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Der Auftakt der großen Mundus-Novus-Serie.
Wo immer Leo Kara aufkreuzt, bringt er laufende Ermittlungen durcheinander und macht sich Feinde – nicht zuletzt bei der nnischen Kriminalpolizei und ihrem Chef. Nur in Kati Soisalo, früher Chefjuristin einer nnischen Rüstungs rma, ndet er eine Verbündete. Als bei einem Raketenanschlag auf das UN-Hauptquartier in Nairobi unzählige Menschen ums Leben kommen, ermittelt Kara gemeinsam mit Kati. Da wird der UN ein Ultimatum gestellt: IWF und Weltbank sollen die Schulden der 50 ärmsten Länder erlassen und ihnen neue Kredite gewähren, sonst folgen weitere Anschläge ...
Taavi Soininvaara ist der erfolgreichste Krimiautor Finnlands, seine Romane sind „spannend und glaubwürdig“ (SZ). Mit „Schwarz“ startet seine vier Bände umfassende Serie um Leo Kara, die in Finnland ihren Siegeszug feiert.
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Seitenzahl: 651
Taavi Soininvaara
Schwarz
Leo Kara ermittelt
Aus dem Finnischen von Peter Uhlmann
Taavi Soininvaara, Schwarz
Die Originalausgabe unter dem TitelKriittinen tiheyserschien 2009 bei Tammi, Helsinki.
ISBN E-Pub 978-3-8412-0357-1ISBN PDF 978-3-8412-2357-9ISBN Printausgabe 978-3-7466-2744-1
Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2011© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinDie deutsche Erstausgabe erschien 2011 bei Aufbau Taschenbuch,einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KGCopyright © 2009 Taavi Soininvaara
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
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Impressum
Hauptfiguren und wichtigste Institutionen
PROLOG: Der Nagel
ERSTER TEIL: Anschlag aus dem Dunkeln
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ZWEITER TEIL: Land der roten Schatten
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DRITTER TEIL: Die neue Welt
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»Als Außenstehende nehmen wir an, dass eine Verschwörung die perfekte Umsetzung eines Plans ist. Stumme namenlose Männer mit schlichtem Herz. Eine Verschwörung ist alles, was das gewöhnliche Leben nicht ist. Sie ist das Zusammenspiel von Insidern, kalt, unfehlbar, frei von Ablenkungen, uns für immer verschlossen.«
Don DeLillo: Sieben Sekunden
»Eine Verschwörung ist einfach eine geheime Übereinkunft mehrerer Menschen zur Verwirklichung von Vorhaben, die sie nicht wagen an die Öffentlichkeit zu bringen.«
Mark Twain
Baabas, Abu – Oberst des Sudanesischen Aktiven Nachrichtendienstes (Al-amn al-ijabi).
Birou, Gilbert – Generaldirektor des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC).
Egger, Nadine – Wirtin in Wien. Leo Karas Freundin.
Forslund, Pertti – Ehemaliger Generaldirektor des finnischen Industriekonzerns Wartsala AG.
Gilmartin, Betha – Vizechefin des Britischen Auslandsnachrichtendienstes SIS.
Hofman – Einflussreicher Drahtzieher hinter den Kulissen im internationalen Waffengeschäft.
Kara, Leo – Persönlicher Assistent des Generaldirektors des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC).
Karlsson, Jonny (Paranoid) – Computerguru, bricht in Datensysteme ein, Cracker. Kati Soisalos Freund.
Ketonen, Jussi – Ex-Chef der finnischen Sicherheitspolizei SUPO.
Kraus, Katarina – Sicherheitsberaterin der Security and Defence Corp. (SDC).
Mettälä, Otto – Ehemaliger Geschäftsführender Direktor der Fennica AG, eines finnischen Rüstungskonzerns.
»Nazir« – Islamist, der sich dem Einfluss der westlichen Länder in Ostafrika widersetzt.
Osman, Rashid – Zweiter Vizepräsident des Sudan.
Pohjala, Henri – Ehemaliger Generaldirektor des finnischen Industriekonzerns Finnsteel AG.
Sibirtek – Konsortium, das in der finnischen Rüstungsindustrie agiert.
SIS – Großbritanniens Auslandsnachrichtendienst.
Soisalo, Kati – Assessorin, Anwältin. Ehemalige Chefjuristin der Fennica AG.
Sokolow, Ruslan (»Witwenmacher«) – Waffenhändler, gebürtiger Ukrainer.
Taylor, Ewan – Experte des in Kenia ansässigen UNODC-Regionalbüros für Afrika und Nahost.
Ukkola, Jukka – Kriminaloberinspektor. Leiter der Hauptabteilung der Zentrale der Finnischen Kriminalpolizei (KRP). Kati Soisalos Exmann.
UNODC – Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung.
PROLOG
Flüchtlingslager Itang, Äthiopien, 1990
Auch dieser Tag würde ein Alptraum werden, das wusste der Junge. Doch er konnte nicht ahnen, dass die Auswirkungen dieses schrecklichen Vormittags Jahrzehnte später ganze Staaten in Atem halten würden. Als er aus der Lehmhütte hinausschaute und sah, wie schön der Morgen war, kam ihm das Leben im größten Flüchtlingslager der Welt noch hoffnungsloser vor als sonst. Die hinter dem Horizont wie ein Feuer lodernde Sonne färbte den Himmel strahlend rot, und davor hob sich am Waldrand die Silhouette der Baobab-Bäume ab. Ihm fiel ein, wie er und sein kleiner Bruder einmal im Schuppen mit Vaters Taschenlampe Eier durchleuchtet hatten. Alles ließ ihn heute an ihr Zuhause denken und an die Zeiten, als das Leben noch lebenswert erschien.
Der Sonnenaufgang sah genauso eindrucksvoll aus wie daheim im Sudan, auf den Weiden von Doka. Doch er war nicht daheim, sondern in der Hölle auf Erden, in Itang, einem Lager für dreihunderttausend Flüchtlinge, in dem Hunger, Angst und Tod jeden Augenblick beherrschten. Hier musste man vieles ertragen: die Leichen der Menschen, die durch Krankheiten dahingerafft wurden, ständig weinende, vor Hunger aufgedunsene Kleinkinder, die stetige Bedrohung durch gewalttätige Soldaten der SPLA und den ewigen Kampf ums Essen. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, und dieser hoffnungslose Zustand hielt an. Es ging immer so weiter und weiter …
Der Lärm der Vögel war nun trotz des Geschreis der Kinder deutlich zu hören. Besorgt fragte sich der Junge, ob etwa schon die ersten Lagerbewohner im nahe gelegenen Wald Brennholz sammelten? Er schaute kurz zu seiner Mutter und Schwester hin und trieb seinen kleinen Bruder zur Eile an. Begriffen die immer noch nicht, dass es ums nackte Überleben ging?
»Hilf ihnen, wir müssten schon unterwegs sein«, sagte er und nickte seinem Bruder aufmunternd zu. Ibrahim brauchte seine Unterstützung. Der Tod des Vaters war für alle in der Familie ein gewaltiger Schock gewesen, aber den zehnjährigen Ibrahim hatte er für einige Zeit völlig aus der Bahn geworfen.
Letztes Jahr war alles noch in Ordnung gewesen: Sie bewirtschafteten ihren kleinen Bauernhof zu Hause in Doka. Die Mutter und die Schwester holten Wasser, sammelten Brennholz, bauten Durra und Baumwolle an und versorgten die Hühner und Ziegen. Der Vater, er und Ibrahim kümmerten sich um die Rinder und Schafe. Abgesehen von den trockenen Sommern war Doka ein wahres Paradies, grün und fruchtbar. Manchmal fehlte es ihnen an gar nichts. In der Mittagszeit, wenn es am heißesten war, spielten er, Vater und Ibrahim oft Domino, und mitunter ließ Vater ihn sogar die Wasserpfeife probieren.
Doch dann wurde ihre Welt innerhalb weniger Monate zerstört: Im letzten Herbst war der Regen ganz ausgeblieben und die Dürre immer schlimmer geworden. Sie tötete die Rinder und vernichtete ihre Ernte. Die oberste Schicht des fruchtbaren Bodens verwandelte sich in leblose Asche, alle Flüsse und Ströme mit Ausnahme des Nil verkümmerten, und die Oasen verdorrten. Und schließlich erfassten die Kämpfe zwischen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA und der Regierung auch ihre Heimatregion. Mit verhängnisvollen Folgen.
Der Junge saß auf dem Erdboden und zog den Saum seiner Galabija über die Beine. In der Hütte aus getrocknetem Schlamm war es erbärmlich kalt, und von einem Frühstück brauchte er nicht einmal zu träumen. Die UN-Lebensmitteltransporte waren in der letzten Zeit ins Stocken geraten; nach Gerüchten, die im Lager die Runde machten, wollten die reichen Länder ihnen, den Flüchtlingen aus dem Sudan, nicht mehr helfen, weil sich die neue Regierung des Sudan im Krieg am Persischen Golf auf die Seite von Saddam Hussein gestellt hatte. Das Wort irgendeines Ausländers, der Tausende Kilometer entfernt lebte, nahm ihnen, die nichts mit Politik oder dem Persischen Golf zu tun hatten, was sie dringend zum Leben brauchten.
Er verzog das Gesicht, als sein Magen so stark knurrte, dass es weh tat. Der Hunger quälte ihn andauernd, in den letzten Wochen hatten sie nur einmal am Tag gegessen und immer dasselbe – Durra-Brei. Allein der Gedanke an Fleisch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Rindfleisch, Lamm oder Huhn hatte er das letzte Mal vor einer Ewigkeit gegessen, zu Hause in Doka. Stattdessen kaute er nun, immer wenn er sie kriegen konnte, Würmer, Larven und Samenkörner aus dem Dung von Eseln. Hier musste man alles essen, was einen nicht umbrachte, alles, was auch nur ein klein bisschen Kraft gab. Es gingen Gerüchte um, dass manche Lagerbewohner in ihrer Not schon Menschenfleisch gegessen hatten.
»Los, schnell!«, befahl er, aber seine Schwester seufzte nur, und die Mutter warf ihm einen jener sanftmütigen Blicke zu, bei denen er sich vorkam wie ein kleiner Junge. Die Frauen gehorchten ihm nicht so wie Vater, und Vater gab es nicht mehr. Die Kämpfer der SPLA hatten ihn vor ihrem Haus wie einen Hund umgebracht, nur weil er ein Araber war. Er selbst und Ibrahim hatten sich mit den Frauen zusammen im Gebüsch versteckt wie Feiglinge. Im Gegensatz zu Ibrahim vermochte er nicht einmal hinzuschauen und hatte nicht gesehen, was die Männer mit Vater machten. Dieser Anblick war es wohl, der den kleinen Bruder so tief getroffen hatte. »Kümmere dich um Ibrahim, um die ganze Familie«, hatte der Vater gesagt, kurz bevor er den Soldaten in die Hände fiel. Das waren seine letzten Worte gewesen.
Der Junge fluchte, weil die Frauen so langsam waren, und trat mit Ibrahim im Schlepptau aus der Hütte hinaus. Der kleine Bruder folgte ihm überallhin wie ein Schatten. Es war Eile geboten. Die Morgendämmerung währte nur etwa zwanzig Minuten, danach wäre die Sonne aufgegangen, und im nahe gelegenen Wald würde es von Brennholzsammlern wimmeln. Je später sie in den Wald kamen, umso weiter müssten sie sich vom Lager entfernen. Und umso größer wäre die Gefahr, in die sie sich begaben. Sie zählten zur arabischen Minderheit im Lager, die Mehrheit der Flüchtlinge von Itang gehörte zum Stamm der Dinka und der Nuer. Die Araber aus dem Norden und die Christen aus dem Süden führten Krieg gegeneinander, solange er denken konnte. Außerdem war Itang ein Schlupfwinkel der SPLA, der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, die gegen die arabische Regierung kämpfte. Ein Lagerbewohner hatte sogar behauptet, die Organisation wäre seinerzeit hier gegründet worden. Ihre aus dem Sudan kommenden Kämpfer ließen sich in Itang als Flüchtlinge registrieren, hielten das Lager mit eiserner Hand unter Kontrolle und rekrutierten sehr aggressiv neue Soldaten unter den jungen Männern. Schon Zehntausende Lagerbewohner waren Mitglieder oder Anhänger der SPLA. In der Nähe befand sich sogar ein Ausbildungslager der Organisation.
Deshalb war niemand sicher, der das Lager verließ, am allerwenigsten Frauen. Die Kämpfer der SPLA hatten schon Dutzende Frauen vergewaltigt und auch einige entführt. Aber seine Mutter und Schwester kannten die Kräuter, die im Wald wuchsen; jede Frau aus Doka wusste, wie man in der Natur die verschiedensten Arten von Wildkräutern und Beeren sammelte. Dafür bekam man auf dem Markt ein wenig Geld, und mit dem konnten sie Wasser und Mehl kaufen. Er und Ibrahim würden außerdem zu zweit gar nicht schnell genug so viel Brennholz zusammenbekommen, wie sie brauchten. Und auch Männer waren im Wald nicht sicher, manchmal entführten die SPLA-Kämpfer junge Burschen und zwangen sie, sich ihnen anzuschließen. Arabische Männer wie ihn und Ibrahim erwartete freilich ein noch grausameres Schicksal, wenn sie den Soldaten in die Hände fielen, denn die hätten in den Zeiten des schlimmsten Hungers, so raunte man im Lager, arabische Jungen getötet und verspeist.
Als die beiden Frauen endlich aus der Hütte herausgekrochen kamen, ging der Junge entschlossenen Schrittes los und suchte sich einen Weg durch das Meer von Tausenden Lehmhütten und notdürftigen Unterkünften aus Zweigen und Stofffetzen. Ibrahim folgte ihm wie gewohnt auf den Fersen. Die Behausungen standen fast Wand an Wand, richtige Pfade gab es nicht, also orientierte sich der Junge an den Baumwipfeln, die in der Ferne zu erkennen waren, und steuerte auf den Wald zu. Einige Kinder mit ihren geschwollenen Bäuchen waren schon aus den Hütten herausgekommen, ihr ständiges Geschrei ging ihm auf die Nerven. Allesamt sahen sie schrecklich unterernährt aus. Die im Lager grassierenden fiebrigen Erkrankungen, Malaria, Durchfall und Husten verrichteten ihr Werk mit tödlicher Effizienz. Der Junge zuckte zusammen, als er beobachtete, wie ein Käfer in den offenen Mund einer alten Frau krabbelte, die aussah, als würde sie schlafen. Leichen gehörten zum Alltag in Itang genau wie der alles durchdringende Gestank von Fäkalien.
Im nahe gelegenen Dorf des Nuer-Stammes krähte ein Hahn, als sie endlich den Rand des Lagers erreichten. Der Junge hielt inne, spähte in den Wald hinein und war überrascht, weil sich nichts bewegte.
»Bleib in meiner Nähe. Und verlier Mutter und Yamila nicht aus den Augen«, befahl er seinem kleinen Bruder und stupste ihn freundschaftlich mit dem Ellbogen an. Sie betraten den Wald, der vom Gesang der Vögel und dem Zirpen der Heuschrecken erfüllt war. Gierig atmete der Junge die frische Luft und die angenehmen Düfte ein und betrachtete die Eukalyptusbäume, die Akazien, die Kakteen, die Jacaranda-Bäume mit ihren violetten Blüten, die großen Affenbrotbäume und die an Ästen hängenden Nester der Webervögel. Genau wie zu Hause, nur dass er hier ständig um sein Leben fürchten musste. Die Mutter und die Schwester gingen zwanzig Meter voneinander entfernt in die gleiche Richtung, und Ibrahim lief zwischen ihnen. Der Junge selbst blieb ein Stück hinter den anderen zurück, er wollte seine Familienmitglieder im Auge behalten. Darum hatte ihn der Vater gebeten. Der Morgentau glitzerte im Licht der Sonne, die sich hinter dem Horizont hervorschob.
Von Brennholz oder Kräutern keine Spur, die nähere Umgebung des Lagers war längst gründlich abgesucht. Rasch drangen sie tiefer in den Wald ein und entfernten sich allmählich so weit voneinander, dass der Junge schon überlegte, ob er seine Familie wieder zusammenrufen sollte. Sie hatten das Lager bereits mindestens einen Kilometer hinter sich gelassen, und außer ihnen war weit und breit kein Mensch zu sehen. Plötzlich hörte er jemanden reden – in der Sprache der Dinka. Der Junge bog ein paar Zweige zur Seite und erblickte Kämpfer der SPLA! Angsterfüllt duckte er sich. Es waren drei breitschultrige Männer in Tarnanzügen. Jetzt wurde es ernst, zwei arabische Frauen und zwei potentielle Feinde der SPLA, zwei junge Araber, waren den mit Macheten bewaffneten Kämpfern im menschenleeren Wald völlig ausgeliefert. Dinka-Soldaten der SPLA waren es auch, die Vater getötet hatten.
Aus der Tasche seiner zerschlissenen Hose holte der Junge seine Waffe hervor, einen langen, dicken Stahlnagel mit großem Kopf. Die Schreie seines Vaters, als die Kämpfer ihn misshandelten, klangen ihm in den Ohren. Seine Angst wurde immer größer. Wenn sie erst eine bestimmte Grenze überschritten hätte, würde sie ihn lähmen, wie damals, als Hyänen über die Ziege Ito hergefallen waren. Und diesmal konnte ihn der Vater nicht aus der Not retten. Durch das Gebüsch hindurch versuchte er etwas zu erkennen. Im selben Augenblick hob einer der SPLA-Kämpfer seine Stimme und zeigte in den Wald.
Starr vor Angst sah der Junge, wie der muskulöse schwarze Soldat Ibrahim am Arm packte. Der Mann trug eine fünfzig Zentimeter lange Machete, und sein Gesicht erinnerte mit der flachen Stirn an einen Dachs. Kurz darauf rief ein anderer seinen Gefährten aus einiger Entfernung etwas zu und zerrte dann Yamila an den Haaren zu ihnen hin. Was sollte er tun? Er war fünfzehn, schmächtig, vom Hunger geschwächt und mit einem Eisennagel bewaffnet. Wie sollte er es mit drei Kämpfern der SPLA aufnehmen? Plötzlich durchschnitt ein Schrei die Luft, und entsetzt beobachtete er, wie seine Mutter den Soldaten direkt in die Arme lief. Sie versuchte Ibrahim zu helfen. Die würden sie alle umbringen.
Die Zweige der Sträucher zerkratzten ihm die Unterschenkel, als er zu seiner Familie rannte. Er packte den Mann, der grob an seiner Mutter zerrte, am Gürtel und bekam einen Schlag gegen den Kopf, dass er Sterne sah und ins Gebüsch flog. Dann zog ihn jemand am Bein und schleifte ihn neben Ibrahim; sie lagen ein paar Meter von der Mutter und der Schwester entfernt auf dem Boden. Einer der Kämpfer riss der Mutter die Kleider vom Leibe, und der andere machte mit der Schwester … das, der Junge wusste, was der Mann tat. Der Soldat, der ihn und Ibrahim bewachte, starrte auf die Frauen wie ein Schakal, der darauf wartete, sich auf das Aas stürzen zu können. Der Junge musste die Augen schließen, die verzweifelten Schreie der Mutter und Yamilas bohrten sich in seinen Schädel, lange hielte er das nicht mehr aus. Was würden sie mit ihm und Ibrahim machen? Als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie der nächste Mann auf Yamila stieg.
Plötzlich hörte man irgendwo das Motorengeräusch eines Autos. Gott stand ihnen bei! Auf einem schmalen Sandweg näherte sich ein weißer Geländewagen. Der Junge hatte noch nie etwas Schöneres gesehen als die an das Auto gemalten schwarzen Buchstaben – UN, Vereinte Nationen. Jetzt musste er es wagen. Er sprang auf und rannte schneller als je zuvor. Der Soldat, der ihn und Ibrahim bewachte, bemerkte seine Flucht erst, als er schon etwa zehn Meter weit weg war. Das Gebüsch raschelte, und Zweige zerbrachen, während der Junge weiterraste …
Breitbeinig blieb er mitten auf dem Sandweg stehen, fuchtelte mit den Armen und schrie aus vollem Halse. Der UN-Jeep kam mit hoher Geschwindigkeit immer näher, er fuhr direkt auf ihn zu. Die SPLA-Kämpfer standen ein paar Dutzend Meter entfernt, gestikulierten heftig und zeigten in seine Richtung.
Der Geländewagen stoppte genau vor ihm und wirbelte dabei Sand auf, dann stieg ein etwa vierzigjähriger hagerer Asiate aus, dessen dünner Hals den Kragen des hellblauen UN-Hemdes nicht einmal zur Hälfte ausfüllte. Der Junge wusste, dass in dem Jeep eine Waffe lag – zum Schutz gegen wilde Tiere.
»Helfen Sie uns! Kämpfer der SPLA haben uns überfallen … Sie bringen uns um!«, schrie er auf Arabisch, doch der UN-Mitarbeiter schaute mit ängstlicher Miene an ihm vorbei.
Der Junge drehte sich um und sah, wie einer der Soldaten sie heranwinkte und sein riesiges Messer Ibrahim drohend an den Hals drückte. Wollte der Mann von den UN denn nichts tun? Er beschloss, die Waffe selbst aus dem Jeep zu holen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er sah, dass der Soldat mit dem Messer ausholte.
Der Hieb war kräftig, die Klinge drang tief in Ibrahims Hals ein. Der Junge war nicht imstande, die Augen zu schließen. Ibrahim sah verblüfft aus und öffnete den Mund wie ein Fisch, das Blut färbte erst seine Brust, danach den Bauch und schließlich die Oberschenkel. Dann sank der kleine Bruder zu Boden.
Der Junge fiel auf die Knie und übergab sich, obwohl ihm klar war, dass er fliehen und so schnell rennen müsste wie noch nie in seinem Leben. Einer der SPLA-Kämpfer brüllte etwas schon ganz in der Nähe, und da riss der Junge sich hoch. Der Soldat stürmte auf ihn und das UN-Auto zu. Plötzlich sprang der Motor des Geländewagens an. Der Junge starrte in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht des Mannes hinter dem Lenkrad. Dann schrie er aus Leibeskräften um Hilfe. Der Feigling wollte fliehen und sie dem Tod überlassen! Er rannte vor den Wagen und drosch wütend auf die Motorhaube ein, aber der UN-Mitarbeiter gab Gas, fuhr an ihm vorbei und hinterließ eine Staubwolke, die jede Sicht verdeckte.
Der Soldat kam näher und war nur noch zwanzig Meter entfernt, als der Junge losrannte. In Richtung Lager brauchte er nicht zu fliehen, die anderen Soldaten würden ihm den Weg versperren. Und im Lager wäre er sowieso nicht sicher, die Kämpfer der SPLA machten auch dort, was sie wollten, und niemand wagte ihre Verbrechen aufzudecken. Immer noch sah er seinen blutüberströmten Bruder vor sich, der Mann von den UN hätte das alles verhindern können, wenn er es gewollt … wenn er den Mut gehabt hätte … Jetzt würde man sie alle umbringen.
Der Junge rannte, was die Beine hergaben, es stach in der Brust, und die Zweige kratzten seine Beine blutig, doch der Abstand wuchs. Er würde ihnen entkommen. Meter um Meter legte der Junge zurück, er sprang über Büsche, wich Ästen aus, kurvte um Bäume …
Dann schoss ein ungeheurer Schmerz durch seinen Knöchel, er stürzte zu Boden und stieß mit der Schulter gegen den Stamm eines Eukalyptusbaums. Sein Fuß war in einer Wurzel hängen geblieben. Der schweißnasse SPLA-Soldat kam näher und mit ihm das Messer und der Tod … Der schmalgesichtige Mann blieb vor ihm stehen, kniete nieder, erhob drohend die Machete und grinste ihn mit seinen gelblichen Zähnen an.
Der Junge hielt den Nagel ganz fest zwischen den Fingern und bereitete sich auf die letzte Anstrengung seines Lebens vor …
ERSTER TEIL
Khartoum, Sudan, 23. April – 27. April, Gegenwart
Donnerstag, 23. April
Auf dem Basar von Omdurman roch es angenehm nach Gewürzen und Kräutern, und es stank nach Schweiß und Dung. Die Händler riefen ihre Ware aus, die Rikschas und Esel schoben sich mühsam durch das Gedränge zwischen den Marktständen und Läden, und die vierzig Grad heiße Luft flimmerte. Beeilen konnte sich in dem Menschenstrom niemand, man kam nicht schneller voran als ein Lastkamel in der Karawane. Auf dem Markt herrschte ein geschäftiges Treiben, alle großen ethnischen Gruppen des Sudan waren vertreten: Araber, Masalit, Dinka, Zaghawa, Fur, Nuba, Tunjur, Meidob, Fellata … Omdurman war das Herz des Sudan. Die sudanesischen Stämme hatten sich im Laufe der Jahrhunderte so miteinander vermischt, dass hier auch die Araber dunkelhäutig waren, manche tiefschwarz, andere etwas heller.
Leo Kara wartete voller Ungeduld auf sein Treffen mit Ewan Taylor. Ungeduldig war er immer, im Sudan jedoch eher selten. Es war erst kurz vor drei, um fünf Uhr wollten sie sich treffen.
Schon seit etwa zwei Stunden lief Kara durch die Straßen der Dreistadt Khartoum, Omdurman und Nord-Khartoum beziehungsweise Bahri, die am Zusammenfluss des Weißen und des Blauen Nil lag. Nach der Landung seiner Maschine gegen Mittag war er nur auf einen Sprung im Hauptquartier der UN im Sudan gewesen, um sich anzumelden und umzuziehen.
Der Schweiß floss ihm in kleinen Rinnsalen über die staubbedeckte Haut, seine Augen brannten, und die Sonne drang durch die kurzen blonden Haare seiner Igelfrisur und versengte ihm die Kopfhaut. Kara blieb am Stand eines einarmigen, von Fliegen umlagerten Händlers stehen, der lethargischer wirkte als seine Kollegen. Für zweihundert Dinar kaufte er sich eine weiße Schirmmütze und setzte sie auf. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und verzog sich in den Schatten. Die Briten hatten auch in dieser Stadt zahlreiche Kriege geführt, 1885 unterlagen sie den Sudanesen nach einer langen Belagerung, und 1898 schlug Lord Kitchener die sudanesischen Truppen in der Schlacht von Omdurman. Kara hatte als Jugendlicher in der Internatsschule einfach zu viel britische Kriegsgeschichte pauken müssen.
Ewan hatte ihm nicht verraten, was für einem Verbrechen er in Khartoum auf die Spur gekommen war, sondern nur gesagt, dass seine Untersuchungen mit dem Schmuggel von Marschflugkörpern zusammenhingen. Irgendwie hatte Ewan es so gedeichselt, dass der Generaldirektor ihres Arbeitgebers, des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung UNODC, auch ihn nach Khartoum beorderte. Vielleicht brauchte Ewan jemanden, der Arabisch sprach, oder er wollte einfach nur ein paar Tage mit seinem Freund zusammenarbeiten.
Kara musste grinsen, als ihm einfiel, wie sie sich vor einer Ewigkeit kennengelernt hatten. Das war 1990 im Direktorenzimmer der Internatsschule von Winchester gewesen. Damals hatten sie mit heruntergelassenen Kniehosen und zusammengebissenen Zähnen dagestanden und sich angeschaut, während der Direktor ihnen mit dem Zeigestock Schläge auf den nackten Hintern verpasste, dass es klatschte. Das war die Strafe dafür, dass sie geraucht hatten. Sie freundeten sich an und überstanden gemeinsam die fünfjährige Tortur in der erzkonservativen Knabenschule, auf die reiche Briten ihre mit einem silbernen Löffel im Mund geborenen Söhne schickten, um sie loszuwerden. Ewan und er waren den anderen von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen, es reichte schon, dass sein Vater Finne und Ewans Mutter Inderin war.
Der Lärm von Omdurman ging ihm auf die Nerven, genau wie die Mopedfahrer und Rikschas, die im Kamikaze-Stil durch den chaotischen Verkehr kurvten. Doch alles in allem empfand er die Reise in den Sudan als willkommene Abwechslung nach den dienstlichen Aufgaben der letzten Monate. Im Februar hatte er niedergeschrieben, was irakische Mädchen über ihre schreckliche Zeit als Sexsklavinnen berichteten. Im März hatte er bei Ermittlungen zu den immer grausameren Morden einer Pariser Heroinliga geholfen, und in den letzten Wochen hatte er ein Papier über Kindersoldaten erarbeiten müssen, die in den Einheiten eines Rebellengenerals in Sierra Leone umgekommen waren. Die Bilder verwester Leichen tauchten vor ihm auf.
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf ein paar halbnackte kleine Jungs. Sie stürzten sich gerade auf eine Falafel, die einem Araber heruntergefallen war, der ein weißes Thobe-Gewand und auf dem Kopf eine Kufija trug. Diese Jungen verbrachten ihr ganzes Leben in einer Welt, in der man um jede Brotkrume kämpfen musste, und dennoch lächelten sie über das ganze Gesicht.
Kara gefiel seine Arbeit im UNODC: Er durfte eigenständig umherreisen, es gab kaum stumpfsinnige Routineaufgaben, besondere Fähigkeiten auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen wurden so gut wie nie verlangt, die Aufträge wechselten oft, und am wichtigsten war, dass er nur einen Vorgesetzten hatte, den er zudem selten sah. An dieser Stelle musste er mit Zähnen und Klauen festhalten, in den beiden Jobs vorher hatte er absoluten Mist gebaut.
Bei der Global Crisis Group, seiner ersten Anstellung, musste er den Hut nehmen, nachdem er seiner damaligen Freundin zuliebe an einer Demonstration gegen die Besetzung des Irak teilgenommen hatte, ohne zu bedenken, dass viele der amerikanischen Unternehmen, die im Irak Millionen Dollar scheffelten, Kunden seines Arbeitgebers waren. Zu allem Übel war er auch noch im Polizeiarrest gelandet und wegen gewaltsamen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte angeklagt worden. Natürlich hatte er sich nicht heraushalten können, als die Bereitschaftspolizei und die Demonstranten aneinandergerieten. Sein Job als Datenanalytiker beim britischen Nachrichtendienst fand ein jähes Ende, als er seiner Vorgesetzten mitten in der wöchentlichen Besprechung der Gruppe, die Feldforschung betrieb, eindeutig zu verstehen gegeben hatte, sie könne ihn mal am Allerwertesten … Das bereute er allerdings nicht, denn die Frau hatte Untersuchungsergebnisse ihrer Mitarbeiter gefälscht. Kara befand sich also bereits mit vierunddreißig Jahren in seinem Berufsleben gewissermaßen in der Verlängerung. Wenn man ihn beim UNODC feuerte, bliebe ihm nur eine Arbeit beim Straßenbau, falls es da überhaupt noch freie Stellen gab.
Kara überquerte die Brücke, die von Omdurman nach Khartoum führte, und schaute hinunter auf den Zusammenfluss von Weißem und Blauem Nil, wo die Tuti-Insel im Sonnenlicht badete.
Welchem Verbrechen war Ewan wohl auf die Spur gekommen? Was hatte der Schmuggel von Marschflugkörpern mit dem Sudan zu tun? Möglichkeiten gab es jedenfalls genug: Im Sudan lebten jede Menge radikale Islamisten und Anhänger von Terrorgruppen, und Khartoum war eines der Zentren des afrikanischen Waffen- und Sklavenhandels. Und im UNODC beschäftigte man sich mit der organisierten Kriminalität, also auch dem Menschenhandel, und ebenso mit dem Terrorismus.
***
Ewan Taylor wusste nicht, dass er zum letzten Mal jemandem die Hand gab. Er verabschiedete seinen Informanten so höflich, wie es sich für einen britischen Gentleman gehört, und setzte sich dann wieder an den Ecktisch im Restaurant »Amwaj«. Nun war es sicher, er würde am nächsten Tag Ruslan Sokolow treffen, den »Witwenmacher«, den berüchtigtsten Waffenhändler der Welt. Schon jetzt war er gespannt. Morgen würde sich herausstellen, ob seine schlimmsten Befürchtungen und sein Verdacht begründet waren.
»Im ›Amwaj‹ speisen heute aber viele Einheimische«, dachte Taylor, als er einen gebeugten Mann in einer weißen Galabija mit einer Frau hereinkommen sah. Sie hatte schöne Augen und trug ein Toab-Gewand, das aus auffällig gemusterten Stoffstreifen zusammengesetzt war. Gewöhnlich aßen in den Restaurants der modernen Stadtteile von Khartoum nur Ausländer und die reiche Oberklasse des Sudan. Taylor wählte auf seinen Reisen in der Regel Gaststätten, die von den Ortsansässigen bevorzugt wurden, aber in Khartoum waren die für seinen Geschmack einfach zu heiß und zu schmutzig. Das klimatisierte »Amwaj« hingegen war ziemlich sauber und frei von unangenehmen Gerüchen, und sudanesische Gerichte bekam man hier auch. Er bröckelte Käse mit Chilipulver in sein Saubohnenpüree »Foul Mudammas« und verscheuchte ein paar Fliegen, die so groß wie Käfer waren.
Im Sudan musste sich jeder genau überlegen, was er in den Mund steckte, nahezu alle besonders schrecklichen Krankheiten der Welt nisteten im größten Staat des afrikanischen Kontinents. Selbst in der Hauptstadt Khartoum war es angebracht, nur in Restaurants zu gehen, die vom örtlichen UN-Hauptquartier empfohlen wurden. Er würde niemals vergessen, wie entsetzlich Janet Wilkinson von der Antikorruptionsabteilung ausgesehen hatte, nachdem sie vergangenen Sommer in Äthiopien an Leishmaniose erkrankt war, die durch von der Sandfliege übertragene Parasiten ausgelöst wurde. Die Narben der tiefen Geschwüre auf Janets Haut würden nie wieder verschwinden.
Taylors Gedanken schweiften ab. Wenn es ihm gelänge, die vom Witwenmacher organisierten illegalen Geschäfte mit Marschflugkörpern aufzudecken, dann würde man ihn garantiert befördern. Das käme nicht einen Augenblick zu früh, denn er arbeitete schon viele Jahre im UNODC. Alle seine Kollegen, die mit ihm zusammen zur gleichen Zeit dort angefangen hatten, waren schon ein- oder zweimal befördert worden. Ihn jedoch hatte man als Experten mit unterschiedlichen Aufgaben betraut und erst vom Wiener Hauptquartier des UNODC ins Länderbüro auf den Philippinen geschickt, dann nach Guatemala und schließlich in das Regionalbüro für Afrika und den Nahen Osten nach Kenia.
Mit Ausnahme der leichten Rebellion in den Jahren auf der Internatsschule hatte Ewan Taylor nie etwas riskiert. Aber jetzt wagte er es. Auch er wollte wenigstens einmal in seinem Leben Anerkennung erhalten, deswegen hatte er sich auf dieses Hasardspiel eingelassen. Er untersuchte die Raketengeschäfte des Witwenmachers ohne die Genehmigung seines Vorgesetzten, obwohl der Fall eigentlich in die Zuständigkeit des UN-Waffeninspektors gehörte, der das für den Sudan geltende Waffenembargo überwachte. Seinem Chef gegenüber hatte er behauptet, er reise in den Sudan, um mit den dortigen Behörden darüber zu verhandeln, wie der Waffenschmuggel der Janjaweed-Milizen aus Darfur in den Kongo unterbunden werden könnte. Natürlich würde er diese Gespräche auch noch führen, aber erst dann, wenn seine Ermittlungen zu den Raketengeschäften abgeschlossen waren.
Falls man ihn beförderte, könnte er mit seiner Familie Kenia verlassen, und das war sein zweites wichtiges Ziel. Helen machte sich ständig Sorgen wegen der Ausschreitungen in Nairobi und um die Gesundheit ihres Sohnes Oliver. Seine Frau war schwanger und wollte vor dem errechneten Termin nach England zurückkehren. Das neue Familienmitglied würde irgendwann um den 11. Juli herum seinen ersten Schrei von sich geben. Auch der Name stand schon fest – Olivia. Ein warmes Gefühl durchflutete ihn, als er an die Momente mit Oliver im Kreißsaal dachte, er hatte seinem Erstgeborenen ein Wiegenlied vorgesungen, ganz falsch, aber voller Inbrunst.
Taylor stach die Gabel in das letzte Stück Schawarma, trank Wasser aus der Flasche und schaute auf seine Armbanduhr. In knapp zwei Stunden würde er Leo treffen. Er fand es amüsant, dass sie heutzutage Kollegen waren. Wer hätte gedacht, dass der schlimmste Störenfried in der Geschichte der Internatsschule von Winchester einmal in der gleichen Einrichtung arbeiten würde wie er. Taylors Gedanken schweiften zurück in die Zeit vor zwanzig Jahren. Er würde nie vergessen, wie ein blasierter Knabe, der einen albernen Witz über Leos finnische Herkunft gerissen hatte, gleich am zweiten Schultag eins mit dem Kricketschläger auf den Kopf bekam. Leo war unberechenbar und aggressiv, er selbst hingegen verstand es glänzend, jede noch so schwierige Situation durch seine Redegewandtheit zu meistern. Sie waren eben ein perfektes Team.
Ein heftiger Wortwechsel in Arabisch riss Taylor aus seinen Gedanken. Zwei Einheimische, die das Restaurant betreten hatten, wurden vom Kellner unsanft am Arm gepackt und wieder hinausgeführt. Die armen Kerle wussten genau, dass sie sich im »Amwaj« nicht einmal ein Glas Wasser leisten konnten, weshalb versuchten sie es trotzdem? Merkwürdig war auch, dass zwei andere Kellner rasch die hölzernen Fensterläden schlossen. Taylor zahlte, trat in die stickige Hitze hinaus und bekam Sand ins Gesicht, der Wind wehte heftiger als sonst. Er hob die Hand schützend vor die Augen und erschrak. Eine gewaltige rotbraune Wand wälzte sich aus dem Norden auf Khartoum zu – ein Haboob. Die Sandstürme aus der Sahara konnten eine Höhe von einem Kilometer und eine Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern erreichen. Gleich würde eine donnernde Staubwand so hoch wie ein Wolkenkratzer Khartoum unter sich begraben wie der Herbstnebel London.
Am liebsten wäre er umgekehrt, aber er musste in seine Wohnung, um die Enthüllungen des Informanten zu notieren, jetzt hatte er sie noch frisch im Gedächtnis. Wegen des heraufziehenden Sturms floss der Verkehr auf der Airport Road ruhig dahin, normalerweise herrschte hier ein wirres Durcheinander von Bussen, klapprigen Rostlauben, Limousinen, Mopeds, Rikschas, Menschen und Eseln. Deshalb behaupteten die Ausländer auch scherzhaft, in Khartoum gebe es sieben Millionen Menschen, aber nur zwei Ampeln. Doch egal, wie chaotisch der Verkehr war, es glich eigentlich einem Wunder, dass ein Staat, der seit über fünfzig Jahren fast pausenlos Krieg führte, mit solcher Ruhe und Gelassenheit funktionierte.
Gerade als Taylor eine Lücke im Strom der Fahrzeuge entdeckte und die Airport Road überqueren wollte, hörte er hinter sich das Aufheulen eines Motors, er drehte sich um und erblickte einen Geländewagen, der aus nur etwa zehn Metern Entfernung auf ihn zuraste. Er warf sich hin und rollte sich zusammen wie ein Igel, als der Wagen knapp einen Meter neben der Stelle, an der er eben gestanden hatte, gegen die Wand krachte. Ein stechender Schmerz zog durch seinen Arm, ein Splitter von der Stoßstange hatte sich ihm in die Haut gebohrt.
Vor Schreck war sein Hirn wie gelähmt, es dauerte einen Augenblick, bis er wieder auf den Beinen stand. Viel hätte nicht gefehlt, und er wäre jetzt tot. Der Geländewagen setzte zurück, hinter den getönten Scheiben war der Fahrer nicht zu erkennen. Dann brüllte der Motor wieder auf, der Jeep ruckte an und kam auf ihn zu. Jetzt begriff Ewan Taylor, worum es hier ging – man versuchte ihn umzubringen!
Er sprintete los, bog in die 15. Straße ein, hörte den jaulenden Motor hinter sich und raste in eine schmale Gasse, in die der Jeep nicht hineinpassen würde. Das Herz sprang ihm fast aus der Brust, die Angst trieb ihn, noch schneller zu rennen, was zum Teufel war hier im Gange? Das Gästehaus lag nur ein paar Häuserblocks entfernt, bis dahin würde er es vielleicht schaffen, dort wäre er in Sicherheit. Gleich würde der Haboob ihn überrollen, das UN-Hauptquartier war viel zu weit weg …
Taylor lief kreuz und quer durch schmale Gassen und versuchte auszumachen, in welcher Richtung sich das Gästehaus befand. Der Sturm nahm zu, Sandstaub drang ihm in die Nasenlöcher und den Mund, die Augen brannten … Wer war hinter ihm her? Hing das mit den illegalen Raketengeschäften des Witwenmachers zusammen?
Er blieb stehen, als ihm klar wurde, dass er die Mohammed-Najeeb-Straße erreicht hatte. Sein Atem rasselte, die Oberschenkelmuskeln schmerzten, und sandiger Schweiß lief ihm über den ganzen Körper. Nirgendwo rührte sich etwas. Die Menschen waren vor dem Haboob in die Häuser geflüchtet. Auch der Jeep war nicht zu sehen. Es wirbelte schon so viel Staub und Sand durch die Luft, dass Autos vermutlich nicht mehr fahren konnten, das hatte ihm möglicherweise das Leben gerettet. Jetzt musste er sich in Sicherheit bringen.
Taylor rannte über die Straße, nannte den phlegmatischen Wachleuten im Gästehaus seinen Namen und die Zimmernummer und trat durch das Eingangstor. Gott sei Dank, endlich in Sicherheit. Eine hohe Mauer umgab das dreigeschossige Gebäude, am einzigen Eingang hatten rund um die Uhr zwei Mann Dienst, und Videokameras überwachten den Hof und die Flure. Im Treppenhaus kauerte er sich hin, es tat gut, in aller Ruhe Luft ohne Sand einzuatmen.
Der Sturm tobte schon so heftig, dass Taylor Mühe hatte, die Fensterläden seines Zimmers zu schließen. Er versuchte erst mit dem Handy und dann mit dem Festnetztelefon das UN-Hauptquartier in Khartoum zu erreichen, aber der Haboob hatte alle Verbindungen unterbrochen. Er würde es erneut versuchen, sobald der Sturm nachließ.
Nachdem er ein Glas Maltwhisky getrunken und eine halbe Puros Richards von den Kanaren geraucht hatte, die einzige anständige Zigarre, die er in Khartoum auftreiben konnte, fühlte er sich ein wenig ruhiger. Er zog den abgenutzten Hocker an den noch verschlisseneren Sessel heran und legte die Beine hoch. Das bewachte Gästehaus war ein sicherer Ort, und sobald der Sandsturm sich legte, würden die UN bestimmt dafür sorgen, dass ihn jemand schützte, versicherte sich Taylor selbst. Und schon bald hätte er ja auch noch Leo an seiner Seite, ihm fielen nicht viele Männer ein, mit denen er lieber zu dem Treffen mit dem weltweit berüchtigtsten Waffenhändler gegangen wäre. Jetzt durfte er nicht in Panik geraten, natürlich war so etwas zu erwarten gewesen, schließlich untersuchte er eines der größten illegalen Waffengeschäfte des Jahrtausends. Vermutlich war es auch dem Käufer der Marschflugkörper zu Ohren gekommen, dass er Erkundigungen anstellte. Vielleicht war er einem noch größeren Verbrechen auf der Spur, als er bisher angenommen hatte, ihm fielen die ukrainischen Marschflugkörper ein, die vor einigen Jahren an den Iran und China verkauft worden waren.
Draußen toste der Haboob, und das Blechdach des Gästehauses schepperte und rasselte wie ein ganzes Trommelorchester. Taylor saß an seinem Computer und gab die Hauptpunkte seines Gesprächs mit dem Informanten in die Datei mit seinen Aufzeichnungen zum Witwenmacher ein. Er speicherte sie auf demselben Stick, der auch alle anderen Dokumente zum Schmuggel der Marschflugkörper und zum Witwenmacher enthielt, und vergewisserte sich, dass keine Kopie der Datei auf der Festplatte verblieben war. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Urplötzlich flogen zwei Fensterläden auf und schlugen scheppernd gegen die Außenwand des Hauses, Taylor erschrak furchtbar. Eine Woge aus Staub und Sand flutete herein. Er stürzte zum Fenster mit dem Arm vor seinen Augen. Die Sandkörner stachen auf der Haut wie Stecknadeln. Doch er griff hinaus, bekam den Rahmen eines Fensterladens zu fassen und tastete eben nach dem anderen, als sein Blick auf einen der Wachmänner fiel. Der lag in unnatürlicher Haltung vor dem Eingang, Blut hatte sein Hemd verfärbt. Und die Hand des anderen hing im Fenster der Wachstube. Es war immer noch jemand hinter ihm her. Er geriet in Panik.
Im Nu war er an der Tür und schaute durch den Spion auf den Flur – niemand zu sehen. Doch der Killer war auf dem Weg zu ihm, das wusste er. Vor lauter Angst konnte er nicht mehr klar denken. Er hatte keine Waffe, wo bekäme er Hilfe? Taylor vertippte sich zweimal, als er die Nummer des UN-Hauptquartiers wählte, aber die Telefone funktionierten immer noch nicht. Und es würde ihm auch niemand rechtzeitig helfen können. Die Furcht brannte im ganzen Körper, am liebsten wäre er geflohen, unsichtbar geworden oder hätte irgendetwas anderes getan, nur um nicht erleben zu müssen, was unweigerlich näher rückte. Waren das die letzten Augenblicke seines Lebens?
Taylor befand sich nicht im Schockzustand. Er fühlte sich nicht unnatürlich ruhig oder heiter, er zitterte nicht, und sein Sehvermögen war nicht besser als sonst. Er hörte draußen immer noch den Haboob toben; das Krachen und Poltern verriet, dass der Sturm Gegenstände umherschleuderte. Taylor zuckte zusammen, als eine herumschwirrende Fliege auf seinem Handrücken landete. Das Entsetzen packte noch fester zu. Er sah den Killer mit dem eiskalten Blick schon vor sich, hörte den Schuss, spürte den Schmerz, die Todesangst, die Leere … Vor allem aber wuchsen in ihm die Erbitterung und die Wut, dass gerade er so jung sein Leben verlieren musste. Nie dürfte er Olivia als Baby im Arm halten und sehen, wie seine Kinder heranwuchsen, mit Helen zusammen alt werden …
Hier sollte er sterben? In diesem unpersönlichen Gästezimmer in Khartoum, umgeben nur von abgewohnten Möbeln, nach Zigarettenrauch riechenden Gardinen und einigen Fliegen? Einsamer konnte sich ein Mensch gar nicht fühlen. Helen und die Kinder würden sicher um ihn trauern, aber wie lange, ein Jahr oder zwei, und in fünf Jahren wären von ihm garantiert nur noch verblasste Erinnerungen und ein oder zwei Fotos auf dem Kaminsims übrig. Und Olivia würde ihren Vater nie erleben. Der unbekannte Killer wollte ihm seine Zukunft stehlen, die Hälfte seines Lebens, die noch vor ihm lag.
Taylor verriegelte die Fenster von innen, schob eine schwere Kommode vor die Tür und holte aus der Küche ein Messer, mehr fiel ihm nicht ein. Um Mut zu fassen, stellte er sich vor, wie er zur Waffe griff und sich auf den Killer stürzte … Sein Puls beschleunigte sich noch mehr, und ihm wurde schwarz vor Augen, er fühlte sich schwach und unfähig. Er war kein Mann, der sich mit anderen schlug, im Gegenteil. Auch im Internat in Winchester hatte sich Leo für sie beide geprügelt. Lohnte es sich überhaupt, Widerstand zu leisten? Sofort fielen ihm etliche Varianten ein, wie er bei dem Versuch, den Killer zu besiegen, scheitern könnte. Seine Panik war so groß, dass ihm übel wurde. Er atmete heftig. Wie ein schlimmer Traum kam es ihm vor, paralysiert und widerstandslos auf seinen Tod zu warten. Erinnerungen tauchten auf: Oliver im Sommerurlaub beim Baden an der Küste der Bretagne, Helen, wie sie im durchsichtigen Pyjama ihr Haar kämmte …
Wenigstens würde er nicht umsonst sterben, beschloss Ewan Taylor, holte mit zitternder Hand den Stick aus der Hosentasche und eilte zu seinem Computer. Am Ende des Textes der Witwenmacher-Datei fügte er eine kurze Nachricht an, überlegte einen Augenblick und versteckte den Stick so, dass auf der ganzen Welt nur ein Mann imstande wäre, ihn zu finden. Dann krachte ein Schuss an der Tür, der ihn lähmte. Vor Angst bebend, schaute er zu, wie die Kommode von der Tür weggeschoben wurde. Ewan Taylor machte in die Hosen, er fühlte sich wie ein Kind, er wollte in Sicherheit sein, sich in einem Schoß verkriechen, an einem geheimen Ort verstecken, zu dem kein Mensch Zugang hätte …
Sein Atem stockte, er schwankte und setzte sich auf den Fußboden. Er wollte nicht aufblicken und seinem Ende in die Augen sehen, aber ein Fünkchen Hoffnung lebte immer noch in ihm, vielleicht fiel ihm doch ein Ausweg ein … Taylor hob den Kopf, und sein Gesicht verriet Fassungslosigkeit, als er sah, wer der Killer war. Er hatte einen entsetzlichen Fehler begangen und sein Leben in die falschen Hände gelegt, begriff Taylor, kurz bevor die Kugel, eine Winchester Black Talon, seinen Stirnknochen durchbohrte und im Lateralventrikel des Frontallappens einschlug.
»Wenn du wüsstest, welcher Sache du beinahe auf die Spur gekommen wärst …«, sagte der Killer, der einen grünen Schutzanzug trug, und gab seinem Opfer den Gnadenschuss ins Herz. Dann machte er sich daran, das Zimmer systematisch zu durchsuchen.
Donnerstag, 23. April
Wo zum Teufel steckte Ewan, fragte sich Leo Kara verärgert, nachdem er zum x-ten Mal versucht hatte, seinen Freund telefonisch zu erreichen. War er wegen des Haboob irgendwo hängengeblieben, oder zog sich sein vorheriges Treffen in die Länge?
Ihm war immer noch nicht klar, wo sich die vielen Menschen versteckt hatten, die auf dem Markt unterwegs gewesen waren, als der Sandsturm heranzog. Er selbst hatte in der Foyerbar des Hotels »Regency« bei einem Bier Zuflucht gesucht. Und wohin hatte man den ganzen Kram gebracht? Nicht einmal eine Stunde nach dem Abflauen des Sturmes herrschte auf dem Markt wieder reges Treiben, als wäre nichts geschehen. Der Haboob hatte alles mit einer gleichmäßigen rotbraunen Staubschicht bedeckt.
Kara beschloss, wieder nach Khartoum zurückzukehren, er hatte keine Lust, in dieser Hitze endlos lange zu warten. In der Nähe des Äquators ging die Sonne schnell unter, die Muezzins riefen die Gläubigen schon zum Maghrib, dem Sonnenuntergangsgebet.
Er hielt ein altersschwaches gelbes Taxi an und fragte, was eine Fahrt zum UN-Hauptquartier der Sudan-Operation im Stadtteil Arkaweet kostete. Der westlich gekleidete junge Fahrer verlangte für die sechs Kilometer eintausendfünfhundert sudanesische Dinar, einen Wucherpreis. Wutentbrannt fluchte Kara auf Finnisch, stieg dann aber doch hinten in den Toyota ein, da man laut Ewan in Khartoum leichter den Heiligen Gral fand als ein freies Taxi. Im Auto empfing ihn ohrenbetäubende arabische Musik. Ihm fiel ein, wie er in Helsinki einmal mitten in der Fahrt zum Fußgänger degradiert worden war, weil er die vom Taxifahrer gewählte Strecke allzu bissig beanstandet hatte.
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