrossenheit und Rechtsradikalismus. Natürlich sind alle Personen und Situationen frei erfunden...

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Seitenzahl: 636

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Bernd Udo Schwenzfeier

 

DIETOTENGRÄBER

 

 
 

IMPRESSUM

 
 
 

Virulent ist ein Imprintwww.facebook.de/virulenz

 

ABW Wissenschaftsverlag GmbHAltensteinstraße 4214195 BerlinDeutschland

 

www.abw-verlag.de

 

© E-Book: 2016 ABW Wissenschaftsverlag GmbH

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

 

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9.‍September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.

 

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

 

ISBN 978-3-86474-097-8

 

Produced in Germany

 

E-Book-Produktion: ABW Wissenschaftsverlag mit bookformer, BerlinUmschlaggestaltung und Titelabbildung: brandnewdesign, HamburgP160008

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

EPILOG

SCHLUSSBEMERKUNG

DANKSAGUNG

 

Der Roman ist all denen gewidmet, die sich jeden Tag für das Recht und die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft einsetzen …

 

Bernd Udo Schwenzfeier

 

… die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier …

 

William Shakespeare

 

1

 

Der unscheinbare junge Mann mit der abgewetzten braunen Lederjacke sah sich noch einmal sichernd um, ehe er die Telefonzelle im Kölner Hauptbahnhof betrat. Aber seine Sorge war unbegründet. Niemand achtete an diesem eisigen Vormittag des 31.‍Januar 2009 auf ihn. In aller Ruhe zündete er sich eine Zigarette an. Er genoss das berauschende Gefühl, als sich seine Lunge nach dem ersten tiefen Zug mit Rauch füllte. Lässig an die Glaswand der Zelle gelehnt, beobachtete er eher gelangweilt das herrschende Gedränge in der Bahnhofshalle. Zielstrebig wählte er eine Telefonnummer und wartete gespannt. Bereits nach dem zweiten Klingelton wurde der Hörer abgenommen und er hörte die Stimme seiner Führungsperson.

„Bundesamt für Verfassungsschutz, Sie sprechen mit Mark Herfurth, was kann ich für Sie tun?“

Er wusste, dass Herfurth im Dienst einen Decknamen benutzte und in Wirklichkeit ganz anders hieß. Aber das war ihm egal. Er hatte sich als Informant der Sicherheitsbehörde zur Verfügung gestellt und meldete sich immer dann, wenn er glaubte, etwas Wichtiges mitteilen zu müssen. Er wurde für seine Dienste gut bezahlt, und mit dem Geld konnte er einen Teil seines Studiums für Geschichte und Politikwissenschaften finanzieren. Skrupel hatte er nicht, denn trotz seines jugendlichen Alters stand er fest auf dem Boden der demokratischen Grundordnung und hasste politischen Extremismus in jeder Form. Schon bald nach seinem Studienbeginn hatte ihn sein Kommilitone Frank Sternberg überredet, an den Sitzungen der Studentenvereinigung Phönixx teilzunehmen. Zuerst war er von dem engen Verhältnis der Mitglieder untereinander, den intellektuellen Gesprächen und der dort herrschenden entspannten Atmosphäre tief beeindruckt, aber schon bald gelang es ihm, hinter die Fassade zu blicken. Ohne Ausnahme hatten sie ein äußerst konservatives Menschen- und Gesellschaftsbild und standen der Vermischung des deutschen Volkes mit Migranten, besonders mit denen aus dem türkisch-arabischen Raum, ablehnend gegenüber. Sie verstanden sich als Vertreter einer elitären deutschen Volksgemeinschaft und hatten zudem äußerst krude Vorstellungen über das Rechtssystem der Bundesrepublik. So war es nicht verwunderlich, dass er sich alsbald von ihren Idealen und Zielen distanzierte und schließlich an den Sitzungen nur noch teilnahm, um zu sehen, wie weit sie noch gehen würden.

Der Zufall wollte es, dass er einige Wochen später in einer typischen Studentenkneipe mit einem gut zehn Jahre älteren Mann ins Gespräch kam und nach dem fünften Bier bereits mit ihm Brüderschaft trank. Sein neuer Freund stellte sich als Mark Herfurth vor, der angeblich in einem Kölner Finanzamt tätig war. Beide waren Fußballfans vom 1. FC Köln. Aber nicht nur in Sachen Fußball stimmten sie überein, auch in ihren politischen Ansichten kamen sie sich sehr nahe. Besonders seine Erfahrungen mit Phönixx schienen Mark zu interessieren. Man traf sich öfters in den Kneipen der Altstadt und mit der Zeit entstand zwischen ihnen ein lockeres freundschaftliches Verhältnis. Eines Tages ließ Mark bei einer anregenden Diskussion über Rechtsradikalismus die Katze aus dem Sack und offenbarte sich als Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Er war zunächst geschockt, fühlte sich von ihm regelrecht verarscht und wollte die Beziehung sofort abbrechen. Aber Mark ließ nicht locker und überzeugte ihn schließlich mit dem Argument, dass sich jeder aufrechte Deutsche von Verfassungsfeinden distanzieren müsse, wobei der Hinweis auf eine Bezahlung für Informationen über die Namen der Mitglieder, die Ziele und illegalen Aktionen dieser ultrarechten Verbindung Musik in seinen Ohren war. Die in Aussicht gestellten Geldzuwendungen ließen seine letzten Skrupel wie Schnee in der Sonne schmelzen.

Er meldete sich und sagte: „Hier ist Pegasus. Ich habe ein paar interessante Neuigkeiten für euch.“ Er wusste, dass Mark das Aufnahmegerät bereits eingeschaltet hatte und fuhr deshalb fort: „Du brauchst nur den Briefkasten zu leeren.“

„In Ordnung, ich werde nachschauen. Kommst du sonst zurecht?“

„Ja, aber es wäre schön, wenn ich wieder mal ein bisschen Futter bekommen würde.“

„Gut, das lässt sich einrichten. Ich kümmere mich persönlich darum.“

Der junge Mann hängte wortlos den Hörer zurück, verließ die Telefonzelle in Richtung Ausgang und tauchte im Gewirr der Menschen unter.

Nach ein paar Metern tippte ihm jemand auf die Schulter und rief leise: „Hey, Ralf, was machst du denn hier?“ Überrascht drehte er sich um und sah in das Gesicht seines Kommilitonen Frank Sternberg. „Das ist ja ein Zufall, Frank, das Gleiche könnte ich dich auch fragen.“ Er fühlte sich irgendwie ertappt und sein schlechtes Gewissen meldete sich sofort. Was machte Frank zu dieser Zeit auf dem Bahnhof? Hatte er ihn vielleicht beobachtet und etwas von dem Telefonat mitbekommen? Aber er sah wohl schon am helllichten Tage Gespenster, denn Frank lächelte unbefangen und streckte ihm freundlich die Hand entgegen.

„Ich wollte eigentlich mit dem Zug nach Duisburg zu meinen Eltern fahren, aber ich habe es mir doch anders überlegt“, erwiderte er ausweichend, um von vornherein weiteren Fragen vorzubeugen.

Frank nickte und schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „Ach, dann hast du ihnen wohl gerade abgesagt“, fragte er eine Spur zu neugierig und deutete auf die Telefonzelle.

„Was soll man auch sonst in einer Telefonzelle anderes machen als telefonieren“, gab Ralf leicht genervt zurück.

„Okay, okay. Bleib cool! Was hältst du davon, wenn wir beide gemeinsam ein Kölsch trinken. Ich geb’ einen aus. Du hast doch bestimmt Zeit, oder?“, schlug Frank vor.

„Na, ja, eigentlich wollte ich für die Semesterarbeit noch einige Recherchen machen“, entgegnete Ralf unwirsch.

„Nun komm schon“, forderte ihn Frank auf und schob ihn ein Stück in Richtung Gaststätte.

„Ich habe mich mit einem alten Freund verabredet, der wartet bereits auf mich. Wir beide müssen uns sowieso noch über ein paar Dinge unterhalten.“

Ralf sah ihn fragend an.

„Na, du weißt schon …“, entgegnete Frank vielsagend. „Aber das müssen wir ja hier nicht in aller Öffentlichkeit tun.“

„Gut, aber nur ein Kölsch, ich habe nicht viel Zeit und muss, wie gesagt, noch einige Dinge erledigen.“

„Ist doch klar, ich hab’ auch nicht ewig Zeit. Wir wollen beide heute noch nach Düsseldorf zum Karneval und da die Sau raus lassen“, erwiderte Frank und grinste breit.

Im „Kölsch Treff“ in der „C 1 Passage“ hielten sich nur wenige Gäste auf. Zielstrebig steuerte Frank auf einen Tisch zu, der etwas abseits in der Ecke stand und an dem ein junger Mann saß, der ihn mit zusammengekniffenen Augen taxierte.

„Das ist Thomas, ein Kumpel von mir, der Medizin studiert“, erklärte Frank. Nichtsahnend gab Ralf dem Fremden die Hand und setzte sich an den Tisch. Frank rief den Kellner und bestellte drei Bier und drei Klare. Schon nach fünfzehn Minuten rollte die zweite Lage an. Thomas entpuppte sich als interessanter Gesprächspartner, mit dem es sich gut plaudern ließ. Ralf hatte seine zuvor noch gezeigte Zurückhaltung längst über Bord geworfen und seinen Argwohn verdrängt, den er noch auf dem Bahnsteig gespürt hatte, als Frank völlig überraschend aufgetaucht war. Angeregt diskutierte er mit ihnen die Chancen des 1. FC Köln, die Bundesliga zu halten und nicht abzusteigen. Geschickt wechselten sich Frank und Thomas in der Gesprächsführung ab. So bemerkte er auch nicht, dass ihm Thomas bereits beim ersten Bier zwei kleine Rohypnol-Tabletten ins halbvolle Glas getan hatte, die langsam auf den Boden sanken und sich rasch auflösten. Schon nach einigen Minuten fing er immer öfter an zu gähnen und fasste sich mehrmals ratlos an die Stirn.

„Jungs, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Mir ist plötzlich so schwindlig. Ich sehe alles wie durch Nebel und habe Kopfschmerzen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“

Thomas und Frank sahen sich an. Frank nickte ihm unmerklich zu. Als sich Ralf erheben wollte, hielt ihn Thomas am Ärmel fest und drückte ihn mit der anderen Hand wieder auf den Stuhl zurück. Als Ralf protestieren wollte, schnitt ihm Frank das Wort ab. Er sah jetzt gar nicht mehr freundlich aus und sagte drohend: „Bevor du gehst, Ralf, müssen wir noch etwas klären. Und das kann nicht warten.“

„Was wollt ihr denn von mir?“, fragte er lallend und versuchte, sich von dem Druck auf seiner Schulter zu befreien, gab aber nach einigen Sekunden vergeblicher Anstrengung auf. Er konnte sich kaum noch auf dem Stuhl halten und wankte leicht hin und her. Seine Wahrnehmungsstörungen nahmen immer mehr zu und er begriff, dass ihm jemand etwas ins Glas getan haben musste. Sein Atem ging inzwischen stoßweise und er sank immer mehr in sich zusammen. Jeglicher Widerstand war längst einer unbeschreiblichen Gleichgültigkeit gewichen. Er wollte nur noch seine Ruhe haben und endlich die Augen schließen. Aber da war wieder die Stimme, die bedrohlich nahe war und unnachgiebig forderte: „Sag’ uns deine Kontaktadresse, dann lassen wir dich in Ruhe, du elender Verräter.“

Er starrte in das vor Wut verzerrte Gesicht von Frank und versuchte mit aller Macht, die Kontrolle über sein Bewusstsein zurück zu erlangen. Aber dazu war es bereits zu spät. Das starke Beruhigungsmittel hatte längst den letzten Rest von Widerstand in Nichts aufgelöst. „Hast du nicht gehört, du sollst uns endlich deine Kontaktadresse mit den Schlapphüten nennen. Wir haben nicht ewig Zeit …“

Der Druck auf seiner Schulter nahm immer mehr zu und begann langsam zu schmerzen. „Ja, ja … ist ja gut“, erwiderte er ergeben. „In der Keupstraße …“

„Wo liegt die?“

„In Köln-Mülheim.“

„Und die Hausnummer?“

„120.“

„Und wo legst du die Nachrichten immer ab?“

„In einen Briefkasten.“

„Name?“

„Bokovic.“

„Warst du heute schon da?“

„Ja!“

„Wann genau?“

„Ich, ich weiß nicht mehr …“

„Los, denk nach!“

„Vielleicht vor zwei Stunden …?“

„Bist du sicher?“

„Kann schon sein …“

„Verdammt, Ralf, erinnere dich! Ich muss es wissen.“

„Ja, ja … zwei Stunden“, murmelte er kaum hörbar und schloss die Augen. Sein Kopf sank ermattet auf die Brust. Er war total kraftlos und hing wie ein Häufchen Unglück auf seinem Stuhl. Thomas sah Frank verstohlen an und erschrak. In dessen Augen loderte offener Hass.

Mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete, befahl er: „Komm, wir bringen ihn jetzt zum Bahnsteig! Wir müssen die Sache so oder so beenden. Es geht nicht anders.“

Thomas schluckte. „Muss das denn sein? Gibt es keinen anderen Weg?“

Franks Gesicht erstarrte zu einer Maske. „Ich weiß nicht, was du plötzlich für Skrupel hast“, zischte er. „Du hast doch genau wie ich einen Schwur geleistet. Er steht unserer großen Sache im Weg und nicht nur das. Er hat uns alle, und damit auch dich und mich, verraten, dieser verdammte Hurensohn und wegen ein paar lumpiger Euro an den Verfassungsschutz verkauft. Er ist nie einer von uns gewesen und hat uns alle getäuscht und ausspioniert. Am meisten mich. Ich muss das jetzt geradebiegen, denn ich habe ihn schließlich angeschleppt. Wir müssen es tun, daran führt kein Weg vorbei oder die Sache endet bereits schon jetzt, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Das würde einigen gar nicht gefallen. Er hat seine Strafe verdient. Also, komm jetzt und krieg hier nicht noch ’ne moralische Anwandlung. Das fehlte mir noch.“

„Ich weiß, Frank, du hast ja im Grunde recht, aber …“

Frank unterbrach ihn erregt: „Nun hör’ endlich auf zu jammern, der Zug fährt gleich ein. Wir müssen los. Wenn du dir aber in die Hosen machst, dann tue ich es allein.“

Thomas nickte ergeben, stand auf, ging mit schweren Schritten zum Tresen und bezahlte die Zeche, während Frank den fast bewusstlosen Ralf vom Stuhl hochzog. Gemeinsam nahmen sie ihn in die Mitte, führten ihn zum Bahnsteig 5 und warteten auf den einfahrenden ICE. Der Bahnsteig war voller Fahrgäste. Sie schleppten den stark benommenen Ralf weiter nach vorne und blieben mit ihm schließlich in einer dichten Menschentraube stehen.

Ralf war inzwischen unfähig, irgendeinen Gedanken zu fassen oder irgendetwas zu tun. Taumelnd und hilflos hing er zwischen den beiden.

Aus der Ferne sah er undeutlich den silbernen Zug heranrasen. Als der ICE nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war, bekam er einen heftigen Stoß in den Rücken und stürzte kopfüber auf die Gleise. Sein Schrei ging in dem Quietschen der Notbremsung unter, als der Triebwagen seinen Körper zerquetschte.

In dem totalen Chaos, das unter den geschockten Fahrgästen entstand, hasteten die beiden Mörder unbemerkt zurück zur Bahnhofshalle und verließen unbehelligt am Ausgang Breslauer Platz den Hauptbahnhof.

 

2

 

Stephan Hallmann alias Mark Herfurth, Verfassungsschützer der Abteilung 2 (Einsatz und Führung von V-Personen) in Köln-Volkshoven/Weiler, starrte einige Sekunden wie gebannt auf den Telefonhörer und atmete dann erleichtert tief durch. Die Nachricht seines Informanten war Musik in seinen Ohren. Schließlich hatte der sich fast drei Wochen nicht mehr bei ihm gemeldet und auch im Kontaktbriefkasten keine Nachricht hinterlassen. Sogar ihren Treffpunkt, die Lesehalle der städtischen Volksbücherei, hatte er nicht aufgesucht. So stand zu befürchten, dass seine „Quelle“ entweder ihre Arbeit eingestellt hatte oder ihr sogar etwas passiert war.

Er führte ein kurzes Telefongespräch mit seinem Chef, Regierungsrat Vollmer, und meldete sich für zwei Stunden ab.

 

Der Briefkasten befand sich im Hausflur des Quergebäudes eines heruntergekommenen Altbaus in Köln-Mülheim, einem Vorort der Stadt, der als sozialer Brennpunkt gilt und in dem über 30 Prozent Migranten leben. Niemand achtete auf den schlanken Mann im schwarzen Ulster, als er den Briefkasten öffnete, einen Briefumschlag herausnahm und in seine Brusttasche steckte. Anschließend stieg er seelenruhig in seinen silbernen Audi A 4 und fuhr davon.

Eine halbe Stunde später saß er wieder in seinem Büro und öffnete den zugeklebten Briefumschlag. Voller Spannung faltete er den eng beschriebenen Bogen auseinander. Was er las, ließ seinen Hals sofort trocken werden. Das war ja der absolute Hammer. Er schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Wenn das alles stimmte, dann war er einer ungeheuren Sauerei auf der Spur. Er zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt der Nachricht, dazu kannte er Pegasus zu gut. Zumindest hatte er bisher immer Hinweise geliefert, die sich im Nachhinein ausnahmslos als wahr bestätigt hatten.

Von einer neuen exklusiven Bruderschaft war da die Rede, die Kontakte zu Phönixx gesucht hatte, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Die Hinweise hatte Pegasus von seinem Studienkollegen Frank Sternberg erhalten, der ihm voller Begeisterung die Ziele dieser geheimen Bruderschaft in den glühendsten Farben geschildert hatte. Es verstand sich von selbst, dass Sternberg die Absicht geäußert hatte, spätestens nach Abschluss seines Studiums diesem Geheimbund beizutreten.

Der Hinweis auf die Mitglieder dieser Bruderschaft war reinstes Dynamit. Wenn das alles stimmte, dann hatte er den brisantesten Hinweis seiner bisherigen Dienstzeit in den Händen. Es war kaum zu glauben, aber nach Pegasus’ Angaben sollte es sich um Angehörige der deutschen Eliten, darunter Mandatsträger aus Politik und Wissenschaft, namhafte Vertreter der Wirtschaft, Polizeibeamte, Staatsanwälte, Mitglieder der Ärzteschaft, Personen aus der Kunst- und Kulturszene und sogar Mitglieder des Adels handeln. Besonders beunruhigte ihn, dass bereits regionale Strukturen existieren sollten. Auch der Hinweis, dass es in diesem Zusammenhang schon zu schweren Straftaten gekommen war, bereitete ihm erhebliche Kopfschmerzen. In welches Wespennest hatte er nur gestochen? Er musste sofort mit Vollmer sprechen. Das hier war ihm eine ganze Nummer zu groß. In den Dateien des Dienstes gab es bisher keinerlei Hinweise auf diese ominöse Bruderschaft. Er fertigte einen entsprechenden Bericht an und klopfte wenig später an die Tür seines Vorgesetzten.

 

Regierungsrat Vollmer sah ihm gespannt entgegen und bot ihm jovial einen Sitzplatz auf der hellbraunen Ledercouch an.

„Wollen Sie etwas trinken, Herr Hallmann? Vielleicht Kaffee oder Tee?“

„Am liebsten einen Schnaps, Herr Regierungsrat.“

„Donnerwetter, der Einsatz scheint Sie ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Na, dann mal raus mit der Sprache“, forderte er seinen Mitarbeiter auf, während er einen Wandschrank öffnete, eine Flasche französischen Cognac und zwei Gläser herausholte und sie halbvoll goss. Hallmann ließ sich nicht lange bitten, leerte sein Glas in einem Zug und reichte seinem Vorgesetzten den Bericht.

„Hier steht alles Wesentliche drin. Sie werden es nicht glauben, aber wir haben ab sofort ein echtes Problem.“

Stirnrunzelnd vertiefte sich Vollmer in den dreiseitigen Bericht und schüttelte mehrmals den Kopf, ließ den Bericht sinken und sah Hallmann fassungslos an. „Das ist ja eine verdammte Scheiße, die Sie da zu Papier gebracht haben. Da werden einige im Ministerium aber ziemliches Fracksausen bekommen.“

Hallmann lächelte in sich hinein. Vollmar war für seine deftige Ausdrucksweise bekannt.

„Ich fass’ es nicht“, fuhr Vollmer erregt fort und deutete auf eine Seite. „Hier zum Beispiel diese Aussprüche: ‚… wir müssen das Recht in unsere eigenen Hände nehmen, weil das Rechtssystem in unserem Lande permanent versagt.‘… oder hier“, er tippte mit dem Zeigefinger auf eine weitere Passage, ‚… dieses Ungeziefer hat es nicht verdient zu leben und muss liquidiert werden …‘. und dann auch noch ‚… gegen die unverantwortliche Ausbreitung des Islams in unserer Gesellschaft muss mit aller Härte vorgegangen werden …‘ Verdammt, Herr Hallmann, das sieht nach Selbstjustiz und Fremdenhass aus. Anscheinend hat sich da eine neue rechtsextreme Gruppierung gebildet, nur diesmal nicht aus dem üblichen braunen Umfeld der tumben Neonazis, sondern von weiter oben, direkt aus der Mitte der Gesellschaft und ihren Eliten. Die fallen nicht durch Bombenattentate, Brandanschläge oder gewalttätige Demonstrationen auf, sondern die zerstören von innen her das Gefüge des Rechtsstaates mit sorgsam vorbereiteten Einzelaktionen, weil sie offensichtlich überzeugt davon sind, über der Verfassung und damit über Recht und Gesetz zu stehen. Die leben abgeschottet in Zirkeln, da kommt kein Fremder so einfach hinein. Zum Glück haben wir ja Ihre hochkarätige Quelle. Seien Sie bloß vorsichtig, damit sie uns nicht noch abspringt oder ihr etwas passiert, denn das wäre eine Katastrophe allererster Güte“, warnte er. „Wir müssen da sofort aktiv werden und in einer konzertierten Aktion flächendeckend gegensteuern. Ich kann nur hoffen, dass sich ihre Strukturen noch nicht so weit ausgebildet und verfestigt haben, wie Ihr Informant behauptet, denn dann hätten wir in der Tat wirklich ein echtes Problem. Ist er denn absolut glaubwürdig?“, fragte er und sah Hallmann gespannt an.

„Wir haben problemlos zusammengearbeitet. Ich denke ja“, antwortete Hallmann voller Überzeugung.

„Gut … dann halten Sie Ihre Quelle mal schön bei Laune und pflegen Sie sie gut. Wir wollen doch nicht, dass ihr noch etwas passiert.“

„Keine Sorge, ich werde ihn in den nächsten Tagen persönlich treffen. Der Junge ist clever, der passt schon gut selbst auf sich auf.“

„Dann bin ich ja beruhigt. Ich werde gleich beim Big Boss Gesprächsbedarf anmelden. Nehmen Sie den Bericht und lassen Sie ihn als Verschlusssache mit dem Vermerk geheim eintragen. Ich ziehe mir schnell noch eine Kopie.“

Im Anschluss daran rief Vollmer im Vorzimmer des Präsidenten des Bundesverfassungsamtes an und bat um ein sofortiges Gespräch.

 

***

 

Frank und Thomas quälten sich in ihrem Fiat Punto im dichten Mittagsverkehr durch die engen Straßen und vielen Baustellen, die die Fahrtzeit vom Bahnhof bis zum Zielort in der Keupstraße verlängerten. Auf der anderen Rheinseite fuhren sie durch die typischen Brachen industrieller Landschaften, die sich mit eintönigen Plattensiedlungen abwechselten. Es war ein tristes Bild, das sich ihnen vor Ort bot. Die Nr.‍120 war ein heruntergekommenes Haus. Die Hauswände waren mit Graffiti verschmiert, die Fassade löchrig und der Hausflur verschmutzt. Den Briefkasten fanden sie ohne Schwierigkeiten. Geschickt öffnete ihn Frank mit einem kleinen Meißel. Aber er war leer.

„Verdammte Scheiße, da ist uns einer zuvor gekommen“, rief er wütend und trat gegen die halboffene Hoftür, die mit lautem Scheppern gegen die Hauswand prallte. „Dieses Arschloch hat unserer Sache schweren Schaden zugefügt. Hoffentlich wird er dafür in der Hölle schmoren“, sagte er grimmig und wandte sich Thomas zu.

„Lass uns abhauen. Wir haben unser Bestes getan. Mehr geht nicht.“

 

3

 

Hallmann saß ein wenig müde an seinem Schreibtisch und ordnete seine Papiere, als das Telefon klingelte. Es war bereits kurz vor 18.00 Uhr. Seinen Gesprächspartner erkannte er sofort an der Stimme. Es war der Schichtleiter im Großen Lagedienst.

„Stephan, wir haben hier von der Polizei routinemäßig eine Meldung rein bekommen, die dich interessieren dürfte.“

„Ja, Harry, was gibt es?“

„Am heutigen Tag, gegen 12.30 Uhr, gab es einen schrecklichen Unfall im Kölner Hauptbahnhof. Ein offensichtlich mit Drogen zugeknallter junger Mann stürzte vor einen hereinfahrenden ICE und wurde dabei tödlich verletzt. Er sah ziemlich übel aus, als ihn die Feuerwehr unter dem Triebwagen hervorzog.“

Hallmann unterbrach seinen Redefluss. „Das ist ja schlimm, aber was geht mich das an?“, fragte er gereizt.

„Warte mal ab, Stephan. Wir fragen alle Personen ab, die uns genannt wurden und haben prompt einen Treffer gelandet. Für den Toten besteht bei uns die Notierung, euch von der Abteilung 2 sofort zu benachrichtigen.“

„Ach so, dann schieß mal los.“ Er war plötzlich hellwach.

„Sagt dir der Name Ralf Hombach etwas?“

Das war wie ein heftiger, unvermittelter Tritt in den Unterleib. Er zuckte regelrecht zusammen. Pegasus war tot, sein junger V-Mann tot, mit dem er noch vor wenigen Stunden gesprochen hatte? Dieser 21jährige Student aus einer Duisburger Arbeiterfamilie, sympathisch und vor allem hochintelligent, der sich freiwillig auf die richtige Seite gestellt und ihm, und damit dem ganzen Land, einen unschätzbaren Dienst erwiesen hatte, sollte nicht mehr leben? Für einen kurzen Moment verlor er die Fassung und starrte völlig konsterniert aus dem Fenster auf den menschenleeren Parkplatz, auf dem die Dienstwagen in Reih und Glied abgestellt waren. War es vielleicht gar kein Unfall gewesen, sondern ein Mord …? Hatte ihn jemand von dieser geheimen Bruderschaft skrupellos vor den Zug gestoßen, um ihn für seinen Verrat zu bestrafen? Er erschrak. Denn wenn es so war, dann musste Pegasus einen Fehler begangen und seine Mörder auf sich aufmerksam gemacht haben. Der Gedanke daran war ihm unerträglich. Aber er war auch Profi genug in diesem dreckigen Geschäft der Nachrichtendienste, der Spitzel und Agenten, der Verräter und Staatsfeinde. Von Informanten und Tippgebern, wie Ralf Hombach einer war, lebte nun mal der Geheimdienst. Der Student hatte sein Leben riskiert, um in einer Gesellschaft leben zu können, die nicht von linken oder rechten Extremisten bedroht wurde und in der die verfassungsmäßige Ordnung geachtet und bewahrt wird, dachte er betroffen. Während er hier wild herum spekulierte, schön im Trockenen saß und auf den Feierabend wartete, lag Pegasus eiskalt und verstümmelt auf einer Bahre in der Gerichtsmedizin. Trotz der Wärme im Zimmer begann er zu frösteln. Vielleicht hatte er eine winzige Kleinigkeit übersehen, die ausschlaggebend für Ralfs Tod gewesen war. Er musste nachdenken und mögliche Konsequenzen ziehen. Ein Hauch von Melancholie und Trauer erfasste ihn. Bald würde sein Name vergessen sein, zumal er ihn nie wieder erwähnen durfte.

Aber auch sein schlechtes Gewissen meldete sich. Irgendwie fühlte er sich mitschuldig am Tod seines Informanten, eines vielversprechenden jungen Mannes mit einer gehörigen Portion Zivilcourage, der unbedingt nach seinem Studium Journalist werden wollte. Was war da nur schiefgelaufen? Er hatte doch mit ihm alle nur denkbaren Risiken bis ins Kleinste durchgesprochen, um eine Enttarnung durch die eigenen Leute zu verhindern. Der Bursche war verdammt clever gewesen und hatte gewusst, auf welch gefährliches Spiel er sich eingelassen hatte.

„Stephan, bist du noch dran?“

„Ja, natürlich, mir sind da eben nur so ein paar Gedanken durch den Kopf gegangen.“

„Kann ich verstehen. Man verliert ja nicht jeden Tag einen freien Mitarbeiter, und dann noch auf eine solch schreckliche Art und Weise“, erwiderte Harry mitfühlend.

„Tja, das sind die schmutzigen Kehrseiten unseres Geschäftes“, sagte Hallmann lakonisch. „Ich glaube nämlich nicht, dass es ein Unfall gewesen ist. Da hat jemand kräftig und entscheidend nachgeholfen. Wahrscheinlich ist ihm jemand auf die Schliche gekommen und hat ihn zur Strafe eliminiert. Gerade jetzt, wo wir mit seiner Hilfe einer unglaublichen Schweinerei auf die Spur gekommen sind. Ich weiß gar nicht, wie wir die Lücke, die sein Tod gerissen hat, so schnell wieder schließen können. Das wirft uns weit zurück. Dabei hätte er uns in der Zukunft so wichtige Informationen liefern können. Aber damit ist es nun leider vorbei“, bedauerte er.

„Tut mir echt leid, Stephan, aber ich muss jetzt abbrechen, da blinkt schon wieder ein Lämpchen auf.“

Er musste unbedingt letzte Gewissheit haben und fragte hastig:

„Ganz schnell noch, Harry – wie wurde der Tote identifiziert?“

„Durch seinen Personalausweis. Glücklicherweise war sein Gesicht noch okay.“

„Dann ist ein Irrtum völlig ausgeschlossen?“ „Ja!“

„Wer bearbeitet den Fall?“

„Das 11. Kriminalkommissariat.“

„Gut, ich werde mich darum kümmern. Vielen Dank für den Hinweis.“ Er legte frustriert den Hörer auf und atmete tief durch. Wenigstens hatte er die Unterlagen gerettet. Offensichtlich war er den Mördern von Pegasus zuvorgekommen, die nun nicht wussten, was Ralf mitgeteilt hatte. Seine beste Quelle war für immer versiegt. Verdammter Mist, gerade jetzt, wo sie so richtig zu sprudeln begann. Voller Scham dachte er an die Mutter von Ralf Hombach, die ihn unter vielen Mühen und Entbehrungen allein großgezogen hatte. Welches unbeschreibliche Leid für sie – und er konnte nicht einmal anrufen, um ihr ein paar Worte des Trostes auszusprechen.

Aber andererseits war er auch schon lange genug im Geschäft und wusste, was in solchen Fällen zu tun war. Er rief Vollmer an und erstattete ihm Bericht. Der war jetzt ganz der Chef und ordnete kühl an:

„Herr Hallmann, rufen Sie bitte unsere spezielle Putzkolonne an, damit die Datenbanken entsprechend bereinigt werden. Legen Sie mir alle Unterlagen, die Sie über Ihren Informanten haben, innerhalb einer Stunde vor. Ab sofort ist der Mann bei uns unbekannt. Und vor allem, forschen Sie nicht weiter nach, auch wenn Sie glauben, dass er getötet wurde. Das ist jetzt die Aufgabe der Polizei. Habe ich mich da klar und deutlich ausgedrückt?“, fragte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

Hallmann nickte ergeben und erwiderte: „Ich bin lange genug im Geschäft, Herr Vollmer, ich kenne unsere Spielregeln.“

„Na dann ist es ja gut. Übrigens, Herr Hallmann, ist Ihr Bericht bereits unterwegs nach Berlin. Ich habe Ministerialdirektor Kurt Grainau vom Bundesinnenministerium vorab über den Sachverhalt informiert. “

 

***

 

Kurt Grainau nahm den soeben diktierten Vermerk von seiner Sekretärin entgegen und las ihn noch einmal aufmerksam durch.

„Das ist so in Ordnung, Frau Rahn“, sagte er zufrieden, „lassen Sie ihn als geheime Verschlusssache eintragen und fertigen Sie noch 5 Kopien an“, bat er. „Und noch eins: Was ist mit dem Termin beim Herrn Staatssekretär? Bleibt der, wie abgesprochen, bestehen?“

„Ja, Herr Ministerialdirektor, er will versuchen, pünktlich zu sein.

Aber Sie wissen ja, die vielen Termine …“

 

Bundesministerium des InnernD 10559 BerlinUA ÖS – OB Nr.‍139/09 G

 

Alt -Moabit 101Tel.: 030 186 81–14Datum: 01.02.2009

Vermerk:‍VS – GEHEIM -

Leiter ÖS‍- zur Vorlage für den Herrn Staatssekretär

 

Leiter ÖS I‍- Polizeiangelegenheiten

 

Leiter ÖS II‍- Terrorismusbekämpfung

 

Leiter ÖS III‍- Verfassungsschutz – nachrichtlich –

 
 

„Sektion sauberes Deutschland“

 

Aus einer geschützten „Quelle“ wurde bekannt, dass Mitglieder der als rechtsradikal eingestuften studentischen Verbindung Phönixx seit einiger Zeit Kontakte zur einer Sektion sauberes Deutschland unterhalten sollen, die den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik bisher unbekannt ist.

 

Es soll sich dabei um eine geheime Gruppierung handeln, die sich mit ihren Zielen nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung bewegt und ein nicht der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland entsprechendes Menschenbild entwickelt hat und verfolgt. Diese Gruppierung ist strikt gegen die Vermischung der deutschen Rasse durch Migranten, besonders aus dem türkisch/arabischen Raum, gegen die Ausbreitung des Islams, gegen die Legalisierung der Homosexualität und für die Exekution von Frauen- und Kindermördern sowie Kinderschändern, sofern sie aus den verschiedensten Gründen von den Gerichten nicht verurteilt werden konnten.

 

Die Mitglieder dieser „Sektion sauberes Deutschland“ rekrutieren sich nach dem Sprachgebrauch der „Quelle“ aus den deutschen elitären Schichten, darunter Beamte der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Ärzteschaft, Mandatsträger aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Kultur sowie des Adels und sollen bereits dabei sein, regionale Strukturen zu entwickeln und vereinzelt auch schon schwere Straftaten begangen haben. Näheres ist dazu noch nicht bekannt.

 

Es wird vorgeschlagen, sofort eine Arbeitsgruppe beim Verfassungsschutz einzurichten, die prüfen soll, ob und mit welchen personellen und fiskalischen Ressourcen eine Unterwanderung dieser Gruppierung durchgeführt werden kann, um ihre Verfassungsfeindlichkeit festzustellen. Die AG soll in zwei Monaten einen ersten Bericht vorlegen. Leiter ÖS III arbeitet anschließend eine entsprechende Vorlage aus, die bei der nächsten Innenministerkonferenz von Bund und Ländern am 08. 04. 2009 behandelt werden soll, um erforderliche Konsequenzen zu beraten und sie ggf. beschließen zu können.

gez. Grainau, MinDir.

 

4

 

Rolf Kulicke blickte nervös von der Anklagebank auf die Wanduhr, die sich direkt über der Eingangstür des Gerichtssaals 114 im Berliner Landgericht befand. Vor mehr als einer Stunde hatte sich das Gericht zur Beratung zurückgezogen. Eigentlich hätte er mit dem Verlauf des letzten Prozesstages, an dem die Beweisaufnahme geschlossen und die Plädoyers gehalten worden waren, zufrieden sein können. Alles war wie geplant verlaufen. Sie konnten ihm den Mord an dem kleinen Sebastian nicht beweisen, obwohl sich der Staatsanwalt alle Mühe gegeben und eine Indizienkette geknüpft hatte, die sich sehen lassen konnte. Aber er hatte gut vorgesorgt und keine Spuren hinterlassen, die ihn als Täter identifizieren konnten. Schließlich war die Entführung des Jungen von ihm mehrere Tage lang generalstabsmäßig geplant worden. Lediglich die Aussage dieser stotternden Rentnerin hatte dafür gesorgt, dass er knapp eine Woche später festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht worden war. Bis zum heutigen Tage hatte er knapp sechs Monate bis zum Prozessbeginn in Moabit einsitzen müssen. Die Siebzigjährige hatte sich aufgrund von Medienberichten, die mit dem Verschwinden des 9jährigen Sebastian groß aufgemacht hatten, bei der Polizei gemeldet. Sie wollte den Jungen dabei beobachtet haben, wie er mit einem etwa vierzig Jahre alten schlanken Mann mit schütterem Haar am Ausgang des Kinderspielplatzes gesprochen hatte. Bei einer Lichtbildvorlage bei der Polizei hatte sie ihn als den von ihr beobachteten Mann identifiziert, der wenig später am Steuer eines weißen Kastenwagens an ihr vorbeigefahren sei. Das war auch einer der maßgeblichen Gründe dafür gewesen, dass es zu einer Anklage gegen ihn wegen Sexualmordes gekommen war. Ihre zufällige Anwesenheit am Entführungsort hatte er nicht einkalkulieren können. Wie auch? Sein Pflichtverteidiger, Dr. Frommholz, ein zwar arroganter, aber ausgebuffter Anwalt, der alle Tricks beherrschte, hatte die alte Frau ins Kreuzverhör genommen und sie mit seinen provozierenden Fragen derart verunsichert, dass sie schließlich völlig zerknirscht zugeben musste, dass sie ihn auch mit einem anderen verwechselt haben könnte. Damit hatte der Anwalt nach allen Regeln der Kunst den wichtigsten Beweis der Staatsanwaltschaft Stück für Stück so zerpflückt, dass er am Ende weniger wert war als eine Zeitung von gestern. Nachdem sie mit hochrotem Kopf und völlig aufgelöst den Gerichtssaal verlassen und sich Staatsanwalt Saalbach mit fassungslosem Gesicht abgewandt hatte, klopfte ihm Frommholz jovial auf die Schulter, beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte: „Ich garantiere Ihnen, dass Sie hier heute als freier Mann den Gerichtssaal verlassen. Wenn nicht, gebe ich meine Zulassung zurück.“ Dabei lächelte er ihn eine Spur zu überheblich an. Seine letzte Bemerkung nahm er ihm natürlich nicht ab. Das war nur dämliches Juristengequatsche.

Trotz dieser Aussage fühlte er sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut und konnte nicht verhindern, dass sich die Spannung in ihm unaufhörlich aufbaute und seine Stirn schweißbedeckt war. Auch seine Handflächen waren vor Aufregung längst feucht geworden. Die Prognose seines Anwaltes könnte zutreffen, aber was war, wenn das Gericht zu einer völlig anderen Bewertung der Beweise kommen und trotz aller Widersprüche, in die sich die Alte verwickelt hatte, ihren Aussagen dennoch Glauben schenken würde? Für ihn stand eine Menge auf dem Spiel: Bei einer Verurteilung und der Feststellung der Schwere der Tat würde er, sofern ihn das Gericht als unverbesserlichen Hangtäter einstufte, lebenslang hinter schwedischen Gardinen verschwinden. Eine vorzeitige Entlassung konnte er sich dann ein für alle Mal abschminken und würde den Rest seiner Tage in einer dunklen Zelle verbringen müssen, eine wahrlich grauenhafte Vorstellung. Da waren auch noch seine einschlägigen Vorstrafen, die seinen verhängnisvollen und unstillbaren Hang zur Pädophilie offenbarten. Immer wieder hatte er versucht, seine abartige Neigung in den Griff zu bekommen und sich deshalb während seiner langjährigen Haftstrafen mehreren Therapieversuchen unterzogen. Aber er musste bei allen seinen Bemühungen erkennen, dass er nicht in der Lage war, seinen Hang für kleine Jungs dauerhaft zu beherrschen. Da ihm bei seiner letzten Verurteilung der Richter eindringlich klargemacht hatte, dass ihm bei einer erneuten Straftat Sicherungsverwahrung drohe, hatte er sich in weiser Voraussicht in wochenlangem Studium einschlägiger Fachbücher ein wenig Fachwissen über die menschliche Psyche und deren dunkle Seiten angeeignet. Mit seinem Wissen und einer gehörigen Portion Cleverness war es ihm schließlich gelungen, in einer weiteren Therapie Prof. Dobeleit so zu täuschen, dass er ihm eine günstige Prognose für Resozialisierungsmaßnahmen attestierte. Damit konnte er bereits nach etwas mehr als der Hälfte seiner vierjährigen Haftstrafe die knapp 10‍qm große Zelle in Tegel auf Bewährung verlassen.

Was konnten sie ihm sonst noch beweisen? Tagelang hatte er die entscheidenden Vorbereitungen getroffen, war mehrmals nachmittags zum Spielplatz gefahren und hatte den Kleinen beobachtet, der dort ohne Aufsicht seiner Eltern spielte und am frühen Abend allein zu seiner in der Nähe liegenden Wohnung lief. Alles wäre so glatt gegangen, wenn diese verdammte Alte nicht aufgetaucht wäre. Dann würde er hier nicht auf der Anklagebank sitzen, sondern sich zu Hause gemütlich einen Kinderporno reinziehen. Sicher, der Tod von Sebastian hatte ihn schockiert und war nicht eingeplant gewesen, aber die Schuld an seinem Tod hatte nicht er, die lag eindeutig bei dem Kleinen.

Warum hatte er sich nur so heftig gewehrt? Er wollte doch nur ein bisschen Spaß haben und seinen zarten Körper ein wenig liebkosen. Bei dem Gedanken daran überflutete ihn eine kaum beherrschbare Erregung und er musste an sich halten, um nicht laut aufzustöhnen. In seinem Innersten hatte er gehofft, dass Sebastian seine Spielchen klaglos über sich ergehen lassen würde. Aber da hatte er sich gewaltig getäuscht. Als der Junge nach der leichten Betäubung wieder bei Kräften war und begriff, dass er sich auf einem Bett in einer fremden Wohnung befand und ihm der unbekannte Mann Schmerzen zufügen wollte, hatte er sich heftig gewehrt, mit den Beinen gestrampelt und versucht, trotz zugehaltenem Mund, laut zu schreien. In seiner Verzweiflung hatte ihm der Junge sogar kräftig in die Hand gebissen, sich danach losgerissen, war flink wie ein Wiesel durch den langen Korridor zur Wohnungstür geflitzt und hatte dabei unaufhörlich laut geschrien. Da er befürchten musste, dass Nachbarn auf den Lärm in seiner Wohnung aufmerksam werden könnten, hatte er sofort gehandelt. Er griff dem Kleinen roh in die Haare, riss ihn zurück und gab ihm ein paar heftige Ohrfeigen, worauf der benommen zu Boden stürzte. Dann hob er den wie Espenlaub zitternden Jungen auf, trug ihn ins Schlafzimmer zurück und legte ihn bäuchlings auf das Bett. Die Gelegenheit musste er sofort ausnutzen, weil eine Gegenwehr nicht zu erwarten war. Er hatte an alles gedacht und sogar ein Kondom bereitgelegt. Schnell zog er es sich über und drang roh in den leise vor sich hin wimmernden Jungen ein, der augenblicklich vor Schmerzen erneut laut aufschrie und heftig zu zappeln begann. In höchster Erregung riss er Sebastians Kopf brutal nach hinten, um seinen Widerstand zu brechen, packte ihn mit beiden Händen fest am Hals und schüttelte ihn mehrmals heftig hin und her. Schon nach wenigen Augenblicken verstummten Sebastians Schreie und sein Kopf fiel schlaff zur Seite. Zuerst begriff er gar nicht was passiert war, weil er viel zu sehr beschäftigt war, mit aller Macht zum Orgasmus zu kommen. Als er sich endlich schweratmend aufrichtete, musste er zu seinem Erschrecken feststellen, dass Sebastian nicht mehr atmete. Fassungslos starrte er auf den vor ihm liegenden leblosen Körper des Jungen. Erst langsam begriff er, was geschehen war. Er hatte wohl zu kräftig und viel zu lange zugepackt und dem Kleinen ungewollt die Luft abgedrückt und ihn erwürgt. Er war zum Mörder geworden. Das hatte er nun wirklich nicht gewollt. Spaß haben ja, aber nicht töten war bisher immer seine Devise gewesen. Das Wort Mörder drang in sein Innerstes und schallte auf seiner Seele wieder zurück. Er hatte ein kleines wehrloses Kind getötet! Lähmendes Entsetzen und tiefe Scham überfluteten sein Bewusstsein. Nach einer kurzen Phase der Untätigkeit, in der sich Hilflosigkeit und heftige Panikattacken abwechselten, begriff er, dass er etwas tun musste, um den Kleinen zu retten, egal, ob er dabei draufgehen und für immer im Knast landen würde. Er löste sich aus seiner Starre, drehte Sebastian auf den Rücken und tastete hektisch nach seinem Puls. Da er ihn nicht spüren konnte, beugte er sich hastig hinunter und legte sein Ohr auf die Brust. Aber er hörte keinen Herzschlag in dem zarten, leblosen und von roten Druckstellen an Hals, Armen und Beinen übersäten Körper. Verzweifelt begann er mit Wiederbelebungsversuchen, wie er sie vor vielen Jahren bei der Bundeswehr als Kampfschwimmer gelernt hatte. Aber es war zu spät. Als er nach fast zehn Minuten völlig außer Atem und schweißüberströmt in das wachsbleiche Gesicht des Jungen blickte, begriff er, dass Sebastian bereits tot war und ihn keine Macht der Welt je wieder zum Leben erwecken konnte.

Was sollte er jetzt tun? Die Polizei rufen und sich festnehmen lassen, um für immer hinter schwedischen Gardinen zu verschwinden? Nein, das konnte nicht die Lösung sein. Er war erst zweiundvierzig Jahre alt und wollte nicht den Rest seiner Tage in einer Gefängniszelle vermodern. Zu oft hatte er im Knast gesessen und äußerst schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren müssen, wie die anderen Gefangenen mit einem Kinderficker wie ihm umgegangen waren. Er konnte nicht mehr zählen, wie oft er von anderen Mithäftlingen brutal zusammengeschlagen worden war und wie sie ihn mit blankem Hass und Verachtung straften und ihn völlig links liegen ließen. Keiner von ihnen sprach je ein Wort mit ihm und so war er die ganze Zeit über im Knast total isoliert gewesen. Nein, nach der jetzigen Tat musste er mit dem Schlimmsten rechnen und was das bedeutete, konnte er sich an allen zehn Fingern abzählen. Gerade jetzt, wo er nach langen Jahren der Arbeitslosigkeit endlich eine neue Stelle als Masseur in einem orthopädischen Zentrum in Aussicht hatte, passierte ihm dieses entsetzliche Malheur. Dabei hatte er sich ernsthaft vorgenommen, endgültig mit seinem bisherigen Lotterleben Schluss zu machen und noch einmal kräftig durchzustarten. Aber statt eines neuen Anfangs stand er durch diesen ganzen Wahnsinn wieder einmal vor einem Scherbenhaufen, der das Ende seiner Existenz bedeuten konnte. Er hasste dafür sich und seinen Trieb, gegen den er machtlos war und der ihn bis ins hohe Alter unbarmherzig verfolgen würde. Es gab jetzt nur eins. Er musste unter allen Umständen die Nerven behalten, alle möglichen Spuren der Tat beseitigen und die Leiche unbemerkt verschwinden lassen. Nur dann konnte er noch hoffen, dass der bittere Kelch einer lebenslangen Haftstrafe an ihm vorüberginge.

Im Keller fand er einen alten, großen und stabilen Reisekoffer, der schon jahrelang ungenutzt, von Staub überzogen, in einer Ecke stand. Er entleerte den Inhalt, der aus alten Zeitungen, ehemals getragenen Kleidungsstücken und anderem Krempel bestand, und brachte ihn unbemerkt in seine Wohnung. Einen Eimer füllte er halb mit Wasser, gab ein paar Spritzer Abwaschmittel hinzu, zog sich dünne Gummihandschuhe über und begann, den Koffer innen und außen sorgfältig abzuwischen, um seine Fingerabdrücke zu entfernen, die sich eventuell noch daran befinden konnten. Mit schleppenden Schritten betrat er das Schlafzimmer und musste sich regelrecht überwinden, den toten Jungen anzufassen, um ihm die Kleidung auszuziehen. Als seine Leiche nackt vor ihm auf dem Bett lag und er sie angeekelt betrachtete, entdeckte er in dem ehemals hübschen Gesicht des kleinen Sebastian das Grauen, die bodenlose Angst und die unerträglichen Schmerzen, die sich in den letzten Sekunden seines kurzen Lebens regelrecht eingemeißelt hatten. Ihm wurde speiübel. Er sprang auf und stürzte zur Toilette, riss den Deckel hoch und übergab sich mehrmals würgend. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, kehrte er ins Schlafzimmer zurück, trug den kleinen Körper zum Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne ein. Behutsam, als ob er dem leblosen Kind Schmerzen ersparen wollte, legte er es hinein und wusch den zierlichen Körper mit einem Schwamm ab, um mögliche Spuren von sich zu vernichten, die sich eventuell noch auf der Haut befanden. Mit einem sauberen Frotteehandtuch trocknete er ihn ab. Aus der Abstellkammer holte er einen großen blauen Plastiksack, zog ihn über den Körper des toten Jungen und legte ihn vorsichtig in den Koffer. Voller Scham schaute er auf den Leichnam, der sich zusammengekrümmt im Sack befand. Das würgende Gefühl im Hals er fasste ihn erneut und er brach sich dabei fast die Seele aus dem Leib. Mit hochrotem Kopf und nach Luft ringend richtete er sich mühsam auf und setzte sich erschöpft auf den Badewannenrand. Nachdem er sich wieder etwas erholt hatte, stopfte er das Bettzeug, die Bekleidung und das Handtuch in zwei große Aldi-Tüten. Anschließend säuberte er gründlich das Bad, vergaß auch nicht das Flusensieb und fand darin einige Haare, die er sofort im Toilettenbecken hinunter spülte. Zur Sicherheit inspizierte er auch noch den Flur, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Nachdem er sicher war, dass er an alles gedacht und nichts übersehen hatte, duschte er ausgiebig und zog frische Wäsche an. Seine getragene Kleidung stopfte er in eine weitere Plastiktüte.

Nachdem es dunkel geworden war, verließ er mit dem Koffer und den drei prall gefüllten Tüten das Haus und gelangte unbemerkt zum weißen Kastenwagen, der nur ein paar Meter von der Haustür entfernt am Straßenrand geparkt war. Er hatte die klapprige Kiste am Sonntag auf dem Automarkt an der Beusselstraße mit einem gestohlenen Ausweis von einem türkischen Händler für dreihundert Euro gekauft. Ziellos fuhr er durch die Gegend und suchte nach einem geeigneten Ort, an dem er zunächst den Koffer mit der Leiche entsorgen konnte. Endlich hatte er einen Müllcontainer auf einem offenen Baugrundstück an der stillen und kaum bewohnten Dennewitzstraße in Schöneberg entdeckt, der ihm als Ablageort geeignet erschien, zumal kein Wohnhaus in der Nähe war. Der Container stand vor einem Zaun, der das Grundstück von dem weitläufigen Gelände der Deutschen Bahn abgrenzte. Die Gegend war menschenleer und geradezu ideal für seine Absichten. Erleichtert atmete er tief durch, stellte den Motor ab und machte die Scheinwerfer aus. Er wartete geduldig und beobachtete aufmerksam die Gegend. Als sich nach fünf Minuten nichts regte, stieg er aus, öffnete die hintere Tür, nahm den Koffer mit der Kindesleiche heraus und trug ihn zum Container, der nur halb mit allerlei Unrat gefüllt war. Vorsichtig legte er den Koffer hinein, deckte ihn mit einigen Mülltüten, Papier und Bauschutt zu und zog die Klappe herunter. Die Plastiktüten stopfte er später in eine im Innenhof eines baufälligen Wohnhauses stehende Mülltonne in der Neuköllner Sonnenallee.

Am nächsten Tag fuhr er nach Nauen und verkaufte das mit Rost überzogene Fahrzeug auf einem Schrottplatz für zwanzig Euro. Niemand stellte eine Frage. Heilfroh fuhr er eine Stunde später mit dem Regionalzug in Richtung Berlin zurück.

Als er am späten Nachmittag in seine einfach eingerichtete Wohnung zurückkehrte, die sich in einem alten heruntergekommenen Haus in der Naunynstraße/Ecke Adalbertstraße, im tiefsten Kreuzberger Kiez, befand, überkam ihn das heulende Elend. Er trank rasch eine fast volle Flasche Wodka aus und fiel betrunken auf sein Bett. Sein vom Alkohol vernebeltes Gehirn spielte ihm einen bösen Streich, und er sah das ehemals hübsche Gesicht des kleinen Sebastian vor sich auftauchen, aus dem ihn die gebrochenen, weit aufgerissenen, blauen Augen anklagend anstarrten. Sein schlechtes Gewissen meldete sich. Mein Gott, was habe ich dem kleinen Kerl nur angetan? Warum war ich nur so erbarmungslos mit ihm und habe ihm keine Chance gelassen, weiter zu leben? Dann sah er den kleinen Buben plötzlich vor sich, wie er auf dem Spielplatz so fürsorglich einem kleineren Mädchen über den Kopf gestrichen und es getröstet hatte, nachdem es von einem Klettergerüst abgerutscht und auf den Boden gefallen war. Dabei hatte er auch seinen Namen erfahren, als sich die Mutter des Mädchens bei ihm bedankt hatte.

Abrupt wurde er aus seinen Erinnerungen herausgerissen, als ihm Dr. Frommholz auf die Schulter tippte und zuraunte: „Herr Kulicke, das Gericht hat seine Beratung beendet und kommt zurück. Erheben Sie sich!“

Mühsam stand er auf. Sein Rücken schmerzte und in seinem Kopf hämmerte es unaufhörlich. Er richtete seinen Blick auf die schwarzgekleideten Richter, die sich mit ernsten Gesichtern am Richtertisch postierten. Atemlose Stille trat in dem übervollen Gerichtssaal ein und alle Anwesenden starrten sie aufgeregt an. Der Prozess hatte starken Widerhall in den Medien und der Öffentlichkeit gefunden. Die Zuschauerbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt und viele Pressevertreter wollten Zeugen des mit Spannung erwarteten Urteils dieses widerlichen Verbrechens werden, das die gesamte Stadt in Aufruhr versetzt hatte. Auch das Fernsehen hatte seine Kameras aufgebaut und wollte live über den spektakulären Kindesmord berichten. Er spürte hautnah die Verachtung und die Abscheu der Leute, die sich in ihren Blicken widerspiegelten. Alle erwarteten die lebenslange Verurteilung des Sex-Monsters, wie ihn eine Boulevardzeitung verächtlich bezeichnet hatte. Jetzt war der entscheidende Moment gekommen, der über sein weiteres Leben entscheiden würde. Die sensationslüsterne Menge war ihm völlig egal. Sie starrten ihn wie ein Ungeheuer aus fernen Zeiten an, aber sein Blick ging einfach über sie hinweg und blieb an einem Mann haften, den er schon an allen anderen Prozesstagen auf der Zuschauerbank gesehen und der ihn unablässig beobachtet, ja beinahe die ganze Zeit fixiert hatte. Er schien nicht sehr groß zu sein, hatte kurzes schwarzes Haar, eine kräftige, sportliche Figur und war etwa vierzig Jahre alt. Ständig hatte er sich Notizen gemacht. War er ein Bulle, einer von der Presse oder vielleicht auch ein Angehöriger des getöteten Jungen? Er stieß Dr. Frommholz an, zeigte unauffällig auf den Unbekannten und fragte ihn flüsternd: „Herr Doktor, kennen Sie den Kerl da?“

Der Anwalt schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinem vor ihm liegenden Aktenberg. Der Vorsitzende Richter, Christoph Schreiber, begann stehend mit seinen Ausführungen und wandte sich direkt an ihn:

„Angeklagter … nach reiflicher Prüfung der Beweislage und des gesamten Sachverhaltes ist das Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie von dem Vorwurf des Mordes an dem neunjährigen Sebastian Kehlberg freizusprechen sind, da das Gericht nicht mit der notwendigen Sicherheit zu der Überzeugung gekommen ist, dass die vorgelegten Beweismittel Sie als Täter zweifelsfrei überführen. Und dies ist für eine Verurteilung nach deutschem Recht zwingende Voraussetzung. Die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweismittel reichen für eine Verurteilung wegen Mordes nicht aus. Das heißt in Ihrem Falle in dubio pro reo, was nicht mehr oder weniger bedeutet: im Zweifelsfalle für den Angeklagten. Das heißt aber nicht, dass Sie hier zu Unrecht stehen, Angeklagter, damit wir uns klar verstehen! Es gibt nach wie vor erhebliche Verdachtsmomente gegen Sie.“

Er machte eine kleine Pause, um ihm und den Anwesenden Gelegenheit zu geben, das soeben verkündete Urteil richtig zu begreifen und fuhr dann fort: „Der Haftbefehl ist mit sofortiger Wirkung aufgehoben und für die erlittene Untersuchungshaft ist eine Entschädigung zu zahlen. Ihre notwendigen Auslagen sowie die Gerichtskosten trägt die Staatskasse.“

Unruhe machte sich im Saal bemerkbar. Vereinzelt ertönten Pfiffe und abfällige Bemerkungen über das Gericht. Der Vorsitzende hob seine Stimme merklich an und forderte lautstark: „Wenn nicht sofort Ruhe eintritt, lasse ich den Saal räumen!“

Dieser unmissverständliche Hinweis reichte aus, um die aufgeregten Gemüter wieder zu beruhigen. Der Vorsitzende fuhr nach einer weiteren kurzen Pause mit der Begründung des Urteils fort. Seine Worte rauschten wie ein Wasserfall an ihm vorüber. Endlich war es vorbei, endlich hatte er seine Freiheit wieder und er konnte tun und lassen, was er wollte. Er atmete tief durch und klopfte seinem Verteidiger dankbar auf die Schulter.

„Das haben Sie prima hingekriegt, Herr Doktor. Ich bedanke mich für Ihre professionelle Arbeit.“

Der Anwalt sah ihn eiskalt an. „Herr Kulicke, bedanken Sie sich nicht bei mir. Bedanken Sie sich beim Gericht, das mich Ihnen als Pflichtverteidiger beigeordnet hat. Freiwillig hätte ich Ihren Fall nicht übernommen. Aber da gibt es in der Justiz bestimmte Regeln, an die auch ich mich zu halten habe. Sie verstehen? Ein zweites Mal würde ich das nicht mehr machen. Ich gehe doch davon aus, dass Sie das Urteil akzeptieren und keine Rechtsmittel einlegen oder …?“, fragte er provozierend. „Ich habe noch andere Mandanten, die meinen Rat brauchen – und nun guten Tag.“

Er ließ ihn einfach stehen, drehte sich brüsk um und eilte zum Ausgang.

Kulicke verstand gar nichts mehr. Da hatte er sich aber gewaltig in diesem Anwaltsfatzke getäuscht. Der hatte ihm die ganze Zeit nur etwas vorgemacht, und er Blödmann hatte geglaubt, dass der für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen würde. Stattdessen hatte der Bursche nur das Nötigste getan, um seiner Pflicht zu genügen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Egal, dachte er, Hauptsache, ich bin endlich frei.

Der Justizwachtmeister wandte sich an ihn und riss ihn aus seinen Überlegungen. „Kommen Sie, Herr Kulicke, ich bringe Sie in die Untersuchungshaftanstalt zurück und dann müssen wir den ganzen Papierkram erledigen, damit Sie die Haftanstalt so schnell wie möglich verlassen können.“

Er deutete auf die Tür hinter ihm, die zu einer Treppe und einem anschließenden langen Gang führte, durch den man direkt zur Haftanstalt gelangte.

 

5

 

Als sich am 1.‍Juli 2009 das Tor der Untersuchungshaftanstalt, das zur Straße Alt-Moabit führt, eine Stunde später hinter Ralf Kulicke schloss, stand er mutterseelenallein in der Freiheit. Um ihn herum brandete der Verkehr, die Mittagssonne strahlte gnadenlos vom wolkenlosen Himmel herab. Er fing sofort zu schwitzen an und die ersten Schweißtropfen liefen ihm die Stirn herunter, aber das war ihm jetzt völlig egal. Er fühlte sich wie neugeboren und ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfasste ihn. Er war endlich wieder frei und vor lauter Freude stieß er einen kurzen triumphierenden Schrei aus. Nachdem er noch ein paar Euro in seiner Jackentasche hatte, entschloss er sich, nicht mit der BVG nach Hause zu fahren, sondern sich ein Taxi zu gönnen. Er trat an den Straßenrand und hob die Hand. Zufällig streifte sein Blick die andere Straßenseite und erfasste den neben einer Litfaßsäule stehenden Mann, der ihm schon im Gerichtssaal aufgefallen war und zu ihm herüber sah. Verdammt, das konnte kein Zufall sein. Warum verfolgt er mich? Was will er von mir, dachte er irritiert, bevor er in die Taxe stieg. Nach einigen Sekunden drehte er sich um und schaute zurück. Es folgte ihm kein Auto und auch der Unbekannte war verschwunden. Er schüttelte den Kopf und schalt sich einen Narren. Jetzt fing er auch schon an zu spinnen und sah hinter jedem Baum oder Strauch eine verdächtige Person, die ihm ans Leder wollte.

Nach knapp einer halben Stunde stieg er vor seiner Haustür aus der Taxe. Nachdem er den Fahrer bezahlt hatte, blieben ihm noch knapp zehn Euro, die für ein Abendbrot reichen würden. Bei dem türkischen Gemischtwarenladen an der Ecke kaufte er ein Päckchen Vollkornbrot, Margarine, eine Packung fettarmen Käse und einen Sechserpack Bier. Damit konnte er seinen Hunger stillen und den größten Durst löschen. Gleich morgen früh wollte er zum Job-Center gehen und sich um den neuen Job kümmern. Aus dem Geschäft rief er seine ältere Schwester an, die trotz aller Schweinereien, die er begangen hatte, in treuer Geschwisterliebe zu ihm hielt und verabredete sich mit ihr für den frühen Abend. Einige Stunden würde er brauchen, um seine verwahrloste Bude wieder ein wenig bewohnbar zu machen und auf Vordermann zu bringen.

Er hatte gerade das Wohnzimmer aufgeräumt, als es an der Wohnungstür klingelte. Ohne sich weitere Gedanken zu machen, wer ihn jetzt sprechen wollte, öffnete er die Tür und zuckte heftig zusammen, als er die beiden Männer sah, die mit entschlossenen Gesichtern vor ihm standen. Der kleinere von beiden war dieser verdammte Kerl aus dem Gerichtssaal, der jetzt auch sofort das Wort ergriff.

„Sind Sie Rolf Kulicke …?“

„Warum fragen Sie? Sie wissen es doch bereits. Lassen Sie mich also in Ruhe, sonst rufe ich die Bullen“, erwiderte er pampig und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Aber der Kleine war schneller und stellte seinen Fuß dazwischen.

„Nicht so schnell mit den jungen Pferden, Herr Kulicke. Wir müssen erst etwas mit Ihnen klären und dann haben Sie Ihre Ruhe vor uns“, sagte er zweideutig. „Hören Sie, wir müssen das ja nicht auf der Treppe besprechen, lassen Sie uns in Ihre Wohnung gehen. Wir sind in einigen Minuten wieder weg und belästigen Sie nicht weiter, okay?“

Der Kleine wartete seine Antwort gar nicht ab, schob ihn einfach ein Stück in den Flur hinein und folgte ihm mit dem Großen im Schlepptau. Blitzschnell schlug er die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel einmal im Schloss herum.

Als er Kulickes erschrecktes Gesicht sah, beruhigte er ihn: „Dann sind wir wenigstens ungestört und die Nachbarn haben nichts zum Tratschen. Das ist doch auch in Ihrem Sinne, nicht wahr?“

Kulicke musterte ihn misstrauisch und sein Blick wanderte hinüber zu dem Großen. Der Mann war ca. 30 Jahre alt und mindestens 1,95‍m groß, hatte Schultern wie ein Preisboxer und machte einen durchtrainierten Eindruck. Seine Augen waren kalt und farblos und er hatte ein breites, brutal wirkendes Kinn. Auffällig an ihm aber waren seine außergewöhnlich großen Hände, die er jetzt lässig vor der Brust verschränkte.

„Kommen Sie, gehen wir ins Wohnzimmer“, forderte ihn der Kleine mit einer Stimme auf, die keinen Widerspruch duldete. Zögernd ging Kulicke voraus. Was sind das nur für Typen? Vielleicht Bullen oder ein paar Pressefritzen, die sich von ihm eine Exklusivstory erhofften? Aber Bullen, nein, die wiesen sich immer mit ihren Kripomarken aus und stellten sich vor. Diese beiden Typen verhielten sich ganz anders. Er wurde nervös und spürte instinktiv, dass er unbedingt etwas unternehmen musste, denn die Situation schien bedrohliche Formen anzunehmen. Verstohlen schielte er zur Korridortür und schätzte ab, ob es ihm vor den beiden gelingen könnte, die Tür zu erreichen, sie zu öffnen und über die Treppe hinunter auf die Straße zu flüchten. Der Kleine schien Gedanken lesen zu können, denn er sagte gefährlich leise, wobei er jede Höflichkeitsfloskel fallen ließ:

„Kulicke, ich warne Sie. Machen Sie keine Dummheiten, das schaffen Sie nicht. Deshalb versuchen Sie es gar nicht erst. Setzen Sie sich lieber hin. Im Sitzen lässt es sich besser reden“, wiegelte er ab. Aber an ihren eisigen Mienen sah er, dass sie nicht zum Scherzen aufgelegt waren.

„Was wollen Sie von mir und wer sind Sie?“, fragte er verunsichert, und er spürte, wie die Angst langsam in ihm hoch kroch. Was führten die beiden schrecklichen Kerle nur im Schilde? Der Große sah ihn aus seinen kalten Augen unbarmherzig an, während der Kleine mit schneidender Stimme sagte: „Wir sind eine Art Kammerjäger. Uns wurde mitgeteilt, dass es hier in dieser Wohnung menschliches Ungeziefer gibt, das es zu beseitigen gilt. Nur deshalb sind wir hier!“

Im selben Moment machte der Große einen blitzschnellen Schritt auf ihn zu und hob seine riesigen Hände hoch.

 

***

 

Gabriele Ferber betrat gegen 18.00 Uhr das Haus ihres Bruders. Sie hatte ein großes Kuchenpaket in der Hand und wollte ihm damit eine kleine Freude machen, denn sie wusste aus Erfahrung, dass er Streuselkuchen wahnsinnig gerne aß. Sie hatte von seinem Freispruch bereits aus dem Radio erfahren, ehe er ihr freudestrahlend das Gleiche noch einmal am Telefon berichtet hatte. Sie klingelte, wartete, aber nichts rührte sich. Sie versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Beunruhigt holte sie den Zweitschlüssel für die Wohnung aus der Tasche und öffnete die Tür. Komisch, sie war nur zugeschlagen.

„Rolf …“, rief sie laut und trat ein.

Alles blieb still. Durch das offene Küchenfenster hörte sie die Geräusche der Straße, aber in der Wohnung rührte sich nichts. Beunruhigt drückte sie die Wohnzimmertür auf, die einen Spalt weit offen stand und prallte erschreckt zurück. Rolf konnte nicht mehr antworten. Er lag direkt vor dem Zentralheizungskörper auf dem Boden. Sein Kopf hing ein Stück über dem Boden in einer Seilschlinge, die den Hals unterhalb der Ohren stranguliert hatte. Das Seil führte um den Heizkörper herum und war am Ende fest verknotet. Der Mund stand offen und die Zunge hing halb heraus. Seine gebrochenen Augen starrten sie leblos an. Hastig trat sie an ihn heran, bückte sich und hob vorsichtig seinen Kopf hoch, um dem Seil die Spannung zu nehmen, damit sie die Schlinge lockern und über seinen Kopf abstreifen konnte. Sie rüttelte ihn an der Schulter, brach dann aber ihre Bemühungen ab. Hier konnte kein Arzt mehr helfen. Sie kniete nieder und nahm ihn in die Arme. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie mit ihrem leblosen Bruder auf dem Boden saß. Sie wiegte ihn sanft wie ein kleines Kind hin und her und rief dabei immer wieder leise seinen Namen. Als examinierte Krankenschwester kannte sie sich mit den Erscheinungsformen des sicheren Todes bestens aus. Auf seiner Brust waren erste blauviolette Leichenflecken zu erkennen, die ihr zeigten, dass sein Tod bereits vor Stunden eingetreten war.

Nach einigen Minuten erhob sie sich schließlich stöhnend und griff nach ihrem Handy. Sie musste die Polizei anrufen und den Tod ihres kleinen Bruders melden, den sie trotz seiner verhängnisvollen Veranlagung über alles geliebt hatte. Als sie sich auf einen Sessel setzen wollte, bemerkte sie ein Blatt Papier, das zusammengefaltet auf dem Couchtisch lag und auf dem ihr Name stand. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Bogen, öffnete ihn, strich ihn glatt und überflog fassungslos die paar Zeilen. Sie erkannte sofort seine Handschrift.

 
 

Liebe Gabriele!

 

Ich bin zwar heute vom Gericht freigesprochen worden, aber zu Unrecht, denn ich habe den Jungen getötet. Ich bin völlig verzweifelt, denn ich kann mit dieser Schuld nicht weiter leben. Mein Leben ist sinnlos geworden.

Verzeih mir, aber ich kann nicht anders.

Rolf

 

Sie ließ das Blatt sinken, Tränen, die so unendlich weh taten, fielen auf das Papier, aber das kümmerte sie nicht weiter. Mühsam drehte sie sich um und sah zu ihrem toten Bruder hinüber, der seinem Leben vorzeitig ein Ende gesetzt hatte. Tiefe Trauer erfasste ihr Bewusstsein, und sie begriff, dass sie von nun an ganz allein war, nachdem ihr Mann vor einem halben Jahr an Prostatakrebs verstorben war. Aber sie war auch ehrlich genug, den tragischen Entschluss ihres Bruders zu verstehen, akzeptieren konnte sie ihn als gläubige Katholikin nicht. Er hatte sich wegen seiner schweren Schuld das Leben genommen. Wie hätte er auch sonst damit weiter leben können? Sie atmete tief durch und wählte den Polizeinotruf. Schon nach knapp fünf Minuten klingelte es und zwei uniformierte Polizisten standen vor der Tür.

 

***

 

Die Ermittlungen wurden vom örtlichen Kriminalkommissariat für Leichensachen durchgeführt. Niemand waren die beiden geschwollenen Gelenke des Ring- und des kleinen Fingers von Kulickes linker Hand aufgefallen. Auch in dem Bericht des Gerichtsmediziners Dr. Simoneit, der am Fundort die Besichtigung der Leiche und später die Obduktion vorgenommen hatte, war darüber nichts zu finden.

Bereits nach knapp zwei Wochen wurde die Akte geschlossen und an die Staatsanwaltschaft übergeben. Es bestand kein Zweifel daran, dass es sich hier um einen Suizid handelte.

„Irgendwelche Anzeichen für Fremdverschulden und die Mitwirkung Dritter am Tode von Rolf Kulicke waren nicht zu erkennen …“,