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Russlands imperiale Vergangenheit ist der Schlüssel, um Putins Überfall auf die Ukraine und seine anitwestlichen Obsessionen zu verstehen. Der renommierte Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel stellt den Krieg in den langen Kontext der russischen Expansion nach Westen und beschreibt, wie das Ausgreifen in die Ukraine und die Teilung Polens seit dem 18. Jahrhundert einen Irrweg in der russischen Geschichte begründeten, der als "Fluch des Imperiums" bist heute fortwirkt. Dabei zeigt er, wie eine fatale Ideenwelt entstehen konnte, die noch im 21. Jahrhundert in den Köpfen der Moskauer Führung spukt. Deutschlland hat sich nach 1945 von seinem Fluch des Imperiums befreit und sich in Richtung Westen geöffnet. Russland steht dieser Weg noch bevor. Vor dem 24. Februar 2022 schien Putins Regime vielen Beobachtern vor allem am eigenen Machterhalt und der persönlichen Bereicherung interessiert zu sein. Doch der neuerliche Angriff auf die Ukraine, die Brutalität der Kriegsführung und die Hasspropaganda in den Staatsmedien lassen sich damit nicht wirklich erklären. Putin operiert in seinen Reden mit irritierenden historischen Narrativen und Argumenten. Wer seine Motivation entschlüsseln will, muss auch ein ungelöstes Identitätsproblem Russlands in den Blick nehmen, das sich aus seiner imperialen Vergangenheit speist, den Fluch des Imperiums. Daher erzählt dieses Buch die eng verflochtene Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen im Kontext der internationalen Politik. Es zeigt, wie das russische Ausgreifen in die Ukraine und die Teilung Polens Pfadabhängigkeiten produzierten, die als strukturelles Erbe bis heute prägend sind. Dabei geht es nicht nur um imperiale Herrschaftsansprüche, sondern auch um einen ideologisch aufgeladenen Ost-West-Konflikt, der sich bereits im 19. Jahrhundert herausbildete, und in dem Deutschland lange auf Seiten Russlands stand. Was Deutschland nach 1945 gelang, steht Russland noch bevor: die Abkehr vom Imperium.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Martin Schulze Wessel
Der Fluch des Imperiums
Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte
C.H.Beck
Russlands imperiale Vergangenheit ist der Schlüssel, um Putins Überfall auf die Ukraine und seine antiwestlichen Obsessionen zu verstehen. Der renommierte Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel stellt den Krieg in den langen Kontext der russischen Expansion nach Westen und beschreibt, wie das Ausgreifen in die Ukraine und die Teilungen Polens seit dem 18. Jahrhundert einen Irrweg in der russischen Geschichte begründeten. Dabei zeigt er, wie eine fatale Ideenwelt entstehen konnte, die noch im 21. Jahrhundert in den Köpfen der Moskauer Führung spukt. Vor dem 24. Februar 2022 erschien Putins Regime vielen Beobachtern vor allem am eigenen Machterhalt und der persönlichen Bereicherung interessiert zu sein. Doch der neuerliche Angriff auf die Ukraine, die Brutalität der Kriegsführung und die Hasspropaganda in den Staatsmedien lassen sich damit nicht wirklich erklären. Putin operiert in seinen Reden mit irritierenden historischen Narrativen und Argumenten. Wer seine Motivation entschlüsseln will, muss auch ein ungelöstes Identitätsproblem Russlands in den Blick nehmen, das sich aus seiner imperialen Vergangenheit speist, den Fluch des Imperiums. Daher erzählt dieses Buch die eng verflochtene Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen im Kontext der internationalen Politik. Es zeigt, wie das russische Ausgreifen in die Ukraine und die Teilungen Polens Pfadabhängigkeiten produzierten, die als strukturelles Erbe bis heute prägend sind. Dabei geht es nicht nur um imperiale Herrschaftsansprüche, sondern auch um einen ideologisch aufgeladenen Ost-West-Konflikt, der sich bereits im 19. Jahrhundert herausbildete, und in dem Deutschland lange auf Seiten Russlands stand. Deutschland hat sich nach 1945 von seinem Fluch des Imperiums befreit und sich in Richtung Westen geöffnet. Russland steht dieser Weg noch bevor.
Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.
Einleitung
Kapitel 1:Russlands Imperium, das Hetmanat und die Republik Polen (1700–1795)
Moskaus Weg nach Europa
Das ukrainische Hetmanat zwischen Polen und Russland
Poltava
Europas erster Ost-West-Konflikt
Russland und die Ukraine nach dem Nordischen Krieg
Katharina II. als Vollenderin Peters I.
Kapitel 2:Imperiale Ordnung und nationale Herausforderung (1796–1856)
Russlands Imperium im Zeitalter Napoléons
Die Heilige Allianz
Der polnische Novemberaufstand als europäisches Ereignis
Russlands Antwort an Europa
Polnische und ukrainische Befreiungsideen
Identitätspolitik des Zarenreichs
Geopolitik im Exil
Europäische Revolution und der Krieg um die Krim
Polens Aufstand und die russische Furcht vor der ukrainischen Frage
Kapitel 3:Die Idee von der russischen Exzeptionalität und das Ende des Zarenreichs (1856–1917)
Das imperiale Ideen-Set nach dem Krimkrieg und dem polnischen Aufstand
Ukrainische Alternativen
Zarische Symbolpolitik und die Suche nach einer außenpolitischen Doktrin
Nationale und soziale Dynamik in der Ukraine
Der Erste Weltkrieg
Nationalstaatsgründung in Kyiv
Revolution und Bürgerkrieg
Kapitel 4: Das sowjetische Experiment und die imperiale Tradition (1917–1991)
Alte Grenzen, neue Grenzen
Nationalisierung der Kultur, Zentralismus in der Wirtschaft
Polen und der Prometheismus
Holodomor
Das große russische Volk kehrt zurück
Von Rapallo zum Hitler-Stalin-Pakt
Krieg gegen Polen
Der Große Vaterländische Krieg
Russische und ukrainische Mythen
Jalta und der Kalte Krieg
Die Ukraine als zweite Nation der Sowjetunion
Poststalinismus
Neue Ostpolitik
Polen und die Ukraine in den letzten Jahren des Sowjetimperiums
Kapitel 5: Die postsowjetische Ukraine und Russlands Neoimperialismus (1992–2022)
Die nachgeholte Revolution in der Ukraine
Russlands Weg in die Diktatur
Empire Fatigue und Sowjetnostalgie
Imperiale Infrastrukturen
Imperiale Phantasien: Dugin und Putin
Schluss
Dank
Anmerkungen
Einleitung
Kapitel 1 Russlands Imperium, das Hetmanat und die Republik Polen (1700–1795)
Kapitel 2 Imperiale Ordnung und nationale Herausforderung
Kapitel 3 Die Idee von der russischen Exzeptionalität und das Ende des Zarenreichs (1856–1917)
Kapitel 4Das sowjetische Experiment und die imperiale Tradition
Kapitel 5Die postsowjetische Ukraine und Russlands Neoimperialismus (1992–2022)
Schluss
Auswahlbibliographie
Bildnachweis
Karten
Personenregister
Seit dem 24. Februar 2022 ruft Russlands Krieg gegen die Ukraine Entsetzen hervor. Nachdem der Versuch einer raschen Machtübernahme in Kyiv gescheitert ist, zielt die russische Invasion auf die physische Zerstörung und symbolische Vernichtung des Nachbarlandes. Die Kreml-Propaganda spricht der Ukraine ihre nationale Identität ab, bezeichnet ihre politischen und kulturellen Eliten als «Faschisten» und versucht die politische Führung um Präsident Selens’kyj systematisch zu entmenschlichen. Währenddessen beschießen die russischen Truppen Zivilisten und zivile Infrastrukturen. Ganze Städte liegen in Trümmern. Weit von der Front entfernt bombardiert die russische Armee Krankenhäuser, Kindergärten und Einkaufszentren. Die Gewalt hat eine Botschaft: Es gibt kein sicheres Leben in der Ukraine, nirgendwo. Wenige Monate nach dem Beginn der Invasion war ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung auf der Flucht, sieben Millionen innerhalb der Ukraine, weitere sieben Millionen, vor allem Frauen und Kinder, haben das Land verlassen. Eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer wurden in den ersten Kriegsmonaten aus den besetzten Gebieten durch sogenannte Filtrationslager nach Osten geschleust und über die Russische Föderation hinweg verteilt, wohl in der Erwartung, dass sie sich dort russisch assimilieren. Zugleich schickte die russische Armee vor der Mobilmachung vor allem Angehörige nicht-russischer Ethnien aus weit entlegenen Regionen in den verlustreichen Kampf. Der Vernichtungskrieg hat auch die Dimension eines ethnic cleansing.
In Deutschland hat es lange gedauert, die Augen für das ganze Ausmaß des Verbrechens zu öffnen und daraus Konsequenzen zu zielen. Ein Grund dafür liegt im Umgang mit der deutschen Geschichte. Das unvergleichlich größere Grauen des Holocaust und des deutschen Vernichtungskriegs im Osten Europas wirkte hemmend, wenn es darum ging, die russische Gewalt beim Namen zu nennen. Nur mühsam setzte sich die Einsicht durch, dass aus der deutschen Geschichte gerade im Verhältnis zur Ukraine eine besondere Verantwortung zur Leistung von Hilfe entsteht.
Geschichte spielt auch im Krieg selbst eine besondere Rolle. Die Legitimation, die der russische Präsident Vladimir Putin für den Angriff auf die Ukraine anführt, ist eine historische. Schon lange vor der Invasion bemühte er Geschichtsnarrative, um eine historische Mission Russlands zu begründen und der Ukraine das Existenzrecht abzusprechen. Dies ist auch im Vergleich mit anderen militärischen Engagements Russlands bemerkenswert. Für die Kriege in Tschetschenien, Georgien oder Syrien zog der Kreml nicht geschichtliche, sondern völkerrechtliche Legitimationen heran. Die Begründung eines Angriffskriegs vor allem durch historische Mythen ist auch in Putins Russland neu. Das beste Beispiel dafür ist der Anspruch, den Moskau auf die Krim erhebt. Tatsächlich ist die Halbinsel nicht «urrussisch», sondern eine Eroberung, die das Zarenreich relativ spät im Krieg gegen das Osmanische Reich machte. Erst 1783 kam sie zum Russischen Imperium, was Putin nicht hindert, sie als legitimen Besitz zu fordern. Dass die Krim in sowjetischer Zeit an die Ukraine übertragen wurde, ist aus Putins Sicht dagegen «unhistorisch» – ein korrekturbedürftiger Fehler im Geschichtsverlauf.
Putin manipuliert und instrumentalisiert Geschichte. Diese Feststellung ist richtig, aber auch banal. Der russische Präsident ist ein Amateurhistoriker der schlimmsten Art, der meint, die Geschichte zu verstehen und verändern zu können. Putin hat sich, wie der italienische Historiker Mark Galeotti schreibt, «mit der Geschichte angelegt» und dabei vergessen, dass diese ein Fluss ist, der niemals rückwärts fließt.[1] Die Ukraine ist nicht mehr das Land, das im 19. Jahrhundert Teil des Zarenreichs war, nicht mehr die Sowjetrepublik der 1960er und 1970er Jahre, nicht einmal mehr die Ukraine des Jahres 2014.
Die «Spezialoperation», die Putin vom Zaun brach, ist Russlands Krieg. Es ist ein Krieg, der nicht ausschließlich mit dem Blick auf die Gegenwart verstanden werden kann. Denn es geht nicht nur um rational fassbare Interessen der Clique, die in Russland das Sagen hat. Dies anzunehmen war der kardinale Fehler der westlichen und speziell der deutschen Politik vor dem 24. Februar 2022. Tatsächlich speist sich die russische Entscheidung für die Invasion aus Mythen und Obsessionen. Die Kriegsrhetorik, die vom staatlichen Fernsehen Tag für Tag ins Land gesendet wird, bedient niedere Instinkte und beruft sich dabei implizit oder explizit immer wieder auf Geschichte. Die Flut von Lügen und Halbwahrheiten richtigzustellen ist beinahe unmöglich. Nötig ist es aber zu zeigen, dass die Versatzstücke der russischen Propaganda selbst eine Geschichte haben. Diese besteht aus langfristig wirksamen Diskursen, die durch bestimmte Traditionen der imperialen Politik Russlands bedingt sind. Im Krieg gegen die Ukraine treten mithin langfristige strukturelle Probleme Russlands hervor.
Deren Geschichte umfasst allerdings nicht die gesamte russische Vergangenheit. Seit dem Beginn der russischen Invasion vom Februar 2022 tauchen im Westen lange vergessene Deutungen wieder auf, die von einer durchgehend gewaltbetonten Tradition der russischen Geschichte sprechen und die Wurzeln für den aktuellen Gewaltausbruch möglichst tief in der russischen Geschichte verorten. So werden Vergleiche zwischen Putin und Ivan dem Schrecklichen gezogen und die Grausamkeit des russischen Mittelalters für Russlands Kriegsführung heute verantwortlich gemacht. Russische Geschichte wird damit essentialisiert. Die Dämonisierung ist aber ein Zwilling der Romantisierung.
Die russische Aggression gegen die Ukraine lässt sich nicht gegenwartsfixiert mit den Vorstellungen erklären, die die westliche Öffentlichkeit als rationales Verhalten ansieht, sie ist aber auch nicht in der unendlichen Tiefe der russischen Geschichte angelegt. Der Erklärungsrahmen, den dieses Buch wählt, hat eine mittlere historische Tiefe: Es geht um die Geschichte des neuzeitlichen russischen Imperiums, das mit der Herrschaft Peters I. begann. Seit dem Beginn des 18. Jahrhundert entstand eine strukturelle Problematik, mit deren Auswirkungen wir es heute zu tun haben.
Allerdings übte nicht nur Russland imperiale Herrschaft aus. Auch London, Paris, Madrid, Wien, Berlin, Brüssel und andere europäische Metropolen waren Reichszentren, wenn man ein Imperium nach der gut begründeten Definition John M. MacKenzies versteht, nämlich als ein «expansionistisches Staatswesen, das verschiedene Formen der Souveränität über ein Volk oder über Völker, deren Ethnizität different von (in manchen Fällen auch gleich mit) der eigenen ist.» Das Imperium werde so zu einer «politisch zusammengesetzten Einheit, die in der Regel über ein regierendes Zentrum und dominierte Peripherien verfügt». Dies könne zu unterschiedlichen Formen der hegemonialen Herrschaftsausübung führen.[2] Russland fügt sich in diese generelle Definition gut ein. Die strukturellen postimperialen Probleme, die in Russlands Restaurationsversuch gegenüber der Ukraine zutage treten, haben jedoch einen anderen Charakter als die ebenfalls nicht komplikationsfreien westeuropäischen Dekolonisierungsprozesse. Das russische Imperium expandierte auch nach Europa hinein, indem es im 18. Jahrhundert zunächst das ukrainische Hetmanat inkorporierte und dann die baltischen Länder und Teile Polens annektierte. Mit der gewonnenen Großmachtposition setzte sich Russland intensiver internationaler Konkurrenz in Europa und einem Ideentransfer aus, der moderne Begrifflichkeiten, darunter das Konzept der Nation, von den imperial beherrschten Peripherien in das Zentrum des Reiches brachte. An der Westgrenze des russischen Imperiums entstanden nationale Fragen – zuerst die polnische Frage und dann die ukrainische Frage, daneben baltische und finnische Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen. Sie hatten jeweils geopolitische Implikationen im europäischen Staatensystem und eine Vorbildfunktion für andere nationale Bewegungen im Zarenreich bzw. in der Sowjetunion. Das ist historisch speziell für die Geschichte des russischen Imperiums. Und es brachte schon im 19. Jahrhundert einen ideenpolitischen Ost-West-Gegensatz hervor, in dem Russland die Rolle eines autokratischen Pols einnahm. Unter den zahlreichen Imperien Europas stach Russland nicht durch die Grausamkeit seiner Herrschaft hervor. Was Russland von den anderen Reichen unterschied, war die Tatsache, dass ein großes Landimperium gewissermaßen nach Europa hineinwuchs, indem es Territorien in Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropa annektierte bzw. dort Einflusssphären schuf.
Auch Frankreich und Deutschland errichteten in napoleonischer Zeit bzw. unter nationalsozialistischer Herrschaft hegemoniale Ordnungen in Europa, die allerdings nur eine vergleichsweise kurze Dauer hatten. Russland dagegen übt seit über 300 Jahren Herrschaft bzw. dominanten Einfluss in seinem westlichen Vorfeld aus. Wiederholt haben westliche Staaten eine Eindämmung Russlands versucht, und seit dem 19. Jahrhundert entstand daraus in Europa ein russlandkritischer liberaler Diskurs. Der Gegensatz zum Westen schrieb sich so über eine lange Zeitspanne hinweg in die Tradition des russischen imperialen Selbstverständnisses ein. Der Widerspruch zwischen der mächtepolitisch beherrschenden Rolle, die Russland in der östlichen Hälfte des Kontinents spielte, und der Defensive, in die es gegenüber dem fortschrittlichen Denken in Europa geriet, beförderte exzeptionalistische Ideen von Russlands historischer Mission. Russland sollte sich, so die Forderung slavophiler Denker, am europäischen Maßstab nicht länger messen lassen. Mit dem Komplex von imperialen und nationalistischen Vorstellungen, die im 19. Jahrhundert geprägt wurden, haben wir es noch heute zu tun. Sie wirken sich im gegenwärtigen Krieg verheerend auf die Ukraine aus, und sie hindern Russland daran, einen Platz in einer multilateralen europäischen und globalen Ordnung einzunehmen, der der eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung förderlich ist.
Eine solche Entwicklung ist auch aus der preußisch-deutschen Geschichte bekannt, in der es ebenfalls zu einer imperialen und kolonialen Ausdehnung nach Ostmitteleuropa und einem Denken in Einflusszonen kam und in deren Verlauf sich eine imperiale und nationalistische deutsche Ideologie herausbildete, die ihr Selbstverständnis aus dem Gegensatz zum Westen gewann. Deutschland und Russland haben in dieser Hinsicht parallele Geschichten, die miteinander verflochten sind. Aber es gibt Unterschiede: In Deutschland ging aus der Verbindung von Mächtepolitik und antiliberalen Ideen eine radikale rassistische Politik hervor, die es in dieser Form in Russland bzw. der Sowjetunion nicht gab und nicht gibt. Die bedingungslose Kapitulation NS-Deutschlands gegenüber den Alliierten und die jahrzehntelangen Liberalisierungs- und Verwestlichungsprozesse ermöglichten eine Umwertung, die nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch bestimmte Traditionen der preußisch-deutschen Imperiumsgeschichte betraf. In Russland steht diese grundlegende Revision noch bevor.
Der Weg dahin wird voraussichtlich lang und schwierig sein, was auch damit zusammenhängt, dass die imperialen Verbrechen der beiden Länder im 20. Jahrhunderts sich unterscheiden: Der offen menschenverachtende Ansatz des deutschen Nationalsozialismus war nach der totalen Niederlage des Reichs vergleichsweise leicht zu delegitimieren. Dagegen zog das sowjetische Projekt mit seinem universalistischen Anspruch im In- und Ausland auch Idealisten an, die sich erstaunlich lange über seine verbrecherische Natur hinwegtäuschten. Der maßgebliche Anteil der Sowjetunion am Sieg der Alliierten über NS-Deutschland und die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee schufen einen Nimbus, der von der russischen Geschichtspolitik bis heute intensiv genutzt wird. Deshalb wird die Entwertung des Komplexes von nationalistischen und imperialen Ideen in Russland kaum ohne eine tiefe politische Zäsur möglich sein. Ein Neuanfang wird sich gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen müssen und viel Zeit erfordern.
Dieses Buch versucht die Frage zu beantworten, was die tieferen Bedingungsfaktoren sind, die zum russischen Krieg gegen die Ukraine geführt haben. Es grenzt sich von einem weitverbreiteten Erklärungsschema ab, das die Geschichte Russlands mithilfe des Gegensatzes von (guten) westlichen Einflüssen und (schlechten) autochthonen Traditionen zu erklären beansprucht. Seine Sinnbilder sind suggestiv: Dem religiös und patriarchal geprägten Moskau wird die im europäischen Stil errichtete neue Hauptstadt Sankt Petersburg gegenübergestellt, die Peter I. als «Fenster nach Europa» schuf. Doch vermitteln solche Konstruktionen keine tiefere Erkenntnis, und sie taugen nicht einmal als Ausgangspunkt für eine Analyse. Ein Beispiel für den binären Ansatz bietet die einflussreiche Darstellung von Putins Denken, die der französische Philosoph Michel Eltchaninoff vorgelegt hat. Er fragt: «Warum hat Putin das Portrait Peters des Großen, des proeuropäischen Zaren, das er zu Beginn der 1990er Jahre in seinem Büro im Rathaus von Sankt Petersburg aufgehängt hatte, zehn Jahre später in seinem Büro im Kreml wieder abgehängt?»[3] Darüber mag man sinnieren, aber eine Antwort auf Eltchaninoffs Frage wird kaum etwas zur Erklärung der Gegenwart beitragen. Der Anblick des Peter-Portraits hätte den russischen Präsidenten gewiss nicht von seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine abgehalten. Im Gegenteil, die imperiale Tradition Russlands ist besonders eng mit Herrschern wie Peter I. und Katharina II. verbunden, die wir als europäisch wahrnehmen. Als eifrige Befürworter von imperialistisch grundierten Konzepten der russischen Nation taten sich im 19. Jahrhundert notorische Westler und Peter-Verehrer wie Vissarion Belinskij und Petr Struve hervor. Die Teilung der russischen Geschichte in europäische und nicht-europäische Stränge führt in die Irre. Der spezifische Weg, den Russland seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts eingeschlagen hat, ist ohne die Verschränkung von Traditionen, die als autochthon gedacht wurden, und westlichen Ideenimporten nicht vorstellbar.
Russland übte, entsprechend der Imperien-Definition MacKenzies, unterschiedliche Formen von Herrschaft aus. Nach der sukzessiven Beseitigung der Autonomie des Hetmanats wurde die Ukraine ein Teil des Zarenreichs, später – nach der kurzzeitigen Schaffung eines ukrainischen Nationalstaats 1918/19 – des sowjetischen Unionsstaates. Es bildete einen Teil des inneren Imperiums. Polens Verhältnis zum russischen Imperium war staatsrechtlich komplizierter. Nach den Teilungen Polens (1772–1795) annektierte Russland eine Reihe von polnischen Territorien. Nach dem Wiener Kongress 1815 band das Zarenreich weitere polnische Territorien an sich, ohne sie zu inkorporieren. Es schuf einen abhängigen polnischen Staat, der zeitweise – zwischen 1815 und 1831 – eine gewisse Autonomie genoss. Diese Sphäre der indirekten Herrschaft kann man als äußeres Imperium bezeichnen. Die Zugehörigkeit zum Imperium war also graduell abgestuft und fließend, was auch für einige nicht-europäische Peripherien des Zarenreichs galt.
Die Dominanz über Einflusszonen (äußeres Imperium) erforderte die Kooperation mit anderen europäischen Mächten. Für das gesamte ostmitteleuropäische Vorfeld des Zarenreichs war die mächtepolitische Zusammenwirkung mit Preußen-Deutschland und der Habsburgermonarchie erforderlich. In der sowjetischen Zeit spielten die russisch-deutschen Beziehungen zeitweise eine entsprechende Rolle. Russland geriet also durch seine imperiale Expansion nach Westen in einen engen Zusammenhang mit dem europäischen Staatensystem. Innerhalb nur einer Generation errang Russland zu Beginn des 18. Jahrhunderts Hegemonie im östlichen Europa. Manche Beobachter in Westeuropa faszinierte das, aber es wurden auch warnende Stimmen laut. Sie bildeten den Anfang einer intensiven russisch-europäischen Auseinandersetzung, in der Mächtepolitik und nationale bzw. imperiale Ideologisierung nicht voneinander zu trennen waren. Ein früher Mahner vor der Expansion des Zarenreichs war der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau. Er empfahl 1772 den Polen, dass sie, wenn die Teilung ihres Landes nicht zu verhindern sei, einen Nationalgeist entwickeln sollten, der es Russland unmöglich machen würde, Polen zu verdauen. In einem ähnlichen Sinne hatte sich zuvor Voltaire über die Ukraine und den Anschluss ihres Hetmanats an Russland geäußert. Die Geschichte der imperialen Expansion Russlands nach Westen kann man als die Geschichte von misslungenen Verdauungsprozessen betrachten. Aus den Annexionen entstanden, zeitlich versetzt, die «polnische Frage» und die «ukrainische Frage», also Agenden bestimmter polnischer und ukrainischer Akteure, die in der für das 19. Jahrhundert typischen Weise als «Fragen» geframt und auf die Tagesordnung der internationalen Öffentlichkeit gesetzt wurden und sich dort mit Bestrebungen aus anderen Regionen und Lebensbereichen verbanden.[4]
Der russische Diskurs sah sich durch die «Fragen» im Westen des Reiches herausgefordert. Was eigentlich die russische Identität ausmachte, ob sie in Abgrenzung zum Imperium oder als Reichsnation verstehen werden sollte, war – und ist noch immer – unbestimmt. Dabei war zu klären, wo der Bereich der ethnischen Russen endete und wo das Imperium begann. Begriffen die Vordenker einer modernen russischen Identität selbst die Inkongruenz von imperialen und nationalen mental maps? Die zwischen dem Imperium und der Nation changierende Identität Russlands entstand nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit polnischen und ukrainischen Nationskonzepten. Insofern ist die imperiale Geschichte Russlands als Produkt von Verflechtungen zu begreifen, genauso wie die Geschichte der polnischen und der ukrainischen Nation nur mit dem Blick auf diese verständlich ist.
Verflechtungsgeschichte wird meist bilateral geschrieben, gute Beispiele dafür sind Klaus Zernacks Geschichte Polens und Russlands als «zwei Wege in der europäischen Geschichte» und Andreas Kappelers Geschichte Russlands und der Ukraine als «ungleiche Brüder». Beide Bücher sind als Doppelbiographien zweier Staaten bzw. Nationen angelegt. Dieses Buch geht anders vor: Es weitet den Blick auf die neuzeitliche Dreierbeziehung Russlands, der Ukraine und Polens, wobei Deutschland bzw. deutsche Territorialstaaten immer mitzudenken sind. Es konzentriert sich auf die Geschichte seit dem 18. Jahrhundert und berücksichtigt die mittelalterlichen Anfänge nur als Thema von moderner Geschichtspolitik.
Polen und die Ukraine erfuhren in der frühen Neuzeit, so unterschiedlich die Ausgangsbedingungen der Rzeczpospolita Polen und des ukrainischen Hetmanats waren, ein ähnliches Schicksal: Beide verloren in der Folge der russischen Expansion ihre Staatlichkeit und entwickelten einen ähnlichen Typus von Befreiungsnationalismus, der ein Bewusstsein von den demokratischen Strukturen der verlorenen Staatlichkeit bewahrte und zugleich universalistische, messianische Zukunftsprojektionen entwickelte. Wie der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak schreibt, begegnete der Westen der Ukraine im polnischen Gewand.[5] Die Entwicklung der modernen polnischen Nationsidee wurde durch den polnischen Novemberaufstand von 1830 angestoßen, etwa um dieselbe Zeit entstand auch das ideelle Gerüst der ukrainischen Nation mit Übertragungen von Ideen und Praktiken des polnischen Nationalismus. Die ukrainischen Bestrebungen nach Autonomie wurden im imperialen Zentrum Russlands durch das Prisma der Erfahrungen wahrgenommen, die es zuvor mit Polen gemacht hatte.
Angesichts der enormen Belastungen, die sich Russland mit seiner Herrschaft über Polen eingehandelt hatte, ging es für Petersburg darum, ein Überspringen des Separatismus vom äußeren Imperium (Polen) auf das innere Imperium (Ukraine) unbedingt zu verhindern. Polnische geopolitische Denker und Politiker entwickelten dagegen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Strategien, die auf der Einsicht basierten, dass sich die nationale Unabhängigkeit gegenüber dem Zarenreich bzw. der Sowjetmacht am besten in Verbindung mit der Ukraine erreichen und absichern ließe. Die Bezüge zwischen der Ukraine und Polen reichen bis in die sowjetische Periode. Stalins Entscheidung, die Hungerkatastrophe des Holodomor in der Ukraine Anfang der 1930er Jahre gezielt zu verschärfen und gleichzeitig eine Kampagne gegen die ukrainische Nationalkultur zu führen, sollte auch eine polnische Einflussnahme auf die Ukraine verhindern.
Die Geschichte der russisch-polnischen und der russisch-ukrainischen Beziehungen spielte und spielt sich im Rahmen eines Ost-West-Gegensatzes ab, in dem aus russischer Sicht Polen bzw. Ukrainer als Speerspitze des Westens erscheinen. Im aktuellen Krieg ist dies besonders deutlich. Larry Wolff hat in seinem bahnbrechenden Buch «Inventing Eastern Europe» (Stanford 1994) die Entstehung der Ost-West-Differenz auf eine Konstruktion der französischen und deutschen Aufklärung zurückgeführt. Die «Erfindung Osteuropas» durch die westeuropäischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts schuf demnach die Epistemologien, die später den mächtepolitischen Ost-West-Gegensatz zur Zeit Napoléons und dann im Kalten Krieg prägten und sich in Mauer und Stacheldraht materialisierten. Dieses Buch verfährt umgekehrt, es stellt «Inventing Eastern Europe» vom Kopf auf die Füße: Am Anfang war eine mächtepolitische Polarisierung zwischen Ost und West, die mit dem Aufstieg Russlands zur Hegemonialmacht im östlichen Europa zusammenhing. Dieser mächtepolitische Gegensatz, der seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts entstand, wurde später im 19. Jahrhundert ideologisiert. Nicht die Mächtepolitik folgte den ideellen Konstruktionen, sondern die Diskurse vollzogen eine mächtepolitisch vorgeprägte Kartographie nach. In diesem Prozess spielen die Teilungen Polens zwischen 1772 und 1795 und die damit einhergehende Abgrenzung von imperialen Einflusssphären im östlichen Europa eine maßgebliche Rolle. Es waren diese Weichenstellungen, die zwischen 1815 und den 1860er Jahren einen staatenpolitischen Ost-West-Gegensatz hervorbrachten, der im Laufe des 19. Jahrhunderts vom politischen Denken aufgenommen, ideologisiert und essentialisiert wurde, lange bevor es zum Gegensatz der Blöcke im 20. Jahrhundert kam.
Diese mächtepolitische und ideelle Begegnung mit Westeuropa hatte für Russland einschneidende Folgen. Im Zarenreich entstanden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kognitive Dissonanzen zwischen dem eigenen imperialen Hegemonialanspruch einerseits sowie wiederholten Rückschlägen in der internationalen Politik und Marginalisierungserfahrungen gegenüber einem fortschrittlichen europäischen Diskurs andererseits. Dies führte zu einem Komplex von russischem Exzeptionalismus und antieuropäischen Ideen, der für die Geschichte Polens und der Ukraine auf fundamentale Weise relevant wurde.
Denn die Vorstellung von einer besonderen russischen Mission entstand in der Auseinandersetzung mit Polen und der Ukraine und wirkte sich im Verhältnis zu diesen Ländern besonders folgenreich aus. Die Ideologen des russischen Imperiums sahen in dem nach Unabhängigkeit strebenden Polen den verlängerten Arm des Westens, während sie hinter dem ukrainischen Autonomieverlangen polnische Intrigen vermuteten, also mittelbar wiederum den Einfluss des Westens. Die imperial-nationalistischen und europafeindlichen Ideen beeinflussten nicht nur die Beziehungen zwischen dem Reichszentrum und seinen Peripherien, sondern wirkten auch auf die Ebene der internationalen Politik zurück. So standen Vorstellungen über strategische außenpolitischen Ziele Russlands in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Reichs- und Nationskonzept. Europafeindliche Diskurse und Ideen von russischem Exzeptionalismus hatten eine direkte Wirkung auf die russische Bündnispolitik. Sie bestimmten den Stil und oft auch den Inhalt von Russlands internationalem Auftritt. Die Dialektik von mächtepolitischen Strukturen und imperial imprägnierten Ideen hat Auswirkungen bis in die Gegenwart. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nur vor dem Hintergrund eines Sets von Ideen zu begreifen, das im späten 19. Jahrhundert entstand und in das bestimmte mächtepolitische Erfahrungen seit dem 18. Jahrhundert eingeschrieben sind. Dieser Zusammenhang zwischen der Außenpolitik und den Konstruktionen kollektiver Identität findet in der Russland-Geschichtsschreibung bislang nur sporadisch Aufmerksamkeit.[6] In der Politikwissenschaft nimmt er einen breiteren Raum ein.[7] Es geht dabei um einen wechselseitigen Einfluss. Auf der einen Seite wird, wie Ilya Prizel hervorhebt, nationale Identität durch Außenpolitik immer wieder neu definiert. Auf der anderen Seite ist «jedes außenpolitische Handeln identitätsgesteuert», wie z.B. Ursula Stark Urrestarazu betont.[8] In Bezug auf Russland heißt dies: Mächtepolitik generierte imperiale Ideologie, die wiederum Mächtepolitik hervorbrachte.
Nichts davon war unausweichlich. Wie die Bezüge zwischen der Vergangenheit des 18., 19. und 20. Jahrhundert zur Gegenwart zu fassen sind, ist die Herausforderung beim Schreiben dieses Buchs gewesen. Es gibt herausragende historische Studien, die in eine ganz eigene vergangene Welt mit ihren von der Gegenwart abweichenden Logiken einführen. Der Reiz solcher Bücher besteht darin, dass sie durch die Begegnung mit einer Vergangenheit, die so fremd ist wie ein fernes Land, die Selbstverständlichkeit des Hier und Jetzt auflösen. Vertieft man sich in die Geschichte des russisch-polnisch-ukrainisch-deutschen Beziehungsgeflechts seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, ergibt sich ein ganz anderer Eindruck: Die Vergangenheit und die Gegenwart sind vielfältig aufeinander bezogen, immer wieder begegnet man der Gegenwart in der Vergangenheit.
Die Bezüge zwischen den Zeitschichten entstehen auf verschiedene Weise: durch Geschichtszitate der historischen Akteure (1), durch Analogien, die sich dem Betrachter aufdrängen (2), und durch Pfadabhängigkeiten, die man für bestimmte Bereiche feststellen kann (3).
Erstens zitieren gegenwärtige Akteure die Vergangenheit und ziehen diese für ihre eigene Legitimation heran. Dafür bieten die Geschichtsessays, die Putin in den vergangenen Jahren verfasst hat, zahlreiche Beispiele. Putin beansprucht ausdrücklich, das Werk Peters fortzuführen, und stellt die Politik Alexanders III. so dar, dass diese wie eine Blaupause für seine eigene Politik wirkt. Vor allem entwirft Putin eine violent cartography (Michael Shapiro), einen moralischen und geographischen Imaginationsraum, der auf binären Gegensätzen von Ordnung und Chaos, Eigen und Fremd beruht und legitime Ziele von Gewalt verzeichnet. Diese Kartographie basiert auf historischen Versatzstücken – die heilige gemeinsame Vergangenheit von Russen und Ukrainern in der mittelalterlichen Rus’, die Dämonisierung der ukrainischen Führung als Fortsetzer Banderas und als fünfte Kolonne eines aggressiven Westens. Sie ist ein ideologisches Konstrukt aus historischen Zitaten, das in Russland seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Tradition hat.
Zweitens stößt man in der Geschichte Russlands, der Ukraine, Polens und deutscher Territorien immer wieder auf Analogien zwischen der Vergangenheit des 18., 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Hat die deutsche Polen-Begeisterung nach dem Aufstand von 1830/31 nicht Ähnlichkeit mit der Solidarität der deutschen Zivilgesellschaft mit den Ukrainerinnen und Ukrainern, die die Unabhängigkeit ihres Landes und gemeinsame demokratische Werte verteidigen? Die «Zeitenwende» wurde in Berlin bereits im 19. Jahrhundert, wenn auch mit anderen Begriffen, proklamiert, als die preußische Diplomatie im März 1848 kurzzeitig den Versuch machte, aus der Tradition der Russlandbindung auszubrechen. Diese Analogien erscheinen auf den ersten Blick nur als verblüffend. In dem epochalen Rahmen, der durch Russlands hegemoniale Politik gegeben ist, zeigen sie aber die Kontinuität von realen Zusammenhängen.
Drittens geht es um Pfadabhängigkeit (path dependency). Deren Grundgedanke ist es, dass der Ablauf von Prozessen durch zeitlich weit zurückliegende Ereignisse beeinflusst werden kann. Es wirken verschiedene Faktoren: die Beeinflussung durch frühere prägende Ereignisse (initial conditions) oder auch die sich selbst verstärkenden Wirkungen einmal eingeschlagener Wege (self-reinforcement, re-active sequence).
Die Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts ist durch Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, die aus dem Interesse Russlands an der Beherrschung seines ostmitteleuropäischen Vorfelds entstand. Dafür verband sich das Zarenreich mit Preußen und der Habsburgermonarchie, woraus bei allen Peripetien der Diplomatie eine beständige Struktur im europäischen Mächtesystem entstand.[9] Basierend auf dem gemeinsamen Interesse der drei osteuropäischen Mächte an der Kontrolle ihres Nachbarn Polen – einem der großen Territorialstaaten des frühneuzeitlichen Europa –, entwickelte sich ein stabiles System, das sich im Falle einer zeitweiligen Störung in der Folge anderer, zu ihm quer liegender Interessen als resilient erwies. Eine solche Störung bildete der Siebenjährige Krieg, in dem Russland und Preußen gegeneinander Krieg führten, sie wurde aufgehoben durch den Separatfrieden, den Sankt Petersburg und Berlin 1762 schlossen. Die Teilungen Polens zwischen 1772 und 1795 stellten das System auf eine neue Grundlage, sie hatten den Charakter von initial conditions, die langfristig prägend wurden. Die osteuropäischen Imperien hatten seitdem ein langfristiges gemeinsames Interesse daran, die gewonnenen Gebiete zu behalten, und sie leisteten sich gegenseitige Unterstützung, als sich diese Gebiete im 19. Jahrhundert zu revolutionären Unruheherden entwickelten. Die polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts forderten die Stabilität des Systems heraus, wirkten tatsächlich aber als sein self-reinforcement. Sie hatten zur Folge, dass aus der Übereinstimmung der osteuropäischen Imperien, derer sie sich bislang nur in Verträgen versichert hatten, eine tätige Solidarität bei der Niederschlagung der Aufstände wurde. Außerdem vertieften sie den ideellen Gegensatz zwischen den osteuropäischen Mächten, die auf ihrem Recht auf Annexion bestanden, und der westeuropäischen Öffentlichkeit mit ihren Idealen von Freiheit und Nationalstaatlichkeit. Der Pfad, der vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis in die 1870er Jahre führte, war von den Akteuren nicht geplant. Aus einem gemeinsamen mächtepolitischen Interesse an der Kontrolle Polens wurde ein gemeinamer Teilungsakt, daraus wiederum entstand eine Blockbildung in einem ideenpolitisch zwischen Ost und West gespaltenen Europa. Jede neue Station auf diesem Pfad war für die jeweiligen Akteure nicht absehbar. Speziell für Russland hatten die Aufstände von 1830/31 und 1863 eine starke transformative Wirkung nach innen, sie brachten ein antieuropäisches Selbstverständnis und die bereits erwähnte violent cartography hervor. In diesen Zusammenhang ordnete sich die ukrainische Frage ein, als sie in den 1860er Jahren aufkam. Mit der Ukraine verband das imperiale Zentrum in Petersburg seitdem die Befürchtungen und die Strategien, die es in Bezug auf Polen entwickelt hatte. Die historischen Obsessionen Putins und der russische Angriffskrieg stehen in diesem Zusammenhang.
Das Zarenreich hatte viele strukturelle Probleme, die langfristig wirksam wurden: zum Beispiel die nie überwundene wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber dem westlichen Europa, das Verhältnis von Staatsreform und traditionaler Gesellschaft und die unüberwindlichen Partizipationsdefizite in einem geographisch so ausgedehnten Reich. Zu diesen Fragen gibt es gute Literatur.[10] Das vorliegende Buch konzentriert sich auf etwas anderes: die Verbindung von imperialer Politik, Außenpolitik und Identitätsentwürfen, in der sich die Tradition des Imperiums mit russischem Nationalismus verband. Darin liegt der «Fluch des Imperiums».
Die Beschäftigung mit Pfadabhängigkeiten erfordert einen geschärften Sinn für Kontingenz in der Geschichte, denn Kontinuitäten werden in ihrer Wirksamkeit nur sichtbar, wo bestehende Strukturen durch Wandel, unerwartete Ereignisse und die Absicht von Akteuren zum Neuanfang herausgefordert werden.[11] Solche Einschnitte kann man z.B. in dem programmatischen Versuch Alexanders I. sehen, einen neuen Ansatz in der Polenpolitik zu erproben, oder in der erklärten Absicht der Bol’ševiki, das imperiale Erbe des großrussischen Chauvinismus hinter sich zu lassen. Nur wenn man die grundsätzliche Offenheit der Entwicklung annimmt, sind die Faktoren zu bestimmen, die die russische Geschichte seit dem 18. Jahrhundert auf bestimmten Bahnen gehalten hat. Als Ergebnis dieser Tradition liegen heute für die russische Politik historisch akkumulierte Politik- und Kulturmuster bereit, mit denen gegenüber der russischen Öffentlichkeit der Angriff auf ein souveränes Nachbarland legitimiert werden kann. Diese Traditionen bilden nur die Bedingung für die Möglichkeit des verbrecherischen Krieges, dessen Augenzeugen wir sind. Dass Putin diese Möglichkeit ergriffen hat, war seine Wahl und ist seine Schuld.
Einen Fluch kann man brechen. Russland muss aufhören, in machtpolitischen Einflusssphären zu agieren, und den Großmachtchauvinismus des 19. Jahrhunderts überwinden. Das ist für die Ukraine wichtig, deren staatliche Integrität wiederzustellen ist, damit sie als Mitglied der Europäischen Union eine wirtschaftlich prosperierende und politisch einflussreiche Position gewinnen kann. Nur der Rückzug aus der Ukraine wird aber auch für Russland selbst die Möglichkeit eines grundlegenden Neuanfangs schaffen. In der ersten Liga der Weltpolitik wird es dann nicht mehr spielen. Aber in einer multilateralen Ordnung hat es Möglichkeiten, die es bislang, verblendet von seiner imperialen Tradition, nicht ergriffen hat. Russland kann z.B. die Rolle eines eurasischen Kanada einnehmen, immer noch im Besitz von ausgedehnten geographischen Räumen, natürlichen Ressourcen und guten Bildungseinrichtungen.
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Die Geschichte seit dem 18. Jahrhundert hat auch die Namen von Staaten, Regionen und Städten verändert. Besonders betrifft dies die Ukraine. Ihre Städte werden durchgehend mit den neuen ukrainischen Namen – also Kyiv statt Kiew, Odesa statt Odessa – genannt, auch wenn dies in Bezug auf das 18. und 19. Jahrhundert anachronistisch erscheinen mag.
Kapitel 1
Etwa 100 Tage nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, am 9. Juni 2022, lud Vladimir Putin junge Unternehmerinnen, Ingenieure und Wissenschaftler zu einem Gespräch, das den Eindruck moderner politischer Kommunikation erwecken sollte. In betont ungezwungener Atmosphäre legte der Präsident die Grundzüge seiner Politik dar und versprach, Anregungen aus dem Gespräch an seinen Premierminister weiterzugeben. Er saß den Vertretern einer Leistungselite gegenüber, deren berufliche Zukunft sich nach der Verhängung der Sanktionen verfinstert hatte. Viele qualifizierte junge Russinnen und Russen kehrten ihrem Land den Rücken und ließen sich in der Türkei, in Armenien oder Georgien nieder. Nicht von ungefähr wählte Putin für sein Gespräch den Ort der «Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft» (VDNCh) in Moskau, einst von Nikita Chruščev gegründet, um die sowjetische Überlegenheit gegenüber westlicher Technologie zu demonstrieren. Berühmt wurde die Ausstellung des Sputnik-Satelliten in der VDNCh. So transportiert das Ausstellungsareal die nostalgische Erinnerung an einen Wettlauf, den die Sowjetunion einst gegen den Westen gewann, als sie mit dem ersten Satelliten und mit Jurij Gagarin als erstem Kosmonauten in den Weltraum vorstieß. Putin spielte also auf die vergangene Zukunftsfähigkeit der Sowjetunion an und leitete daraus unbestimmte Verheißungen für die Entwicklung Russlands ab.
Viel wichtiger war für ihn aber eine andere Vergangenheit, nämlich die Geschichte Peters I., dessen 350. Geburtstag die aktuelle Ausstellung der VDNCh gewidmet war und der als Peter der Große in die Geschichtsbücher einging. Was Putin am 9. Juni über die aktuelle Bedeutung der Zarenzeit sagte, bildete den archaischen Kontrapunkt zu seinem vagen Zukunftsdiskurs. Es gehe heute wieder um das «Erobern und Befestigen» von Territorien. Putin offenbarte damit, dass er sich von ausgefeilteren Mitteln der Machtausübung abgewandt hatte: Nachdem vor dem Krieg sein Versuch gescheitert war, die Ukraine durch wirtschaftlichen Druck in den russischen Orbit zurückzuzwingen, und der Überfall auf die Ukraine nicht zur Installation eines russischen Marionettenregimes in Kyiv geführt hatte, bekannte sich der russische Präsident jetzt zu einem vormodernen Politikmuster, zur Anwendung harter militärischer Macht nach Zarenart.
Abb. 1 · Betont ungezwungene Atmosphäre: Vladimir Putin vor Jungunternehmern in Sankt Petersburg am 9. Juni 2022.
Peter I. ist für Putin usable past, eine Vergangenheit, mit der er seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine rechtfertigt. Auch Peter I. habe im Nordischen Krieg «russisches Land» zurückgeholt. Damit meinte Putin die Region, in der Peter die neue Hauptstadt Russlands, Sankt Petersburg, gegründet hatte. Tatsächlich war das Küstenland vor Peter nur vorübergehend vom Moskauer Zarentum beherrscht worden. Mit dem Rückgriff auf Peter I. gab Putin das «Erobern und Befestigen» von Territorien als die epochenübergreifende Essenz russischer Geschichte aus. Bei aller Bedeutung von wissenschaftlicher und technologischer Innovation ist dies, so muss man Putin verstehen, die harte Währung der russischen Politik. Diese Botschaft sollte der jungen Elite mitgegeben werden.
Dass Putin seine Politik mit dem historischen Rückgriff auf Peter I. rechtfertigte und sich selbst in die Rolle eines Fortsetzers des großen Zaren stellte, ist übliche Geschichtspolitik. Besonders sind daran allenfalls die Aggressivität der Botschaft und die Vermessenheit, mit der ein lebender Politiker sich persönlich, mit seinen eigenen Worten, in die Nachfolge eines großen Herrschers stellt. Doch reichen die Bezüge zwischen Peter und Putin tiefer, als es diese Instrumentalisierung von Geschichte erkennen lässt. Mit der Herrschaft Peters I. entstanden eine imperiale Politik und eine politische Identität Russlands, deren Wirkungen bis in die Gegenwart reichen. Es bildeten sich Konstellationen in der internationalen Politik, die grundsätzlich bis heute wirksam sind. Der Anspruch, die Ukraine zu beherrschen, verbunden mit einer Hegemonialpolitik gegenüber Ostmitteleuropa, dem Baltikum und dem Balkan, spezielle russisch-deutsche Beziehungen, die auch eine Rohstoffkomponente haben, der Ost-West-Gegensatz, das alles sind Kennzeichen der russischen Politik, die unter Peter I. erstmals hervortraten. Doch ist Putin nicht der Fortsetzer, sondern der Verderber des petrinischen Erbes. Was mit Peter begann, endet voraussichtlich mit der von Putin verursachten «Zeitenwende».
Es entspricht dem allgemeinen Geschichtsbild, Peter I. (1672–1725) vor allem mit der Europäisierung des Zarenreichs zu verbinden. Peter bahnte, so die weitverbreitete Einsicht, Russlands Weg nach Europa. Als Modernisierer habe er «das Fenster nach Europa» geöffnet. In der Tat unternahm der Herrscher höchstpersönlich unter einem Pseudonym eine Europareise, brachte Neuerungen aus dem Bereich der Militärtechnik und des Schiffsbaus nach Russland und reformierte russische Institutionen und Sitten nach europäischen Vorbildern. Bärte wurden geschoren und europäische Kleidung angelegt. Dies alles hatte gravierende Schattenseiten, aber gerade von außen gesehen waren Öffnung und Entwicklung das Signum der Epoche. Ausländer, vor allem Deutsche, machten fabelhafte Karrieren am Zarenhof, wie z.B. der aus Bochum stammende Pastorensohn Heinrich Ostermann (1687–1747), der unter Peter zum Außenminister und Vizekanzler aufstieg. Der Zar reformierte den Adel nach meritokratischen Gesichtspunkten, was zur Folge hatte, dass es in der russischen Elite mehr Aufsteiger und Absteiger als in den traditionsverhafteten europäischen Adelskulturen gab. Russland war in Bewegung und offen für Einflüsse von außen.
Mächtepolitik kommt in dieser Erzählung der von Peter betriebenen Europäisierung Russlands nur am Rande vor. Doch hat «Moskaus Weg nach Europa» eine doppelte Bedeutung. Die Formel verweist nämlich nicht nur auf die innere Transformation des Zarenreichs nach europäischen Vorbildern, sondern auch auf das Vordringen Russlands nach Europa als neue Großmacht. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts revolutionierte Russland durch Krieg und Diplomatie die mächtepolitischen Verhältnisse in drei europäischen Regionen: an der Ostsee, in Polen und am Schwarzen Meer. Indem Russland unter Peter I. und Katharina II. seinen Einfluss in diesen Regionen erheblich erweiterte, forderte es das europäische Staatensystem fundamental heraus. Vor Peter I. hatte im östlichen Europa ein von Frankreich gelenktes Bündnissystem dominiert, das für Paris die Funktion besaß, den Erzrivalen Habsburg mächtepolitisch in Schach zu halten. Dazu schloss Paris im 16. und 17. Jahrhundert Verträge mit Schweden, Polen und dem Osmanischen Reich, die gemeinsam eine «barrière de l’Est» im Rücken der Habsburgermonarchie bildeten. Das Zarenreich spielte in diesem Bündnissystem noch keine Rolle. Im 18. Jahrhundert wurden die Karten jedoch neu gemischt, und es war Russland, das mit seinem Vordringen nach Europa die Revolution im Staatensystem auslöste. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstand daraus als neues europäisches Mächtesystem, die Pentarchie mit England, Frankreich, Habsburg, Preußen und Russland. Das Zarenreich, um 1700 noch ein Randstaat an der östlichen Peripherie des Kontinents, dominierte hundert Jahre später die Ostsee und das Schwarze Meer und hatte zusammen mit Preußen und Österreich Polen geteilt. Schon im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, in der Zeit Peters I., hatte Russland, wie Leopold von Ranke schrieb, begonnen, «im Norden Gesetze zu geben»,[1] in der Zeit Katharinas II. war Russland im östlichen Teil des Kontinents übermächtig.
Die Beherrschung der Ukraine bildete teilweise die Voraussetzung, teilweise das Ziel von «Moskaus Weg nach Europa». Am Anfang dieses Weges stand die Teilung der Ukraine, die rund hundert Jahre vor den Teilungen Polens geschah. Die Ukraine bildete allerdings kein geschlossenes Herrschaftsgebiet, und ihre Bewohner bekannten sich nicht zu einer ukrainischen Nation. Von ethnischen Ukrainern besiedelt waren die Sloboda-Ukraine mit Charkiv als Zentrum, die schon im 17. Jahrhundert unter Moskauer Herrschaft gelangt war, die Kosakengebiete östlich des Dnipro, die polnisch geprägten Regionen Podolien und Wolhynien sowie Ruthenien und die Karpatho-Ukraine, die am Ende des 17. Jahrhunderts zur Krone Ungarns gehörte. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die Schwarzmeerküste und das Donezbecken u.a. von ukrainischen Siedlern kolonisiert. Ukrainer lebten also im 16./17. Jahrhundert zwischen mehreren Herrschaftszentren, abgesehen vom Osmanischen Reich im Süden waren dies vor allem das Königreich Polen-Litauen und das Moskauer Zarentum. Diese Staaten repräsentierten verschiedene Herrschaftsformen, zwischen ihnen bestand nicht nur eine mächtepolitische Konkurrenz, sondern auch ein frühneuzeitlicher Systemkonflikt.
Polen-Litauen, die im 16. Jahrhundert dominierende Macht in Ostmitteleuropa, bildete zunächst einen losen Zusammenschluss des Königreichs Polen mit dem Großfürstentum Litauen; die beiden Länder waren nur durch den gemeinsamen Herrscher aus der Jagiellonen-Dynastie miteinander verbunden. Im polnischen Teil des Doppelstaats genossen die Stände des Adels und hohen Klerus weitreichende Rechte. Auf Reichs- und Landtagen bestimmten sie über das Budget, über Krieg und Frieden und wählten den König. Im 15./16. Jahrhundert verwandelten sich Polen und Litauen schrittweise von einer Personalunion in eine Realunion. Die polnische Ständestaatlichkeit mit ihren weitreichenden Partizipationsrechten der gesellschaftlichen Eliten wurde dabei schrittweise auf Litauen übertragen. Diese strukturelle Assimilation des Großfürstentums Litauen durch das Königreich Polen fand ihren Abschluss in der Union von Lublin (1569), die Polen-Litauen zu einem einheitlichen Staatsverband machte, in dem die Magnaten und der hohe Klerus das Sagen hatten. Zu diesem Zeitpunkt war die Adelsrepublik, die sogenannte Rzeczpospolita, auf dem Gipfel ihrer Macht. Fast alle ukrainischen Territorien gehörten zu ihr.
Eine ganz andere Entwicklung nahm der Moskauer Staat in der Frühneuzeit. Auch in dem Großfürstentum hatte es neben dem Herrscher, der seit 1547 den Zarentitel führte, mächtige Adlige, die Bojaren, gegeben. Im Gegensatz zu Polen entwickelte sich Moskau jedoch nicht zu einem Ständestaat mit verbrieften Adelsrechten. Dem Zaren gelang vielmehr die Zurückdrängung der Bojaren-Macht, und er schuf damit ein autokratisch verwaltetes Staatswesen, dessen Grundsätze in dem Sudebnik Carskij, dem zarischen Gesetzbuch von 1549, und zwei Jahre später auf der Hundert-Kapitel-Synode in Moskau zusammengefasst wurden. Außenpolitisch zeichnete sich der Moskauer Staat durch ein expansives Ausgreifen aus. Er verstand sich als legitimer Nachfolger der Kyiver Rus’ und ordnete sich andere russländische Fürstentümer unter, die im Mittelalter zu deren Herrschaftsverband gehört hatten. Die Eroberungen gingen über den russländischen Bereich hinaus, als Moskau 1552 Kasan und 1556 Astrachan eroberte und damit erstmals in großem Umfang auch nicht-slavische und nicht-orthodoxe Ethnien beherrschte. Moskau wurde zum Imperium.[2]
In diese Periode fiel auch Moskaus Angriff auf Livland, eine mittelalterliche Konföderation auf dem Gebiet des heutigen Estland und Lettland. Im Hintergrund standen schon damals, fast eineinhalb Jahrhunderte vor Peter I., handelspolitische Interessen Moskaus an einem Zugang zur Ostsee, das heißt an einer Verkürzung des bestehenden europäisch-russischen Seewegs über das Nordkap und das Weiße Meer. Es ging um den Handel mit der englischen Muscovy Company, um die Lieferung von Waffen und Tuchen im Austausch gegen russische Rohstoffe wie Hanf und bald auch Holz. Nach der Serie von militärischen Erfolgen, die Moskau im Süden errungen hatte, dürfte sich der Krieg gegen die noch mittelalterlich geprägte Ständeherrschaft Livlands als keine schwierige Aufgabe dargestellt haben. Zar Ivan IV. betrachtete den Angriff wohl als begrenzte Militäroperation. Tatsächlich löste Moskaus Griff nach der Ostseeküste 1558 jedoch einen langwierigen Krieg aus. Polen-Litauen und Schweden intervenierten gegen Moskau. Zu den nicht-intendierten Folgen des russischen Angriffskriegs gehörte die innere Konsolidierung Polen-Litauens, denn der verfassungspolitische Zusammenschluss von Polen und Litauen erschien den adligen Eliten beider Länder angesichts der russischen Herausforderung als Gebot der Stunde. Sie vertieften die Integration und schlossen die Lubliner Realunion von 1569. Die äußere Bedrohung erzwang die innere Konsolidierung. Nach 25 Jahren wurde der Krieg beendet. Warschau und Stockholm hatten gesiegt, Russland stürzte in eine tiefe Krise.[3]
Für die Ukrainer hatte das Erstarken der Adelsrepublik Polen ambivalente Folgen. Mit der Union von Lublin verstärkte sich ein Trend der kulturellen Assimilierung auf die ethnisch nicht-polnische Bevölkerung Polens, speziell auch auf die Ukrainer. Diese Tendenz kulminierte in der Union von Brest (1596), in der die griechisch-katholische Kirche geschaffen wurde, die den orthodoxen Ritus bewahrte, aber den Papst als Oberhaupt anerkannte und deshalb auch Unierte Kirche genannt wird. Aus der Sicht vieler Orthodoxer handelte es sich bei der Gründung der neuen Kirche um eine katholische Offensive, die die Ukrainer ihres Glaubens und ihrer Kultur berauben sollte.[4] Dem stellten sich orthodoxe Bruderschaften in ukrainischen Städten, aber auch die Kosaken entgegen, die nomadisch am unteren Dnejpr und unteren Don lebten, wo sie befestigte Lager unterhielten und einen erheblichen regionalen Machtfaktor darstellten. Sie bildeten «eine Art Militärdemokratie»[5], das heißt, das Heer der Kosaken wurde von einem Hetman geführt, der von einer Versammlung aller Kosaken, dem Kolo (Ring), gewählt wurde. Der Hetman übte eine absolute Befehlsgewalt aus, die nur durch das Wahlprinzip begrenzt wurde. Militärischer Gehorsam und protodemokratische Elemente kamen in der politischen Organisation der Kosaken zusammen. Die Herrschaft der Kosaken war vor allem für leibeigene Bauern attraktiv, die sich durch Flucht dem Joch und dem Zwang der Gesetze Polens und Moskaus entziehen wollten. Zwischen dem Königreich Polen und dem Zarentum Moskau stellte die ukrainische Zaporoger Sič ein Herrschaftszentrum dar, das zwischen Warschau und Moskau allerdings nicht unabhängig agieren konnte. Politisch standen die Kosaken unter einer losen Oberherrschaft des polnischen Staats, der spezielle Kosakenverbände, die sogenannten Registerkosaken, zur Absicherung seiner Grenze im Südosten unterhielt. Durch die orthodoxe Konfession waren die Kosaken hingegen mit dem Zarenreich verbunden.
Die Union von Brest mit der Gründung der unierten Kirche politisierte die Kosaken. Ihr Hetman Petro Konaševyč-Sahajdačnyj (1570–1622) trat offen für die Verteidigung der Orthodoxie ein und brachte die Kosaken damit in einen Gegensatz zum polnischen Staat. Wiederholt formierte sich Protest gegen die polnische Oberherrschaft, der sich auch aus sozialen Fragen, zum Beispiel dem Entzug von Privilegien oder dem Ausbleiben von Soldzahlungen, speiste. Den größten Kosakenaufstand führte 1648 Bohdan Chmel’nyc’kyj (1595–1657) an, der lange das typische Leben eines in die polnischen Strukturen eingebundenen ukrainischen Kleinadligen geführt hatte. Dazu gehörten seine jesuitische Bildung und sein Dienst im Heer der Registerkosaken. Erst zwei Jahre vor dem Aufstand hatte er im Streit mit einem polnischen Adligen seine Rechtlosigkeit erfahren und daraufhin sein Gut und seine Familie verlassen, um für die Anerkennung der traditionellen Privilegien der Kosaken, darunter Steuerfreiheit und Erhalt der paramilitärischen Strukturen, in den Kampf zu ziehen. 1648 ließ er sich von den Zaporoger Kosaken zum Hetman wählen und führte die Kosaken in eine Erhebung gegen Polen. Diese glich, so Marc Raeff, dem «Modell feudaler Revolten und Rebellionen im Namen eines regionalen Partikularismus in Westeuropa», denn die Kosaken widersetzten sich dem Druck rationaler Modernisierung und der Institutionalisierung von politischer Autorität. «Sie betrachteten ihre Beziehung zum Herrscher als eine spezielle und persönliche, die auf ihren freiwilligen Dienstleistungen basierte, wofür sie im Gegenzug die Verteidigung ihres Glaubens, ihrer traditionellen Sozialform und ihrer Verwaltungsautonomie vom Herrscher erwarteten.»[6]
Aus der Sicht der Kosaken war die Legitimation für die polnische Oberherrschaft nicht mehr vorhanden. Der Vormarsch Chmel’nyc’kyjs war von Massakern begleitet, die die Kosaken an Juden, Polen, Jesuiten und römisch-katholischen Geistlichen begingen. Tausende Juden fielen dem zum Opfer. Chmel’nyc’kyj verbündete sich mit dem Khan der Krim, dessen tatarische Reiterei die kosakischen Truppen verstärkten. Der Vormarsch verlief zunächst erfolgreich, doch dann erlitten die Kosaken Niederlagen gegen das königlich polnische Heer. In dieser Situation suchte der Hetman die Unterstützung Moskaus. Auf der kosakischen Rada von Perejaslav kam es im Januar 1654 zum Treueschwur des Großteils der Kosakenelite auf den Zaren. Die Mitglieder des Rats der Kosaken sowie Kosakenregimenter leisteten einen Treueeid auf Zar Aleksej. Dafür erhielten sie das Recht der freien Wahl ihrer Hetmane zugesichert sowie Besitzstandsgarantien für ihre Ländereien. Der Vertrag von Perejaslav sah vor, dass sich der Zar zum Schutz des Hetmanats und zur Kriegserklärung an Polen-Litauen verpflichtete. Diese konkreten und pragmatischen Bestimmungen zeichneten den Vertrag aus, nicht die Vorstellung, dass eine «Wiedervereinigung» von Russland mit der Ukraine zustande gebracht worden wäre. Die politischen Traditionen, die Kulturen und der Lebensstil von Russen und Kosaken waren grundverschieden. Die «ungeliebte Allianz» (Hans-Joachim Torke) folgte einer mächtepolitischen Logik im beiderseitigen antipolnischen Interesse, sie stand nicht in einer historisierenden Tradition der Wiederherstellung der Kyiver Rus’ und der Moskauer Mission der «Sammlung der russischen Erde».[7] Paradoxerweise wurden entsprechende ideologische Positionen nach dem Vertragsschluss von ukrainischen orthodoxen Klerikern formuliert, die im Zarenreich einflussreich wurden und sich gegen Ressentiments russischer Kleriker mit dem Hinweis auf die gemeinsamen Wurzeln Russlands und der Ukraine zu schützen versuchten.[8] Bis heute wird der Vertrag in der Ukraine als ein Abkommen zweier unabhängiger Staaten verstanden, während die russische Geschichtsschreibung darauf besteht, dass es sich um eine unwiderrufliche Unterwerfung des Kosakenstaates unter das Zarenreich handelte.
Die Kosaken betrieben nun erstmals internationale Politik. Durch Chmel’nyc’kyjs Seitenwechsel und die kosakische Staatsgründung wurde das Hetmanat zum Gegenstand der politischen Rivalität zwischen Warschau und Moskau und fiel damit auch den Logiken der Mächtepolitik zum Opfer. Auf der Grundlage des neuen Treueverhältnisses zwischen dem Zaren und den Kosaken erklärte der Moskauer Herrscher Polen den Krieg, der nach 13 Jahren mit dem Vertrag von Andrussovo (1667) beendet wurde.[9] Im Ergebnis wurde das Hetmanat zwischen Russland und Polen geteilt. Die östlich des Dnipro gelegenen Territorien, die man im Hinblick auf die Fließrichtung des Stroms «linksufrige» Ukraine nennt, fielen an das Zarenreich, die westlichen Gebiete, die sogenannte rechtsufrige Ukraine, an Polen. Der Vertrag von Andrussovo beendete die jahrhundertelange polnisch-litauische Dominanz in Osteuropa zugunsten Russlands.
Das Hetmanat blieb von westlichen Autonomievorstellungen geprägt, auch als es sich mächtepolitisch mit Moskau verband. Sinnfällig wird dies in der Geschichte von Baturyn, heute eine kleine Stadt mit 2500 Einwohnern in der nordukrainischen Oblast Černigiv. Im 17. Jahrhundert wählten die Kosaken Baturyn zunächst provisorisch zur Hauptstadt, die sie 1648 der polnischen Herrschaft entrissen. Sechs Jahre später, also im Jahr des Vertragsschlusses von Perejaslav, erhielt Baturyn das Magdeburger Stadtrecht und erfreute sich damit der Selbstverwaltung, die durch Polen weit in das östliche Mitteleuropa verbreitet wurde.[10] Innere Verwestlichung und machtpolitische Verbindung mit dem Zarenreich Moskau fielen in Baturyn zeitlich zusammen.
Das Zusammengehen mit Russland zwang das ukrainische Hetmanat von Anfang an zu einem Spagat: Die Kosaken wollten ihre Autonomie bewahren, während der Zar bestrebt war, seine nominelle Oberherrschaft über das Hetmanat in direkte Kontrolle zu verwandeln. Die Kosaken wurden von dem Hetman Ivan Mazepa (1687–1709) geführt, der an der Kyiver Akademie und im Warschauer Jesuitenkolleg studiert und im Dienst des polnischen Königs gestanden hatte, bevor er die Seiten wechselte und mit russischer Hilfe im linksufrigen Kosakenstaat zum Hetman aufstieg.[11] Mit der Unterstützung Peters I. und eigenem Erwerbssinn gelang es ihm, unermesslichen Reichtum zu erwerben – 20.000 Güter zählte er sein Eigen und war damit einer der reichsten Männer Europas. Er baute Baturyn zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Hauptstadt aus. Kaufleute und Handwerker ließen sich in der Stadt nieder, die zum Zentrum von Schmiedehandwerk, Buntmetallguss und der Herstellung von Waffen, Schmuck, Glas, Lederwaren, Textilien sowie Töpferwaren wurde. Die Stadt unterhielt umfangreiche kommerzielle und kulturelle Kontakte nach West-, Mittel- und Osteuropa. Mazepa finanzierte den Bau der großen Dreifaltigkeitskathedrale und weiterer Kirchen. Er gründete eine höhere weltliche Schule für die Ausbildung von Diplomaten, Schatzmeistern, Juristen, Kanzlern und anderen Beamten des Hetmanats. In Hončarivka, einem Vorort von Baturyn, ließ Mazepa einen dreistöckigen Palast im westlichen Barockstil errichten, der Säle für diplomatische Audienzen, Ratssitzungen und Bankette umfasste. In der Zeit Mazepas wurde Baturyn zu einer der großen und prosperierenden Städte der frühneuzeitlichen Ukraine.[12]
Abb. 2 · Ansätze einer ukrainischen Staatlichkeit: das Siegel Ivan Mazepas aus dem 17. Jahrhundert.
Grundlage dieser Erfolge war eine Politik der demonstrativ bezeugten Treue, die Mazepa gegenüber dem Zaren betrieb. Als Peter I. 1689 auf den Thron gelangte, unterstützte der Hetman den jungen Zaren sofort loyal bei seinen Feldzügen gegen das Osmanische Reich und die Tartaren. An dem größten militärischen Erfolg Peters I., der Eroberung der osmanischen Festung Azov am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres, hatte Mazepa maßgeblichen Anteil. Zwischen beiden Herrschern entstand auch eine persönliche Freundschaft. Als Peter I. zusammen mit Dänemark und Polen 1700 Schweden angriff und damit den großen Nordischen Krieg (1700–1721) um die Vorherrschaft an der Ostsee vom Zaun brach, stand Mazepa an seiner Seite. Russland erlitt zunächst verheerende Verluste, als es versuchte, die schwedisch beherrschte Ostseeküste, also Ingermanland und Livland, im Handstreich zu erobern. Der Krieg weitete sich aus, als der schwedische König Karl XII. Polen angriff, um das Königtum aus der gegnerischen Allianz herauszubrechen. Jetzt erst, angetrieben durch die Erfordernisse des Kriegs, begann Peter eine systematische Modernisierung des russischen Staats- und Militärwesens. Vereinheitlichung und Zentralisierung waren – im Sinne des europäischen Absolutismus – die Leitideen, mit denen der Staat militärisch leistungsfähiger gemacht werden sollte. Es war also das machtpolitische Expansionsstreben nach Europa, das die «Europäisierung» des Zarenreichs wesentlich vorantrieb. Die Verankerung von Selbstbestimmungsrechten, wie sie Baturyn und andere ukrainische Städte genossen, gehörte nicht zu Peters Politik. Vielmehr handelte es sich im Wesentlichen um eine Rationalisierung der Staatsverwaltung und des Heeres nach den Mustern des europäischen Absolutismus. Mit diesem Streben nach Vereinheitlichung stellte sich aber das Verhältnis zwischen dem Moskauer Staat und dem ukrainischen Hetmanat neu dar. Die von den Kosaken gehütete Autonomie, speziell die Aufstellung eigener Truppen, die nicht vom russischen Staat ausgehoben und geschult wurden, erschien jetzt als anachronistischer Fremdkörper. Als das Kosakenheer erstmals nicht gegen die traditionellen Feinde wie das Osmanische Reich und das Krim-Khanat, sondern fern der Heimat gegen die europäische Militärmacht Schweden eingesetzt wurde, erwies sich seine Unterlegenheit. Jahr für Jahr erlitten die Kosaken Verluste von 50 Prozent ihrer Truppenstärke und mehr. Ihre Kampfmoral wurde weiter geschwächt, als Peter I. 1705 russische und deutsche Offiziere in den Kosakenregimentern einsetzte.[13]
Seitdem der schwedische König Karl XII. versuchte, die gegnerische Koalition aufzubrechen, bildete Polen den zentralen Kriegsschauplatz, auf dem sich europäische Mächtepolitik und ein interner Stellvertreterkrieg überlagerten. Gegen den mit Russland verbündeten polnischen König und sächsischen Kurfürsten August II. unterstützte Schweden den Gegenkönig Stanisław Leszczyński. Als dieser mit einer Invasion in die Ukraine drohte, war aus Mazepas Sicht der Bündnisfall eingetreten, der mit dem Vertrag von Perejaslav festgelegt war. Peter beschied jedoch dem Hetman, er solle die Ukraine selbst verteidigen.[14] Damit war die Grundlage der kosakischen Loyalitätspolitik entfallen. Als Karl XII. im Oktober 1708 mit seinem Heer in die Ukraine eindrang, wechselte der Hetman die Seiten, 3000 Kosaken folgten ihm. Peter I. reagierte mit einer schonungslosen Vernichtungspolitik. Dem Kommandeur der zarischen Truppen in der Ukraine Aleksandr Menšikov, unter dessen Befehl zwanzig Dragonerregimenter mit 15.000 bis 20.000 Dragonern standen, erteilte Peter den Befehl, die kosakische Hauptstadt Baturyn zu zerstören. Menšikov forderte die befestigte Stadt zur Kapitulation auf, die dies jedoch verweigerte und mit Kanonen das Feuer auf seine Stellungen eröffnete. Den russischen Truppen gelang es am 13. November 1708, in die Stadt einzudringen. Sie ermordeten die gesamte Bevölkerung von 6000 Männern, Frauen und Kindern. Eine Herrschaft des Terrors begann in der Ukraine, in der jeder, der verdächtigt wurde, mit Mazepa gemeinsame Sache zu machen, getötet wurde.
Seit 1995 wird das Massaker von Baturyn in einer ukrainisch-kanadischen Kooperation archäologisch untersucht. In den Jahren 1996–2007 entdeckten Archäologen in Baturyn 138 Gräber aus der Regierungszeit von Ivan Mazepa, 65 davon gehören zu den bei der Eroberung von Baturyn Gefallenen. Seit 2008 fanden Umbettungen der Opfer von Baturyn in die Krypta der Auferstehungskirche auf dem Gelände der Gedenkstätte statt. Heute ruhen mehr als 500 sterbliche Überreste von Verteidigern und Zivilisten in 74 Särgen in der Krypta der Kirche. Zum 300. Jahrestag der «Baturyn-Tragödie», wie die Ereignisse vom November 1708 in der Ukraine heute offiziell genannt werden, hielt Präsident Viktor Juščenko (*1954) eine Rede, in der er Baturyn mit dem Holodomor, der großen Tragödie der Ukraine im 20. Jahrhundert, verknüpfte. Seit 2018 wird der 2. November als Tag des Gedenkens an die Baturyn-Tragödie in der Ukraine auf staatlicher Ebene begangen. Im russisch-ukrainischen Krieg 2022 ist Baturyn zum Symbol einer epochenübergreifenden Vernichtungspolitik Russlands geworden. Beispielhaft hierfür ist ein ukrainisches YouTube-Video «Von Baturyn nach Butscha: Wie Russland versuchte, die Ukraine zu zerstören».[15]
Im Juni 1709 konnte Peter I. in der Nähe der ukrainischen Stadt Poltava den schwedischen König Karl XII. und den ukrainischen Hetman Mazepa entscheidend schlagen. Poltava stellte den militärischen Wendepunkt im Krieg dar. Noch bedeutsamer war die Schlacht für das Selbstverständnis Russlands. Der Triumph des Zaren wurde dadurch vollkommen, dass der Rektor des Kyiver Kollegiums Feofan Prokopovič (1681–1736), einst ein Günstling und Panegyriker (Lobredner) Mazepas, nun seinen einstigen Wohltäter in einer langen Rede vor dem Zaren verdammte. Der Zusammenhang zwischen Außen- und Sicherheitspolitik und der imperialen bzw. nationalen Identität Russlands trat hier das erste Mal hervor. «Poltava» wurde zu einem Gründungsmythos des russischen Imperiums, dessen Fundament wenige Wochen nach der Schlacht in einer Predigt Prokopovičs am 22. Juli 1709 in der Sophienkathedrale in Kyiv gelegt wurde. Der Theologe feierte den Zaren und formulierte damit Ideen, die für das Selbstverständnis der russischen Herrschaft prägend wurden: Er pries Peter I. nicht nur als siegreichen Feldherrn, sondern auch als Retter Russlands und als «Vater des Vaterlands».[16] Er etablierte das Bild von Peter dem Großen als Archetyp einer heroischen und gottähnlichen Figur, als Herrscher, der «über den Menschen steht und für das Wohl seiner Untertanen arbeitet.»[17] In der Apotheose des Herrschers, die sich nach Poltava am Zarenhof etablierte, hatte der Adel an der Seite des Zaren seinen Platz, «Zar und Adel ergänzten sich in einer gegenseitigen Symbiose, in der die Interessen des Hofs und des Adels mit dem allgemeinen Wohl des Landes gleichgesetzt wurden.»[18] Eroberung und Modernisierung gingen in das Bild des idealen russischen Herrschers ein, während zugleich die Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft und des Adels als Besitzer von Leibeigenen als Grundlagen des russischen Staates bekräftigt wurden. Bei aller Zaren-Panegyrik blieb Prokopovič ein zutiefst polnisch geprägter Geist: Seine Verse auf Peters Sieg in Poltava veröffentlichte er in Kirchenslawisch, Latein und Polnisch, wobei die polnische Version der Ursprungstext war. Was zum russischen Gründungsmythos «Poltava» gemacht wurde, entsprang Traditionen, die auf die ethnische Vielfalt und Uneindeutigkeit der Region hindeuteten. Der aus der Ukraine kommende Kulturtransfer revolutionierte die politische Sprache in Russland und etablierte eine Vorstellung der Zusammengehörigkeit von ethnischen Russen (Großrussen) und Ukrainern (Kleinrussen). Dies waren komplexe Vorgänge, die nicht, wie es der Historiker Alexei Miller vorschlägt, auf die Machthörigkeit der ukrainischen Theologen reduziert werden kann, die angesichts der russischen Siege verstanden hätten, «zu welchem der großen Player sie loyal sein sollten.»[19]