Der Mitternachtsmörder - Bernd Udo Schwenzfeier - E-Book

Der Mitternachtsmörder E-Book

Bernd Udo Schwenzfeier

4,6

Beschreibung

Ein Insider gewährt Einblick in die Berliner Polizeiakten Der Kriminalhauptkommissar Bernd Udo Schwenzfeier zeigt in fünf fesselnd authentischen Fällen die komplexe polizeiliche Ermittlungsarbeit. Real, versiert, detailliert und lebensnah schildert der Kriminologe Verbrechen wie Einbruch, Mord und Schießereien ... und einen Mord, der gar keiner war. Ein junger Mann bricht bei einer alten Dame ein. Drückt ihr ein Kissen auf das Gesicht, um in Ruhe mit einem Komplizen nach Wertgegenständen in der Wohnung zu suchen. Nach Verlassen des Tatortes zweifelt er, ob die Seniorin überlebt hat oder nicht. Er vertraut sich einem Freund an, der nach Jahren dann Anzeige gegen ihn erstattet. Die Polizei kennt nun den Namen des Täters, das Tatwerkzeug, den Tatort, …aber: Wie sucht man nach einem Opfer, von dem man nicht weiß, ob es noch lebt oder schon tot ist? Weil er hoch verschuldet ist, erschießt ein Geschäftsmann eine junge Frau, von der er weiß, dass sie viel Geld bei sich trägt. Was er wiederum nicht weiß: Sie hat den ganzen Tag über, den sie gemeinsam verbracht haben, in jeder unbeobachteten Minute mit ihrer besten Freundin telefoniert, sodass die Polizei ihm nach seiner Festnahme detailliert den Tatablauf schildern kann. Da wird selbst für den versierten Lügner das Eis dünn ... Seine Schilderungen werden durch Abschriften der Verhör-Tonbänder und anderer Originaldokumente ergänzt. Die "Berliner Schnauze" darf bei Verbrechen aus der Hauptstadt natürlich auch nicht fehlen.

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Bernd Udo Schwenzfeier

 

DERMITTERNACHTSMÖRDER

 

Authentische Kriminalfälle

 
 

Inhalt

 

Vorwort

Das Vermächtnis des Reporters

Der Mitternachtsmörder

Habgier kommt vor dem Fall

Ein Fehler kommt selten allein

Blutiger Neujahrsmorgen

Impressum

E-Books von Bernd Udo Schwenzfeier

True Crime

Krimi

 

VORWORT

 

Die in diesem Buch beschriebenen Tötungsdelikte haben sich zwischen 1982 und 1999 in Berlin zugetragen und für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung gesorgt. Es zeigt sich immer wieder, dass eine akribische Tatortarbeit unerlässlich für die Aufklärung und Überführung des Täters ist. Deshalb kommt dem »Ersten Angriff« eine ganz entscheidende Bedeutung zu, weil hier der Grundstein für eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit gelegt wird. Nicht zu Unrecht lautet eine alte Grundregel, die jeder Kriminalist in der ersten Stunde seiner Ausbildung zu hören bekommt:

 

»Der Tatort ist das Spiegelbild des Täters«

 

An jedem Tatort werden Spuren vom Täter oder Opfer hinterlassen. Es ist die Aufgabe der Kriminaltechnik und der ermittelnden Beamten, diese Spuren zu entdecken und sie in Beziehung zu Tat und Täter zu setzen, um ihm dadurch die Tat beweisen zu können. Aber es kommt gelegentlich auch zu Unterlassungen, Irrtümern und Fehleinschätzungen der an der Aufklärungsarbeit beteiligten Personen, sei es der Schutzpolizeibeamte, der Kriminalbeamte, der zum Tatort gerufene Arzt oder der Gerichtsmediziner, wie es im ersten und vierten Fall geschehen ist.

Der erste und der dritte Fall zeigen wieder einmal deutlich, dass die späteren Opfer durch ihr sorgloses Verhalten wesentliche Bedingungen für die Tat selber geschaffen haben. Während das eine Opfer mit seinem Vermögen überall herumprahlte und erst dadurch die Täter auf sich aufmerksam machte, wollte das andere ein äußerst dubioses Bargeldgeldgeschäft mit einem enormen Gewinn abwickeln und geriet dabei mit seiner Freundin unversehens in tödliche Gefahr.

Die Darstellung der Taten orientiert sich eng an den wesentlichen Fakten und Abläufen der Ereignisse. Um die Authentizität der Fallbeschreibungen zu erhöhen, wurden einzelne Passagen von Vernehmungen, medizinischen Gutachten und Gerichtsurteilen zum Teil wörtlich übernommen und andere, literarisch frei gestaltet, eingefügt. Die Namen aller beteiligten Personen wurden aus Gründen des Schutzes ihrer Persönlichkeitsrechte verändert und sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit tatsächlichen Namen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen, Kriminalhauptkommissar Lutz Wieczorek, dem derzeitigen Leiter der 4. Mordkommission in Berlin, der mir bei meinen Recherchen behilflich war und damit wesentlich dazu beigetragen hat, dass dieses Buch entstehen konnte.

 

Berlin, April 2008Bernd Udo Schwenzfeier

 
 
 

DASVERMÄCHTNISDESREPORTERS

 

Der 27. Juni 1987 war ein strahlend schöner Sommertag. Noch am späten Abend war es angenehm warm und die 84-jährige Emily Reinders entschloss sich, entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit, das Fenster zur Straße ihrer im Souterrain liegenden Wohnung über Nacht offen zu lassen. Die Wohnung befand sich in einem um die Jahrhundertwende herum erbauten repräsentativen Haus mit roter Backsteinfront und aufwendigen Stuckornamenten in der Solmsstraße im Kreuzberger Kiez.

Emily Reinders war Ende der »goldenen« zwanziger Jahre ein gefeierter Operettenstar am »Metropol-Theater« in Berlin gewesen. Die blendend schöne junge Frau machte als Tänzerin und Sängerin eine glänzende Karriere und die Männerwelt lag ihr buchstäblich zu Füßen. Sie genoss in vollen Zügen das Leben in der Glitzerwelt der Reichshauptstadt und konnte sich nur schwerlich damit abfinden, dass mit zunehmenden Alter die Engagements weniger wurden, schließlich ganz ausblieben und sie dabei immer mehr in Vergessenheit geriet. Wie unzählige Künstler vor ihr musste sie schmerzhaft erkennen, dass Ruhm vergänglich war. Sie hatte inzwischen geheiratet und war mit ihrem Mann nach Ausbruch des Krieges in eine kleine Zweizimmerwohnung gezogen. Seit dem Tode ihres Mannes lebte sie allein und nur ein Papagei und zwei Singvögel teilten mit ihr die Einsamkeit.

 

Im Kiez war sie als wunderliche und verschrobene Alte bekannt, die täglich – sehr zum Leidwesen ihrer Nachbarn – die Tauben der Umgebung fütterte und häufig vorbeikommende Schulkinder grundlos beschimpfte. Von ihrer einstmaligen Schönheit war ihr nichts mehr geblieben. Auf ihr Äußeres legte sie schon seit Langem keinen Wert mehr und so wirkte ihre Erscheinung ungepflegt und vernachlässigt. Außerdem schien sie damit überfordert, ihren Haushalt zu führen. Die Wohnung war unsauber und mit unzähligen Gegenständen vollgestellt. Überall lagen Lebensmittel herum, sodass man Mühe hatte, von einem Raum in den anderen zu gelangen.

Trotz allem war sie nicht Not leidend, im Gegenteil. In Geschäften und auf der Straße erzählte sie Nachbarn und wildfremden Menschen, dass sie über genügend Geld und wertvollen Schmuck verfüge, weil ihr verstorbener Mann sie gut versorgt zurückgelassen habe. Zur Bekräftigung ihrer Worte zog sie gelegentlich ein loses Bündel Geldscheine aus ihrer Handtasche heraus und hielt es den verblüfften Leuten unter die Nase. Dabei erwiderte sie auf Vorwürfe, die man ihr wegen ihrer Leichtsinnigkeit berechtigterweise machte, dass das Geld in ihrer Wohnung gut versteckt wäre.

Natürlich hatte sich dieser Umstand längst im »Kiez« herumgesprochen und sie galt als »heißer Tipp« für schnelles Geld. Vor mehreren Jahren war sie schon einmal überfallen worden, aber ihre unselige Angewohnheit, mit ihrem Geld herumzuprahlen, hatte sie indes nicht aufgegeben.

Trotz ihres hohen Alters erfreute sich Frau Reinders einer relativ robusten Gesundheit. Lediglich ein zu hoher Blutdruck und die altersbedingte Abnutzung ihrer Gelenke machten ihr etwas zu schaffen. Ein leichter Herzinfarkt, den sie vor einiger Zeit erlitten hatte, hatte keine erheblichen bleibenden Schäden hervorgerufen. Allerdings nahm sie die verschriebenen Medikamente nur unregelmäßig.

 

Gegen 23.00 Uhr zog sich Emily Reinders aus und streifte sich ein Nachthemd über. Wie jeden Abend kramte sie in ihrem Schrank herum und suchte sich die bereits abgegriffenen Fotoalben mit den vergilbten Fotos ihrer künstlerischen Glanzzeit heraus und betrachte sie eine ganze Zeit lang wehmütig. Erinnerungen stiegen in ihr hoch und sie schloss die Augen. Sie sah sich im Geiste auf der Bühne des »Metropol-Theaters« herumwirbeln und kostete den nicht enden wollenden Beifall aus. Aber die Illusion war nur kurz und die Rückkehr in die Realität schmerzlich.

Als sie die Augen öffnete, war es still um sie, nur die Geräusche aus dem bereits zugedeckten Papageienkäfig zeigten ihr, dass sie nicht gänzlich allein war. Traurig wischte sie sich einige Tränen aus den Augen, stand seufzend auf und legte die Fotoalben zurück in die Schublade. Dann löschte sie das Licht, streckte unter der Bettdecke ihre müden Glieder aus und schlief bald tief und fest.

Plötzlich fuhr sie hoch. Ein leises, kratzendes Geräusch hatte sie aufgeweckt. Es kam aus der Richtung des Fensters. Vorsichtig stützte sie sich auf die Ellenbogen und lauschte in die Dunkelheit hinein.

 

Am Morgen des 29. Juni fiel der Nachbarin, Rita Lowitz, auf, dass das Fenster und die Wohnungstür von Emily Reinders offen standen und trotz des sonnigen Wetters Licht in der Wohnung brannte. Auf mehrmaliges Rufen bekam sie keine Antwort. Beunruhigt holte sie einige Nachbarn herbei, um mit ihnen die Wohnung zu betreten, weil sie befürchtete, ihrer Nachbarin sei etwas zugestoßen. Zuerst betrat der Mieter Joachim Kalkhoff die Wohnung und fand Emily Reinders leblos in ihrem Bett vor.

Sofort alarmierte man Polizei und Feuerwehr, die wenige Minuten später eintrafen und nur noch den Tod der alten Frau feststellen konnten. Die Leiche lag auf dem Bett in Rückenlage und war mit einem Deckbett zugedeckt. Die Wohnung war völlig verschmutzt, Schränke und andere Behältnisse waren offen und durchwühlt und der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Überall befanden sich abgestellte Lebensmittel. In den Ecken stapelten sich große Mengen von Konservendosen, einige von ihnen waren umgeworfen. Die Polizeibeamten vermuteten sofort eine Straftat und alarmierten die örtliche Kriminalpolizei.

Gegen 11.50 Uhr erreichten die beiden Kriminaloberkommissare Warnecke und Walther den Leichenfundort und wurden von den Funkstreifenbeamten eingewiesen. Die Besichtigung der Leiche, die bereits deutliche Zeichen von Fäulnis zeigte, ergab zunächst keine äußeren sichtbaren Verletzungsspuren. Die Tote war mit einem Nachthemd bekleidet und lag in Rückenlage, die linke Hand oberhalb des Kopfes, die rechte auf dem Bauch, die Beine waren leicht gespreizt. Am Ringfinger der rechten Hand befanden sich zwei goldfarbene Eheringe und am linken Handgelenk eine dünne goldfarbene Kette. An den nicht aufliegenden Körperpartien waren blauviolette Leichenflecke erkennbar. Der Halsbereich war bereits von Madenfraß erfasst. Aus der Nase lief lagegerecht eine rötliche bis wasserhelle Flüssigkeit ab. Schädel und Nasenbein fühlten sich fest an und die natürlichen Körperöffnungen waren frei von Fremdkörpern. Die Augenbindehäute zeigten keine Einblutungen, die als Indiz für eine Gewaltanwendung gegen den Hals zu werten gewesen wären. Lediglich an der linken Halsseite zeigte sich eine um den Hals verlaufende, etwa 1,5 cm breite, leichte Rötung.

Aufgrund der Fundortsituation der Leiche und der offensichtlich durchwühlten Wohnung, insbesondere wegen des offenen Fensters zur Straßenseite hin und der offen stehenden Wohnungstür, hatte sich bei den Beamten der örtlichen Kriminalpolizei der Verdacht eines Tötungsdelikts ergeben. Aus diesem Grunde wurde die Mordkommission alarmiert, die Spurensicherung und ein Gerichtsmediziner angefordert. Die Gerichtsärztin, Frau Dr. Wenzel, hielt nach einer ersten Untersuchung vor Ort eine sofortige Obduktion für erforderlich, um genaue Angaben zur Todesursache machen zu können. Allerdings konnte sie keine konkreten Anzeichen für Fremdverschulden feststellen. Die Leiche wurde mit einem Leichenwagen in das Institut für Rechtsmedizin der FU Berlin transportiert und noch am gleichen Tage von Prof. Müllerhoff obduziert.

 

Die beiden Kriminalbeamten Warnecke und Walther begannen mit ihren Ermittlungen und befragten die Hausbewohner und in der näheren Umgebung eine Vielzahl von Anwohnern, um Näheres über die Lebensumstände der Verstorbenen zu erfahren. So berichtete die Nachbarin Gertrud Hansen, dass sie Emily Reinders letztmalig am 27. Juni in den Vormittagsstunden auf der Straße begegnet sei.

Erna Menzel, Inhaberin des Zeitungsladens, der sich nur zwei Häuser weiter befand, war bereits am frühen Morgen des 28. Juni, gegen 4.30 Uhr, die offen stehende Tür der Souterrainwohnung aufgefallen. In einer späteren Vernehmung gab sie zu Protokoll: »Mir kam dieser Umstand nicht verdächtig vor, da dies schon des Öfteren vorgekommen ist. Im Übrigen hat Frau Reinders ein seltsames Verhalten an den Tag gelegt und galt im Kiez als verschroben. Sie ist jeden Tag zum Friedhof gegangen und hat dort Katzen und Tauben gefüttert. Sie hat auch immer damit geprahlt, dass sie über größere Geldbeträge verfügt. Ich habe selbst vor etwa zwei Jahren bei Frau Reinders einen Betrag von 30.000 DM gesehen. Bis zu einem Streit mit ihr habe ich mich auch ein wenig um sie gekümmert. Ihre Wohnung war immer ein bisschen chaotisch, aber sie hat ihre Schränke und Schubladen immer geschlossen gehalten. Soweit ich weiß, haben sich auch Beamte des Sozialamtes Kreuzberg um sie gekümmert. Verwandte hatte sie nicht.«

 

Aufgrund dieser Aussage wurde die Wohnung nochmals sorgfältig durchsucht. Aber außer einem Portemonnaie mit einer geringen Summe Hartgeld und mehreren am Boden liegenden leeren Schmuckkästchen und ein paar Schmuckstücken von geringem Wert wurde keine einzige Banknote gefunden.

 

Gegen 13.45 Uhr wurde der vermeintliche Tatort Beamten der 5. Mordkommission übergeben. In der Zwischenzeit war mit der Obduktion der Leiche unter Leitung des Gerichtsmediziners Prof. Dr. Müllerhoff begonnen worden. Die wegen des bereits fortgeschrittenen Fäulniszustandes erschwerte Leichenöffnung ergab, dass keine Spuren fremder äußerer mechanischer Gewalteinwirkungen feststellbar waren. Insbesondere fehlten Hämatome an den Armen oder Erstickungsanzeichen in den Augen. Schädel, Kehlkopf und Brustkorb waren unversehrt. Aufgrund des schlechten Zustandes der Leiche konnte der Todeszeitpunkt nicht genau bestimmt werden.

Allerdings war Emily Reinders kränker als bisher angenommen. So litt sie an einer schweren Verkalkung der Herzkranzarterien, an Nierenschrumpfung sowie einer schweren chronischen Lebererkrankung. Ein Medikamentenmissbrauch sowie eine Vergiftung wurden aufgrund der chemisch-toxikologischen Untersuchungen ausgeschlossen. Nach Ansicht der Gerichtsmedizin lag somit ein Tod aus krankheitsbedingter und damit natürlicher Todesursache vor.

Am gleichen Tage entschied der Bereitschaftsstaatsanwalt, dass die Mordkommission den Vorgang zur Weiterbearbeitung an das örtlich zuständige Kriminalreferat der Direktion 5 abzugeben habe, damit von dort ermittelt werden könne, ob durch einen Unbekannten tatsächlich Geld aus der Wohnung der Toten entwendet wurde. Die weiteren umfangreichen Ermittlungen konnten jedoch nicht beweisen, dass sich ein größerer Bargeldbetrag zum Zeitpunkt des Todes von Emily Reinders in der Wohnung befunden hatte und dass dieser einem Dritten möglicherweise in die Hände gefallen war. So wurden bald darauf die Ermittlungen eingestellt und die Akte der Staatsanwaltschaft mit dem Vermerk »keine Straftat« übersandt, wo sie im Laufe der Zeit im riesigen Keller des Archivs des Landgerichts Berlin verstaubte und bei Staatsanwalt und Polizei vollends in Vergessenheit geriet.

 

Die Wohnung von Emily Reinders blieb lange Zeit unbewohnt. Niemand wollte mehr dort einziehen und im Kiez munkelte man hinter vorgehaltener Hand, es sei bei ihrem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen. War an dem Gerücht tatsächlich etwas dran? War der Polizei vielleicht ein Fehler unterlaufen oder hatten womöglich die Gerichtsärzte eine Kleinigkeit übersehen? Es sollte fast zehn Jahre dauern, bis die Wahrheit endlich ans Tageslicht kam.

 

Der 52-jährige Klaus-Jürgen Neubert war mit Leib und Seele Polizeireporter des Berliner Abendkurier. Wegen einer schweren und unheilbaren Nervenkrankheit musste er Ende 1995 seinen Beruf aufgeben. Er stammte aus der DDR und hatte aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen. Nach seiner Übersiedlung in den Westteil der Stadt setzte er sich intensiv mit dem Unrechtsregime auseinander und entwickelte dadurch ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Von seinen Kollegen wurde er als ehrlich, hilfsbereit und charakterstark beschrieben. Seine Vorgesetzten stellten ihm das beste Zeugnis aus. Dennoch gab es eine dunkle Seite, die er fast ein Jahr lang anderen gegenüber verbergen konnte. Nachdem seine Krankheit einen lebensbedrohlichen Zustand angenommen hatte und er mit seinem baldigen Tod rechnen musste, entschloss er sich eines Abends, endlich sein Gewissen zu erleichtern und ein lang gehütetes Geheimnis nicht weiter für sich zu behalten.

Am 13. Oktober 1996 setzte er sich an seinen Computer, verfasste einen zwei Seiten langen Brief und adressierte ihn an den Leiter der 4. Mordkommission, Erster Kriminalhauptkommissar Gerhard Voss, den er aufgrund mehrerer Mordfälle, über die er berichtet hatte, recht gut kannte. Einige Tage später lag der Brief im Posteingang der Mordinspektion und landete wenig später auf Voss’ Schreibtisch. Ahnungslos öffnete Voss den Umschlag und faltete die Seiten auseinander. Sein Gesicht verzog sich immer mehr zu einem ungläubigen Staunen, je länger er las. Dann ließ er den Brief sinken, griff zum Telefonhörer und bat seinen Mitarbeiter, Oberkommissar Dietmar Velske, zu sich. Wortlos reichte er ihm den Brief. Es war in der Tat starker Tobak, den Neubert da in seiner »Eidesstattlichen Erklärung« offenbarte. Er gab dabei einen konkreten Hinweis auf einen möglichen Raubmord, begangen an einer alten Frau in Kreuzberg. Dabei nannte er auch den Namen des mutmaßlichen Täters. So schrieb er u. a.:

 

Im Wissen um die Strafbarkeit einer Eidesstattlichen Erklärung gebe ich zu Protokoll: Im Herbst 1995 vertraute mir Pasqual Guschko an, dass sein Bruder Juan Mitte der achtziger Jahre ein Kapitalverbrechen begangen habe. Er sprach von Raubmord. Tatort sei Kreuzberg, wobei ich mich vage an die Zossener Straße erinnere. Opfer sei eine bettlägerige etwa 80 Jahre alte Dame gewesen.

Es habe einen Zweittäter gegeben, der vor dem Verbrechen den Tatort verlassen habe. Juan habe der Frau ein Kissen auf das Gesicht gedrückt, die Wohnung durchsucht und aus einem ihm durch den »Pfadfinder« bekannten Versteck gezielt mehrere tausend Mark geraubt. Beim Verlassen des Tatortes habe das Opfer noch geröchelt, sodass Juan bis heute nicht wisse, ob das Opfer den Überfall überlebt habe oder gestorben sei. Juan verließ wenig später Deutschland und flüchtete aufs spanische Festland.

Als damaliger Polizeireporter erklärte ich Pasqual, dass es nicht allzu schwer sein dürfte, den Sachverhalt zu klären. Sein Interesse galt dem Umstand, ob das Opfer überlebt habe oder nicht. Ich fuhr mit ihm wenige Tage danach zu meinem Zeitungsverlag und ließ mir die unaufgeklärten Raubmorde und schweren Raubüberfälle aus dem Zeitungsausschnittsmaterial vorlegen. Da wir keine weiteren Einzelheiten kannten, wurden wir nicht fündig. Den Tattag und den Tatort kannte ich damals, habe aber beides inzwischen verdrängt. Als Tatzeitraum kämen die Jahre 1985-1987 und als Tatort der Bereich von der Blücher- zur Bergmann-, Mittenwalder- und Gneisenaustraße und den Nebenstraßen infrage.

Für mich war die Sache damit erledigt. Juan kam bald darauf aus Spanien zurück. Hier lernte ich Juan, wie ein Jahr zuvor Pasqual, in meiner Stammkneipe kennen. In den folgenden Jahren waren sie mir bei der Wohnungsrenovierung behilflich und spielten auf meinem Computer mit Videospielen. Als meine Krankheit immer schlimmer wurde, bat ich ihn, mich mit meinem Auto regelmäßig zum Arzt zu fahren, Einkaufsfahrten zu erledigen, Kohlen und Asche in meinem Zimmer zu besorgen. Dafür sollte er wöchentlich 500 DM erhalten. Anfang Februar kam es zum Streit, wobei er mir Schläge androhte. Damit endete unser Kontakt.

Ende September 1996 erfuhr ich, als ich schon meine Wohnung nicht mehr verlassen konnte, dass er in den umliegenden Kneipen übel über mich herzog. Auf einen Brief an seinen Bruder hin rief er mich am 28.09.96 an und bestritt sein mutmaßliches Verbrechen aus den achtziger Jahren.

Berlin, den 13.10.1996

Klaus-Jürgen Neubert

 

Dietmar Velske sah seinen Chef einen Moment lang überrascht an und fragte unsicher: »Gerhard, was hältst du von dem Hinweis und von Neubert? Wie ist er denn deiner Meinung nach einzuschätzen? Ist er vertrauenswürdig?«

»Ja, ja, Dietmar, das ist er schon. Ich kenne Neubert eine ganze Reihe von Jahren und er hat sich immer als fairer Journalist und Berichterstatter gezeigt. Ich kann im Grunde nichts Negatives über ihn sagen. Reicht dir das?«

Er lächelte seinen jungen Mitarbeiter an und gab ihm den Auftrag: »Überprüfe alle Karteien und Ablagen und nimm, wenn du nichts finden solltest, mit dem Raubdezernat Verbindung auf. Vielleicht haben die noch einen unaufgeklärten Vorgang in ihrer Kartei, der ihnen besonders am Herzen liegt und auf den der Hinweis passen könnte. Und dann kümmere dich um den Tatverdächtigen Guschko und seinen Bruder. Wenn du alles beisammen hast, mach einen Vorgang daraus und lege ihn mir vor. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«

»In Ordnung, Chef. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Warum gibt Neubert erst jetzt einen Hinweis auf ein Tötungsdelikt? Er hatte sich doch längst durch das Nichtanzeigen eines ihm zur Kenntnis gelangten Verbrechens strafbar gemacht? Was hatte er für ein Motiv? Da muss doch mehr dahinterstecken, meinst du nicht auch?«, fragte der junge Beamte nicht zu Unrecht und resümierte: »Zuerst waren alle drei dick befreundet. Sein junger Freund Juan bekam von ihm jeden Monat einen Batzen Geld für ein paar leichte Tätigkeiten, was schon sehr merkwürdig ist, und der hat dann nichts anderes zu tun, als seinen Sponsor vor anderen madig zu machen und sich damit die sprudelnde Geldquelle für immer zu verschließen. Und was macht Neubert? Der scheißt wiederum seinen jungen Freund an und bezichtigt ihn des Mordes? Da werde ich nicht schlau draus.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Voss und sah seinen Mitarbeiter durchdringend an.

Velske fühlte sich ein wenig unbehaglich. Hoffentlich hatte er sich nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt. Nun aber musste er Farbe bekennen.

»Könnten da nicht auch sexuelle Gründe eine Rolle gespielt haben?«

»Ach, du meinst, Neubert hätte homosexuelle Neigungen gehabt. Und wenn es so wäre: Was ändert das am Wahrheitsgehalt des Hinweises, der zwar spät kommt, aber noch nicht zu spät? Wir sind hier keine Moralapostel, entscheidend ist für uns nur der Umstand, dass wir der Sache nachgehen müssen, so oder so. Da spielen die Motive des Tippgebers keine Rolle.«

»Gerhard, ich sehe da eine ganze Reihe von Gründen, z. B. Enttäuschung, Rache, verletztes Ego, die jemand veranlassen könnten, einen Dritten zu Unrecht zu verdächtigen.«

»Sicher, Dietmar, damit muss man immer rechnen. Aber das sollte uns von vornherein nicht davon abhalten, den Hinweis ernst zu nehmen. Fang du erstmal mit den Überprüfungen an und bring ein bisschen Fleisch an die Sache. Wir werden ja bald sehen, ob an dem Hinweis etwas dran ist oder ob es sich nur um ein Hirngespinst handelt. Du kennst ja das Sprichwort ›Lügen haben kurze Beine.‹«

 

Dietmar Velske machte sich an die Arbeit und verschwand für eine gute Stunde im Geschäftszimmer der Mordinspektion. Aber trotz sorgfältiger Recherche in den alten Unterlagen und im Computerprogramm »ISVB« .(Informationssystem Verbrechensbekämpfung) wurde er nicht fündig. Auch eine Überprüfung beim Raubdezernat verlief erfolglos. Da sich keine konkreten Anhaltspunkte für eine weitere Zuständigkeit der Mordkommission ergaben und er den Hinweis auf keinen Fall unter den Tisch fallen lassen wollte, entschloss sich Gerhard Voss, den Vorgang an das örtlich zuständige Kriminalreferat der Direktion 5 abzugeben.

In seiner Abverfügung schrieb er u. a.: »Mit den in der Erklärung enthaltenen Angaben ließ sich anhand hiesiger Unterlagen ein Tötungsdelikt nicht ermitteln. Dennoch wird das Vorliegen eines wie vom Hinweisgeber dargestellten Sachverhaltes als sehr wahrscheinlich erachtet. Möglicherweise wurde der in Rede stehende Sachverhalt unerkannt als Raub, Einbruch, Diebstahl oder als Leichensache mit ›ungewisser Todesursache‹ im dortigen Zuständigkeitsbereich bearbeitet.«

Damit war der Fall für die Mordkommission zunächst erledigt, während im örtlichen Referat die Telefondrähte zu glühen begannen. Der erfahrene Kriminalhauptkommissar Kurz bekam den Vorgang auf den Tisch und machte sich sofort an die Arbeit. Die Recherche gestaltete sich für ihn äußerst schwierig, da durch den recht vagen Hinweis im Hinblick auf Tatort und Tatzeit eine Eingrenzung nicht so ohne Weiteres möglich war.

Ein wichtiger Anhaltspunkt für seine Ermittlungen war die Person des Tatverdächtigen Juan Guschko, der bereits in seiner Jugendzeit mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Durch Nachfrage beim Bundeskriminalamt wurde bekannt, dass er am 30. Juli 1987 in Spanien wegen Rauschgifthandels festgenommen und zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Neubert hatte in seinem Hinweis erwähnt, dass Guschko nach dem angeblichen Raubmord »wenig später« nach Spanien geflüchtet sei. Demnach musste die Mordtat im Mai, Juni oder bis kurz vor Ende Juli 1987 begangen worden sein.

Hauptkommissar Kurz entschloss sich, zunächst einmal sorgsam die Kriminalakte von Juan Guschko auszuwerten. Dabei stieß er auf einen jungen Mittäter, der mit Guschko gemeinsam im April und Juni 1987 zweimal in ein Lokal in der Fürbringer Straße in Kreuzberg eingebrochen hatte. Es handelte sich um den damals 20-jährigen Ralf Graefe. Aus dem Schlussbericht zu den Einbrüchen ging hervor, dass Juan Guschko und Ralf Graefe eine Zeitlang zusammengewohnt hatten und sich demnach gut gekannt haben mussten. Außerdem war die Schwester von Graefe mit Pasqual Guschko, dem Bruder von Juan, liiert. Aufgrund dieser Tatsache bestand der begründete Verdacht, dass es sich bei Graefe um den von Neubert in seinem Hinweis erwähnten unbekannten Mittäter handeln könnte.

Graefe war wahrlich kein unbeschriebenes Blatt und hatte durch seine zeitweilige Tätigkeit als Zeitschriftenwerber Kenntnis davon erlangt, dass bei alleinstehenden älteren Menschen Geld zu holen war. Dieses Wissen nutzte er im Juni 1986 skrupellos zu einem Raub in der Wohnung aus. Das Opfer war eine hochbetagte Rentnerin.

Den Hinweisgeber Neubert selber konnte der Beamte nicht mehr zu der weiteren Entwicklung des Falles befragen, da er kurz nach Verfassen seines inhaltsschweren Briefes an die Mordkommission am 5. November 1996 an den Folgen seiner unheilbaren Krankheit gestorben war.

 

Hauptkommissar Kurz war sich ziemlich sicher, dass Graefe eine Schlüsselrolle in der Aufklärung dieses mysteriösen Mordfalles spielte. Den wollte er sich als Ersten vornehmen und bei ihm gehörig auf den Busch klopfen, während er an Guschko vorerst nicht herantreten wollte. Die Ermittlungen im Umfeld des Verdächtigen mussten besonders sensibel durchgeführt werden, um ihn nicht unnötig misstrauisch werden zu lassen. Es war natürlich nicht auszuschließen, dass er von Graefe selber umgehend über seine Vernehmung bei der Kriminalpolizei informiert werden würde. Der führte in der Zwischenzeit ein angepasstes Leben, hatte offenbar der Kriminalität abgeschworen und eine feste Stellung als Hausmeister angenommen. Er war verheiratet, hatte ein kleines Kind und war seit längerer Zeit nicht mehr in den Fokus kriminalpolizeilicher Ermittlungen geraten.

Entweder hatte er sein kriminelles Verhalten perfektioniert und war deshalb nicht mehr erwischt worden oder er hatte eingesehen, dass dieser Weg nur ins Verderben führen konnte. Durch seine Vernehmung und den schweren Vorwurf, an einem Verbrechen vor langer Zeit beteiligt gewesen zu sein, würde seine bürgerliche Welt mit einem Schlag in sich zusammenbrechen. Und genau in dieser kritischen Phase wollte Kurz die hoffentlich entstandene starke Verunsicherung seines Gegenüber ausnutzen und ihn unter Druck setzen, damit er unter Umständen zu einer Aussage und vielleicht sogar zu einem Geständnis bereit war.

 

Die Suche nach dem richtigen Todesfall glich hingegen der berühmten Nadel im Heuhaufen, weil nach internen Vorschriften bearbeitete Fälle mit den Erfassungsgründen »Leichensache« oder »ungeklärte Todesursache« im Computersystem nur zehn Jahre lang gespeichert und danach gelöscht wurden. Schließlich stieß Kurz in dem damals zuständigen Kommissariat für Leichensachen endlich auf eine Spur in Form einer handschriftlich geführten Fallerfassungsliste, in der allerdings nur die Nachnamen, Geschlecht und der Einsatzabschnitt vermerkt waren. So nahm er Kontakt zum Standesamt Kreuzberg auf, um von dort eine Liste der in der fraglichen Zeit registrierten Todesfälle von Frauen um die 80 Jahre herum erstellen zu lassen, die in dem von Neubert beschriebenen Kiezbereich wohnhaft waren. Er erhoffte sich von der Liste einen wesentlichen Beitrag, mit dem er der Aufklärung der angezeigten Tat ein großes Stück näher kommen konnte.

Die Beamten des Standesamtes zeigten sich auch außerordentlich kooperativ und nach wenigen Tagen lag eine umfangreiche Liste mit diversen Zusatzinformationen zu den Fällen auf seinem Schreibtisch. Nun galt es auszusortieren. Schließlich blieben zehn Todesfälle übrig, bei denen die Verstorbenen aufgrund ihres Alters und ihres Wohnortes als mögliche und unerkannte Opfer infrage kamen, zusätzlich ein polizeilicher Einsatz stattgefunden und sich daran kriminalpolizeiliche Ermittlungen angeschlossen hatten. Darunter befand sich auch der Todesfall der Emily Reinders. Alle diese Vorgänge waren seinerzeit nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zugeleitet worden, wobei allerdings kein einziges Gerichtsaktenzeichen mehr bekannt war.

Hauptkommissar Kurz fasste in einem Bericht an die Staatsanwaltschaft das bisherige Ermittlungsergebnis zusammen und verwies dabei auf die unbedingte Klärung folgender Fragen: War die Verstorbene bettlägerig? Wer hat sie betreut? Haben eventuell junge Männer für sie Besorgungen gemacht? Gab es Einbruchsspuren an Türen und Fenstern? War die Verstorbene im Besitz größerer Summen von Bargeld? Gab es Angehörige? Er bat um schnellstmögliche Rücksendung der angeforderten Akten.

Aber seine Enttäuschung war wenige Tage später groß, als er telefonisch von einer Angestellten der zuständigen Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft erfuhr, dass lediglich vier der zehn angeforderten Fälle im staatsanwaltschaftlichen Index aufzufinden waren. Die restlichen sechs schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Ihre Existenz ließ sich nirgendwo mehr nachweisen. Damit ergab sich folgende Situation für seine weitere Ermittlungsarbeit: Zu fünf infrage kommenden Todesfällen konnten bei der Staatsanwaltschaft keine Unterlagen mehr eingesehen werden .(bereits vernichtete »Unbedenklichkeitsvermerke«), die vier zurückgesandten Leichenvorgänge schieden aus unterschiedlichen Gründen aus. Entweder war das Opfer infolge eines Sturzes in der Wohnung, auf der Straße oder in einem Krankenhaus unter ungeklärten Umständen verstorben. Der Todesfall Emily Reinders konnte bei der Staatsanwaltschaft nicht aufgefunden werden, da ein Aktenzeichen nicht bekannt war.

So brauchte Kurz nicht lange zu überlegen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass der angezeigte Raubmord nur noch durch die Vernehmung der Beteiligten aufgeklärt werden konnte. Eine nicht gerade rosige Aussicht für den erfahrenen Ermittler, der aber mittlerweile fest entschlossen war, dieses knapp zehn Jahre alte Verbrechen aufzuklären.

 

Am 2. Juli 1997 saß der Beamte endlich dem mutmaßlichen Mittäter Ralf Graefe gegenüber. Der knapp 30-jährige Graefe schien ausgesprochen nervös zu sein und rutschte auf seinem Stuhl im karg eingerichteten Vernehmungszimmer unruhig hin und her. Der erfahrene Ermittler bemerkte Graefes schlechtes Gewissen, das ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. Ständig wich er Kurz’ Blick aus, starrte entweder an ihm vorbei aus dem Fenster oder aber auf den Boden. Kurz kam ohne lange Vorrede zur Sache und konfrontierte Graefe mit dem Vorwurf – ohne ihm zunächst Einzelheiten mitzuteilen –, dass er im Verdacht stehe, der Tippgeber zu einer zehn Jahre zurückliegenden Straftat im Bereich Zossener Straße gewesen zu sein, bei der eine alte Frau zu Schaden gekommen war.

Als Graefe daraufhin erschrak und für einen Augenblick die Fassung verlor, triumphierte der Polizist im Stillen, weil er an der Reaktion seines Gegenübers erkannte, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte. Der junge Mann druckste eine ganze Weile herum, Hauptkommissar Kurz sah, wie es in ihm arbeitete. Er drängte ihn nicht zu einer Antwort, sondern wartete geduldig ab. Schließlich sah ihm Graefe voll ins Gesicht und nickte wortlos. Offensichtlich hatte er sich jetzt entschlossen, Stellung zum Tatvorwurf zu nehmen und es sah so aus, dass er froh war, endlich über diese Sache reden zu können, die ihm nun schon über zehn lange Jahre auf der Seele lastete. Und Kurz behielt Recht mit seiner Einschätzung, denn Graefe antwortete: »Ja, ich kann mich noch an den Vorfall erinnern und ich bin auch bereit, Ihnen den Tatort zu zeigen.«

Über so viel Kooperationsbereitschaft war Kurz erstaunt und sagte natürlich nicht nein. Hastig telefonierte er mit der Fahrbereitschaft, besorgte sich einen Dienstwagen und fuhr mit Graefe sofort in den Kreuzberger Kiez. Nach einigem Hin und Her bogen sie in die Solmsstraße ein und Graefe zeigte spontan auf das Tathaus und auf die linksseitig liegende Kellerwohnung. Auf mehrmaliges Nachfragen von Kurz blieb Graefe dabei, dass es sich hier um die Tatortwohnung handeln würde. Auf den Hinweis von Kurz, er brauche sich nicht selber zu belasten, antwortete Graefe spontan: »Das weiß ich, Herr Hauptkommissar, aber ich will trotzdem aussagen. Ich war zur Tatzeit hier, habe aber nur draußen gestanden. Alles Weitere werde ich in einer Vernehmung zu Protokoll geben.«

Der Beamte erkannte natürlich sofort Graefes Versuch, seinen Tatbeitrag herunterspielen. Schnurstracks machte er auf der Stelle kehrt und fuhr auf dem schnellsten Wege zur Dienststelle zurück. Währenddessen versuchte er, Graefe bei Laune zu halten, damit der nicht noch in letzter Minute auf die Idee käme, seine Aussagebereitschaft zu widerrufen. Schon fünfzehn Minuten später saßen sie sich wieder im Vernehmungszimmer gegenüber.

»Ja, es ist richtig, dass ich vor zehn Jahren ein unstetes Leben geführt habe. Ich lebte von Gelegenheitsarbeiten, hatte keine eigene Wohnung und habe auch eine Reihe von Straftaten begangen, die der Polizei bekannt sind«, begann er seine Aussage und wirkte irgendwie erleichtert.

»Das wissen wir bereits alles, Herr Graefe«, unterbrach ihn Kurz und fasste nach: »Mich würde vielmehr interessieren, ob Sie damals Juan Guschko gegenüber den Hinweis gegeben haben, dass bei der alten Frau Geld zu holen ist?«

Graefe schüttelte energisch den Kopf.

»Nee, nee, den Tipp hatte er nicht von mir, sondern von Lothar Kollosche, mit dem wir gemeinsam im Freizeitverein ›Fortuna Kreuzberg‹ Fußball gespielt haben. Der hat irgendwann mal von einer alten Frau erzählt, die viel Geld hätte. Einige Tage später kam es dann zur Tat.«

»Zu welcher Tat, Herr Graefe?«, fragte Kurz in scharfem Ton. Graefe sah an ihm vorbei aus dem Fenster und erwiderte nach einigem Zögern: »Ich möchte jetzt nichts mehr sagen. Weitere Angaben werde ich nur vor einem Richter machen. Ich bin bereit, kooperativ an der Aufklärung der Straftat mitzuarbeiten, habe aber Angst, selber belangt zu werden, weil dann meine ganze Zukunft kaputtgeht und ich habe auch Angst vor Juan, dass mir was passiert, wenn ich gegen ihn aussage. Ich werde nichts mehr zu Protokoll geben.«

 

So sehr Kurz auch nachhakte, Ralf Graefe blieb zunächst stur. Allerdings wollte er der Vorladung eines Richters nachkommen. Frustriert schloss er die Vernehmung und ließ Graefe das Protokoll unterschreiben. Aber plötzlich schien der sich zu besinnen und fing von allein an zu reden.

Er gestand ohne Wenn und Aber seine Tatbeteiligung ein und berichtete, dass Juan Guschko durch ein zur Straße hin gelegenes offenes Fenster in die Wohnung der alten Frau eingestiegen war, während er die Rolle des »Schmierestehers« übernommen hatte. Kurze Zeit später habe ihm Juan zugewinkt, und er sei dann ebenfalls durch das Fenster in die Wohnung eingedrungen. Juan sei sehr aufgeregt gewesen und habe ihn aufgefordert, eine Durchsuchung aller Behältnisse vorzunehmen. Im Bett habe eine mit einer Decke zugedeckte Person gelegen, die noch geatmet und sich bewegt habe. Die Decke sei bis über den Kopf gezogen gewesen. Er, Graefe, sei davon ausgegangen, dass die Person noch am Leben gewesen sei. Im Brustbereich und am Hals von Juan will er frische Kratzer bemerkt haben, die vorher dort nicht gewesen seien. Als ihm Kurz daraufhin eröffnete, dass er ihn aufgrund seines Geständnisses als Beschuldigten vernehmen wolle, winkte Graefe lässig mit der Hand ab.

»Geschenkt, Herr Hauptkommissar. Ich werde hier nichts mehr unterschreiben. Belassen wir es dabei. Für heute reicht es.«

Damit war klar, dass Graefe für heute nicht bereit war, mehr zu sagen. Der erfahrene Ermittler wusste, dass jetzt weiteres Nachhaken sinnlos war. Aber Graefes Aussage war dennoch Gold wert, obwohl sie von ihm nicht unterschrieben worden war. Er hatte so viele Einzelheiten gestanden, die mit der Tatschilderung des Hinweisgebers übereinstimmten, dass es kaum noch einen Zweifel daran geben konnte, dass er zur Tatzeit am Tatort gewesen war. Kaum hatte Graefe das Zimmer verlassen, diktierte Kurz über das soeben beendete mündliche Geständnis einen Vermerk in die Maschine und nahm ihn zur Akte.

»Darauf lässt sich prima aufbauen«, sagte er zufrieden zu seiner Stenotypistin Erika Gärtner, klemmte sich den Vorgang unter den Arm und verschwand im Dunkel des langen Flures in Richtung seines Kommissariatsleiters, um ihm von der neuen Entwicklung des Falles zu berichten.

 

Aufgrund der Angaben von Graefe waren endlich der Tatort und das damalige Opfer ermittelt. Es handelte sich tatsächlich um den »Todesfall Emily Reinders«. Aber der Teufel steckt ja bekanntlich im Detail. Ausgerechnet diese Akte war bei der Staatsanwaltschaft nicht mehr aufzufinden. Kurz hatte schon zuviel Zeit und Mühe in den Vorgang investiert, als dass er gewillt gewesen wäre, die Segel zu streichen und aufzugeben. Er griff entschlossen zum Telefonhörer und rief erneut den Sachbearbeiter des Standesamtes an. Ausführlich schilderte er ihm sein Problem und bat noch einmal eindringlich um Überprüfung der infrage kommenden Unterlagen.

Und wiederum bestätigte sich das alte Sprichwort »Glück hat nur der Tüchtige.« Der Rückruf aus dem Standesamt veranlasste Kurz, vor lauter Freude von seinem Stuhl aufzuspringen. Der Beamte hatte doch tatsächlich ein staatsanwaltschaftliches Aktenzeichen des Todesfalls auf einer der Urkunden entdeckt. In Windeseile hatte sich auf der Dienststelle herumgesprochen, dass er mit seinen Bemühungen einen kriminalpolizeilichen Volltreffer gelandet hatte. Viele seiner Kollegen klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Jetzt brauchte er nur noch die Akte, um sowohl Juan Guschko als auch Ralf Graefe festzunageln und ihnen die Tat zu beweisen. Er wählte die Telefonnummer der zuständigen Staatsanwältin, um sie auf den neuesten Stand der Ermittlungen zu bringen.

 

Staatsanwältin Nansen saß gerade missmutig in ihrem Dienstzimmer und goss sich einen Kaffee ein, als das Telefon klingelte. Vor wenigen Minuten war sie aus einem zum wiederholten Male vertagten Gerichtsverfahren gegen einen mutmaßlichen Vergewaltiger zurückgekommen. Der Anwalt des Angeklagten hatte mit einem erneuten Antrag auf Wiedereintritt in die Beweisaufnahme und der Einvernahme weiterer Entlastungszeugen erreicht, dass der Prozess auf unbestimmte Zeit verschoben worden war.

Mürrisch griff sie zum Hörer. Aber ihre Laune wurde immer besser, je länger sie Hauptkommissar Kurz zuhörte. Und der berichtete in der Tat Erstaunliches. Der recht vage Hinweis des Reporters hatte sich anscheinend als zutreffend erwiesen. Aufgrund der kurzen Einlassung Graefes zum damaligen Tatgeschehen während der Vernehmung und dem nachfolgend von Kurz skizzierten Vermerk über Graefes anschließende »Plauderstunde« hatte sich gegen Juan Guschko ein dringender Tatverdacht ergeben, die wichtigste Voraussetzung für einen Haftbefehl.

»Herr Kurz, bringen Sie bitte so schnell wie möglich die Akte zu mir, damit wir einen Haftbefehl gegen Guschko beantragen können. Weiterhin werde ich Graefe richterlich vernehmen lassen. Was meinen Sie, wird er vor dem Vernehmungsrichter tatsächlich weitere Angaben zur Sache machen?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher, Frau Staatsanwältin. Ich hatte den Eindruck, dass er schwer an der Sache trägt. Irgendwie möchte er sie endlich aus der Welt schaffen. Er hat zumindest in seiner Vernehmung eine richterliche Anhörung gefordert. Es könnte allerdings sein, dass er zuvor noch einen Anwalt konsultiert, der ihm bestimmt raten wird, nichts mehr zu sagen und stattdessen abzuwarten. Hoffentlich kommt es nicht dazu.«

»Nun malen Sie mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Herr Kurz, ich werde beim Vernehmungsrichter ein wenig Druck machen, um einen möglichst baldigen Termin zu erreichen. Fertigen Sie bitte einen zusammenfassenden Bericht. Ich werde in der Zwischenzeit die alte Akte, dessen Aktenzeichen sie glücklicherweise herausbekommen haben, aus dem Archiv holen lassen. Ich kann noch immer nicht verstehen, wieso die Akte beim ersten Mal nicht aufzufinden war. Aber das kann die Geschäftsstelle selber klären. Wie lange brauchen Sie in etwa?«

»Sagen wir mal, für den Bericht eine halbe Stunde und für die Fahrt zu Ihnen bei dem jetzt herrschenden Verkehr vielleicht vierzig Minuten.«

Sie blickte auf ihre Uhr.

»Prima, Herr Kurz, dann erwarte ich Sie so gegen 14.00 Uhr in meinem Büro.«

Zufrieden legte sie den Hörer auf die Gabel. Eine Art Jagdinstinkt, den sie in dieser Phase eines Ermittlungsverfahrens immer verspürte, hatte sich wieder einmal eingestellt.

 

Nach knapp zwei Stunden erreichte Kurz die Staatsanwaltschaft in Moabit. Das düstere Gebäude, in den Anfängen des letzten Jahrhunderts erbaut, beherbergte die Staatsanwaltschaft und die einzelnen Kammern des Landgerichts. Das Gespräch mit der Staatsanwältin verlief für ihn indes enttäuschend, obwohl er mit ihrer Entscheidung schon gerechnet hatte. Bedauernd zuckte sie mit den Schultern als sie ihm erklärte:

»Tut mir leid für Sie, Herr Kurz, weil Sie sich so viel Mühe gegeben haben. Aber es gibt nun einmal eine Zuständigkeitsregelung und die erfordert, dass ich den Vorgang an die Mordkommission des Landeskriminalamts 411 abgebe. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet und den Vorgang einen gewaltigen Schritt vorangebracht. Aber so ist es manchmal im Leben, der eine erledigt all die notwendigen Arbeiten und andere ernten dafür die Lorbeeren.«

Kurz übergab ihr den noch recht dünnen Ermittlungsvorgang und sagte: »Wie ich sehe, haben Sie den Uraltvorgang bereits auf dem Tisch. Ich bin wirklich erleichtert, dass er doch noch gefunden werden konnte. Eine Rekonstruktion hätte sehr viel Arbeit gemacht. Kann ich ihn vielleicht einmal kurz durchblättern?«

Die Staatsanwältin schob ihm eine Akte mit rotem Einband herüber. Endlich hatte er die schon als verschwunden gegoltene Akte in den Händen und staunte nicht schlecht, als er feststellen musste, dass damals bereits die 5. Mordkommission in den Fall involviert gewesen war und erfolglos ermittelt hatte. Da kein Fremdverschulden am Tode des ehemaligen Operettenstars durch die Gerichtsmediziner festgestellt werden konnte, war der Fall zur Weiterbearbeitung dem örtlichen Kriminalreferat überlassen worden.

»Merkwürdig, die alte Frau ist doch wohl erstickt worden und die Gerichtsärzte haben das nicht festgestellt? Das verstehe wer will.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf und sah die Staatsanwältin fragend an. Die nickte und pflichtete ihm bei.

»Sie haben Recht, Herr Kurz, da gibt es noch Aufklärungsbedarf. Aber das kann später noch geschehen. Jetzt muss ich erst einmal den Haftbefehl gegen Guschko beantragen. Sie entschuldigen mich?«

Sie erhob sich und griff sich die beiden Akten. Damit war zunächst alles gesagt. Leicht verstimmt verließ er das Gerichtsgebäude und machte sich auf den Weg zu seinem Dienstwagen. Er hatte die mühevolle und zeitraubende Kleinarbeit erledigt, während die Mordkommission, wie die Staatsanwältin so treffend bemerkt hatte, die Lorbeeren ernten und einen weiteren Fall als aufgeklärt abschließen konnte. Dass Ralf Graefe beim Vernehmungsrichter weiter wie ein Wasserfall plaudern würde, war für ihn glasklar. Für den ging es jetzt um alles. Das war seine allerletzte Chance, mit einem blauen Auge davonzukommen. Er war der Kronzeuge und konnte demnach mit einer relativ milden Strafe rechnen, die ihn nicht vollends aus der Bahn seiner kleinbürgerlichen Welt werfen würde.

 

Währenddessen diktierte die Staatsanwältin den Antrag auf einen Haftbefehl gegen Juan Guschko wegen des dringenden Verdachts des Mordes. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand kam für Ralf Graefe lediglich eine Tatbeteiligung wegen Raubes infrage, da er von der Gewalteinwirkung auf das Opfer vor Beendigung der Wegnahme Kenntnis erlangt hatte, diese billigte und deren Folgen zur weiteren Tatausführung ausnutzte. Aber er hatte nach eigenem Bekunden keine Kenntnis über das Ausmaß der Gewalteinwirkung und die Verletzungsfolgen für das Opfer gehabt. Eine Leichtfertigkeit im Sinne eines Raubes mit Todesfolge oder eine Kenntnis vom Tötungsvorsatz des Juan Guschko mit gleichzeitiger Billigung war ihm zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachzuweisen. Da die Tat bereits fast zehn Jahre zurücklag, Graefe zur Tatzeit Heranwachsender war, jetzt in offensichtlich gefestigten sozialen Verhältnissen lebte und zudem anfänglich auch noch geständig war sowie weitere Kooperationsbereitschaft signalisierte, lag eine Fluchtgefahr, die einen Haftbefehl rechtfertigen würde, im Sinne der Strafprozessordnung nicht vor. Noch am selben Tage unterschrieb der Ermittlungsrichter Reinhardt den Haftbefehl gegen Juan Guschko und leitete ihn wieder an die Staatsanwaltschaft zurück.