Der feine menschliche Körper - Olga Goldberg - E-Book

Der feine menschliche Körper E-Book

Olga Goldberg

4,8

Beschreibung

Erzählungen aus dem beruflichen und familiären Leben einer Ärztin.

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Seitenzahl: 200

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Inhaltsverzeichnis

Allergie

Die Augen

Das Becken

Das Gedächtnis

Das Gesicht

Das Herz

Das Knie

Der Enddarm

Das Handgelenk

Der Magen

Die Bauchspeicheldrüse

Die Ferse

Die Nase

Der Ellbogen

Gallensteine

Die Geburt

Der große Zeh

Die Haare

Die Haut

Die Libido

Die Lunge

Methusalem

Die Nieren

Rheuma

Der Rücken

Die Schulter

Die Vagina

Die Windel

Allergie

Ihr Vater war immer gesund gewesen. Abgesehen von einer kleinen Kriegsverletzung, von der eine geringfügige Knieversteifung geblieben war, kannte er keine Unpässlichkeit. Lediglich einmal im Jahr hatte er einen Hexenschuss, und dagegen gab es für ihn nur ein Mittel - ihre Mutter musste seinen Rücken mit einem Brennnesselbüschel auspeitschen.

Die Prozedur sah gruselig aus. Ihre Mutter zog Handschuhe an, riss einige große Pflanzen aus und bearbeitete damit den Rücken ihres Vaters. Nach wenigen Sekunden schwoll seine Haut an und rötete sich, die Schmerzen verschwanden aber relativ schnell. Nur sehr selten musste die Prozedur wiederholt werden. Ihr Vater meinte, dass der Hexenschuss extra käme, damit ihre Mutter einmal im Jahr die Möglichkeit habe, sich an ihm für alle Unannehmlichkeiten zu rächen. Das war wahrscheinlich der Grund, warum es ihm schwerfiel, jemanden zu bemitleiden. Besonders betroffen war natürlich seine eigene Familie. Mutters Beschwerden wurden missachtet und verlacht, was kann man schon von einer Frau erwarten! Der Sohn wurde als Schwächling abgestempelt, weil er von klein auf immer wieder an Nasennebenhöhlenentzündungen und Mandelvereiterungen gelitten hatte. Nur die Tochter konnte sich etwas mehr erlauben, denn sie war wegen eines angeborenen Herzfehlers operiert worden. Manchmal dachte der Vater, dass auch diese Operation womöglich nicht unbedingt nötig gewesen wäre, weil das Kind damals gar nicht krank aussah, aber er verjagte aber diese Gedanken. Schließlich hatte doch etwas dahinter stecken können, was ihm womöglich entgangen war, und ohne das Mädchen … Na ja, daran zu denken war völlig unerträglich. Sie war vom Anfang an ein pflegeleichtes Kind gewesen, das weder den Eltern noch den Lehrern Probleme bereitet hatte. Vor allem hielt sie bei jedem Familienstreit zu ihm und teilte viele seiner Interessen. Immer war das Mädchen bereit, den Vater zu begleiten, da er in jeder Situation einen Ausweg wusste und sich um alles Mögliche kümmerte. Sogar in einer fremden Umgebung fand er immer eine Toilette für sie, was aus Sicht des Mädchens, egal wie lächerlich es klingen mochte, eine große Leistung darstellte.

Als sie ein Medizinstudium in der Hauptstadt anfing, war ihr Vater unheimlich stolz. Er unterstützte sie finanziell und malte sich schon eine goldene Zukunft aus. Er träumte davon, wie seine Tochter als Chefärztin in die kleine Heimatstadt zurückkehren und einen der Honoratioren heiraten würde. Er ginge dann mit den Enkelkindern durch die Stadt spazieren und würde auf alle Bekannten von seiner unermesslichen Höhe herabschauen. Ihre professionellen Fähigkeiten interessierten ihn nicht sonderlich, da er die Medizin insgeheim für überflüssig hielt.

Für die meisten Menschen seiner Umgebung spielte die Medizin jedoch eine große Rolle. Zweimal im Jahr kam die Tochter in den Semesterferien nach Hause, und bei den üblichen Familientreffen stellte fast jeder der Anwesenden einige medizinische Fragen an sie. Soweit es ihr möglich schien, antwortete die junge Frau gern auf alle Fragen und erzählte außerdem die neuesten Anekdoten und Geschichten über ihre Professoren und Studienfreunde, über Krankheiten und Heilungsmethoden.

Der Vater hörte gern zu, schmunzelte jedoch und sagte oft halb im Scherz mit einer herablassenden Geste, das alles sei nur Unfug und sie müsse noch viel lernen, um vom wirklichen Leben etwas zu verstehen. Sie lachte, die Ansichten ihres Vaters waren längst kein Geheimnis mehr für sie. Ihr drei Jahre jüngere Bruder träumte von der Medizin, seine Abiturnoten waren jedoch nicht ausreichend, ihn erwartete zunächst der Wehrdienst. Die Geschwister waren eng befreundet, und der Schwester tat es außerordentlich leid, dass sie es war, die den Traum des Bruders ausleben dürfte. Sie empfand das Studium nicht als Berufung, sondern als eine von vielen interessanten Möglichkeiten. Mit ihrem sehr guten Abitur hätte sie fast alles studieren können. Allerdings stand es für sie außer Frage, dass sie das beenden muss, was sie angefangen hatte. Mit der Zeit fand die junge Frau Gefallen an der Vielfältigkeit der Medizin. Sie studierte fleißig, lebte in einem Studentenwohnheim, schrieb den Eltern und dem Bruder ab und zu lange Briefe oder rief zwischendurch kurz an.

Als einmal vor einem Feiertag ein langes Wochenende bevorstand, bekam die junge Frau starkes Heimweh und setzte alles in Bewegung, um wenigstens diese paar Tage mit ihrer Familie verbringen zu können. Gerade recht kam eine Geldüberweisung von ihrer Großmutter, die dem studierenden Enkelkind ab und zu half, und auch ein Flugticket zu bekommen, gestaltete sich unproblematisch. Es sollte eine Überraschung werden, und schon die Gedanken daran stimmten die Medizinstudentin euphorisch.

Mit ihrem Schlüssel öffnete die junge Frau leise die Eingangstür und betrat geräuschlos die Wohnung. Sie hörte die Stimmen ihrer Eltern, die im Schlafzimmer aufgeregt über etwas diskutierten. Die Tür stand offen, und die junge Frau versuchte unbemerkt hineinzuschauen. Der Vater saß fast völlig unbekleidet auf dem Bett, sein Gesicht und die sichtbaren Körperteile waren rot und geschwollen. Er kratzte sich die Beine, und die Mutter versuchte, seine Haut mit Alkohol abzureiben. Dass es sich um Alkohol handelte, stand wegen des strengen Geruchs außer Frage. Um die Eltern nicht zu erschrecken, ging die Tochter ins Treppenhaus zurück und klingelte. Die Mutter öffnete die Tür, ihr Gesicht erhellte sich, ihre grünen Augen leuchteten auf. Sie drückte und küsste ihr so selten kommendes Kind und erzählte besorgt, ihr Vater sei krank. Der Vater im Schlafzimmer bestritt das lautstark, konnte seiner Tochter aber nichts vormachen, sie wusste schon Bescheid. Wie sie es gelernt hatte, befragte sie ihren Vater, um eine genaue Anamnese durchzuführen, und erfuhr, er habe vom Hausarzt eine Spritze gegen Hexenschuss bekommen, angeblich das Neueste, was gerade auf dem Markt sei.

Zunächst war die junge Frau bestürzt, da sie nicht verstand, was diese Spritze bei ihrem Vater ausgelöst haben könnte. Aber dann erklärte ihr ihre Mutter den wahren Grund: Es war Spätherbst und Brennnesseln Mangelware. Die Medizinstudentin dachte kurz nach, kramte in ihrer Tasche und fand tatsächlich zwei Tabletten eines Antiallergikums, das sie für einen Kommilitonen, der an Heuschnupfen litt, immer parat hielt. Skeptisch betrachtete der Patient die Tabletten. Er dachte gar nicht daran, sie einzunehmen. Als der Juckreiz sich gegen Abend verstärkte, bat er die Mutter um ein Glas Wasser und nahm die Tabletten ein. Nach kaum einer halben Stunde hatte sich sein Zustand merklich verbessert, die Rötung war verschwunden, das Jucken hatte aufgehört. Das erste Mal seit zwei Tagen schlief er ruhig ein.

Am nächsten Morgen kam der Vater mit einem Frühstückstablett mit ihren Lieblingsspeisen in das Zimmer seiner Tochter und setzte sich neben ihr ans Bett. Eigentlich war sie schon wach, wollte es aber nicht zeigen. Sie beobachtete ihren Vater durch ihre halbgeschlossenen Lider. Er wartete geduldig mit einem verlegenen Gesichtsausdruck. Sie ahnte schon, was er ihr sagen wollte. Mit einem Ruck sprang sie auf und umarmte ihren Vater fest. Die werdende Ärztin hatte nicht geahnt, wie viel ihr die Anerkennung ihres Vaters bedeutet. Die Frau war überrascht, dass seine Augen feucht waren, anscheinend alterte der starke Mann allmählich und wurde sentimental. Oder waren das die letzten Symptome seiner allergischen Reaktion?

Die Augen

Elena erwachte und spürte, wie die Unruhe, die sie schon die ganze Woche quälte, rapide wuchs. Es hatte bestimmt etwas mit ihrem Traum zu tun, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was genau sie geträumt hatte. Sie stand auf und versuchte, den Ofen in Gang zu bringen, bevor der Sohn aufwachte. Es war ziemlich kalt in der Wohnung, bis zum Morgen reichte die Ofenwärme des Vortags nicht. Eigentlich hätte sie sich längst um einen Umzug kümmern sollen, aber die Wohnung im Ostteil der Stadt war billig und lag zentral. Außerdem hatte Elena gar keine Zeit für eine Wohnungssuche, die Arbeit als Klinikärztin war anstrengend, und der Sohn beanspruchte ihre restliche Zeit vollkommen.

Endlich brannte die Kohle im Ofen, und die junge Frau eilte ins Bad. Unter der Dusche wurden die Gedanken klarer, seit zwei Wochen hatte sie keine Nachricht von ihrer Mutter erhalten, die ihre Großmutter in der tiefen, russischen Provinz besuchte. Schon längst hätte ihre Mutter eine weitere Chemotherapie gegen ihre Knochenmarkerkrankung, eine Art der Blutkrebs beginnen sollen. Elena trocknete sich ab, stellte ein kleines Frühstück auf den Tisch und weckte ihren Sohn, der sich mit geschlossenen Augen langsam Richtung Bad bewegte. Elena griff nach dem Telefonhörer und wählte die Moskauer Nummer ihres Bruders. Das Gespräch war kurz, er sollte versuchen, einen der Nachbarn ihrer Großmutter telefonisch zu erreichen und wenigstens irgendetwas über die Mutter in Erfahrung bringen.

Am späten Nachmittag schleppten Elena und ihr Sohn Kohlen in den vierten Stock hinauf, heizten alle vier Öfen und machten sich an die Hausaufgaben. Anschließend gab sie ihm eine halbe Stunde Russischunterricht, der Junge musste schließlich seine Muttersprache beherrschen. Die Unruhe in Elenas Brust blähte sich zu einem Luftballon auf und platzte, als das Telefon klingelte. Ihr Bruder sagte, ihre Mutter sei vor drei Tagen bewusstlos in ein Kreiskrankenhaus eingeliefert worden und befinde sich dort immer noch. Elenas Stimme versagte, nur mit Mühe gelang es ihr, dem Bruder klar zu machen, dass er sofort hinfahren und die Mutter um jeden Preis nach Berlin transportieren müsse. Die Kosten würde sie übernehmen, er soll sich keine Sorgen um die Bezahlung machen. Sie schluchzte, und nur die großen erschrockenen Augen des Kindes zwangen die junge Frau zur Selbstbeherrschung.

Drei Tage später kam der nächste Anruf, ihr Bruder hat bereits Flugtickets für sich und die Mutter gekauft, der Mutter ginge es nicht gut, aber sie sei wieder bei Bewusstsein und einigermaßen transportfähig. Elena hatte gedacht, sie sei auf alles gefasst, doch der Anblick ihrer Mutter im Rollstuhl traf sie ziemlich hart. Es war schwer zu verstehen, wie ein Mensch sich in kurzer Zeit so verändern konnte. Die Mutter sprach kaum, war desorientiert und auf einem Auge blind. Die mitgebrachten Arztbriefe waren nicht besonders aufschlussreich, aber die Dosis der Chemotherapie, die ihr im Provinzkrankenhaus verabreicht worden war, hätte auch tödlich sein können.

Direkt vom Flughafen aus brachte Elena ihre Mutter in ein Krankenhaus, wo alles Nötige veranlasst werden konnte. Innerhalb von zwei Wochen besserte sich der Zustand ihrer Mutter. Das Auge jedoch blieb unverändert, es war nicht nur blind, sondern bereitete der Mutter auch starke Schmerzen. Der Augenarzt meinte, es handele sich um eine Einblutung infolge der Chemotherapie, und alle Maßnahmen würden erfolglos bleiben. Die Mutter sträubte sich gegen ein solches Urteil, wenn sie schon am Leben geblieben war, dann wollte sie wenigstens richtig sehen können.

Elena suchte verzweifelt nach einer Alternative. Einer der Kollegen empfahl ihr eine Augenklinik im Süden der Hauptstadt, und dorthin kam dann ihre Mutter nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Abgesehen von dem Problem mit dem Auge litt sie außerdem an Haarausfall, wodurch sich die Stimmung der Mutter noch mehr verschlechterte. Die hoch dosierte Chemotherapie wirkte auf die Haare wie ein kaputter Rasenmäher. Elena rasierte die Reste weg und häkelte eine hübsche, luftige Mütze, um dem Kopf ihrer Mutter etwas Würde zurückzugeben. Eine Perücke lehnte die stolze Frau ab.

Die fast täglichen Besuche der Klinik stürzten Elena in eine tiefe Depression, die sie mit letzten Kräften zu verbergen versuchte. Wie war es möglich, dass sie ihrer geliebten Mutter nicht helfen konnte? Wozu hatte sie Medizin studiert, wenn sie bis jetzt keinem ihrer Lieben ein wenig das Leiden hatte mindern können, so dass sie sich quälten bis in den Tod? War es wirklich Gottes Wunsch, war es der Sinn des Lebens?

Ihre Mutter wurde operiert und bekam mehrere Laserbehandlungen. Die Augenärzte erklärten ihr, dass auch eine angeborene Enge der Augenkammer und ein erhöhter Augendruck zu den entstandenen Schäden geführt hätten.

Die Sehkraft kehrte nicht zurück, das Gewebe hatte sich zu stark verändert, aber die Patientin konnte wieder das Tageslicht erkennen, und die Schmerzen ließen deutlich nach.

Elenas Sohn freute sich am meisten. Seine Oma, sein bester Freund kam endlich nach Hause zurück! Er wollte ihr helfen, wie er nur konnte. Elena tat alles mechanisch. Man hätte ihren Zustand nicht als richtige Depression definieren können. Sie bewegte sich wie in einem Nebeltraum und wachte einfach nicht auf.

Als sie eines Tages nach dem Dienst den Schlüssel in der Eingangstür drehte, drang ein Lachen zu ihr. Schon lange hatte sie das silberne Lachen ihrer Mutter nicht mehr gehört. Der Nebel um Elena lichtete sich, und sie trat leise auf die Zimmertür zu. Ihre Mutter trug eine Brille und starrte auf ein Blatt Papier, das der Enkel ihr vor die Augen hielt. Sie versuchte, etwas darauf zu erkennen, und Beide lachten bei jedem Fehler. Der Kleine stürzte auf die Mutter zu und erzählte atemlos, dass er in einem Trödelladen eine Brille gefunden habe, mit der man die Sehkraft trainieren kann. Dabei schirmt man das gesunde Auge ab und schaut mit dem anderen durch kleine Löcher. Gerade hatte sie sie ausprobiert und waren zuversichtlich, dass es helfen würde.

In der Nacht lag Elena wach und spürte, wie der Nebel sich langsam auflöste. Der Junge war ein besserer Arzt als sie, er glaubte an Wunder. Vielleicht war dieser Glaube wichtiger als alle ihre Fachkenntnisse?

Das Becken

Dr. Baumgart war alles andere als ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Nur seiner Frau zuliebe, die meinte, er brauche mehr Bewegung, befestigte er jeden Morgen seine alte, gelbbraune, in die Jahre gekommene Tasche hinter den Fahrradsitz. Unter seinem großen, in einen Mantel gehüllten Körper wirkte sogar das massive Fahrrad zu klein.

Familie Baumgart lebte in einem kleinen Vorort der Kreisstadt, wo außer ihnen auch viele andere Krankenhausangestellte ihren Wohnsitz hatten. Man konnte das Krankenhaus in knapp zwanzig Minuten mit dem Fahrrad erreichen, aber der gute Doktor brauchte fast doppelt so lang. Er war von Natur aus ein gemütlicher Typ und hasste Hektik, was ihm hin und wieder zum Verhängnis wurde.

Auf dem Fahrrad sitzend, erinnerte er sich an die Jahre mit dem vormaligen Chefarzt und bedauerte zutiefst, dass diese schöne Zeit vergangen war. Dr. Baumgart wartete gerade vor einer Ampel, als er vor sich das Auto des neuen Chefarztes sah. Chefarzt Frohmann saß am Steuer und klopfte durch die geöffnete Scheibe mit der Faust gegen einen Pfosten am Straßenrand. Diese ungeduldige Bewegung sagte Baumgart viel mehr als jedes Gespräch oder als die ironischen Bemerkungen einiger Kollegen. Die Ampel schaltete auf Grün, und der Sportwagen des Chefs verschwand in der Einfahrt des nur noch wenige hundert Meter entfernten Krankenhauses.

Im Demonstrationsraum warteten schon einige Kollegen auf die Röntgenvisite. Torsten Wicke diskutierte mit der Radiologin Dr. Wenz über den neuen Roman „Herr Lehmann“, der vor ihr auf dem Tisch lag. Alles schien so vertraut, sogar die unrasierten Gesichter der Kollegen vom Nachtdienst, der scharfe Mischgeruch aus verschiedenen Rasierwassern, Deos und Schweiß, die alten Anatomieposter auf den dunklen Wänden, die dringend neue Farbe brauchten. Frohmann stürzte in den Raum, als die Visite schon fast zu Ende war. Er schaute beiläufig auf die Lichtwand und entdeckte die Aufnahmen eines Beckens und zweier Hüften, die einen unübersehbaren Gelenkverschleiß aufwiesen. Das war ein gefundenes Fressen, die Show begann.

Seine erste Frage lautete, wann die Patientin ihren Operationstermin habe, da sie dringend Hüftprothesen brauche. Der Stationsarzt versuchte leise zu erklären, dass die Patientin seit Jahren bettlägerig sei und die Aufnahme aus einem geringeren Grund, nämlich wegen Verdachts auf Knochenbruch gemacht worden sei. Die nächste Viertelstunde mussten sich die Anwesenden einen Vortrag mit dem Schlusswort „die Patientin bewegt sich nicht, weil sie keine Hüftprothesen hat“ anhören. Keiner wagte etwas zu sagen. Baumgart stellte sich vor, der Chefarzt bekäme eine Professur und verließe ihr Krankenhaus. Dieser Traum war so süß, dass der Arzt sogar lächelte. Unglücklicherweise bemerkte der stark angespannte Chefarzt dieses Lächeln. Frohmann hatte den gemütlichen Baumgart schon länger auf dem Kicker und nutzte diese sich unerwartet bietende Gelegenheit ihn bloßzustellen sofort. Unter den Ärzten wurde es totenstill, als Dr. Baumgart vom Chef „zur Schnecke gemacht“ wurde. Frau Wenz, die als Erste den Raum verließ, kochte vor Wut, als sie den Kollegen der Röntgenabteilung über den Vorfall berichtete. Dr. Baumgart kam mit rotem Kopf in die Ambulanz und konnte sich kaum auf seine ersten Patienten konzentrieren. Aber die Routinearbeit verdrängte allmählich die morgendlichen Ereignisse, und der Arbeitstag nahm seinen gewöhnlichen Lauf.

Eine Woche später stellte die Radiologin Stein bei der morgendlichen Visite einen Patienten vor, bei dem eine Probe aus dem Beckenknochen entnommen werden musste. In der rechten Beckenschaufel bestand Verdacht auf einen Tumor, deswegen wurde ein Operationstermin gleich für nächsten Tag festgelegt. Baumgart war für diesen Tag für den OP eingeteilt, was ihn eigentlich hätte freuen müssen, weil jede Operation eine Abwechslung von der langweiligen Routine bedeutete. Als der Arzt den Namen des ersten Operateurs las, verflog jedoch seine Vorfreude. Mit Frohmann operierte keiner der Assistenzärzte gern.

Im OP-Saal war es kühl, Baumgart fröstelte. Der Anästhesist prüfte gerade den Zustand des Patienten, der bereits in Narkose versetzt worden war. Das eigentliche Operationsfeld war ganz eng abdeckt. Frohmann trocknete sich die Hände ab, und Baumgart wartete geduldig am Rand des OP-Tischs. Baumgart meinte sich zu erinnern, dass bei der Visite von der rechten Seite berichtet worden war, aber er war sich nicht sicher. Der Chefarzt bestimmte selbst sein Operationsfeld und hatte die Röntgenaufnahmen vor sich sowie auch den schriftlichen Befund. Es wurde links operiert, das entnommene Knochenfragment ging ins Labor.

Am nächsten Morgen zeigte Frau Stein die Kontrollbilder und meinte, der Knochendefekt befinde sich nach der Probeentnahme auf der linken Seite, wobei aber der vermeintliche Tumor in der rechten Beckenschaufel lokalisiert sei. Frohmann sprang auf und schrie, sie habe am Vortag von der linken Seite gesprochen. Frau Stein erwiderte ruhig, sie habe immer von der rechten Seite gesprochen und so stehe es auch in ihrem Befund. Der Chefarzt tobte und versuchte, die Assistenzärzte als Zeugen zu benutzen, diese aber weigerten sich, in den Zeugenstand zu treten. Baumgart sah zu Boden und wäre am liebsten unsichtbar gewesen. Heute jedoch war nicht er an der Reihe, sondern die kleine Frau Stein. Sie verließ kurz den Raum und kehrte mit der Befundkopie in der Hand und der leitenden Radiologin Frau Wenz an ihrer Seite zurück. Frohmann tobte durch den Demonstrationsraum wie ein waidwundes Tier, es fehlte nur ein Brüllen, aber das ließ auch nicht lange auf sich warten. Er schrie Frau Wenz an und warf ihr vor, ihre Mitarbeiter hätten sich unglaubliche Fehler erlaubt und er als chirurgischer Chef könne so etwas nicht durchgehen lassen. Je mehr er sich hineinsteigerte, umso ruhiger wirkte die leitende Radiologin, die beim Betreten des Raumes ziemlich aufgebracht gewesen war. Sowohl im Kurzbefund gleich nach der Untersuchung als auch im Befundbrief einen Tag später stand eine korrekte Beschreibung. Frau Wenz zeigte noch einmal die Aufnahmen und wies auf die Seitenbezeichnung hin. Der Baumgart stellte sich vor, der Chefarzt sei ein verschlossener, überkochender Wasserkessel und werde gleich explodieren, was für die Umgebung ziemlich unangenehm geworden wäre, erlaubte sich jedoch kein Lächeln. Beide Radiologinnen verließen den Raum, ohne das Platzen abzuwarten. Eine Zeitlang war es ruhig im Raum, und Baumgart vermutete, der Chefarzt habe einen Schlaganfall erlitten und sein Sprechvermögen verloren. Der Oberarzt übernahm die Tagesbesprechung, verteilte die Aufgaben und wollte schon den Raum verlassen, als Frohmann sich zu Wort meldete und verkündete, vom heutigen Tag an müsse die zu operierende Seite mit einem Filzstift markiert werden. Baumgart verfluchte seine Feigheit, die ihn daran gehindert hatte, dem Chefarzt bei der Operation am Vortag zu widersprechen und die Richtigkeit der Seite anzuzweifeln. Jetzt musste der Patient erneut unters Messer. Ein kleines böses Männchen in seinem Bauch jubelte jedoch und genoss die Rache, die sich ohne sein Zutun ergeben hatte und dadurch gerechter schien.

Das Gedächtnis

Ihren Namen bekam Sina Tetelbaum in einem Kinderheim während des Krieges. Die Leiterin des Heimes konnte mit dem Namen Zlata nichts anfangen, die Kleine und ihre Schwester hatten keine Papiere bei sich, weil der Transport nach dem Bombeneingriff fast völlig ausgebrannt war und man nur wie durch ein Wunder einige Kinder hatte retten können. Die ältere Schwester hieß Emma, und bei der kleineren fackelte die stämmige resolute Leiterin nicht lange. Sie sollte Sina heißen, denn dieser Name klang viel unauffälliger und würde, wie die gutherzige Frau dachte, dem Mädchen keine Probleme bereiten. Als sie den Nachnamen ihrer jüngeren Schwester in einen Fragebogen eintrug, machte die ältere einen Fehler, und so verwandelte sich die siebenjährige Zlata Teitelbaum in Sina Tetelbaum. Den Fehler bemerkte man erst, als die Mädchen neue Geburtsurkunden bekamen, aber niemand kümmerte sich um einen neuen Ausweis für die kleine Sina.

Die Schwestern hatten von nun an verschiedene Nachnamen, was niemanden zu interessieren schien, nicht einmal die Betreffenden selbst, weil die an Herzschwäche leidende Emma ziemlich schnell in ein Krankenhaus des nahegelegenen Städtchens eingeliefert wurde, und die kleine Zlata-Sina fast jeden Tag zehn Kilometer zurücklegte, um ihre einzige Verbindung zur verlorengeglaubten Familie aufrecht zu erhalten. Manchmal blieb sie nur ein paar Minuten bei der Kranken, weil ihr vor Einbruch der Dunkelheit viel zu wenig Zeit für die Rückkehr blieb. Die kargen Mahlzeiten im Kinderheim waren allemal besser als die im Krankenhaus, und Sina brachte oft einen Behälter mit, den die barmherzige Köchin des Heimes gefüllt hatte.

Emma schwebte zwischen zwei Welten, ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. In ihrem Delirium verwechselte sie ihre kleine Schwester mit der Mutter, die sie zum letzten Mal auf dem Bahnsteig gesehen hatte, als der Evakuierungstransport langsam vom heimatlichen Bahnhof weggerollt war. Die Mutter hatte sich mit jeder Drehung der Räder verkleinert, bis Emma die in ein Sandkorn verwandelte Gestalt nicht mehr sah. Sina hielt die heiße Hand ihrer Schwester ganz fest und stellte sich vor, wie ihre eigene Kraft in den immer schmaler werdenden Körper einfloss. Nachdem sie mit sich gerungen hatte, beschloss die kleine Schwester, ihren kleinen alten Teddybären, das einzige, was ihr vom Zuhause geblieben war, bei Emma zu lassen. Die Verbindung zwischen ihnen durfte nicht abreißen, und Sina flüsterte dem Bären ins Ohr, dass sie großes Vertrauen zu ihm habe und ihr Liebling jetzt auf keinen Fall versagen dürfe.

Das Lernen in der Schule fiel Sina nicht schwer, ihre Hausaufgaben erledigte sie in den Pausen, um sich mehr Freiheit zu verschaffen und richtig schreiben zu lernen. Sie träumte davon, eines Tages an die zentrale Informationsstelle zu schreiben und ihre Familie ausfindig zu machen, aber für einen richtigen Brief reichten ihre Schreibfähigkeiten noch nicht. Emma hätte diese Aufgabe mit links erledigt, war aber nicht fähig, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Von dem Brief, der schon seit zwei Monaten in der Poststelle lag, wusste keine der beiden Schwestern, da es im Kinderheim keine Emma Teitelbaum gab und man Sina Tetelbaum mit der Angelegenheit nicht in Verbindung brachte. Die gutherzige Heimleiterin, die eine Ausbildung zur Krankenschwester hatte, befand sich zu diesem Zeitpunkt schon in einem Lazarett an der Front. So lag der hässliche, braune Umschlag einige Wochen in einer Ecke, wurde mehrmals von einem zu einem anderen Platz verlegt und verschwand schließlich endgültig. Wahrscheinlich blieben die Schwestern von der grässlichen Nachricht über den Tod ihrer Eltern verschont, obwohl niemand wusste, was genau sich in diesem offiziell wirkenden Umschlag befunden hatte. Private Briefe hatten keine Umschläge, sie waren einfach dreieckig gefaltet.

Eine Briefträgerin erinnerte sich schwach an den Umschlag, als Sina Tetelbaum sich später bei ihr nach Post erkundigte, aber finden konnte die alte, müde Frau ihn nicht.

Der Frühling setzte jäh ein und kam fast unerwartet, in diesem Teil des Landes gab es keine eindeutige Grenze zwischen den Jahreszeiten. Sinas Weg zum Krankenhaus verwandelte sich nun in ein bunt blühendes Feld. Der Teddybär leistete hervorragende Dienste, Emma befand sich auf dem Weg der Besserung, und Sina spielte mit den Gedanken, ihren geplanten Brief endlich zu schreiben.