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Ins Herz der finnischen Seele.
Ratamos Gesundheit ist lädiert, und er hat Liebeskummer. Dabei benötigt er alle Kraft, um seinen neuesten Fall zu lösen: Ein geheimnisvolles Buch kann den russischen Staat zum Einsturz bringen, und Ratamo muss es vor dem feindlichen Geheimdienst finden. Die Jagd endet in Finnlands ältester Holzkirche, wo sich das Schicksal zweier Länder entscheidet ...
Ein packender Roman, der ins Herz der finnischen Seele führt. Taavi Soininvaara ist der Meister des finnischen Krimis. Seine Ratamo-Romane sind „spannend und glaubwürdig“. Süddeutsche Zeitung.
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Seitenzahl: 490
Taavi Soininvaara
Der Finne
Ratamo ermittelt
Thriller
Aus dem Finnischen von Peter Uhlmann
Die Originalausgabe unter dem Titel
»Marsalkan miekka«
erschien 2006 bei Tammi, Helsinki.
ISBN E-Pub 978-3-8412-0216-1
ISBN PDF 978-3-8412-2216-9
ISBN Printausgabe 978-3-7466-2691-8
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2009 bei Aufbau,
einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright © 2006 Taavi Soininvaara
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung morgen, Kai Dietrich
unter Verwendung von Motiven der Agentur Corbis:
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EPILOG
»Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft;
wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.«
George Orwell, 1984
Helsinki, Montag, 31. Juli
Der gebeugte, blinde Mann öffnete seine Wohnungstür, hielt inne, als ihm der fremde Geruch in die Nase stieg, und begriff, dass der Tag gekommen war, auf den er gewartet hatte, voller Angst, seit über sechzig Jahren. Otto Forsman wusste, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war, es roch nach Zigaretten und Rasierwasser, nur ganz leicht, wie ein Hauch, aber er spürte es trotzdem.
Forsman ging durch den Flur ins Wohnzimmer, zählte dabei seine Schritte und blieb beim zwölften stehen. Dann drehte er sich um und setzte sich in den Sessel. Vor Angst atmete der alte Mann schneller. Waren sie noch hier, würde er jetzt sterben? Das durfte nicht geschehen, auf gar keinen Fall. Nur er wusste, wo das Dokument und die Beweise lagen, jene Informationen also, deren Schutz er sein Leben gewidmet hatte, die düsteren Geheimnisse, die er sein ganzes Mannesalter im Kopf mit sich herumgetragen hatte. Unter dem Siegel des Geheimdokuments waren Berichte über die finstersten Kapitel der Geschichte verwahrt, er musste es unbedingt seinem Nachfolger übergeben. Unter allen Umständen.
»Nun ziehen Sie wenigstens die Schuhe aus«, sagte Eila Lähde nachsichtig, »ich habe heute früh hier sauber gemacht. Sie sind es doch, der ständig herummeckert, wenn etwas unordentlich ist. Alles muss immer auf den Millimeter genau an seinem Platz sein …« Die Schwester vom Pflegedienst hatte hinter dem blinden Mann das Wohnzimmer betreten und legte nun ihre Handtasche auf den Esstisch.
»Komm her. Setz dich aufs Sofa und sei einen Augenblick still. Ganz still«, unterbrach Otto Forsman sie schroff, dabei hielt er den Kragen seines Flanellhemdes fest wie das Zaumzeug eines Pferdes.
Eila Lähde bemerkte an seiner Stimme, dass irgendetwas nicht stimmte, und tat, was er verlangte, damit er nur ja nicht vollends die Fassung verlor. Von all ihren Kunden geriet Forsman am leichtesten in Wut.
Hellwach registrierte der alte Mann die Umgebung. Er hörte das pfeifende Geräusch der Luft, die durch das undichte Küchenfenster hereinströmte, und spürte auf der Haut, dass sich die Raumtemperatur im Laufe des Vormittags erhöht hatte. Und er roch nun noch deutlicher die Duftspuren, die jemand in seiner Wohnung hinterlassen hatte: Zigarettenrauch, der sich in der Kleidung festsetzte, und ein aggressives Rasierwasser. Hatten die Russen ihn gefunden? Forsman war dankbar dafür, so hoch empfindliche Sinne zu besitzen. Im vorletzten Winter hatte ihm die Zuckerkrankheit das Sehvermögen genommen, doch sein Tast-, Gehör- und Geruchssinn hatten sich danach so entwickelt, dass es Augenblicke gab, in denen er sich nicht einmal mehr danach sehnte, wieder sehen zu können.
Forsman bereute, und zwar so sehr, dass es in den Schläfen schmerzte. Er hatte zu lange gewartet. Über sechzig Jahre hatte er sich selbst und fast vierzig Jahre lang auch seinen Sohn auf diese Aufgabe vorbereitet, hatte er nun versagt? Oder würde er es noch schaffen, seinen Plan in die Tat umzusetzen? Warum hatte er die Anzeichen der Gefahr nicht ernst genommen? Die offenkundig schon einmal geöffneten Briefe, das Geräusch eisenbeschlagener Schuhe, die ihm in der Stadt anscheinend folgten, die Ahnung, beobachtet zu werden … Und wenn er nun sein Versteck nicht mehr rechtzeitig erreichte?
Die Schwester setzte sich aufs Sofa und rückte ihren üppigen Körper bequem zurecht. »Möchte Herr Forsman nun vielleicht erzählen, auf was wir hier eigentlich warten?«, fragte sie so freundlich wie möglich.
»Ich muss nach Kruununhaka. Jetzt sofort. Du bringst mich hin.«
»Also ich habe jetzt garantiert keine Zeit, nach Kruununhaka zu fahren«, entgegnete Eila Lähde und schniefte. »Ich muss zu Hause sein, bevor …«
»Hör zu!«, fuhr Forsman sie an. »Dies ist ein Notfall. Es ist etwas … passiert. Ich verspreche dir auch, dass du für deine Mühe entschädigt wirst. Wir lassen nächste Woche den Gang zur Bank und zum Einkaufen ausfallen, du kannst in der Zeit frei nehmen. Und du bekommst auch noch ein bisschen Geld, als Lohn für deine Bemühungen, sagen wir einhundert Euro.«
Eila Lähde betrachtete ihren schwierigsten Kunden mit gerunzelter Stirn. Otto Forsmans schmales, faltiges Gesicht unter dem grauen Haarschopf wirkte, sofern das überhaupt möglich war, noch blasser als sonst. Wie stets, wenn er nachdachte, strich er über seinen Spitzbart. Was war plötzlich in den Alten gefahren, vor einer Viertelstunde war er noch genau wie immer gewesen, schwierig zwar, aber doch vernünftig, und jetzt wollte er sie bestechen wie ein Politiker.
»Na gut. Der freie Vormittag ist natürlich in Ordnung, aber Geld nehme ich nicht. Das ist verboten. Ich bestelle uns ein Taxi.« Eila Lähde erhob sich mühsam und wandte sich dem Tischchen zu, auf dem das Telefon stand.
»Kein Taxi!«, entgegnete Forsman in barschem Ton. »Erst zu Fuß über die Freda zum Kamppi-Center, dann mit der Metro nach Kaisaniemi, und von dort wieder zu Fuß bis zur Ecke Snellmaninkatu und Vironkatu. Ich will …« Sicher sein, dass mir niemand folgt. Den letzten Teil des Satzes behielt Forsman jedoch für sich. Er hätte die Frau dafür nicht unbedingt gebraucht, den Weg von zu Hause bis zu seinem Versteck in Kruununhaka kannte er auswendig. Aber in Begleitung eines sehenden Augenpaares würde er die Strecke schneller bewältigen. Jetzt war jede Sekunde kostbar. Wie waren ihm die Russen auf die Spur gekommen?
»Na dann los, sonst wird hier noch der ganze Tag verplempert«, sagte Eila Lähde energisch.
Kurz danach traten sie hinaus auf die Abrahaminkatu. Forsman zog seinen weißen Teleskopstock aus und klopfte damit alle halben Meter auf den Asphalt, während sie die belebte Malminrinne in Richtung Fredrikinkatu hinaufgingen. Seine Sinne erfassten die akustischen Reize an diesem Julimontag. Viele Einwohner Helsinkis befanden sich noch im Sommerurlaub, deshalb war die Flut der Geräusche, die auf ihn einströmten, etwas schwächer als sonst, das galt auch für den Gestank der Abgase. Der letzte Julitag zeigte sich warm und windig. Zuweilen glaubte Forsman dasselbe metallische Geräusch von Schritten zu hören wie an den beiden Vortagen, doch dann ging es wieder im Verkehrslärm unter. Er bekam schlecht Luft, und der Schweiß floss ihm in Strömen übers Gesicht. Angst erfasste seinen ganzen Körper – Angst, er könnte bei seiner Lebensaufgabe versagen.
Am Eingang zum Kamppi-Center von der Fredrikinkatu griff die Schwester nach dem Arm des alten Mannes.
»Rasch in den Aufzug, er ist gleich rechts vorn«, befahl Forsman.
»Was soll denn … diese Eile … als wenn man … um sein Leben rennt«, keuchte Eila Lähde.
Forsman erstarrte. Da waren sie wieder. Die gleichen Schritte, die er in den letzten Tagen manchmal gehört, aber nicht ernst genommen hatte. Die Stahlabsätze eines schwergewichtigen Mannes klirrten, das Geräusch kam näher, der Verfolger erhöhte sein Tempo …
Mit aller Kraft zog Forsman Eila Lähde zum Aufzug. Nun war er sich absolut sicher – sie hatten ihn gefunden. Und ihnen wurde jetzt klar, dass er fliehen wollte, denn er wich das erste Mal seit einer Ewigkeit von seinem Tagesrhythmus ab. Er geriet in Panik, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss: Was würde mit dem Dokument geschehen, wenn sie ihn erwischten. Plötzlich blieb Eila Lähde stehen.
»Die Tür zum Aufzug ist … hier. Und jetzt darf Herr Forsman erst mal erklären, was zum Teufel eigentlich los ist.«
Hastig tastete Forsman nach dem Aufzugsknopf. Der starke Geruch eines Reinigungsmittels stieg ihm in die Nase. Die Absätze seines Verfolgers waren deutlich zu hören.
»Diesen Aufzug betrete ich erst, wenn Herr Forsman mir sagt, worum es hier …« Beim Sprechen drehte sich Eila Lähde um, schaute in die Richtung, aus der sich die Schritte rasch näherten, und schrie auf, als sie den Mann mit dem Messer in der Hand sah.
Es klingelte, und die Fahrstuhltür öffnete sich. Im selben Augenblick, in dem Forsman hineintrat, schwirrte das Messer durch die Luft und traf Eila Lähde an der Halsschlagader. Ein dumpfer Aufprall war zu hören, als die Frau zusammenbrach. Forsman presste sich dicht an die Aufzugswand, tastete nach den Plastikknöpfen und drückte schließlich den runden Knopf. Sein Herz hämmerte. Die Absätze hatten ihn fast erreicht. Er hielt die Luft an und atmete erst aus, als sich die Tür des Aufzugs schloss. Wütend schlug der Verfolger mit der Faust gegen die Stahltür.
Der Fahrstuhl ruckte an, und Forsman wischte sich warmes, salzig-süßes Blut von der Wange. Gleich würde der Lift auf der Ebene der Bussteige für den Regionalverkehr halten, und dann kam die schwierigste und wichtigste Phase seiner Flucht. Wenn er es schaffte, rechtzeitig den nächsten Aufzug zu erreichen, dann wüsste sein Verfolger nicht, ob er in den Bus irgendeiner Regionallinie, in einen Fernverkehrsbus oder in die Metro eingestiegen war, sie alle fuhren auf verschiedenen Ebenen ab. Den Grundriss des Kamppi-Centers hatte er anhand einer Reliefkarte für Sehbehinderte auswendig gelernt, und seinen Fluchtweg war er über ein Dutzend Mal abgelaufen.
Sekunden vergingen, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, dann öffnete sich die Aufzugstür. Forsman lief, so schnell er konnte, mit großen Schritten den Gang des Terminals für den Regionalverkehr entlang, mit der Spitze seines weißen Stockes den Markierungen für Sehbehinderte folgend. Die bedrohlichen Absätze waren nicht zu hören. Er musste es einfach schaffen … dreiundvierzig, vierundvierzig … Bis zum nächsten Fahrstuhl waren es einhundertzwölf lange Schritte. Hoffentlich erinnerte er sich richtig?
Als Forsman bei einhundertzwölf angekommen war, bog er nach links ab und stieß mit dem Stock gegen Glas. Er ging einige Meter an der Glaswand entlang bis zur nächsten Ecke, wandte sich nach links, erreichte den Aufzug und drückte auf den Knopf. Im selben Augenblick hörte er die Schritte wieder, vermutlich hatte sie der Lärm übertönt, jetzt waren sie schon ganz deutlich zu vernehmen.
Forsman betrat den Aufzug. Der oberste Metallknopf würde ihn zu den Bussteigen für den Fernverkehr befördern. Doch er drückte den nächsten Knopf, der ihn direkt zum Metrobahnsteig brachte. Es fehlte nicht viel, und er wäre vor Erleichterung auf die Knie gefallen, als die Tür zuglitt.
Kurz danach rauschte sie wieder auf, und Forsman hörte, wie eine U-Bahn zischte und die Räder auf den Gleisen quietschten. Endlich hatte er einmal Glück, gerade fuhr ein Zug ein. Vom Aufzug waren es nur sechs Schritte bis zur Bahnsteigkante, dann könnte er in den ersten Wagen einsteigen … Drei, vier … Sein Stock traf das Bein einer Frau mit heller, klarer Stimme … Fünf, sechs … Ein dumpfes Geräusch erklang, als er den Kunststoffbelag in einem U-Bahnwagen betrat.
An der Haltestelle »Hauptbahnhof« atmete Forsman wieder etwas ruhiger. Wie lange würde er sich in seinem Fluchtquartier versteckt halten müssen? Es war Montag, in vierundzwanzig Stunden würde eine Kettenreaktion ausgelöst werden, wenn er seine Anwältin nicht anrief. Die Juristin hatte strenge Anweisungen, einen von ihm geschriebenen Brief sofort abzuschicken, falls auch nur einer seiner Kontrollanrufe an jedem Dienstag und Freitag ausbliebe. Die Anwältin wusste nicht, was der Brief enthielt, und wollte es vermutlich auch nicht wissen. Ihr genügte es, dafür, dass sie sich die Mühe machte und zweimal in der Woche ein paar Worte mit einem senilen Alten wechselte, ein monatliches Honorar von eintausend Euro zu kassieren.
Der Zug hielt an der Station Kaisaniemi. Forsman lief rasch einhundertvierundzwanzig große Schritte gegen die Fahrtrichtung und wandte sich dann nach rechts. Noch einmal fünf Schritte, und er bog nach links ab. Auf der Rolltreppe duftete es nach frischem Kaffee. Forsman hastete gebeugt durch das Stimmengewirr und den Essensgeruch der oberen Ebene des U-Bahnhofs, die Treppe hinauf zur Kaisaniemenkatu und schließlich, so schnell er konnte, zur Ecke Snellmaninkatu und Vironkatu. Wenig später knallte er die Tür seines Verstecks zu, sank zu Boden und setzte sich auf die blanken Dielen der Einzimmerwohnung. Es schien so, als hätte man ihn in die Vergangenheit gezerrt, in den Sommer 1944, in dem er als junger Mann den Auftrag erhalten hatte, ein Geheimnis zu bewahren, das die meisten Menschen um den Verstand gebracht hätte.
Forsman erhob sich und kontrollierte, ob die Verdunklungsrollos heruntergezogen waren, dann vergewisserte er sich rasch, dass alles so war, wie es sein musste: Sessel, Tisch und Matratze befanden sich im Wohnzimmer, Geschirr und Trockenproviant in der Küche. Auch der muffige Geruch und der Staub, der in der Luft schwebte, waren vorhanden. Nun musste er sich nur noch beruhigen. Er beschloss, sich nicht zu Tode zu grämen, sondern auf seinen Plan zu vertrauen. Jahrzehntelang hatte er Zeit gehabt, zu überlegen, wie er dafür sorgen könnte, dass dieses wichtigste Dokument der finnischen Geschichte in sichere Hände übergeben wurde, wenn man ihn aufspürte. Und er hatte eine Lösung gefunden. Am nächsten Tag würde eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt werden, die seinen Sohn Eerik unweigerlich auf die Spur der Wahrheit führen musste.
Voller Begeisterung müsste er jetzt sein und nicht voller Angst. Auf diesen Augenblick hatte er schließlich seit jenem Tag im Sommer 1944 gewartet, an dem er seinen Kameraden im entferntesten Winkel Lapplands umgebracht und die Leiche in der Teufelskirche versteckt hatte, einer Felsformation, die einem riesigen Unterstand glich und an deren Dunkelheit er sich immer noch genau erinnerte.
London, Donnerstag, 3. August
Rufe und Geschrei hallten durch den Lyttelton-Park in Hampstead Garden, einem Vorort im Nordwesten Londons, aber der groß gewachsene blonde Mann hörte sie nicht, sondern starrte in Gedanken versunken auf den Rasen. Plötzlich knallte es, ein Schlag traf ihn auf dem Rücken.
Der Fluch gefror Eerik Sutela auf den Lippen, als er sich umdrehte und den Angreifer sah. Er war das Opfer eines etwa zehnjährigen Mädchens geworden, das unbekümmert laut lachte. Die sommersprossige Göre hatte verbundene Augen und hielt einen langen Holzstock so fest in der Hand, dass ihre Knöchel ganz weiß waren. Sutela schob seine runde Brille auf der Nase zurecht und brachte ein Lachen zustande, obwohl sein Rücken weh tat. Die kleine Prügelheldin mit dem roten Tuch vor den Augen war offensichtlich ein Geburtstagskind, das versucht hatte, den mit Bonbons gefüllten Pappesel zu treffen, der an einem Ast hing. Das Piñata-Spiel war bei den Londoner Kindern neuerdings sehr beliebt.
Sutela fuhr über die schmerzende Stelle zwischen den Schulterblättern, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging weiter in Richtung Kingsley Close, wo sich seine Wohnung befand. Die schrillen Freudenschreie der Kinder erklangen noch eine Weile hinter ihm, als würden sie in der heißen Luft dieses Augusttages schweben. Sutela gingen düstere Gedanken durch den Kopf, sie kreisten um dieselben Dinge, die er in seinem ganzen Sommerurlaub wiederkäute, und der dauerte schon anderthalb Wochen.
Er überquerte die Straße, wandte den Blick in Richtung Einkaufszentrum und sah das bunte Schild mit der Werbung eines vertrauten Restaurants. Das verdarb ihm die Laune noch mehr. Marissa und er hatten sich oft samstags an einen Ecktisch im »Oriental Village« zurückgezogen, die Welt rundum vergessen und Lukullisches genossen. Die Trauer und die Sehnsucht schienen ihn immer noch überallhin zu begleiten, obwohl Marissa schon vor über zwei Jahren nach langem Leiden gestorben war. Anfangs hatte er geglaubt, dass die Gedanken an ihre gemeinsamen Jahre die Sehnsucht allmählich lindern und schließlich beenden würden, aber da war er sich nun nicht mehr so sicher. Anscheinend hatte er sich in seinen Erinnerungen verirrt und kam nicht mehr heraus.
Sutela entschloss sich, auf einen Sprung im »Oriental Village« vorbeizuschauen, schließlich hatte er sich bei seinem Rundgang auch all die anderen Orte angesehen, die zu den Standardspaziergängen mit Marissa gehört hatten: den Bahnhof von Golders Green, die Kirche St. Jude und die Häuser an der Erskine Hill.
Wenig später blieb er vor dem Fenster des Restaurants stehen, um einen Blick auf die Menschen zu werfen, die hinter der Scheibe saßen und speisten. Während sie sich unterhielten und zum Essen einen Schluck Wein tranken, sahen sie so normal aus. Als gäbe es keine Sorgen und keine Angst vor dem Morgen.
Plötzlich wurde die Tür des Restaurants aufgestoßen, und Sutela hörte die vertraute Stimme des chinesischen Kellners.
»Eerik! Lange nicht gesehen. Wo hast du dich denn versteckt?«, sagte Wang in seinem Englisch mit dem starken Akzent, dabei bis zu den Ohren grinsend. »Wo ist Marissa?«
»Wir sind umgezogen … schon vor zwei Jahren. Nach Südlondon«, log Sutela und hob die Hände, die so groß waren wie Schaufeln. Sein Versuch zu lächeln endete kläglich.
Sutela bemerkte, wie Wang in seinem schwarzen Kellneranzug mit erstaunter Miene seine abgetragenen Cordhosen und das ausgebleichte Pikeehemd betrachtete. Kein Wunder, diese Klamotten waren wohl irgendwann in den Achtzigern modisch gewesen. Jahrelang hatte er sich nicht einmal Socken gekauft.
Wang bemühte sich, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber das versiegte schnell, denn die Antworten kamen nur stockend. Schließlich fiel Sutela ein plumper Vorwand ein, sich zu verabschieden und weiterzugehen. Er konnte einfach nicht mehr über Marissas Tod sprechen, die Leute waren verlegen, wenn sie davon hörten, und versuchten, einer ungeschickter als der andere, ihr Beileid auszusprechen. Mit seinem Schweigen hatte er es allerdings geschafft, die Verbindung zu fast all seinen Freunden abzubrechen. Immerhin hielt er zu Marissas Vater noch engen Kontakt; Derek tat sein Möglichstes, um ihn zu unterstützen. Im vergangenen Jahr hatte er Eerik sogar eine Dienstreise nach Vukovar in Kroatien organisiert und ihn mit sanfter Gewalt dazu gebracht, sie auch anzutreten.
Sutela versuchte die trübsinnigen Gedanken zu verdrängen und schaute einem Eichhörnchen in einem merkwürdigen orangenen Farbton zu, das schließlich im dichten Blattwerk einer Eiche verschwand. Hinter einer Wolke tauchte die Sonne auf und blendete ihn. Er verbrachte schon den zweiten Sommerurlaub allein. Sofern man bei einem Workaholic wie ihm überhaupt von Urlaub sprechen konnte. Nach Marissas Tod hatte er sich noch mehr in seiner Arbeit vergraben. Die Professur am Institut für Geschichte des University College war immer noch die Erfüllung seiner Träume, aber zugleich auch ein beängstigend effektives Mittel, um vor dem Leben und seinen unangenehmen Wahrheiten zu fliehen.
Er trat vom Fußweg auf die Schwelle seiner Wohnung in einem kleinen zweistöckigen Haus und holte gerade den Schlüssel aus der Tasche, als plötzlich die Tür aufflog und gegen sein Knie krachte. Das tat weh, und zu allem Übel fiel ihm auch noch die Brille herunter.
»Die Wäsche ist fertig, und einkaufen war ich auch, aber zum Staubsaugen bin ich nicht mehr gekommen. Ich muss um zwei beim Aerobic-Kurs sein.« Das Au-pair-Mädchen des finnischen Ehepaares von nebenan schien es eilig zu haben. Viivi machte bei Sutela zweimal in der Woche sauber.
»Hat jemand angerufen?«, fragte Sutela mit zusammengebissenen Zähnen und massierte sein Knie.
Viivi schüttelte den Kopf. »Nein, aber Post ist ein ganzer Stapel gekommen. Versuch dich doch mal ein bisschen zu amüsieren, schließlich hast du doch Urlaub. Geh einfach mal zu dem Festival auf dem Trafalgar Square, da gibt’s Musik, Theater, Tanz … alles Mögliche. Und kauf dir auch gleich etwas anzuziehen, deine Socken zerfallen in ihre Bestandteile, schon wenn man sie nur berührt.«
Sutela murmelte etwas Unverständliches und drückte Viivi einen Zehnpfundschein in die Hand.
»Im Herd steht schottischer Lachs mit einer Soße aus Apfelsinen und weißer Schokolade und eine große Form mit Sahnekartoffeln. Pass auf, dass du nicht zunimmst«, sagte Viivi mit ihrer hellen, klaren Stimme, tippte dabei auf Sutelas flachen Bauch und winkte dann zum Abschied.
Sutela schaute eine ganze Weile dem etwa zwanzigjährigen Energiebündel mit dem auf und ab schwingenden Pferdeschwanz hinterher. Anscheinend hatten die Nachbarn Viivi von seinem enormen Appetit und seinem effizienten Stoffwechsel erzählt. Er würde nicht ein Gramm zunehmen, selbst wenn er jeden Tag ein ganzes Pferd verspeiste.
Er stieß sich im Flur die Schuhe von den Füßen, sah sich um und überlegte, ob ein Umzug helfen würde. Überall erblickte er Dinge, die an Marissa erinnerten: das rot-schwarze Sofakissen, Urlaubsfotos, die psychedelische Lavalampe … Vor dem Flurspiegel blieb er stehen und betrachtete sich, einen siebenunddreißigjährigen todernsten und in Selbstmitleid versunkenen Witwer in seinen Sommerferien, deren Höhepunkt in gebackenem Lachs mit Sahnekartoffeln und einem Stapel staubiger Geschichtsbücher bestand.
Desinteressiert schaute er die Post durch, die auf dem Flurtisch lag. Ein Werbebrief, in dem behauptet wurde, dass er möglicherweise schon einhunderttausend Pfund gewonnen hatte, die Stromrechnung, ein Versandhauskatalog. Als er den Absender auf einem dicken Brief las, runzelte Sutela die Stirn: »Anwaltskanzlei Qvist & Weselius«.
Eine finnische Anwaltskanzlei, was wollten die von ihm? War mit seinem Vater irgendetwas passiert? Das letzte Mal hatten sie bei Marissas Begräbnis miteinander gesprochen, und zu dem war der Alte gekommen, ohne eingeladen gewesen zu sein. Sutela riss das Kuvert auf und las das Begleitschreiben: »… und übersenden Ihnen deshalb den beiliegenden Brief. Gemäß den Anweisungen unseres Mandanten haben wir für Sie auch ein russisches Visum beschafft.«
Was hatte denn das zu bedeuten? Warum sollte er wohl nach Russland reisen? Noch verblüffter war Sutela, als er im Umschlag der Kanzlei einen kleinen, leicht vergilbten Brief fand. Er riss ihn auf und wurde sofort nervös, als er die Handschrift seines Vaters erkannte.
Eerik,
ich bitte Dich, diesen Brief zu lesen, auch wenn er von mir geschrieben wurde.
Wenn Du imstande bist, meinen Anweisungen zu folgen, und nicht zurückweichst, sobald Schwierigkeiten auftauchen, garantiere ich Dir, dass Du Informationen in die Hände bekommst, die unsere Geschichte ändern werden. Für das Geheimhalten dieser Informationen haben viele mit dem Leben bezahlt.
Meine Anwältin schickt Dir diesen Brief in meinem Auftrag, weil ich gezwungen bin, mich zu verstecken. Leider kann ich keinerlei Kontakt zu Dir und überhaupt zur Außenwelt aufnehmen. Ich wage nicht, Dir per Brief mehr zu erzählen, und ich kann Dir keinerlei Beweise schicken, weil sie mit Sicherheit meinen Verfolgern in die Hände fallen würden.
In meinem Besitz befindet sich ein Dokument, das die Wahrheit über die letzten Kriege Finnlands, über die Gründe für ihren Ausbruch und ihre Beendigung, über Verbrechen, die das Leben von Millionen Menschen forderten, und über viel, viel mehr aufdeckt. Das Dokument ist das einzige seiner Art, es existiert keinerlei Kopie, und ich muss es in Sicherheit bringen, das heißt, ich muss dafür sorgen, dass es in Deinen Besitz gelangt.
Du findest das Dokument einschließlich der Beweise unter den Kartenkoordinaten, die ich Dir vor langer Zeit beigebracht habe. Wenn Du Dich dazu entschließen kannst, nach Lappland zu reisen, wirst Du Hilfe benötigen. Am Ende des Briefes gebe ich Dir die Telefonnummern eines kompetenten Führers für den Weg durch die Einöde und eines einflussreichen Polizisten, den ich kenne. Nimm Kontakt zu ihnen auf.
Mit Blick auf die Sicherheit von uns beiden ist es äußerst wichtig, dass Du von diesem Brief, von meiner Situation oder von Dingen, die Dir später zur Kenntnis gelangen werden, niemandem etwas sagst. Geh auch nicht in meine Wohnung und melde Dich nicht bei meinen Bekannten.
Und denke immer daran, die Wahrheit liegt hinter der Hand …
Otto Forsman
Eerik Sutela starrte auf die Telefonnummern am Ende des Briefes, schlurfte ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Hatte sein Vater den Verstand verloren? Er war verblüfft, ungläubig und zugleich neugierig. Schließlich beschloss er, ihn anzurufen, aber nicht einmal der Anrufbeantworter meldete sich. Rasch holte er sein Telefonverzeichnis aus dem Flur und rief auf der Stelle den Nachbarn seines Vaters an, aber der hatte schon seit Wochen nichts von Otto Forsman gehört.
Als der erste Schock verklungen war, war Sutela gewillt, auch die Alternative in Erwägung zu ziehen, dass die Behauptungen in dem Brief stimmten. Wo hätte seinem Vater ein solches Dokument in die Hände fallen können? Und wann? Die wahrscheinlichste Variante war offensichtlich die Kriegszeit. Das zeigte auch das Versteck des Dokuments; die in dem Brief erwähnten Kartenkoordinaten verwiesen auf einen Ort im russischen Teil Lapplands, in der Nähe von Petsamo. Unzählige Male hatte ihm sein Vater von der Teufelskirche in Jäniskoski erzählt, einer Höhle, in der sein Kamerad im Juli 1944 begraben worden war. Sein Vater hatte ihn schon als kleinen Jungen gezwungen, die Koordinaten der Teufelskirche auswendig zu lernen – 68°57'21.5"N und 28°45'27.0"E. Jetzt wurde ihm klar, warum.
Er ging in sein Arbeitszimmer, dessen Wände Bücherregale bedeckten, setzte sich hin und legte den Brief auf den Tisch. Vielleicht war auch das wieder nur ein Versuch, der ihn dazu bringen sollte, etwas zu tun, was sein Vater wollte. Sutela las den Brief ein zweites Mal, dann ein drittes und auch noch ein viertes Mal und schaffte es, sich so zu ärgern, dass er in Wut geriet. »Wenn Du imstande bist, meinen Anweisungen zu folgen, und nicht zurückweichst, sobald Schwierigkeiten auftauchen … Wenn Du Dich dazu entschließen kannst, nachLappland zu reisen …« Wieder einmal behandelte der Alte ihn geringschätzig und versuchte ihn zu manipulieren. Wutentbrannt marschierte Sutela zum Barschrank im Wohnzimmer und mixte sich im Handumdrehen einen Drink, der »Blechdach« genannt wurde. Er kippte den Wodka mit Zitronensaft in einem Zug hinunter, es brannte in der Kehle. Die Wut ließ ein wenig nach.
Sutela gab bereitwillig zu, dass er seinen Vater nicht besonders mochte, und er schämte sich nicht dafür. Otto Forsman war ein gefühlloser Organisator, der ihn wie ein preußischer Offizier erzogen hatte. Er genoss es, wenn er sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen konnte, und es war ihm egal, welche Probleme er seinen Opfern bereitete. Angeblich hatte Mutter ihn seinerzeit deshalb verlassen. Und zugleich auch ihren Sohn. Im Mai 1970.
Erschrocken spürte er, dass sich ein Migräneanfall ankündigte, der pochende Kopfschmerz begann immer in der linken Augenhöhle. Er zog die dunklen Vorhänge zu und nahm eine Tablette Imigran. Dann ließ er sich in seinen abgenutzten Lieblingssessel fallen und schob die Rückenlehne nach hinten. Es wunderte ihn, dass er sich immer noch so über seinen Vater aufregen konnte. Allerdings hatte der Alte auch etwas Gutes zuwege gebracht: Er hatte ihm das leidenschaftliche Interesse für Geschichte und Archäologie eingepflanzt. Die Sommer in seiner Kindheit hatte er mit dem Vater auf Ausflügen zu den historischen Denkmälern Finnlands, zu Relikten aus der Frühzeit und Schauplätzen schicksalhafter Ereignisse verbracht. Und diese Wissenswettbewerbe! Er kannte den größten Teil der fünfteiligen, zweitausendfünfhundert Seiten umfassenden »Geschichte des finnischen Volkes« immer noch auswendig.
Allmählich setzte die Wirkung der Migränetablette ein, der Zorn schwand, und Sutela fiel wieder der Inhalt des Briefes ein. »… weil ich gezwungen bin, mich zu verstecken … garantiere ich Dir, dass Du Informationen in die Hände bekommst, die unsere Geschichte ändern werden …« Um was, zum Teufel, ging es dabei? Er hatte viele Spitznamen gehört, mit denen man seinen Vater verspottete, aber als Lügner hatte nie irgendjemand Otto Forsman beschimpft. Entweder sein Vater meinte das so, wie er es schrieb, oder der alte Mann war verwirrt. Je länger Sutela über den Inhalt des Briefes nachdachte, umso mehr Einzelteile schienen wie bei einem Puzzle ihren Platz im Gesamtbild zu finden. Wenn die Angaben in dem Brief stimmten, würde das vieles erklären. War das der Grund, warum sein Vater so isoliert lebte und paranoisch fremde Menschen mied, warum er die Kriegsgeschichte so leidenschaftlich erforschte und rätselhafte Anspielungen auf die tatsächlichen Gründe für Ereignisse der finnischen Zeitgeschichte machte …
Sutela sprang auf, schob die Brille auf der Nase zurecht und ging in sein Arbeitszimmer. Er saß hier herum und verbrachte einsam seinen Urlaub, was hatte er schon zu verlieren? Zudem hatte er ohnehin erwogen, nach Askainen in sein Ferienhaus zu fahren, warum sollte er also nicht nach Finnland fliegen und herausfinden, worum es bei all dem ging? Dann würde er aufhören, Marissa nachzuweinen, die Alltagsroutine abschütteln und sich von seinen eingefahrenen Gewohnheiten befreien.
Im Internet fanden sich schnell Informationen über Jäniskoski und auch Dutzende tolle Fotos von den Bergen, Flüssen und Wäldern rund um Inari und Petsamo. Warum nur war er nie in Lappland gewesen? Wie viel Zeit stünde ihm zur Verfügung? Sutela griff nach seinem Kalender, aber der lag nicht wie sonst immer auf dem Schreibtisch aus dunklem Eichenholz. Und warum war an seinem Laptop der Strom eingeschaltet? Viivi machte nie in seinem Arbeitszimmer sauber, das hatten sie so vereinbart.
Sutela beschloss, seinen Schwiegervater anzurufen, der konnte ihm garantiert raten, was er tun sollte, schließlich war Derek Chef der wissenschaftlichen und technischen Abteilung des britischen Auslandsgeheimdienstes. Entschlossen griff er zum Telefon, tippte die Nummer ein, wartete, bis der Ruf hinausging, und war verblüfft, als er die Stimme seines Schwiegervaters in Stereo hörte, am Telefon und im Flur.
»Die Tür stand offen. Ich war gerade in dieser Gegend und dachte, ich könnte dich zum Mittagessen abholen. Damit du nicht ganz zum Einsiedler wirst«, sagte der grau melierte sechzigjährige Derek Atkins und bemühte sich, mit einem Grinsen seine besorgte Miene zu überdecken.
Endlich mal ein willkommener Überraschungsgast! Sutela freute sich, bis ihm der Satz in dem Brief einfiel: »Für das Geheimhalten dieser Informationen haben viele mit dem Leben bezahlt.«
Helsinki, Sonntag, 6. August
Arto Ratamo schleppte ein halbes Dutzend Taschen und Beutel zur Wohnungstür, trat dabei auf einen Hundekauknochen, knickte mit dem Knöchel um und landete im Flur auf seinem Allerwertesten. Die etwa zwei Meter hohe Standuhr schwankte, als eine Tasche krachend an den Uhrkasten fiel. Musti, die helle Labradorhündin, bellte dumpf, als wolle sie lachen. Dann klingelte es.
»Was machst du denn wieder für einen Mist, das ist echt ätzend mit dir.« Ratamos zwölfjährige Tochter Nelli tadelte ihren Vater, sprang über seine Beine und öffnete ihrer Großmutter Marketta die Wohnungstür.
»Hast du auch wirklich alles mit, was du im Ferienhaus brauchst? Das Wetter kann sich dort im Laufe einer Woche vollständig ändern«, sagte Marketta besorgt. »Gummistiefel, Zahnbürste, das Balderdash-Spiel, einen Pullover, Regenkleidung …«
»Ja, ja, ja … Der da hat den ganzen Vormittag in meinen Schränken rumgewühlt. Wenn ich allein gepackt hätte, wär’s viel schneller gegangen«, erwiderte Nelli und zeigte vorwurfsvoll auf ihren Vater, der auf dem Fußboden saß.
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