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Fulminantes Finale.
Leo Kara sitzt in seiner Wohnung und zittert wie Espenlaub. Diesmal ist der Grund kein Alptraum, sondern der Entzug. Er hat all seine Medikamente abgesetzt. Ein Schritt hin zu einem normalen Leben. Die Erkenntnis, welche Rolle sein Vater bei Mundus Novus spielt, schockt ihn noch immer. Kara will nun endlich die ganze Wahrheit über seine Familie erfahren. Die Schwester seines Vaters könnte ihm weiterhelfen. Doch seine vermeintliche Tante entpuppt sich als russische Agentin, und er gerät in Lebensgefahr. Auch Leos Schwester ist ihm keine große Hilfe - ihr Gedächtnis wurde durch einen Eingriff manipuliert. Seine Partnerin Kati Soisalo dagegen kämpft todesmutig darum, ihre Tochter endlich aus der Gewalt der Entführer zu befreien.
Eine Katastrophe jagt die nächste. Wird es Kara gelingen, die Ziele der Geheimorganisation Mundus Novus zu stoppen? Und gibt es für Kati und Leo noch eine gemeinsame Zukunft?
Tot ist der lang erwartete vierte und letzte Teil der erfolgreichen Thrillerserie.
„Eiskalte Spannung mit sozialkritischem Touch – Henning Mankell lässt grüßen.“ Jolie.
„Taavi Soininvaara ist der Meister des finnischen Krimis.“ Süddeutsche Zeitung.
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Seitenzahl: 568
Taavi Soininvaara
Tot
Leo Kara ermittelt
Aus dem Finnischen von Peter Uhlmann
Inhaltsübersicht
Hauptfiguren, wichtigste Institutionen und Termini
Prolog: Der Mann, der aussah wie Putin
Erster Teil: Beute, die angreift
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Zweiter Teil: Der Name des Todes
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Dritter Teil: Die endgültige Wahrheit
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Informationen zum Buch
Über Taavi Soininvaara
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Alanko, Anni. Stellvertretende Generalstaatsanwältin.
Björkman, Eve. Kinderpsychologin.
Carter, Colleen. Persönliche Assistentin der Vizechefin des britischen Auslandsnachrichtendienstes SIS.
Delbar. Putzfrau, geborene Kirgisin. Bekannte von Manas.
DI. Nachrichtendienst der Streitkräfte Großbritanniens.
Egger, Nadine. Wirtin in Wien. Leo Karas Exfreundin.
Elliott, John. Generaldirektor des britischen Nachrichtendienstes MI5.
Ethem, Agron. Chef des Ethem-Clans, einer albanischen kriminellen Organisation.
FSB. Inlandsnachrichtendienst der Russischen Föderation.
GCHQ. Staatliches Kommunikationshauptquartier Großbritanniens.
Gilmartin, Betha. Vizechefin des britischen Auslandsnachrichtendienstes SIS.
Gunvor Oil B.V.Drittgrößter Ölhandelskonzern der Welt. Begünstigter der Stiftung Mundus Novus.
Illegaler. Hier: Spion, der unter einer falschen Identität im Ausland lebt.
»Kabinett«. Eine Gruppe führender Persönlichkeiten Finnlands, die in ihrem Land die Interessen der Machthaber Russlands vertritt.
Kara, Aleksi (Andrej Rostow). Wissenschaftler, verantwortlich für die Forschungsprogramme von Mundus Novus. Leo Karas Vater.
Kara, Leo. Persönlicher Assistent des Generaldirektors des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC).
Karlsson, Jonny (Paranoid). Computerguru, bricht in Datensysteme ein, Hacker. Kati Soisalos ehemaliger Freund.
Kowaltschuk, Gennadi. Vorstandsvorsitzender der Russia-Bank. Begünstigter der Stiftung Mundus Novus.
KPdSU. Kommunistische Partei der Sowjetunion.
KRP. Eigenständige zentrale Behörde der finnischen Kriminalpolizei, deren Hauptaufgabe in der landesweiten Bekämpfung der organisierten und der besonders schweren Kriminalität besteht.
Legende. Erfundene Lebensgeschichte eines Spions, gestützt von gefälschten Dokumenten.
Lukkari, Saara. Inspektorin. Leiterin der Abteilung Gegenspionage der SUPO.
Manas. Kirgise, vom KGB ausgebildeter Killer. In Diensten der Stiftung Mundus Novus.
Messmer, Maximilian. Eigentümer der Schweizer Privatbank Messmer& Cie. Finanzverwalter der Stiftung Mundus Novus.
Metalla, Selami. Chef der albanischen kriminellen Organisation Veliki.
MI5 (The Box). Britischer Nachrichtendienst.
Mironow, Nikolai. Helfer von Mundus Novus. Ehemaliger Erster Stellvertretender Leiter des Nachrichtendienstes FSB der Russischen Föderation.
Mundus Novus. Eine Stiftung, die Forschungszentren betreibt.
Mutanga, Gédéon (Kommandant Gédéon). Anführer der kongolesischen Mai-Mai-Miliz.
Nyman, Claes (Klasu). Kriminaloberinspektor. Chef der Aufklärungsabteilung der KRP.
Oligarchen. Äußerst vermögende russische Geschäftsleute.
Poulsen, Helena. Vilmas Adoptivmutter.
Poulsen, Joakim. Vilmas Adoptivvater.
Puuska, Pekka S.Justizkanzler Finnlands.
Rinne, Eeva. Professorin am Institut für Physik der Universität Jyväskylä. Schwester von Leo Karas Vater.
Rinne, Markku. Landwirt. Ehemann von Eeva Rinne.
Rostow, Andrej (Aleksi Kara). Wissenschaftler, verantwortlich für die Forschungsprogramme von Mundus Novus. Leo Karas Vater.
Silowiki. Von Wladimir Putin geführte Gruppierung, die Russland beherrscht.
SIS. Britischer Auslandsnachrichtendienst.
Smirnow-Material. Finnland betreffende Geheimdokumente des Archivs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion aus den Jahren 1944–1991.
Soisalo, Kati. Assessorin, Rechtsanwältin.
Soisalo, Vilma. Kati Soisalos Tochter.
»Specht«. Wichtigste der als Agenten für den KGB tätigen hochrangigen, einflussreichen Persönlichkeiten Finnlands.
SRR. Aufklärungsregiment, das den Streitkräften Großbritanniens untersteht.
SUPO. Finnischer Nachrichtendienst.
Timtschenko, Arkadi. Großeigentümer des Ölhandelsunternehmens Gunvor Oil B.V.Begünstigter der Stiftung Mundus Novus.
Ukkola, Jukka. Stellvertretender Leiter der KRP. Kati Soisalos Exmann. Mitglied des »Kabinetts«.
UNODC. Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung.
Veliki. Albanische kriminelle Organisation.
Zakuani, Sylvain. Sprecher des kongolesischen Volkes der Hema.
»Die gesamte Kriegsführung beruht auf Betrug. Wenn wir bereit zum Angriff sind, müssen wir vorspiegeln, dazu nicht fähig zu sein; wenn wir unsere Kräfte einsetzen, müssen wir Untätigkeit vorspiegeln; stehen wir nahe am Feind, so muss er glauben, wir seien weit weg; wenn wir weit entfernt vom Feind stehen, muss er glauben, wir seien ganz nahe. Wir müssen den Feind mit Ködern herauslocken; wir müssen vortäuschen, dass wir uns in einem chaotischen Zustand befinden, und den Feind dann schlagen. Ist der Feind furchtlos und bereit, dann sei gerüstet. Wenn er überlegen ist, weiche ihm aus. Wenn der Feind jähzornig ist, dann versuche ihn zu reizen. Täusche eigene Schwäche vor, damit der Feind überheblich wird. Wenn er rastet, dann gönne ihm keine Ruhe. Wenn er seine Truppen vereint, dann spalte sie auf. Greife an, wenn der Feind es nicht erwartet, schlage dort zu, wo man nicht mit dir rechnet.«
»Chinas nationale Verteidigung im Jahre 2010«.
Informationsamt des Chinesischen Staatsrats.
Volksrepublik China. März2011, Peking.
Der Mann, der aussah wie Putin
Zürich, 8.Februar2000/Zürich, 6.Februar, Gegenwart
Maximilian Messmer betrachtete den Mann, der ihm das Leben zur Hölle machen würde. Das wusste Messmer allerdings noch nicht. Er saß in der Kabine eines Düsenflugzeugs in einem Ledersessel und spürte, wie ihn der Teufel ritt, während Gennadi Kowaltschuk, der Bankier des russischen Präsidenten, zu ihm sprach. Seine ganze Erfahrung aus dreißig Jahren als Eigentümer einer Bank sagte ihm, dass es am besten wäre, Kowaltschuk für das Angebot zu danken, es höflich abzulehnen und das Treffen zu verlassen, ohne noch auf irgendwelche Einwände einzugehen. Aber etwas ließ Maximilian Messmer zögern; ein dunkler Engel flüsterte ihm ins Ohr, er werde nie wieder die Chance bekommen, so ungeheuer viel Geld zu verdienen. Messmer überkam dasselbe Gefühl wie in seiner Kindheit, im Schweizer Horrorwinter 1950, als Lawinen Hunderte Menschen getötet hatten. Auch seinen Bruder. Dieses Treffen würde einen Wendepunkt in seinem Leben darstellen.
»Sie bieten an, mir die Verwaltung eines Vermögens zu übertragen, das sich auf Dutzende, ja Hunderte Milliarden Dollar beläuft. Wer wäre mein Auftraggeber?«, hörte sich Messmer fragen und ärgerte sich, dass er sein Russisch hatte einrosten lassen.
Das schmale, melancholisch wirkende Gesicht des vielleicht vierzigjährigen Gennadi Kowaltschuk wurde noch ernster. »Es geht um das Vermögen einer Stiftung.«
Der Kaschmirstoff seiner Hose raschelte, als Messmer die Beine übereinanderschlug. Jetzt durfte er nicht den Eindruck erwecken, allzu interessiert zu sein. Er schaute kurz zu dem anderen Russen, einem sympathisch und gepflegt aussehenden Geschäftsmann, der sich als Arkadi Timtschenko vorgestellt und dann kein Wort mehr gesagt hatte. Messmer brannte vor Neugier. Um zehn Uhr morgens war er in der VIP-Lounge des Züricher Flughafens eingetroffen und hatte verfolgt, wie nacheinander elf renommierte Schweizer Banker einzeln in ein Düsenflugzeug gerufen wurden, das am Rande des Rollfeldes stand. Dann war er dran. Registriert war die Maschine bei dem finnischen Unternehmen Airfix Aviation, das zu Timtschenkos Firmenkonglomerat gehörte– das hatte seine Sekretärin anhand des Kennzeichens der Maschine herausgefunden, während Messmer darauf wartete, dass er an die Reihe kam.
»Leider kann ich keinerlei Verpflichtungen eingehen, bevor ich nicht Einsicht in die Gründungsurkunde und das Statut der Stiftung genommen habe. Ich müsste die Herkunft und den Verwendungszweck der Mittel dieser Stiftung kennen«, sagte Messmer.
Kowaltschuk strich sich über das schwarze Haar, dessen Ansatz in der Mitte bis auf die Stirn reichte wie ein kleiner Keil. Dann erhob sich der russische Banker, murmelte eine Entschuldigung, ging ein paar Meter zu einer schmalen Tür und klopfte an.
Als sich die Tür öffnete, sah Maximilian Messmer in dem schwach erleuchteten Raum die Silhouette eines Mannes. Das kurze Kinn, der lange Nasenrücken, die runde Stirn und der kleine Kopf– das war mit beinahe absoluter Sicherheit Wladimir Putin selbst. Der Mann, der es im letzten halben Jahr geschafft hatte, vom Leiter des russischen Geheimdienstes FSB erst zum Ministerpräsidenten und dann zum amtierenden russischen Präsidenten aufzusteigen und daneben noch dem Terrorismus den Krieg zu erklären und Tschetschenien anzugreifen. Wessen Finanzangelegenheiten wollten die Russen hier in Zürich regeln? Hatte man ihn absichtlich einen flüchtigen Blick auf den russischen Präsidenten werfen lassen?
Plötzlich ging die Tür wieder auf. Kowaltschuk nahm Messmer gegenüber Platz und wirkte nun noch betrübter– sofern das überhaupt möglich war. »Namen kann ich Ihnen erst offenbaren, wenn Sie den Auftrag übernommen und die Verpflichtung zur Geheimhaltung unterschrieben haben. Meine Kunden müssen in diesem Falle außergewöhnlich vorsichtig sein. Wie ich bereits sagte, geht es um eine gewaltige Vermögensmasse, und deren… Verwendungszweck ist von historischer Bedeutung. Ich kann jedoch versichern, dass diejenigen, die hinter der Stiftung stehen, äußerst angesehen und verlässlich sind. Und sollten Sie in den Dokumenten juristische Unklarheiten finden, können Sie Ihre Zusage selbstverständlich zurückziehen.«
Messmer wurde seine Zweifel nicht los. Das Honorar für diesen Auftrag war so verlockend, dass er davon feuchte Hände bekam, doch konnte er es sich nicht leisten, in einen Skandal verwickelt zu werden. Er und die Privatbank Messmer& Cie. – das waren ein und dasselbe. Das Familienunternehmen verwaltete seit einhundertachtundfünfzig Jahren erfolgreich die Reichtümer äußerst vermögender Kunden. Der makellose Ruf war die wichtigste Stärke einer Schweizer Bank. Bat man ihn jetzt tatsächlich, Gelder zu waschen und zu verstecken, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterschlagen worden waren? In Zürich wusste jeder Bankier von den gegen Boris Jelzin erhobenen Korruptionsvorwürfen; gerade hier in der Schweiz. Sie waren im Vorjahr im Zuge der Ermittlungen im Fall Mabetex aufgekommen, und inzwischen gingen die Behörden davon aus, dass von den Russland gewährten Krediten des Internationalen Währungsfonds Millionen Dollar in Jelzins Taschen gewandert waren. Man verdächtigte Jelzin auch, Gelder der russischen Zentralbank unterschlagen und mit der russischen Mafia zusammengearbeitet zu haben. In den Medien wurden Vermutungen angestellt, dass den Vertrauten Jelzins und den Oligarchen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bis zu einhundertfünfzig Milliarden Dollar in die Hände gefallen waren. Handelte es sich bei den Mitteln, die er nun verwalten sollte, etwa um diese Gelder?
Jelzin und Putin– auf einmal sah Messmer die Dinge in einem anderen Licht. Vor einem reichlichen Monat, an seinem ersten Tag als Präsident, hatte Putin seinem Vorgänger Jelzin volle Immunität zugebilligt, und damit zugleich auch sich selbst und allen künftigen Präsidenten der Russischen Föderation. Hatte Putin, um an die Macht zu gelangen, versprochen, dafür zu sorgen, dass der Expräsident als Rentner in Saus und Braus leben konnte?
»Ihr Honorar beträgt drei Prozent vom Kapital der Stiftung. Pro Jahr«, sagte Kowaltschuk.
Ein unerhört großzügiges Honorar, dachte Messmer, für die Bank und für ihn selbst würde das jährliche Einnahmen in zweistelliger Millionenhöhe bedeuten. Es fiel ihm schwer, seine Miene unbewegt zu halten. Er konnte sich nicht erinnern, wann sein Herz das letzte Mal bei der Gewinnung eines neuen Kunden vor Aufregung gehämmert hatte. »Und ich kann vom Vertrag zurücktreten, sofern… irgendetwas nicht in Ordnung ist?«, fragte er.
Kowaltschuk nickte wie ein Mann, der es gewöhnt war, zu bekommen, was er wollte, und sich wenig um die Meinungen anderer scherte.
Messmer tat so, als würde er noch über das Angebot nachdenken, obwohl er fürchtete, dass ihm jeden Moment vor Eifer der Sabber aus dem Mund laufen könnte. »Darf ich fragen, wie Sie zu dem Entschluss kamen, diesen Auftrag gerade der Bank Messmer& Cie. und somit mir anzubieten?«
Kowaltschuk zuckte die Achseln. »Ihr Ruf ist makellos, und Sie betreuen nach unseren Informationen das Vermögen vieler bedeutender Privatpersonen und Stiftungen. Ihre Großmutter war eine russische Emigrantin, Sie sprechen fließend Russisch und sind schon seit Jahrzehnten Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Russland.« Kowaltschuk stand auf und gab zu verstehen, dass ihr Treffen nun zu Ende ging. »Das ist eine außergewöhnliche Chance für Sie und Ihre Bank, aber ich werde nicht versuchen, Sie zu überreden.«
»Ich übernehme den Auftrag gern«, sagte Messmer, erhob sich und streckte die Hand aus. Als er Kowaltschuks Gesichtsausdruck sah, wurde ihm auf der Stelle klar, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. So schaute man einen Menschen an, den man nicht mehr für sich zu gewinnen brauchte, eine Beute, die den Köder mitsamt dem Haken geschluckt hatte.
Maximilian Messmer hatte das ungute Gefühl, als würde er nicht einmal ansatzweise begreifen, worauf er sich gerade eingelassen hatte.
***
Die Pressenotiz in der Neuen Zürcher Zeitung war nur ein paar Zeilen lang, ohne Bild und auf der Seite ganz unten in der Ecke versteckt, aber als Maximilian Messmer sie gelesen hatte, wagte er kaum noch, von seinem Schreibtisch aufzustehen, der sich in der obersten Etage der Privatbank Messmer& Cie. in der Züricher Bahnhofstraße befand. Der Anwalt Roman Stutz war in seinem Haus im Zuger Stadtteil Letz tot aufgefunden worden. Dr. Stutz hatte wahrscheinlich Einbrecher auf frischer Tat ertappt, als er spät abends von einer Geschäftsreise nach Hause gekommen war. In der Mitteilung der Zuger Polizei hieß es, Dr. Stutz habe versucht zu fliehen und sei durch Schüsse der Einbrecher getötet worden. Aus dem Haus sei nur eine äußerst wertvolle mittelalterliche Lithographiesammlung gestohlen worden, somit schließe die Polizei die Möglichkeit eines Auftragsdiebstahls nicht aus. Um Dr. Stutz trauerten seine Ehefrau sowie zwei erwachsene Kinder.
Messmer schloss die Augen. Er wusste, dass Roman Stutz liquidiert worden war. Auch zwei andere mit Angelegenheiten der Stiftung Mundus Novus befasste Schweizer, die er kannte, hatten in den letzten Monaten einen gewaltsamen Tod gefunden. Schon allein der Gedanke daran, wie viele ihrer Helfer die Stiftung Mundus Novus im Ausland bereits zum Schweigen gebracht hatte, machte ihm Angst. Es hatte angefangen.
Er faltete die Zeitung zusammen, schaute zu Natalja hinüber, die an ihrem Schreibtisch arbeitete, und lächelte sie an wie ein junger Hund, der sich bei seinem Herrchen einschmeicheln will. Und das traf es auch genau, er war nichts anderes mehr als ein Schoßhündchen der Russen. Seit jenem Moment, als er seine Seele an das Geld von Gennadi Kowaltschuk, Arkadi Timtschenko und dem Mann, der wie Wladimir Putin aussah, verkauft hatte, waren Jahre vergangen. Kowaltschuk war jetzt Vorstandsvorsitzender der Russia-Bank und besetzte seit Jahren einen Stammplatz auf der Forbes-Liste der Milliardäre, genau wie Timtschenko, der Großeigentümer des drittgrößten Ölhandelskonzerns der Welt Gunvor Oil B.V.Es war Messmer nie gelungen, die Beteiligung Wladimir Putins an Mundus Novus zu beweisen; offiziell galt als dritter Begünstigter der Stiftung das Unternehmen Gunvor.
Je größer im Laufe der Zeit die Summen wurden, deren Verwaltung man ihm anvertraute, umso fester nahmen die Russen ihn und die Bank an die Kandare. Als der Saldo vor einigen Jahren schließlich die Grenze von einhundert Milliarden Dollar überschritt, war er schon zum bloßen Werkzeug degradiert worden. Vor einem Jahr hatte man eine Assistentin für ihn eingestellt. Natalja Tichomirowa war um die dreißig und durchaus kompetent –sie besaß einen Abschluss der Columbia-Universität in New York und der französischen Business School Insead–, aber hier in der Bank bestand ihre Aufgabe ausschließlich darin, ihn im Auge zu behalten. Die Russen überwachten zudem seine Telefone und Internetzugänge sowohl im Büro als auch zu Hause. Er war zu einer Marionette geworden, an deren Fäden die Russen nach Belieben zogen.
Maximilian Messmer lehnte sich im Sessel zurück und spürte sein Gesicht vor Scham glühen. In diesem Zimmer hatten in den letzten über einhundertsiebzig Jahren neun Messmers mit dem Titel eines Generaldirektors gesessen. Er betrachtete die Deckenornamente des vier Meter hohen Raumes, die Wandpaneele aus Edelholz und die orientalischen Teppiche. Selbst die Gemälde schienen ihn anzuklagen: Arnold Böcklins symbolistisches Bild, das Pastellgemälde Jean-Étienne Liotards und Samuel Hieronymus Grimms mit Wasserfarben ausgeführte Arbeit hingen seit seiner Kindheit und noch viel länger an diesen Wänden. Ein Glück, dass sein Vater nicht mit ansehen musste, in welchen entwürdigenden Zustand er Messmer& Cie. gebracht hatte. Er würde der letzte Messmer sein, der hier Herr im Hause gewesen war; die lange und erfolgreiche Geschichte der Bank fand mit ihm ein Ende. Mit ihm und wegen ihm.
Das Klingeln des Telefons unterbrach Messmers düstere Gedankengänge. Er lächelte Natalja abermals zu, nahm den Hörer ab und fühlte sich sofort unter Druck gesetzt, als er Gennadi Kowaltschuks Stimme hörte. Sie tauschten die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus, aber der Tonfall des Russen wirkte ungewöhnlich angespannt.
Kowaltschuk legte eine kleine Pause ein, bevor er sein Anliegen aussprach. »Nun ist alles bereit. Die Zeit ist gekommen, Mundus Novus herunterzufahren. Ich will, dass du die Übertragung der Stiftungsgelder an die Begünstigten vorbereitest, in der Reihenfolge, wie die Gründungsurkunde und das Statut sie vorschreiben.«
Messmers Herz ließ einen Schlag aus und hämmerte dann so heftig, dass er spürte, wie sich sein Hemd auf der Brust hob und senkte. Er holte tief Luft und versuchte ruhig zu bleiben. »Ich mache die Unterlagen noch heute fertig.«
»Ausgezeichnet. Ich komme morgen nach Zürich. Wir unterzeichnen alles und genießen dann ein langes, feuchtes Arbeitsessen. Es kann gut sein, dass du von uns als Überraschung ein kleines Extrahonorar erhältst.«
»Bis morgen also«, sagte Messmer und legte auf. Die Angst hatte ihn gepackt. Er war sich bewusst, was für eine Überraschung die Russen meinten. Die letzte in seinem Leben. Die Stiftung Mundus Novus hatte mit der Umsetzung ihres Planes begonnen, deshalb wurden die Menschen liquidiert, die über ihre Aktivitäten Bescheid wussten. Nun würde man die Mittel der Stiftung an die Begünstigten verteilen, und er, Maximilian Messmer, war der einzige Außenstehende, der wusste, in wessen Taschen die Milliarden landeten. Es schien sicher zu sein, dass man auch ihn zum Schweigen bringen würde. Doch er war vorbereitet. Auf diesen Augenblick wartete er seit jenem verfluchten Tag, als die Russen ihn in die Zange genommen hatten.
»Gab es etwas Wichtiges?«, fragte Natalja und verriet mit ihrem gezwungenen Lächeln, dass sie wusste, was im Gange war.
»Das Mittagessen dürfte heute ausfallen«, antwortete Messmer mit ausdrucksloser Stimme und machte sich an die Arbeit. Im Laufe der nächsten sieben Stunden stellte er als Verwalter der Stiftung Mundus Novus drei Überlassungsurkunden für Inhaberschuldverschreibungen über eine Gesamtsumme von achthundertneunzig Milliarden Euro aus und unterzeichnete sie, zudem zwangen ihn seine Prostataprobleme, in der Zeit viermal auf die Toilette zu gehen. Es war 17.06Uhr, als er die Dokumente auf seinem Schreibtisch zusammenschob, hörbar seufzte und einen Blick auf die Armbanduhr warf.
»Du musst ja nicht jeden Tag so schuften«, sagte der Wachhund Natalja. »Und nun geht’s ins Baur au Lac, oder?«
»Wie jeden Abend. Aber heute dürfte ich mir ein gutes Essen sogar verdient haben«, erwiderte Messmer. Er suchte noch einmal die Toilette auf, legte sich dann seinen Kaschmirschal um, zog den handgefertigten Kamelhaarmantel an und ließ Natalja im Büro zurück. Garantiert würde sie die von ihm fertiggestellten Dokumente durchgehen, und das mit einem noch feineren Kamm als sonst.
Messmer trat auf die Bahnhofstraße, sog die frostig frische Winterluft ein und schlug den Mantelkragen hoch. Eine blaue Straßenbahn raste vorbei und wehte ihm einen kalten Lufthauch und Pulverschnee ins Gesicht. Die Frage, ob er das, was ihn erwartete, überstehen würde, machte ihm Angst. Er war kein Held, und auch sein körperlicher Zustand ließ zu wünschen übrig; Messmer hatte fast siebzig Jahre auf dem Buckel. Früher war er Rad gefahren, hatte Abfahrtslauf betrieben und Tennis gespielt, aber heute interessierte ihn neben der Völlerei und der Duckmäuserei vor den Russen nur noch sein Segelboot auf dem Zürichsee, die gute alte Lieselotte. Er war wie mit einem Strick am Pflock der Russen festgebunden, das hatte seine Lebenslust abgetötet. Es bereitete ihm nicht einmal mehr Freude, Geld anzuhäufen, dafür hatten die widerwärtigen Geschäfte von Mundus Novus allemal gesorgt.
Er ging ein paar hundert Meter bis zur Ecke Börsenstraße, bog rechts ab und dann links in die Talstraße. Das majestätische Hotel Baur au Lac, der inoffizielle Club der Züricher Bankiers, war so ziemlich das Einzige in seiner Heimatstadt, was er vermissen würde. Das Luxushotel war annähernd so alt wie die Bank Messmer& Cie. und hatte mindestens ebensoviele Kunden von Rang und Namen gehabt: Hier hatte die österreichische Kaiserin Elisabeth mit ihrem Gefolge den Sommer verbracht, der Komponist Richard Wagner gab hier die erste inoffizielle Vorstellung seiner Oper Walküre und sang dabei selbst, traf allerdings kaum einen Ton, begleitet wurde er von seinem Schwiegervater Franz Liszt am Klavier. Und hier im Hotel Baur au Lac regte seinerzeit die Baronin Bertha von Suttner den Dynamitmogul Alfred Nobel dazu an, einen internationalen Friedenspreis zu stiften.
Messmer betrat die mit dunklen Paneelen verkleidete Foyerbar Le Hall und schaute sich um. Es duftete nach Orchideen. Er fühlte sich so, als ginge er zu einer Operation ins Krankenhaus. Andreas war noch nicht da. Nachdem Messmer ganz gegen seine Gewohnheit einen Absinth als Aperitif bestellt hatte (er trank sonst fast ausnahmslos trockenen Weißwein, genauer gesagt, einen Fendant aus dem Kanton Wallis), setzte er sich in einen Ledersessel der schallisolierten, ruhigen Bar. An anderen Tagen betrachtete er hier gern das Panorama des Zürichsees und die schneebedeckten Alpengipfel am Horizont und kam so zur Ruhe, doch heute interessierte ihn die Landschaft nicht im Geringsten. Er ging im Kopf alles durch, was an diesem und am nächsten Tag geschehen sollte. Sein Leben würde sich vollständig ändern. Natürlich hatte er Angst, aber es war anders als früher. Jetzt mischte sich in die Angst Hoffnung.
Es war der schlimmste Fehler seines Lebens gewesen, als er am 8.Februar2000 zugestimmt hatte, Verwalter der Stiftung Mundus Novus zu werden. Die Schuld daran konnte er einzig und allein seiner eigenen Habgier zuschreiben. Nun kannte er die Wahrheit über Putins Milliardenvermögen: Wie der russische Präsident den widerspenstigen Michail Chodorkowski vernichtet hatte, indem er dafür sorgte, dass der Mann eine endlos lange Haftstrafe erhielt und das Eigentum seines Unternehmens Jukos-Oil in den Besitz von Rosneft gelangte. Messmer wusste, dass der Rosneft-Konzern danach Geschäfte im Wert von Milliarden Dollar mit dem Öl-Unternehmen Gunvor gemacht hatte, das Putins Vertrauter Arkadi Timtschenko leitete. Und leider wusste er ebenso, dass Putin höchstpersönlich die Hälfte der Gunvor-Aktien besaß. Sehr genau kannte Messmer auch Putins Besitzanteile an der Ölfirma Sturgutneftegas sowie am Energieriesen Gazprom, dem größten Unternehmen Russlands und weltgrößten Gasförderer und -exporteur. Und weil er all dies wusste, so viel stand für ihn fest, würde man auch ihn umbringen– da war es völlig egal, dass er keinerlei Beweise besaß.
Messmers Überlegungen endeten, als Andreas Fankhauser die Bar betrat. Der braungebrannte Mann wischte sich etwas von der Schulter seines Sakkos und beugte den Kopf ein paarmal nach links und rechts. Plötzlich wurde Messmer klar, dass dies der Montag einer ungeraden Woche war, an dem auch er sich seit zwanzig Jahren auf dem uralten Stuhl des legendären Hotelfrisörs Oscar die Haare schneiden ließ, wenn er in Zürich war.
Die Freunde begrüßten sich mit Handschlag. Sie aßen fast jeden Werktag gemeinsam hier zu Abend. Zwei wohlhabende Junggesellen, die weder kochen konnten noch Lust dazu verspürten.
»Heute ist der Tag«, flüsterte Messmer und sah, wie die auf einem Liegestuhl des Wakaya Clubs in Fidschi gewonnene Farbe aus Andreas’ Gesicht wich. Sie wussten beide, was in Kürze geschehen würde, sie hatten es über mehrere Jahre geplant. Alles war bereit.
»Der Pavillon öffnet erst um sieben«, sagte Messmer. »Dann essen wir heute im Rive Gauche, ich will keinen Augenblick länger warten als unbedingt nötig.« Er hoffte, dass er nicht genauso verkrampft aussah wie Andreas. Sie würden den Plan hier ausführen, weil im Büro Natalja alles kontrollierte und die Russen sein Zuhause elektronisch überwachten. Die Abende im Baur au Lac waren das einzige verbliebene Stück Privatleben, das ihm gestattet wurde; die Russen wussten natürlich, dass man nirgendwo so nützliche Gerüchte aus der Bankenwelt und der Wirtschaft zu hören bekam wie hier. Im Baur au Lac achteten Gennadi Kowaltschuks Helfer nur darauf, dass er die Hotelcomputer nicht benutzte.
Die beiden Freunde verließen die Bar, nahmen auf den eleganten weißen Stühlen des bei jüngeren Leuten beliebten Restaurants Platz und studierten die Speisekarte. Messmer bestellte sofort, auch das widersprach seinen sonstigen Gewohnheiten. Als Vorspeise nahm er grünen Spargel in Chartreuse-Liqueur, Wachteleier, gegrillte Gänsebrust und Frühlingssalat und als Hauptgericht gratiniertes Entrecôte. Andreas, der nun noch angespannter aussah als zuvor, bestellte kurzerhand dasselbe. Als Aperitif Tanqueray-Martini und zum Essen Wasser sowie einen leichten Bordeaux Château Villars.
Nachdem sich der Kellner entfernt hatte, schob Messmer die rechte Hand in eine Tasche seines Sakkos und ergriff mit Daumen und Zeigefinger zwei Thyroxin-Tabletten. »Es ist doch alles vorbereitet?«, fragte er, obwohl er die Antwort kannte. Andreas nickte fast unmerklich. Messmer wartete, bis der Kellner den Aperitif brachte und wieder verschwand, dann beförderte er die Tabletten mit einer raschen Handbewegung in den Mund und trank den Martini in einem Zug aus. Er bemerkte, wie ein junger Mann mit spitzer Nase vom Bartresen kurz zu ihm herüberschaute, schon das dritte Mal innerhalb weniger Minuten, offensichtlich arbeitete er für die Russen.
Die Wirkung des Thyroxin setzte ein, als die Vorspeise serviert wurde. Messmer wischte sich den Schweiß von der Stirn und spürte ein Zittern, das Herz wollte ihm fast aus der Brust springen. In seiner Not schaute er zu Andreas, dann ächzte er laut, presste beide Hände auf die Brust, fiel vom Stuhl und schlug mit dem Kopf auf dem Parkett auf.
Andreas Fankhauser stürzte zu seinem Freund hin, holte das Telefon aus der Tasche und wählte den Notruf. Er änderte Messmers Haltung, lockerte dessen Krawatte und öffnete die geschlossenen Lider einen Spalt weit, bevor er anfing ihn wiederzubeleben.
Der Rettungswagen traf drei Minuten später im Baur au Lac ein. Fankhauser erläuterte dem Notarzt die Lage und gab genaue Anweisungen: Maximilian Messmer sollte in sein Krankenhaus, die »Klinik im Park«, gebracht werden. Er folgte den Männern mit der Trage und verließ das Hotel, ohne den spitznasigen jungen Mann zu beachten, der am Bartresen aufgestanden war und mit besorgter Miene in sein Handy sprach.
Für die zwei Kilometer vom Hotel zum Privatkrankenhaus »Klinik im Park« in der Seestraße brauchte der Krankenwagen nur wenige Minuten. Andreas Fankhausers Bentley in seinem Schlepptau war genauso schnell da. Messmer wurde hineingetragen, aber nicht in die Notaufnahme, sondern in eines der Patientenzimmer. Frankhauser bewegte sich ganz selbstverständlich in den Räumen des ehemaligen Hotels Villa Moskwa, schließlich gehörten ihm einundfünfzig Prozent der Aktien des Krankenhauses.
Fankhauser wartete, bis die Krankenschwester das Patientenzimmer verlassen hatte, und gab dem Notarzt die Hand. »Wie vereinbart: Das alles ist nie passiert«, sagte er zu dem Mann, den er vor etwa zehn Jahren selbst in der Klinik eingestellt hatte, und schloss die Tür hinter dem Arzt. Dann öffnete er die Riemen der Trage.
Maximilian Messmer richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Ich war mir absolut sicher, dass jemand bemerkt, wie sich meine Brust hebt und senkt, als ich auf dem Boden lag. Warum hast du mir kein Beruhigungsmittel gegeben?«
»Der Herzanfall sollte glaubwürdig aussehen, deshalb das Thyroxin.«
Messmer erhob sich von der Trage, ging zum Kleiderschrank und holte seinen Koffer heraus.
»Hoffen wir, dass dies kein endgültiger Abschied ist«, sagte Andreas Fankhauser und ergriff die Rechte seines Freundes ausnahmsweise mit beiden Händen. Es sah so aus, als würde er mit Mühe die Tränen unterdrücken.
»Ich melde mich, sobald es möglich… ungefährlich ist. Hoffen wir, dass der Tag kommt«, erwiderte Messmer und spürte, dass er mit seiner Angst nicht allein war.
Andreas Fankhauser reichte seinem Freund ein Impfzeugnis. »Das wirst du bei der Einreise brauchen.«
Beute, die angreift
8.Februar– 11.Februar, Gegenwart
»Wer den Weltraum kontrolliert, der kontrolliert die Welt, und das so sicher und so vollständig, wie es mit Waffen oder Besatzungstruppen bisher nicht erreicht wurde oder erreicht werden kann. Wer den Weltraum in seine Gewalt bringt, bekommt die Erde unter Kontrolle, unter seine absolute Kontrolle, und kann seine Macht entweder im Dienste der Tyrannei oder der Freiheit einsetzen.«
Lyndon B.Johnson, Mehrheitsführer im US-Senat,
7.Januar1958
Mittwoch, 8.Februar
Leo Karas Hand zitterte genau wie das Stück Kalbsfilet vom wilden Rentier, das er auf seine Gabel gespießt hatte. Er saß allein an einem Ecktisch im großen Saal des Hansy, der Gaststätte seiner Freundin Nadine am Praterstern in Wien, und kaute lustlos sein Mittag.
Vier Monate waren vergangen, seit Kara die Wahrheit über seinen Vater erfahren hatte. Der Mann, den er Zeit seines Lebens für Aleksi Kara, einen Wissenschaftler und Forscher, gehalten hatte, hatte ein zweites Leben unter dem Namen Andrej Rostow geführt. Der Totgeglaubte hatte im Geheimen jahrzehntelang für die Stiftung Mundus Novus gearbeitet, eine Organisation, die in verschiedenen Teilen der Welt geheime Forschungsinstitute unterhielt. Dort wurden Waffen entwickelt, die imstande waren, das globale militärische Gleichgewicht zu erschüttern– Raketen mit einer beispiellosen Durchschlagskraft, Energiewaffen und alle möglichen anderen. Mundus Novus hatte Massenvernichtungswaffen hergestellt und verkauft, Menschenversuche durchgeführt, unzählige Morde beauftragt und Menschenhandel betrieben… Sein Vater leitete die Forschungsarbeit der Stiftung und war deshalb für den Tod so vieler Menschen verantwortlich, dass Kara gar nicht daran denken mochte. Ein wenig Erleichterung verschaffte ihm nur die Erkenntnis, dass sein Vater bloß eingewilligt hatte, für Mundus zu arbeiten, um seine Kinder –ihn und seine Schwester Emma– zu schützen.
Kara starrte auf seine zitternde Hand, er fühlte sich noch rastloser als sonst. Dies war sein sechster Tag ohne Medikamente. Als Folge eines Kopfschusses im Oktober1989 war er an einem Frontalhirnsyndrom erkrankt, das zu aggressivem und unberechenbarem Verhalten führte, zudem litt er unter Gedächtnisstörungen. Seitdem nahm er Beruhigungsmittel gegen die Alpträume und die Angst, ein Epilepsiemedikament zur Behandlung der Persönlichkeitsveränderung und Exelon, das die Gedächtnisstörungen beheben sollte. Im vergangenen Oktober hatten die Medikamente schließlich sein Gedächtnis wiederhergestellt, über Träume kehrten damals alle seine Erinnerungen zurück. Er befand sich auf dem Wege der Besserung, war im Begriff, sich selbst zu finden, und nicht mehr allein seiner Impulsivität ausgeliefert. Allerdings spritzte er sich nun auch kein Morphium mehr, und das hatte schlimme Entzugserscheinungen zur Folge. In den letzten Monaten hatte er gegen das Chaos in seinem Kopf etwas zu häufig Erleichterung beim »Vitamin M« gesucht.
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