Der Ferne so nah - Ulrich Dittmar - E-Book

Der Ferne so nah E-Book

Ulrich Dittmar

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Beschreibung

Ulrich Dittmar gelingt es in den 23 Kurzgeschichten aus „Der Ferne so nah“, die Besonderheit des Alltäglichen trefflich zu schildern. Oft ironisch, manchmal auch zynisch und mitunter auch humorvoll werden die Kleinigkeiten menschlicher Wünsche und Ängste beschrieben, die häufig zu einem überraschenden Ende führen. Gerne wird dabei der Fokus auf den unwiderruflichen Moment der Entscheidung gelegt. Von der Kriminal- über die Beziehungsgeschichte, von leicht surrealen bis hin zu sehr realen Krisensituationen reicht dabei die thematische Spannbreite. Sprachlich souverän und dem jeweils behandelten Sujet angemessen beweist „Der Ferne so nah“, dass gute Literatur alles andere als langweilig sein muss.

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Seitenzahl: 275

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Ich möchte mich bedanken

bei meiner Liebsten – Iris, die mich gedrängt hat, endlich dieses Buch fertig zu stellen, bei meiner Tochter Laura, die vieles gegengelesen hat und mir gute Tipps gab, meiner Tochter Judith, die mir immer wieder sagte, ich solle es endlich tun, bei meinen Brüdern Klaus und Schorsch, die mir immer ein guter und strenger Austausch waren, bei Jutta Baack, die mich mit ihrer Begeisterung motivierte und immer offene und ehrliche Worte fand, bei Marlies Schwochow, die meine Geschichten zum ersten Mal lektoriert hat, bei Gertrud Besten, die das Ganze noch mal einer Korrektur unterzog, der Neuen Literarischen Gesellschaft Recklinghausen, die mich immer wieder zum Schreiben brachte und dem NDR, der mich mit meinem Verlag zusammen brachte.

Ulli D.

der ferne so nah

kurzgeschichten von

ulrich dittmar

Der Ferne so nah

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzungen, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

©2010 by Anno-Verlag, Rheinberg

Titelbild: simke./Fotolia.com

eISBN: 978-3-939256-50-2

E-Mail: [email protected]

Web: www.anno-verlag.de

inhalt

Zuhause

Zeichen

Der Zug kam spät

Gegensätze

Überraschung

Der letzte Rest

Auf die Bahn gebracht

Gleichgewicht

Hinter den Rosen

Zwischenzeit

Seufzerbrücke

Morgens

Bitte warte

Weiße Nelken

Schieflage

Ich kenne diesen Mann nicht

Die Neue

Der Totschreiber

Walle von Malle

Die richtige Stunde zur falschen Zeit

Gebet an das Licht

Vögel können das, Menschen nicht

Fast das ganze Leben in einer Kiste

zuhause

Ich hatte die Augen geschlossen, und die Erinnerung schob mir das Bild ganz klar vors innere Auge. Der Blick aus unserem Küchenfenster. Ich erinnere mich gut an das letzte Mal, als ich hinaus schaute. Da war die Ahnung, diese Aussicht nie wieder erleben zu dürfen und diese Angst vor dem Ungewissen, das flaue Gefühl, alles könne sich bis zur Unkenntlichkeit verändern.

Trotzdem. Mein Entschluss hatte festgestanden. Ich wollte, ich musste dort weg. Allen süßen Heimatgefühlen entgegen überwog ein bitterer Geschmack. Nichts und Niemand hatte mich hier mehr gewollt und ich schwor mir damals, dass ich wiederkommen würde – und wie. „Ich werde es Euch zeigen!“ – Worte, die verbissen, still hinter meinen Lippen blieben. Doch wenn sie mich dann wieder sahen, sollten die, die mich gehen ließen, hinter vorgehaltener Hand reumütig sagen: „Weiße noch wer datt is? Datt is doch der hier außer Straße, wo noch vier Brüder hatte. Oben. Auße 10. Da – weiß doch, bei Edeka schräch gegenüber. Der is doch damals abgehau’n! Und getz is datt wer!“

Vor allem wollte ich Marias Reue spüren. Sie hatte das letzte Quäntchen dazu beigetragen, dass ich endgültig ging. Hätte sie damals anders reagiert – bestimmt – ich wäre geblieben.

Jetzt war ich zurückgekehrt.

Nicht für immer. Nur zu Besuch.

Der Druck, endlich mein mir selbst gegebenes Versprechen einzulösen, war zu stark geworden, um es weiter aufzuschieben oder zu vergessen. Immer wieder war dieser Drang da, nach „Hause“ zu gehen und allen zu erzählen, was ich gemeistert hatte. Seltsam, wie lange ein Zuhause ein Zuhause bleiben konnte.

Der Weg zurück hatte mich über die alte Straße geführt, unter der Brücke durch, bei meiner Tante vorbei, bei der ich mal 14 Tage wohnen musste, weil meine Eltern auch mal Urlaub machen wollten, danach links rein – am Bolzplatz vorbei – dann auf der rechten Seite, das Haus der Zwillinge, wo sich der Mädchenclub „Die Fische“ immer traf. Erinnerungen an neckische Jungen-Mädchen-Spiele, erste – nicht als solche wahrgenommene – Verliebtheitsgefühle.

Fast nebenan das Haus mit dem Hauptquartier unserer Bande, die sich bezeichnenderweise „Schwarze Hand“ nannte.

Etwas weiter links die Schule und nur ein kleines Stück dahinter der Eingang zum Park, in dem ich mich getroffen hatte, mit Maria, die ich nur schwer dazu überreden konnte, mir Zeit zu widmen, mit mir zu reden über die alten Zeiten, ob sie gut waren oder nicht.

Mich zu sehen, hatte – entgegen meinen Wünschen und Phantasien – keine überschwänglichen Freudenbekundungen ausgelöst.

Doch jetzt war sie hier.

Die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt, verblasste das Küchenfenster-Bild in meinem Kopf und blieb doch noch da, immer griffbereit.

„Ich hatte mir das anders vorgestellt. Damals.“

„Watt?“ fragte sie, „Watt hast du dir anders vorgestellt?“

Ich öffnete die Augen, lehnte mich auf der Bank zurück, auf der wir neben einander saßen, und legte die Arme seitlich ausgestreckt auf die Rückenlehne, fast so, als würde ich sie in den Arm nehmen wollen.

„Na, eben wenn ich zurückkomme. Ich dachte, ich würde viele Leute treffen, alle wären freundlich, würden sich freuen mich wieder zu sehen und so.“

Sie lachte und während sie sprach, erkannte ich dieses leichte Lispeln wieder, das so typisch für sie war.

„Du hast zuviel Fernseh’n geguckt.“

„Wie? Zuviel Fernsehen?“

„Da is datt auch immer so. Wenn einer verschwindet oder stirbt, wird datt Zimmer so gelassen wie et war. Aber im richtigen Leben is datt wohl anders.“

Die Erinnerung brachte mir das Bild von unserem Kinderzimmer, knappe zehn Quadratmeter, die wir uns zu viert teilen mussten, ins Gedächtnis. Im Geiste ging ich den Korridor entlang, am Spiegel vorbei, in dem ich mich sah, betrat die Küche und stand wieder vor dem Fenster mit dem Panorama meiner Heimat, dominiert von der grauen Halde, die sich wie ein Tafelberg in dieser skurrilen Landschaft breit machte. Ein Tafelberg ist ein Berg, der keine Spitze hat. Drum herum die Tanklager, Raffinerieanlagen, Kühltürme.

Etwas weiter rechts die Fördertürme und weiter hinten, kurz vorm Horizont, standen die riesigen Fackeln, die Tag und Nacht brannten, in denen überschüssiges und unnützes Gas aus den chemischen Prozessen abgeflammt wurde. Als Kind hatte ich geglaubt, die seien nur wegen ihrer Schönheit da, etwa wie Kerzen zur Weihnachtszeit. Vor allem nachts, im schwarzen Himmel, wirkten sie ähnlich anheimelnd, schienen den Weg in die Fremde, in die Ferne zu beleuchten. Welch ein Lichterspiel, wenn der Himmel, ausnahmsweise närrisch geworden, sich dem herrschenden Grau entgegenstellte, sich in Farben warf, wenn ihn die Sonne nur noch von unterhalb des Horizonts beleuchten konnte.

Ich schaute Maria an. Sie bewegte sich nicht.

„Ich wollte gar nicht fort,“ sagte ich. „Aber die Situation damals war eben so. Hier war nichts mehr zu reißen.“

Und dann, ich wusste nicht, woher ich plötzlich die Courage, die ich damals nicht aufgebracht hatte, nahm, ihr mein Geheimnis zu offenbaren: „Eigentlich wollte ich ..., ich meine ..., ich hatte die Idee, dass wir beide zusammen sein könnten. Dass das unsere Zukunft wäre.“

Ihr Kopf flog zu mir herum. „Und warum hasse nix davon gesagt? Nich ein Wort?“

Aufgewühlt wie ich war, wäre es beinahe aus mir herausgesprudelt

– Weil du mich doch auch nur benutzt hast! Immer musste sich alles um dich drehen. Wenn du was wolltest, oder jemanden zum Reden brauchtest, dann war ich gut. Aber die tollen Sachen hast du mit anderen gemacht. Mit Thomas oder Kalle! – Doch ich bremste mich, wollte nichts kaputt machen und sagte stattdessen. „Ich habe nicht geglaubt, dass du Interesse an mir hast. Du warst immer so weit weg. Immer bei den Großen dieser Zeit. Achim, Thomas, Kalle. Immer im Mittelpunkt, immer andere Kreise. Immer so weit weg …“

„Oho! Ich und weit weg!“

In trotziger Geste verschränkte sie die Arme unterhalb ihrer Brüste, schwieg einen Moment, lehnte sich zurück, berührte versehentlich meinen Arm, verschränkte die Hände dann im Nacken, so dass sich ihre Brüste jetzt nach vorne schoben: „Weißt du eigentlich, watt wir damals von dir gehalten haben? Mal dachten wir, du würdest dich für watt Besseret halten. Mal dachten wir, du biss echt schlau. Manchmal hätte man denken können du schwebst. Aber datt muss ich dir heute lassen, ich glaub du kanntest dich wirklich aus – ja, und zuhören konntest du wie kein anderer. Aber du wolltest eben immer hoch hinaus. Und? Hasse die Spitze vom Berg erreicht? Hasse’ne Karriere gemacht? Bisse getz’n Studierter?“

Einen Moment sahen wir uns in die Augen. Den Glanz, das Leuchten von früher, konnte ich nicht mehr erkennen. Ihre Augen weniger blau als grau.

Ich war verstört und sagte nichts davon, dass mein Berg nicht besonders hoch war, die Höhe dieses Berges eine flache Ebene, gerade so hoch, hierher zurückkehren zu können, um vielleicht ein wenig bewundert zu werden.

Das, was sie gesagt hatte, überraschte mich zu sehr. Damit hatte ich nicht gerechnet und ich spürte in meinem Gesicht, wie ich die Augenbrauen hoch zog.

Ich sah den Weg entlang, der quer durch diesen Park führte.

Wenn man an dessen anderem Ende die Straße überquerte, kam man in den Scheithauer-Wald mit der leer stehenden Villa, deren Betreten für uns als Kinder eine Mutprobe war, wenn wir Detektive oder „5 Freunde“ spielten. Dort waren die Tümpel, die für uns die Sieben Weltmeere waren, von uns befahren als Sir Francis Drake oder Klaus Störtebecker, die für uns da waren, wo Tortuga-Bay lag und wo man später die kleine Emma fand. Nur die nackten Beinchen sollen noch aus einem der Tümpel herausgeragt haben. Entführt. Missbraucht. Getötet. Desillusionierend hatte damals die Wirklichkeit den Traum von Idylle und Unversehrbarkeit der Jugend zerstört. Nach diesem gewaltsamen Tod der kleinen Emma war nichts mehr heil und nichts mehr gut in diesem Wald.

„Wie kamt ihr darauf, dass ich hoch hinaus wollte? Ich war und bin kein Karriere-Typ. Wer hat sich so’n Scheiß denn ausgedacht?“

Sie fummelte eine Zigarette aus der Schachtel in ihrer Hand, klemmte sie sich zwischen ihre Lippen, steckte sie an, sog und blies den Rauch wieder aus, bevor sie antwortete: „So wie du geredet hast. Über Politik, so’n Psychokram, Philo-weiß-nich-watt und weiß der Henker überhaupt. Datt hat doch kein normaler Mensch verstanden. Aber man hat immer gedacht, der hat watt drauf und zu so einem geht man, wenn man watt nich weiß, ne Frage oder ’n Problem hat. Da fühlt man sich eher klein, wenn man da so’n Schlaumeier vor sich hat.“

Ich fühlte mich in meiner Eitelkeit ertappt, zuckte nicht, grinste nur verschämt. Irgendwann hatte ich bemerkt, dass es mich interessant machte, klug reden zu können. Ich hatte zu allen möglichen Themen gelesen, gelauscht, wenn Erwachsene diskutierten, hatte Interesse für Psychologie entwickelt und mein so erworbenes Halbwissen gerne den Unwissenden zur Verfügung gestellt. Die Mädchen hatte ich durch Zuhören an mich gebunden, dadurch, dass ich still sein, schweigen konnte und ihrem Reden Platz einräumte. Aber nie war daraus das geworden, was ich mir so sehr gewünscht hatte: eine feste Freundin.

„Du warst uns einfach zu schlau. Da konnte doch keiner mitreden. Da hat man Respekt vor. Wer will sich schon blamieren. Da hältst’e lieber die Klappe.“

Ich schaute Maria mit großen Augen an. Wie oft hatte ich nur so getan als ob ich etwas verstünde. War wohl ein guter Schauspieler. Ich wusste, dass ich nicht schlauer war als die Anderen. Brauchte etwas, um mich gegen die gut gekleideten, die Supersportler, die Schallplattenbesitzer in Szene zu setzen. Brauchte eine andere Farbe, um die graue Maus anzumalen. Wollte nur gesehen werden – als etwas Besonderes – versteht sich.

„So was blödes!“ empörte ich mich. „Warum sagt einem so was keiner? Oder fragt einfach mal nach?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube diskutieren wollte keiner mit dir. Die Kiste war zu. Klugscheißer. Peng! Deckel drauf.“

Das war es also. Das hatte unsere Wege getrennt. Mein Spiel, meine Rolle hatte mir eine andere Richtung gegeben, mich auf einen anderen Weg geschickt, den ich trotzig einfach weiter gegangen war. Ich hatte mir einfach zum Spaß, so schien es mir jetzt, ein Ziel gebastelt, dass ich im Ernst verfolgte.

Wieder tat sich dieses Küchenfenster-Panorama auf.

Hinten am Horizont standen die Fackeln. Dahinter die Zukunft. Die nächtlichen Lichter der Industrieanlagen bildeten vor deren dunklem Hintergrund die Ansicht einer Galaxis, deren Sternbilder permanent fehlgedeutet wurden. In Wirklichkeit war nichts vorherbestimmt.

Wenn ich aus dem Fenster schaute, hatte ich die Vergangenheit im Rücken. Die bot mir die Sicherheit, die ich als Kind benötigte, um die Abenteuer in meinem Kopf bestehen zu können, die es in meiner Zukunft als Pirat, Musketier, Ritter und Astronaut, als Robin Hood, Django, Ivanhoe und Casey Johns noch zu bestehen galt.

Ich erinnerte mich, wie wir Brüder es liebten, allein oder zu zweit auf dem Schränkchen unter dem Fenster zu knien und von den Gefahren zu schwärmen, in die wir uns einmal begeben würden, wenn wir groß wären, die wir natürlich auch bestehen würden.

Ich wandte mich wieder Maria zu. „Aber du, du hättest doch was sagen können. Wir haben soviel zusammen gesprochen. Oder ein Zeichen hättest du geben können. Wenigstens.“

Impulsiv wie früher fuhr sie hoch. „Hätte ich mich dir vielleicht an den Hals werfen sollen? Ich weiß doch wie die Kerle sind. Da muss man als Mädchen aufpassen. Sofort denken die, eine, die so leicht zu haben ist, die taucht nix. Vielleicht mal zwischendurch vernaschen oder so. Du glaubst ja gar nicht, wie schwer datt is, n’ anständiget Mädchen zu bleiben.“

Sie hatte Recht. Unsere Volksschule damals war zweigeteilt. Sie gehörte zur evangelischen Seite, ich zur katholischen. Maria sah verdammt gut aus und trug von allen Mädchen die kürzesten Röcke. Wir Jungen fanden sie heiß. Unser Pastor rückte sie in die Nähe des Verruchten, des Verkommenen, warnte vor Sünde und drohte mit dem Fegefeuer, wenn wir es zuließen, dass sie nachts unbemerkt unter unsere Bettdecke, in unsere feuchten Knabenträume schleichen würde. Doch je mehr er predigte, um so heidnischer waren unsere Phantasien.

Eine Bewegung holte mich in die Welt zurück. Maria beugte sich vor, stüzte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in ihre Hände. „Weißte!“ sagte sie, „Im Leben krisse nix geschenkt. Auch inne Liebe musse watt dafür tun!“ Das klang ein wenig, als ob ihr Leben auch nicht nach Wunsch verlaufen wäre, aber auch, als wenn sie mir sagen wollte, dass ich ein elender Feigling und Flüchtling war. Einer, der sogar ohne Grund abgehauen sei.

Ich war jetzt in der Gegenwart.

Genau betrachtet war ich immer in der Gegenwart, denn die liegt ja genau zwischen dem Küchenfenster und den 1000 Feuern am Horizont, diesem Stück Erde, das ich in Wirklichkeit nie verlassen hatte. Das war das Bild: Häuser, Dächer, Türme, die Halde, die Industrie – wie ein grauer Flickenteppich, der an einen Himmel stieß, von einem anderen grau, dass zu leicht, zu gern, zu schnell als blau bezeichnet wurde. Einem Horizont, der meist in einem leichten Nebel lag, der darum vielleicht die Fackeln brauchte. Nur hin und wieder wurde diese Kargheit, die jedoch nicht eintönig war, dann von etwas Grünem unterbrochen, wenn es einem Baum gelang, sich über dieses Grau zu erheben.

Standen mehr als fünf davon zusammen, trug dieses Naturereignis gleich den Namen „Wäldchen“.

Nicht so der Scheithauer-Wald und nicht so der Park, in dem ich mit Maria saß. Das waren schon etwas dichtere Baumbestände und der Park war für uns Jugendliche Treffpunkt gewesen, genau da, wo ich mit ihr saß, da, wo die Bänke im rechten Winkel standen. Hier wurden zaghaft die ersten Monogramme in Rinden geschnitzt, nur als Zeichen dafür, dass man jemanden gern hatte.

Auch die Wipfel dieses Parks befanden sich zwischen Küchenfenster und Horizont. Es war also die Gegenwart, in der ich mich befand. Und jetzt fragte ich mich:

Was machst du eigentlich hier?

Was war das, was du all die Jahre mit dir herum getragen hast?

Was hat diesen Druck gemacht?

Gedanken rauschten mir, ich weiß nicht wie lange, durch den Kopf:

War es Schicksal, dass ich niemanden getroffen hatte, der mich kannte?

Hätte mich überhaupt jemand erkannt nach all den Jahren?

Es war kein Zufall, dass ich ausschließlich Maria getroffen hatte und keinen anderen. Das Rad des Geschehens lässt sich nicht zurückdrehen. Dieses Rad muss sich bis zum Ende drehen oder mindestens bis zu dem Punkt, an dem man es erklärt.

Ich fühlte mich mit einem Mal leicht.

Vergangenheit gab endlich die Gegenwart frei.

Entrückt zuckte ich zusammen, als Maria fragte: „Sag mal! Watt weißte eigentlich von mir? Oder besser, watt haste damals von mir gewusst?“

Ich gestand mir ein: Nicht viel! Dass sie gut aussah, in welche Klasse sie ging und wo sie wohnte. Der Rest war Traum. Mein Traum. Mehr wusste ich nicht und darum sagte ich nichts, starrte einfach vor mich hin.

Als wir uns trennten, hielt das Gefühl der Freiheit an. Wir verabschiedeten uns als Freunde, versprachen zu telefonieren und uns mal wieder zu treffen. Dann ging sie – weiter ihre Wege und ich – endlich meine eigenen Wege.

Bevor ich wieder in mein Auto stieg, unternahm ich einen Spaziergang, vorbei an Gedenkstätten meiner Jugend, das Jugendheim, die Kirche, die Hecke, über der ich etwas länger hing, als ich mich zum ersten Mal betrunken hatte und dann stand ich wieder vor dem Haus, in dem ich lange gewohnt hatte, dort wo sich das Küchenfenster befand mit dem Blick über die Siedlung und auf die Halde, die Raffinerie, die Fackeln. Ich versuchte mir das Bild vorzustellen, wie es sich mir heute böte. Die Halde würde begrünt sein. Die Bäume würden üppig einen Teppich gewebt haben, der nur noch hin und wieder von kleinen grauen Flächen durchbrochen wäre. Die Industrie würde sich hinter den Wipfeln verstecken und der Himmel wäre wirklich blau. Aber die Fackeln, die wären aus dem Fenster immer noch zu sehen, dicht vor dem Horizont, so zur Orientierung auf dem Weg in die Zukunft.

***

zeichen

„Dimitris, separakalo, bring mir noch einen Ouzo!“

„Oh, okirios Volker hat was herunterzuspülen. Sollte erst einmal essen. Habe ganz frischen Tintenfisch.“

„Später, Dimitris. Erst noch einen Ouzo. Ich will nicht mehr kämpfen, Dimitris file, will mich treiben lassen. Erst noch einen Ouzo.“

Dimitris lachte sein warmes, sonores Lachen. Ihm war es gleich. Als seine Pension und seine Taverne eröffnet wurden, gehörte Volker Sebrecht zu den ersten Gästen. Gleich im nächsten Jahr wieder, damals noch mit Paula, und dann jedes Jahr. Gut, jetzt war Paula nicht mehr dabei. Aber Volker reichte ihm als Glücksbringer. Er hatte in den Jahren, in denen Volker hier Urlaub machte, gut verdient. Viele lange kretische Nächte hatten sie zusammen geredet, gesungen und getanzt. Er, Volker und der Ouzo – und – bis vor kurzem auch Paula noch.

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