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Hermia, die schöne Pfarrerstochter, hilft einem Fremden mit seinem Pferd - und wird mit einem Kuß belohnt. Kurz darauf will Hermias verwöhnte Cousine Marilyn unbedingt den vermögenden Marquis von Derville zu heiraten, der auf dem Gut ihres Vaters zu Besuch weilt. Hermia trifft ihn im Hexenwald und erkennt ihren unbekannten Reiter. Als der Marquis kurz darauf überfallen wird und auf mysteriöse Weise verschwindet, kann nur eine ihn retten - Hermia.
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Seitenzahl: 225
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Hermia summte leise eine Melodie vor sich hin und erzählte sich dabei gleichzeitig eine Geschichte, während sie mit dem Korb voller Eier am Arm von der Farm heimging.
Da sie so viel allein war, schmückte sie ihre täglichen Aufgaben aus, indem sie so tat, als wäre sie die Frau eines östlichen Potentaten, oder die Tochter eines Forschers, der Schätze suchte, die von den Azteken versteckt worden waren, oder eines Perlenfischers.
Gerade, als sie das Ende der schmalen Straße erreicht hatte, die zur Honeysuckle Farm führte, und auf die Straße ins Dorf einbiegen wollte, hörte sie eine Männerstimme:
„Verdammt!“
Hermia fuhr zusammen, denn sie hatte nur selten einen Mann fluchen gehört.
Neugierig eilte sie die letzten paar Schritte weiter, und ihr erster Blick fiel auf ein außerordentlich schönes Pferd.
Ihr gefiel sein Anblick, und dann sah sie, daß der Reiter sich bückte und die rechte Hinterhand des Tieres anhob.
Hermia schloß daraus, daß das Tier ein Eisen verloren hatte.
So etwas geschah hier in der Gegend häufig, denn die Straßen waren holprig, und Hermia vermutete, daß der örtliche Hufschmied nicht so geschickt war wie sein Vorgänger.
Sie kannte allerdings weder das Pferd noch seinen Besitzer, wenngleich er ihr im Augenblick auch den Rücken zuwandte.
Trotzdem trat sie vor und fragte mit ihrer sanften Stimme:
„Kann ich Ihnen helfen?“
Der Herr, der sich über den Pferdhuf beugte, wandte nicht einmal den Kopf.
„Nur, wenn Sie etwas haben, womit man ein Eisen vom Huf lösen kann!“ erwiderte er.
Er war wütend, das war offensichtlich, aber er sprach so schleppend, wie es bei den Gecken in London Mode war, was Hermias Bruder ihr erzählt hatte. Auch die aristokratischen Besucher ihres Onkels, des Earl of Millbrooke, drückten sich so aus.
Sie vermutete, daß der Herr, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte, derzeit Gast ihres Onkels in Hall war.
Sie trat näher und erkannte, weshalb der Mann wütend war. Das Eisen hatte sich zwar vorn Huf gelöst, hing aber immer noch mit einem Nagel daran fest, den er nicht entfernen konnte.
Ohne ein weiteres Wort stellte sie ihren Korb ab und sah sich auf der holperigen Straße um. Eine Sekunde später entdeckte sie, was sie suchte.
Sie hob einen großen, flachen Stein auf und trat damit neben den Unbekannten, der sich noch immer bemühte, das Eisen zu lösen.
„Lassen Sie es mich versuchen“, bat sie ihn.
Er blickte nicht zu ihr auf, sondern hielt weiterhin den Huf des Pferdes fest, während sie sich bückte, den flachen Stein unter das Hufeisen schob und es vom Huf loshebelte.
Dazu gehörte eine gewisse Kraft, aber mit einer geschickten Bewegung ihres Handgelenks löste sich das Eisen vom Huf und fiel zusammen mit dem Nagel klappernd auf die Straße.
Der Unbekannte ließ den Huf los und richtete sich auf.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wenn Sie mir jetzt bitte freundlicherweise noch sagen würden, wo ich einen Hufschmied finde.“
Dabei blickte er seine Helferin zum erstenmal an.
Ohne es zu merken, war Hermia, als sie sich bückte, um den Stein unter das Hufeisen zu schieben, der Sonnenhut vom Kopf gerutscht. Jetzt hing er an den Bändern, die unter ihrem Kinn verknotet waren, auf ihrem Rücken.
Dadurch konnte man jetzt ihr Haar sehen, das sich - ganz und gar nicht der Mode entsprechend - auf natürliche und sehr attraktive Weise ringelte und vom Sonnenschein in flüssiges Gold verwandelt wurde.
Es war das lebhafte Gold von Narzissen im Frühjahr, vom Jasmin, wenn er nach der Kälte des Winters aufbricht, und vom Korn, wenn es auf den Feldern gerade reif wird.
Jeder, der Hermia sah, starrte ihr Haar an, als könnte er nicht glauben, daß es echt war, sondern die außergewöhnliche Farbe dem Farbtopf verdankte.
Es unterstrich den rosig-weißen Teint ihrer Haut und das Blau ihrer Augen, die sonderbarerweise blau wie eine alpine Bergblume und nicht wie der englische Sommerhimmel waren.
Trotz des zynischen Ausdrucks in seinem Gesicht war der Unbekannte doch erstaunt.
Wenn er allerdings überrascht war, so war Hermia es gewiß nicht.
Nie zuvor hatte sie einen Mann gesehen, der so sardonisch aussah.
Sein Haar war dunkel, seine Züge scharf geschnitten, seine Augenbrauen schienen über der Nase fast zusammenzustoßen, und trotzdem lag in seinen Augen ein gelangweüter, fast verächtlicher Ausdruck, als würde er alles und jeden verabscheuen.
Sie standen da und sahen sich an, bis der Reiter trocken bemerkte:
„Sie lassen mich tatsächlich glauben, daß die Geschichten von den hübschen Milchmädchen doch nicht übertrieben sind!“
Seine Lippen zuckten leicht, doch man konnte es kaum als Lächeln bezeichnen.
„Und es ist natürlich noch ein zusätzlicher Bonus, daß Sie darüber hinaus auch noch intelligent zu sein scheinen!“
Während er sprach, zog er etwas aus seiner Westentasche und drückte es Hermia in die Hand:
„Nehmen Sie das für Ihre Aussteuer, wenn Sie einen kräftigen jungen Bauern gefunden haben, der Sie glücklich macht.“
Bevor Hermia nachsehen konnte, was er ihr gegeben hatte, trat er einen Schritt nach vorne, legte seine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu sich empor.
Ehe sie begriff, was geschah, und ehe sie überhaupt Zeit zum Denken hatte, senkte er den Kopf und preßte seine Lippen auf ihre.
Sie hatte das Gefühl, seine Gefangene zu sein, und es war ihr unmöglich, sich zu rühren oder auch nur zu atmen. Doch bevor sie sich wehren und ihm sagen konnte, daß er sie beleidigt hatte, ließ er sie los und bestieg mit der geschmeidigen Grazie eines sportlich trainierten Mannes sein Pferd.
Während sie ihn noch immer verblüfft anstarrte, sagte er:
„Er wird ein sehr glücklicher Mann sein. Sagen Sie ihm, das hätte ich gesagt.“
Dann ritt er davon. Hermia sah, wie der Staub der Straße hinter den Pferdehufen aufwirbelte und glaubte zu träumen.
Erst, als der Fremde außer Sichtweite war, fragte sie sich, wie sie so dumm gewesen sein konnte, ihn mit offenem Mund anzustarren, als hätte sie nicht alle fünf Sinne beisammen.
Es war das erstemal, daß sie von einem Mann geküßt worden war.
Dann starrte sie auf ihre Hand hinab. Er hatte ihr eine goldene Guinee gegeben. Sie konnte kaum glauben, daß die Münze echt war.
Hermia war daran gewöhnt, allein umherzulaufen, und alle Dorfbewohner kannten sie.
Es war ihr nie in den Sinn gekommen, daß ein Fremder das merkwürdig finden oder sie aufgrund ihrer Kleidung für ein Milchmädchen halten könnte.
Ihr abgetragenes Baumwollkleid war ein wenig zu eng geworden vom vielen Waschen, ihr Sonnenhut verblichen, denn sie trug ihn seit ihrer Kindheit.
Trotzdem sah sie nicht im entferntesten so aus wie Molly, die Tochter des Farmers, die ihrem Vater half, seine Kühe zu melken.
Auch ähnelte sie in keiner Weise den Frauen, die schon jahrelang auf der Honeysuckle-Farm arbeiteten.
„Ein Milchmädchen“, flüsterte sie vor sich hin und dachte daran, wie wütend ihr Vater sein würde, wenn er von dem Zwischenfall erfahren würde.
Aber dann kam ihr der Gedanke, daß es ihre eigene Schuld war.
Sie war dem Fremden zu Hilfe gekommen, ohne zu erklären, wer sie war.
Obwohl er aus den wenigen Worten, die sie gewechselt hatten, hätte schließen können, daß sie gebildet war, konnte sie ihm doch keinen Vorwurf daraus machen, daß er glaubte, sie sei eine Dorfbewohnerin.
Dennoch fand sie, daß es sogar für ein Milchmädchen eine Beleidigung war, von einem wildfremden Mann zum Dank für ihre Hilfe geküßt zu werden.
Weil sie nicht nur zornig, sondern eigentlich beschämt war, forderte Hermias Instinkt, die Guinee fortzuwerfen, die der Unbekannte ihr gegeben hatte. Sie hoffte, daß niemand jemals erfahren würde, was vorgefallen war.
Dann sagte sie sich jedoch, daß dies Geldverschwendung sei, denn für eine Guinee könnte ihr Vater einiges für die armen und kranken Menschen im Dorf kaufen.
Seit dem Krieg war das Leben hart, und es war schwer für die jüngeren Männer, Arbeit zu finden.
Diejenigen, die nicht das Glück hatten, in der Hall oder auf dem Besitz des Earls eine Arbeit zu finden, mußten sich damit durchbringen, daß sie ihr Gemüse selbst anbauten und sich ein paar Hühner hielten.
Wieder schaute Hermia auf die Guinee. Wenn sie sie in die Sammelbüchse in der Kirche steckte, die normalerweise nichts enthielt, würde ihr Vater entzückt sein!
Er würde den unbekannten Wohltäter segnen, etwas, das ihr selbst kaum ferner hätte liegen können!
Als Hermia endlich begriff, daß sie von einem Mann geküßt worden war, den sie nie zuvor gesehen hatte und den sie auch nie wieder treffen würde, murmelte Hermia vor sich hin:
„Wie kann er es wagen! Wie kann er es wagen, sich mir gegenüber so zu benehmen? Es ist schrecklich, daß ein Mädchen auf einer Landstraße vor Männern wie ihm nicht mehr sicher ist!"
In ihrer heftigen Empörung krampften sich ihre Finger um die Münze, und sie fragte sich, wie sie so dumm hatte gewesen sein können, sie nicht im selben Augenblick zurückzugeben, als er sie ihr in die Hand gedrückt hatte.
Genauso hätte sie wissen müssen, was er zu tun beabsichtigte, als er die Hand unter ihr Kinn legte.
Doch ihr war noch nie in den Sinn gekommen, daß ein Mann, den sie nicht kannte und den sie zum erstenmal gesehen hatte, sie würde küssen wollen.
Und doch, so sagte sie sich, war das genau das Verhalten, das von den Stutzern und Gecken aus London zu erwarten war, nach allem, was ihr Bruder Peter so erzählte.
Deshalb hätte sie von dem Augenblick an auf der Hut sein müssen, als sie den Mann hatte fluchen hören. Und nachdem sie sein Pferd gesehen hatte, hätte sie sich denken müssen, um welche Art von Mann es sich handelte.
„Ich hasse ihn!“ sagte sie laut.
Dann ertappte sie sich bei dem Gedanken, daß ihr erster Kuß ganz und gar nicht so gewesen war, wie sie es erwartet hatte.
Sie hatte immer geglaubt, ein Kuß zwischen zwei Menschen würde etwas sehr Sanftes und Zärtliches sein.
Liebevoll gegeben und mit Liebe empfangen, mußte ein Kuß an Blumen, an Musik und den klaren Sternenhimmel am Abend denken lassen.
Statt dessen waren die Lippen des Fremden hart und besitzergreifend gewesen, und Hermia dachte erneut, daß er sie wie eine Gefangene gehalten hatte und sie nicht entkommen konnte.
„Wenn das ein Kuß ist“, rief sie aus, „dann will ich keinen mehr!“
Aber sie wußte, daß das nicht wahr war.
Natürlich wollte sie lieben und geliebt werden.
All das war ein Teil der Geschichten, die sie sich selbst erzählte, in denen die wildesten Abenteuer sie bis hoch in den Himalaya führten oder entlang von Krokodilen übersäten Flüssen in Zentralafrika.
Dann würde die Heldin den Mann ihrer Träume finden und sie würden heiraten.
Bislang hatte ihr Held niemals ein Gesicht gehabt, aber jetzt war sie sich ganz sicher: der Unbekannte, der sie gerade geküßt hatte, war der Schurke in ihren Geschichten.
Als sie über ihn nachdachte und sich an seinen sardonischen Gesichtsausdruck und das zynische Lächeln erinnerte, war sie sicher, daß er nicht nur wie ein Schurke aussah, sondern wie der Teufel selbst.
Vielleicht war er das, dachte sie, als sie ihren Korb mit den Eiern aufnahm und langsam heimwärts ging. Es war ein faszinierender Gedanke, und sie fragte sich, was ihre Mutter wohl sagen würde, wenn sie ihr bei ihrer Ankunft in der Pfarrei erzählte, sie hätte in Chanter’s Lane den Teufel getroffen und er hätte sie geküßt.
Mehr noch, wenn der Teufel das getan hatte, dann bedeutete dies, daß sie jetzt eine Hexe geworden war.
Schon oft hatten sich die Dorfbewohner flüsternd erzählt, daß in den dunklen Wäldern, die einen großen Teil des Besitzes ihres Onkels umfaßten, teuflische Feiern stattgefunden hatten, zu denen junge Mädchen gelockt worden waren.
Niemand wußte genau, was mit der armen Betsy geschehen war. Sie war völlig gesund gewesen, ehe sie dorthin gegangen war, aber sie behaupteten, Satan selbst hätte sie verrückt gemacht. Ihre Mutter bemerkte zu solchen Geschichten nur, daß es eine Menge Unsinn wäre: Betsy wäre behindert geboren worden, und ihr Gehirn sei geschädigt. Es gäbe nichts, was die Ärzte für sie tun konnten.
Aber die Dorfbewohner glaubten lieber daran, daß Betsy ein Kind des Satans war, und sie genossen den Schauder, der sie überlief, wenn sie an ihnen vorbeiging.
Wenn sie vor sich hinmurmelte, wie gewöhnlich, dann waren sie ganz sicher, daß sie alle verfluchte, die sie nicht leiden konnte.
Dann war da noch die Geschichte von einem anderen Mädchen, das Nacht für Nacht in den Wald gegangen und schließlich so heimlich entführt worden war, daß sie nie wieder gesehen wurde.
Hermias Vater hatte behauptet, daß es ganz klar wäre, was geschehen war, nachdem ein Besucher aus London zu genau derselben Zeit verschwunden war.
Aber die Dorfbewohner waren überzeugt, daß das Mädchen dasselbe Schicksal erlitten hatte wie Betsy. Sie hatte an den Feiern des Teufels teilgenommen, und er hatte sie zu einer der seinen gemacht.
Es erschien Hermia jedoch unwahrscheinlich, daß der Teufel ein so wunderbares Rassepferd ritt und sich von den besten Schneidern einkleiden ließ, die auch den Prinzregenten ausstatteten.
Das waren die einzigen, so hatte Peter ihr versichert, die den Anzug eines Mannes so schneidern konnten, daß er saß wie angegossen.
Als sie an Peter dachte, wünschte Hermia, er wäre daheim. Er würde sich über ihr Erlebnis bestimmt amüsieren, aber selbst ihrem angebeteten Bruder, dem sie fast alles gestand, würde sie nicht erzählen, daß sie von einem Fremden geküßt worden war. Teufel hin oder her.
„Peter würde lachen, weil ich so dumm gewesen bin“, sagte sie sich, „und Papa wäre wütend!“
Es kam nicht oft vor, daß ihr gutmütiger, zufriedener, glücklicher Vater über etwas zornig war.
Aber sie hatte in diesem letzten Jahr, seit sie erwachsen geworden war, gespürt, daß er die Komplimente verabscheute, die ihr die Herren machten, die in die Pfarrei kamen - auch, wenn das nicht viele waren.
Sie hatte gehört, wie er zu ihrer Mutter sagte, daß es eine große Unverfrorenheit wäre, die er nicht dulden könne.
Obwohl sie wußte, daß es unrecht war, hatte Hermia draußen vor der Tür gewartet, um die Antwort ihrer Mutter zu hören.
„Hermia wird erwachsen, Liebling“, hatte sie gesagt, „und sie ist sehr hübsch. Du mußt damit rechnen, daß die Männer sie bemerken, wenn es hier in der Gegend auch leider nicht viele akzeptable Junggesellen gibt.“
„Ich werde nicht zulassen, daß irgendeiner, wer es auch sein mag, sie verdirbt“, erklärte Honourable Stanton Brooke in scharfem Ton.
„Das wird auch niemand tun“, beruhigte ihn Mrs. Brooke. „Aber ich wünschte, dein Bruder und seine Frau wären ein wenig netter und würden sie zu einigen der Gesellschaften einladen, die sie in der Hall geben. Schließlich hat sie dasselbe Alter wie Marilyn.“
Hermia, die vor der Tür lauschte, hatte leise geseufzt, aber nicht abgewartet, was sie sonst noch hören würde.
Sie wußte nur zu gut, daß ihre Mutter ungehalten war, daß der Earl of Millbrooke, der Bruder ihres Vaters, und seine Frau sie praktisch ignorierten, seit sie achtzehn Jahre alt war.
Nicht ein einziges Mal war sie zu einer der Gesellschaften eingeladen worden, die für ihre Cousine in der Hall gegeben wurden.
Hermia kannte den Grund dafür sogar noch besser als ihre Mutter: Marilyn war eifersüchtig.
Im letzten Jahr, als sie noch zusammen Unterricht erhalten hatten, hatte das Aussehen ihrer Cousine Marilyn mehr und mehr verärgert, und sie hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sie abzuwerten.
Da sie über ihr Gesicht nichts Unschönes sagen konnte, konzentrierte sie sich auf ihre Kleider.
„Das Kleid, das du da trägst, ist ein Lumpen!“ erklärte sie zum Beispiel, wenn Hermia frühmorgens in der Hall eintraf „Ich verstehe wirklich nicht, warum du damit zufrieden bist, dich wie eine Vogelscheuche herzurichten.“
„Die Antwort ist ganz einfach“, antwortete Hermia dann. „Dein Vater ist sehr reich, und meiner sehr arm.“
Sie hatte es nicht böse gesagt, hatte sogar noch gelacht, aber Marilyn hatte die Stirn gerunzelt und sich bemüht, eine andere Waffe zu finden, mit der sie sie verletzen konnte.
Es erschien Hermia sehr unfair, auch wenn ihre Mutter ihr erklärt hatte, daß es die Tradition verlangte, daß der älteste Sohn einer Familie alles erben sollte, und die jüngeren Söhne praktisch nichts.
„Aber warum, Mama?“
„Ich werde es dir erklären“, antwortete ihre Mutter ruhig. „Große Besitztümer wie die deines Onkels John müssen unversehrt vom Vater auf den Sohn vererbt werden. Wenn sie erst einmal damit angefangen hätten, das Land und das Geld unter anderen Familienmitgliedern aufzuteilen, dann würde es bald keine Großgrundbesitzer in England mehr geben, sondern nur noch Kleinlandbesitz.“
Sie unterbrach sich, um zu prüfen, ob ihre Tochter ihr auch zuhörte, ehe sie fortfuhr:
„Deshalb erbt in allen großen aristokratischen Familien der älteste Sohn alles, einschließlich des Titels. Der Zweitälteste Sohn geht gewöhnlich zur Armee oder Marine, während der drittälteste Sohn Pfarrer wird.“
„Deshalb ist Papa also Pastor geworden!“
Ihre Mutter hatte gelächelt.
„Genau! Ich glaube, wenn er die Wahl gehabt hätte, wäre er lieber Soldat geworden. Aber wie du weißt, ist er nur ein armer Pastor, aber ein sehr, sehr guter.“
Das stimmte. Hermia wußte, daß ihr Vater trotz seines unbekümmerten Wesens außerordentlich mitfühlend war und seine Mitmenschen von ganzem Herzen liebte.
Er wollte allen helfen, die mit ihren Problemen zu ihm kamen, und genoß es, das zu tun.
Stundenlang hörte er den Klagen einer armen alten Frau über ihre Gesundheit zu, etwas, was ihr Onkel niemals tun würde, oder lauschte einem Farmer, der Schwierigkeiten mit seiner Ernte hatte.
Wenn ein junger Mann Ärger hatte und nicht wußte, wie er das Problem lösen könnte, dann würde ihr Vater ihm raten und helfen, oft genug auch finanziell.
„Bis ich die heiligen Weihen empfangen habe“, hatte er einmal gesagt, „habe ich überhaupt nicht gewußt, welche Dramen selbst im kleinsten Dorf stattfinden. Wenn ich Schriftsteller wäre, könnte ich ein ganzes Buch mit den Geschichten füllen, die ich mir jeden Tag anhören muß, und manchmal denke ich mir, daß ich genau das tun werde.“
„Eine sehr gute Idee, Liebling“, antwortete seine Frau. „Aber da du im Augenblick deine ganze Freizeit reitend verbringst, glaube ich, daß du noch lange warten mußt. Erst wenn du zu alt bist, um auf ein Pferd zu steigen, erst dann wirst du zur Feder greifen!“
Die größte Freude ihres Vaters, abgesehen davon, bei seiner Frau und Familie daheim zu sein, war es, die Pferde seines Bruders zu reiten und im Winter an der Jagd teilzunehmen.
Der Earl war weit großzügiger als seine Frau, und es war die Countess, die es Hermia unmöglich machte, sich weiterhin die Pferde aus den großen Ställen der Hall auszuleihen, die nur selten ausgiebig bewegt wurden.
Ihre Tante war eine unauffällige Frau, und das war zum Teil der Grund dafür, daß sie die Nichte ihres Mannes mehr oder weniger aus dem Haus verbannt hatte, abgesehen von dem Wunsch, ihre Tochter vor dem zu schützen, was sie insgeheim für eine unerwünschte Konkurrenz hielt.
Marilyn war auf herkömmliche Art und Weise bestimmt hübsch.
In Kleidern der teuersten Schneiderinnen der Bond Street, die Haare von einer sehr tüchtigen Zofe frisiert, wäre sie in jedem Ballsaal angenehm aufgefallen - solange ihre Cousine nicht anwesend war.
Es war unwahrscheinlich, und die Countess of Millbrooke sah das nur zu deutlich, daß Marilyn die Komplimente bekommen würde, die ihr zustanden, wenn Hermia in der Nähe war.
Als Hermia zum erstenmal erleben mußte, daß sie nicht auf einen Ball in der Hall eingeladen wurde, auf den sie sich so sehr gefreut hatte, hatte sie bitterlich geweint.
„Wie kann Marilyn mich auslassen, Mama?“ hatte sie geschluchzt. „Wir haben doch immer davon geredet, was passieren würde, wenn wir erst erwachsen sein würden, und davon, daß wir gemeinsam einen Ball geben wollten.“
Sie hatte leise aufgeschluchzt und hinzugefügt:
„Es hörte sich alles so an, a ... als würde es sehr viel... Spaß machen, und wir haben uns vorgenommen, w ... wir würden unsere Eroberungen zählen und sehen, wer gewonnen hat.“
Ihre Mutter hatte sie in die Arme genommen und sie festgehalten.
„Jetzt hör mir mal zu, Liebling“, hatte sie gesagt. „Du mußt dich der Wahrheit stellen, genauso wie ich, als ich deinen Vater geheiratet habe.“
Hermia unterdrückte ihre Tränen und hörte zu, als ihre Mutter fortfuhr:
„Du hast dich vielleicht schon manches Mal gefragt“, fing sie an, „warum deine Tante Edith, und manchmal sogar dein Onkel John, so herablassend mir gegenüber sind.“
„Mir ist aufgefallen, daß sie sehr hochmütig sind, Mama.“ „Nun, dein Großvater hatte geplant, daß dein Vater eine sehr reiche, junge Frau heiraten sollte, die in jener Zeit in der Nähe der Hall wohnte und es sehr deutlich zeigte, daß sie deinen Vater liebte.“
Hermia lächelte.
„Das überrascht nicht, Mama! Er sieht so gut aus, daß ich jede Frau verstehen kann, die von ihm fasziniert ist.“
„Das fand ich auch“, bestätigte ihre Mutter. „Für mich ist er der attraktivste und charmanteste Mann auf der Welt.“
Sie sprach sehr leise, und ihre Augen blickten sanft, als sie fortfuhr:
„Aber ich war die Tochter eines Generals, der sein Leben damit verbracht hatte, seinem Land zu dienen. Als er sich aus dem aktiven Dienst zurückzog, erhielt er nur eine kleine Pension, die es ihm kaum ermöglichte, seinen Kindern etwas zu geben.“
Hermia richtete sich auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
„Jetzt verstehe ich, Mama. Papa hat dich geheiratet, weil er dich liebte, und er war an dem reichen Mädchen nicht interessiert.“
„Genauso war es“, antwortete ihre Mutter. „Deine Großmutter und dein Onkel flehten ihn an, vernünftig zu sein und an die Zukunft zu denken, aber er sagte nur, daß er genau das tun würde.“
„Dann habt ihr also geheiratet und wart glücklich bis zum heutigen Tag“, erwiderte Hermia mit glänzenden Augen.
„Sehr, sehr glücklich“, erwiderte ihre Mutter. „Aber du mußt darunter leiden, Liebling, nicht nur, weil du meine Tochter bist, sondern auch, weil du sehr hübsch bist.“
Hermia war überrascht. Das war etwas, was ihre Mutter noch niemals zu ihr gesagt hatte.
„Ich sage die Wahrheit und mache dir kein Kompliment“, meinte die Mutter. „Ich glaube, weil dein Vater und ich so glücklich waren und so verliebt sind, sehen Peter und du nicht nur gut aus, sondern ihr habt auch einen guten Charakter.“
Das stimmte gewiß, was Peter betraf, dachte Hermia.
Er war ein außergewöhnlich gutaussehender junger Mann, und da sie ihrer Mutter ähnelte, mußte sie wohl auch sehr hübsch sein.
Wenn es in der Hall irgendeine Gesellschaft gegeben hatte, hatten alle männlichen Gäste, gleich welchen Alters, immer mit ihr sprechen wollen, so schien es.
„Weißt du“, hatte ihre Mutter nachdenklich gesagt, „wir müssen immer für alles in unserem Leben bezahlen. Nichts ist umsonst, und du, mein Schatz, wirst feststellen, daß es zwar ein großer Vorteil ist, schön zu sein, daß du aber auch dafür mit dem Wissen bezahlen mußt, daß andere Frauen eifersüchtig auf dich sind und dir deshalb viele Schwierigkeiten bereiten werden.“
Genau das hatte Marilyn getan, dachte Hermia, als keine Einladungen aus der Hall mehr kamen, und ihre Tante betrachtete sie mit einem Ausdruck von Feindseligkeit, sogar dann, wenn sie in der Kirche waren.
Peter war aus Oxford gekommnen - sie hatten große Opfer gebracht, um ihn dorthin schicken zu können - und erzählte nicht nur von den aufregenden Dingen, die er als Student erlebte, sondern auch von den Fahrten, die er mit einigen seiner Freunde nach London unternahm.
Wenn er mit Hermia allein war, erzählte er ihr, wie sehr es ihm mißfiel, daß er sich nicht wie seine Freunde bei den besten Schneidern einkleiden konnte.
„Die Pferde, die sie besitzen“, fuhr er fort, „sind so prächtig, daß ich niemals etwas auch nur annähernd Gleichwertiges besitzen kann!“
Wie seinem Vater war es auch ihm gestattet, die Pferde aus den Ställen des Earl zu reiten, aber er konnte keines davon mitnehmen. Die Pferde, die er in Oxford ritt, hatte er sich entweder von seinen Freunden geliehen oder aus einem Stall gemietet.
„Ich hasse es, arm zu sein!“ hatte er das letztemal, als er daheim war, wütend erklärt.
„Sag das nicht zu Papa und Mama“, warnte Hermia ihn eilig. „Sie wären verletzt.“
„Ich weiß“, entgegnete Peter, „aber wenn ich in die Hall gehe und William sehe, mit allem Geld der Welt, der sich nicht nur hinter meinem Rücken über mich lustig macht, sondern mir ins Gesicht lacht und mich bei meinen Freunden abwertet, dann könnte ich ihm eine anständige Tracht Prügel verabreichen!“
Hermia stieß einen Schrei des Entsetzens aus.
„Das darfst du nicht tun! Es würde Onkel John furchtbar wütend machen, und dann erlaubt er vielleicht weder dir noch Papa seine Pferde in Zukunft zu reiten. Und du weißt ja, daß ich bereits aus der Hall verbannt bin.“
„Papa hat es mir erzählt“, antwortete Peter, „aber das ist deine eigene Schuld. Warum mußt du auch so hübsch sein!“
Hermia lachte.
„Soll das ein Kompliment sein?“
„Natürlich! Wenn du anständig angezogen wärest und die Möglichkeit hättest, eine Saison in London mitzumachen, dann würden alle nur noch von dir reden, und ich wäre sehr stolz auf dich!“
Er dachte dabei nicht nur an sie, das wußte Hermia, sondern auch an seine reicheren Freunde, und vor allem an seinen Cousin William, die ihn herablassend behandelten und ihm deutlich machten, daß er der „arme Mann vor der Tür“ war.
Doch weil Peter ihrem Vater sehr ähnlich war, sagte er plötzlich:
„Zum Teufel damit! Warum sollte mir das etwas ausmachen? Ich habe vor, das Beste aus dem Leben zu machen, und merk dir eines, Hermia: Früher oder später werde ich alles haben, was ich mir wünsche, so oder so.“
„Davon bin ich überzeugt.“
Lachend gingen sie zusammen die Treppe hinunter, Hand in Hand, um das schmackhafte, aber einfache Abendessen einzunehmen, das alles war, was ihre Mutter sich von dem knappen Haushaltsgeld leisten konnte.
Als Hermia jetzt durch die Haustür ins Pfarrhaus trat, hörte sie bereits das Klappern von Töpfen und Pfannen aus der Küche.
Das bedeutete, daß Nanny, die sich schon um sie gekümmert hatte, als sie noch ein Kind war, und die jetzt für die Küche zuständig war, ärgerlich war, weil sie so lange gebraucht hatte, um die Eier zu holen.
Sie überlegte, ob sie ihr den wahren Grund nennen sollte. Aber als sie die Küche betrat, schimpfte Nanny:
„Das wird auch Zeit! Bestimmt hast du wieder geträumt, wie immer, und ich rackere mich hier ab, um deinem Vater ein Essen zu servieren, ehe er zu Mrs. Grainger geht, die nach ihm geschickt hat!“
„Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, Nanny“, sagte Hermia nur.
„Dein Kopf schwebt immer in den Wolken!“ fuhr Nanny sie an. „Eines Tages vergißt du noch deinen Heimweg, jawoll!“
Sie nahm Hermia den Korb ab, stellte ihn auf den Tisch und schlug ein paar Eier in einer Schüssel auf, um ein Omelette zuzubereiten.
„Warum will Mrs. Grainger Papa sprechen?“ erkundigte sich Hermia neugierig.
„Ich nehme an, sie glaubt wieder einmal, daß sie stirbt!“ lautete Nannys spitze Antwort. „Ihr ist doch jede Entschuldigung recht, wenn nur der Vikar ihre Hand hält und ihr erzählt, daß Gott mit all seinen Engeln nur auf sie wartet. Ich persönlich würde sagen, er hat etwas Besseres zu tun!“
Hermia lachte.
Nannys bissige Bemerkungen waren immer erheiternd. Aber sie wußte, die alte Frau liebte sie alle und haßte es, daß ihr Vater, wie sie es bezeichnete ,,herumgestoßen“ wurde.
„Gehen Sie und decken Sie bitte den Tisch, Miss Hermia“, sagte sie nun. „Ich lasse Ihren Vater nicht mit leerem Magen aus dem Haus, da kann er sagen, was er will!“