Der Fluch des Wissens - Harald J. Krueger - E-Book

Der Fluch des Wissens E-Book

Harald J. Krueger

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Beschreibung

Die mysteriöse Liebesgeschichte schildert, was passiert, wenn jemand Wissen über die Zukunft erhält. Der ebenso spannende wie heitere Roman unserer Zeit spielt vorwiegend im magischen Andalusien aber auch in Hamburg, London und Paris.

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Für Wiebke

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

1.

„Oh nein, nicht wieder dieses Martyrium“, stöhnte Ulla. Sie stand im luftigen Seidennachthemd vor dem Badezimmerspiegel und starrte auf die krebsroten Wundmale. Die Striemen auf den Innenseiten der Unterarme schimmerten rosa. Der rostbraune Schorf hatte sich noch nicht gebildet. Leid erfahren prüfte Ulla, ob diesmal auch wieder die Waden befallen waren. Natürlich. Der kaum zu widerstehende Juckreiz über den Fußgelenken hatte es ihr an sich schon verraten. Ihr Ausschlag erblühte wieder. Ausgerechnet mitten im Juli am Südzipfel Spaniens. Die Tagestemperaturen verboten verbergende lange Ärmel und Hose. Was hatte sie diesmal falsch gemacht?

Beim ersten Mal, vor sechsundzwanzig Jahren im Hamburg beim mündlichen Abitur, wurde es mit dem Verzehr von Miesmuscheln erklärt. Inzwischen konnte Ulla über diesen Ärztewitz lachen. Zum Glück verschwanden damals das Jucken und der Schorf so rasch, wie der Ausschlag gekommen war.

Beim zweiten Mal, vor zirka sechs Jahren, war sie monatelang gequält worden. Die Hamburger Ärzteschaft schwamm seiner Zeit auf der Allergiewelle. Ullas Ausschlag wurde deshalb auf jede noch so unsinnige Ursache hin untersucht. Behandelt wurden die nachts wundgekratzten Stellen mit einer Apothekensalbe, die sich schon ihre Mutter als junges Mädchen mit mäßigem Erfolg aufgetragen hatte. Zum Glück verschwand das Übel noch vor dem großen Umzug nach Spanien.

Mit diesem Erfahrungsschatz blickte Ulla jetzt in den Spiegel. Eigentlich sah sie gesund aus, befand sie. Früher wurde sie oft als magerer Knochen gehänselt. Erst in den letzten Jahren hatten rundende Polsterungen das Bohnenstangenhafte verdrängt. Jetzt mit vierundvierzig hatte sie die Figur, die viele Frauen gerne mit vierunddreißig noch gehabt hätten. Ihre blonden Haare lagen naturgewellt auf den Schultern. Sie waren lichter geworden, was Holger, ihr Ehemann, so lieb bestritt. Die Fältchen um ihre hellblauen Augen und auf den schmalen Händen bewiesen allerdings zweifelsfrei: Sie alterte. Beschleunigte der Rückschlag des Ausschlags das etwa sogar noch? Wie so oft fragte sie sich, ob das ihren baldigen Tod ankündigte. Ausgerechnet in diesem Augenblick schlug auch noch die antike Standuhr in der Eingangshalle bedeutungsvoll die neunte Stunde. Hoffentlich läutete da kein böses Omen. Jetzt musste sie sich mit der morgendlichen Toilette beeilen, um Maria, die Putzfrau, angezogen ins Haus zu lassen.

Wie an jedem Montag, Mittwoch und Freitag klingelte Maria zwischen viertel nach neun und halb zehn. Bis halb zwei putzte das kleinwüchsige Kraftpaket das Haus und bügelte die Wäsche.

Nach der Begrüßung wollte Ulla prüfen, ob noch ein Rest der Salbe in ihren Arzneikartons schlummerte. Entschied dann aber, dass selbst wenn, sie bedenklich alt wäre. Eigentlich sollte man die Medikamentenreste, die sie in ihrer sechzehnjährigen Ehe gehortet hatte, komplett wegschmeißen. Freilich, man konnte ja nie wissen, möglicherweise war man mal froh, davon etwas griffbereit zu haben. Zumal einige Döschen und Schachteln nie geöffnet worden waren. Früher beging sie den Fehler, die Packungsbeilage zu lesen. Meistens verzichtete sie dann lieber auf die Anwendung. In den letzten Jahren mied sie tunlichst diese Überinformation. An sich waren sie beide noch nie ernsthaft krank gewesen. Dennoch sah sich Ulla bei jedem Schnupfen dem Tode nahe. Auch jetzt kroch ihr diese ungebetene Furcht wieder ins Bewusstsein. Wenn nur die Zukunft nicht so im Dunklen läge!

Melancholisch verzog sich Ulla in ihr Atelier, setzte sich an die Arbeitsplatte und starrte in den Garten. Der Blick verzauberte sie jedes Mal wieder. Der Rasen war gepflegt wie der nebenan auf dem Golfplatz. Die kappelige Wasseroberfläche im Schwimmbecken funkelte in der Morgensonne. Hinter der Lebensbaumhecke flimmerte das Meer. Am Vormittag blendete die Sonne aus dieser Richtung. Der Übergang zwischen Meer und Himmel verschwamm. Die Feinabstufung der drei Blaus faszinierte Ulla sogar heute. Das seichte Blau des Pools griff das Meer auf und vertiefte es, bis es am Horizont zum grenzenlosen Blau des Himmels überlief.

Ullas Gedanken verfingen sich in der Vergangenheit. Sie suchte Parallelen in ihren drei Krätzefällen. Die zufällig vorher gegessenen Miesmuscheln schieden als Ursache aus. Zu oft hatte sie inzwischen diese Spezialität ohne Nebenwirkungen genossen.

Im zweiten Fall hatte der Testmarathon keine äußeren Ursachen entlarvt. Wenn also Essen, Kleidung, Kosmetik oder andere Chemikalien ausschieden, was hatte sich gestern verändert? Ulla ging das Wochenende Punkt für Punkt durch.

Am Samstag und Sonntag war Holger, wie meistens, vormittags segeln gewesen. Sie hatte an diesen Vormittagen geluscht. So nannte Holger es, wenn sie es sich im Morgenmantel gemütlich machte. Ein Luxus, den sie sich gelegentlich an Wochenenden gönnte. Am Samstagnachmittag hatten sie beim Polo vergeblich ihr Favoritenteam, Santa Maria, angefeuert. Abends hatte Holger mit einer Bemerkung eine Diskussion ausgelöst, die sich mit Unterbrechungen bis zum Sonntagabend hinzog. Holger sprach selten über seine Arbeit in der Bank.

Er hatte in Hamburg bei der Global-Bank nach dem Abitur seine Bankkaufmannlehre gemacht, während des Studiums dort das Praktikum absolviert und danach als Diplomkaufmann seine erfolgreiche Karriere begonnen.

Ohne einleitende Vorwarnung schockierte er Ulla am Samstagabend mit der Feststellung: „Ich fühle mich in der Bank wie am Prellbock auf dem Abstellgleis Gibraltar.“

„Geht das nicht jedem so, der ganz oben steht“, tröstete Ulla ihn.

„Oh, in der Bank gibt es noch einige über mir, nur hier auf dem Felsen nicht. Höher geht es nur in Frankfurt. Wahrscheinlich müsste man sogar über den Umweg New York oder London kraxeln.“

„Willst du uns etwa aus diesem Paradies vertreiben“, entrüstete sich Ulla erschrocken.

„Es bedrückt mich, hier nicht weiter aufsteigen zu können.“

„An diesen Punkt kommt jeder in seinem Leben. Du kannst wirklich froh sein, das erst mit sechsundvierzig Jahren zu erkennen, und überaus stolz sein, soweit oben zu stehen. Mein Vater und mein Bruder erreichten ihr Karriereende mit fünfundzwanzig. Wie alt war denn dein Vater?“

„Aber von hier werde ich nie direkt in den Vorstand berufen.“

„Der Vorstand sitzt im hohen Glashaus in Frankfurt. Was wollen wir in dieser tristen Möchtegern-Stadt mit dem ewig nassen, trüben Klima? Auf dem Weg dahin machen wir dann auch noch Station in den Albtraum-Metropolen New York oder London? Da weiß man ja noch nicht mal, welche schlimmer wäre. Eine Verbesserung unseres Lebens wäre das jedenfalls nicht, im Gegenteil!“

„Wäre es für dich denn nicht enttäuschend, wenn ich die nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahre Niederlassungsleiter auf Gibraltar bliebe?“ Sie diskutierten noch lange auch am nächsten Tag. Komisch, einige ihrer Argumente erinnerten sie an seine, als er das Angebot für Gibraltar bekam.

Monatelang vorher hatte er angekündigt, dass für sein berufliches Fortkommen ein Auslandseinsatz unumgänglich wäre. Ulla bedauerte, Hamburg, ihre Familie und Freunde verlassen zu müssen. Am meisten fürchtete sie sich vor dem Osten, ob naher, mittlerer oder ferner spielte keine Rolle. Für sie begann der Osten in Mecklenburg. Südamerika ängstigte sie ebenso. Sie sorgte sich, besonders wegen der Ungewissheit.

Plötzlich verstand Ulla den Zusammenhang. Ihren Ausschlag verursachte nichts Äußeres sondern Inneres, wie Sorgen und Ängste. Als ob sie die Fokussierung ihres Vergrößerungsapparates schärfer einstellte, traten die Gemeinsamkeiten ihrer Krätzegeschichten deutlicher zutage:

Als sie erfuhr, dass sie in Mathematik im mündlichen Abitur geprüft werden sollte, hatte sie sich geängstigt.

Als Holger die Notwendigkeit eines Auslandseinsatzes offenbarte, hatte sie sich vor dem Unbekannten gefürchtet. Dass sie in der Fremde das Paradies finden würde, hatte sie nicht zu hoffen gewagt. Deshalb bangte sie jetzt, dies wieder verlassen zu müssen.

Das hieß, wenn sie ihre Sorgen beseitigte, würde der Ausschlag verschwinden. Um die Sorgen loszuwerden, müsste sie die Zukunft kennen. Wenn nur die Zukunft nicht so im Dunklen läge!

Als Maria ihr Montagsputzpensum beendete, gesellte Ulla sich zu ihr. Sie erkundigte sich erst nach der Familie, ehe Ulla sie direkt fragte: „Wo gibt es hier einen guten Hautarzt?“

Marias zweifelnder Blick verriet Ulla, dass sie noch nie etwas von einem Hautarzt gehört hatte. Die Schwarzhaarige schien unsicher, ob Ulla scherzte und sie lachen sollte. Sie spürte dann aber doch, dass Ulla ernsthaft fragte, und mutmaßte: „Im Hospital in Malaga vielleicht.“ Malaga lag einhundertfünfzig Kilometer entfernt.

Ulla wurde klar, dass die dunkelhäutigen Spanier vermutlich die Hautprobleme der Hellhäuter des Nordens gar nicht kannten. Die Einheimischen hier ließen kaum Sonne auf die Haut. Die Frauen trugen das ganze Jahr lange Ärmel und Röcke. Die Männer sah man draußen nur mit langen Hosen und meistens mit Schirmmützen.

„Was ist denn passiert?“ Maria blickte Ulla neugierig an.

Mit Leidensmine schob Ulla die weiten Ärmel ihrer Baumwollbluse bis zum Ellenbogen hoch und präsentierte die befallenen Stellen. Als sie Marias erschrockenen Blick bemerkte, versicherte sie: „Das ist nicht ansteckend.“ Jäh ahnte Ulla, dass die Spanierin etwas anderes vermutete. Maria verdächtigte Holger als Urherber. Ulla hatte kürzlich gelesen, wie häufig hier Männer ihre Frauen verprügeln. Der Artikel brach ein Tabu. Seit Generationen war dieses Problem verschwiegen worden.

Maria verwarf diese Erklärung sofort wieder. Erstens würde man in diesem Fall die Male keinem zeigen. Zweitens fehlten die typischen Schwellungen und Verfärbungen. Drittens sollte es angeblich diese unsägliche Brutalität bei den Deutschen gar nicht geben.

„Damit geht man hier zum Schwefelbad“, empfahl sie. „Ich bin noch nie dort gewesen. Es soll übel stinken, aber heilen. José wird wissen, wie man da hinkommt.“

José arbeitete im Garten. Ulla amüsierte sich im Stillen, wie stolz der zähe Spiddel ihr den Weg mit unsinnig vielen Details beschrieb. Endlich wusste er als starker Kerl mal mehr als die Señora. So sprachen Maria und José sie an. Man redete sich hier üblicherweise mit Vornamen an. ‚Ulla’ sprachen sie jedoch wie ‚Uja’ aus. Das fand Ulla nicht akzeptabel. Dann schon lieber Señora.

Noch am gleichen Nachmittag brach Ulla mit ihrem BMW-Cabrio zum Schwefelbad auf. Die warmen Sonnenstrahlen vom wolkenfreien Blau des Himmels lockten. Das Jucken der Pusteln an Armen und Beinen drängte. Sie hatte angenommen, dass Wegweiser und Reklametafeln, die ja sonst zum festen Bestandteil der spanischen Landschaft gehörten, sie leiten würden. Aber das Schwefelbad bewahrten die Einheimischen anscheinend als unbeschildertes Geheimnis. Jetzt war sie José dankbar für seine Ausführlichkeit. Nie wäre sie sonst durch das Tor des Zementwerks gefahren, um nach zwanzig Metern rechts bei einem Felsbrocken auf einen Sandweg abzubiegen. Dieser holprige Weg bestand aus zwei Reifenspuren mit verdorrtem Wildwuchs dazwischen. Ihre Zweifel wuchsen mit jeder Kurve. Im Rückspiegel sah sie nur noch die Staubwolke, die sie hinter sich herzog. Als ob eine Nebelwand sie vom Rest der Welt abschirmte. Endlich endete die Zufahrt in einem steinigen Sandplatz, ohne Fahrzeuge oder gar Menschen.

Ihr schlug der strenge Schwefelgeruch sofort in die Nase. Das Zirpen der Zikaden erfüllte die trockene Luft des heißen Landwinds. Ulla entdeckte die beiden angekündigten Trampelpfade. Das überzeugte sie, den richtigen Ort gefunden zu haben. Der linke sollte nach Josés Beschreibung zum unbefestigten Ufer des Gewässers führen. Dort gingen die Männer hin. Die Señora sollte dem rechten Pfad folgen.

Ulla schloss Dach, Fenster und Türen des Wagens. Besorgt überprüfte sie noch mal alles. Mit soviel Einsamkeit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sich mehr so etwas wie ein Freibad mit Kiosk vorgestellt. Mit ihrer Jutestrandtasche über der Schulter betrat sie den rechten Fußweg. Die Tierwelt flüchtete in Panik. Die fingergroßen Heuschrecken sprangen wenige Schritte vor ihr ins vertrocknete Gras neben der kahl getrampelten Furt. Die handlangen Salamander mit ihren schlangenartigen Schwänzen huschten aufgeschreckt in ihre Höhlen. Im Laufe der Jahre in Andalusien hatte Ulla ihre ursprüngliche Furcht vor diesen Urtierchen verloren. Nur an die Schlangen konnte sie sich nicht gewöhnen. Dafür sah man sie zum Glück auch zu selten.

Mit warnendem Gekrächz, das arg verärgert klang, schwang sich eine Elster aus einem wilden Olivenbaumgebüsch. Jetzt konnte Ulla auch schon das Gurgeln und Plätschern eines Gewässers hören. Hinter der nächsten Kurve sah sie es. Was für eine Enttäuschung! Kaum breiter als einen Meter floss eine milchig trübe Flüssigkeit durch die Landschaft. Ulla wusste nicht, was mehr abstieß: Die Farbe, wie flüssiger Schimmel oder der strenge Gestank? Andererseits sprach das für die heilende Wirkung. Wirksame Medizin schmeckt selten gut.

Ulla folgte weiter dem Pfad parallel zum Flüsschen. Hinter dem nächsten Gebüsch war das Ufer beidseitig zementiert. Das sollte wohl das Bad sein, amüsierte sie sich. Auf einer Länge von zirka drei Metern ragte eine Betonsitzbank halb aus dem Wasser. Dadurch konnte man am Ufer sitzen und die Beine ins Wasser stellen. Wenn man sich drei Stufen tiefer wagte, hockte man bis zu den Schultern im Wasser. Zehn Meter hinter dieser Befestigung durchfloss der Bach ein Gewölbe. Der vorne und hinten offene Rundbogen überdachte das Gewässer. Der vier Meter lange Steinbau schien antik aber keineswegs baufällig zu sein. Die Architektur ließ Ulla vermuten, dass es die Römer errichtet hatten.

Es beschämte sie mal wieder, dass vor zweitausend Jahren eindrucksvoller und dauerhafter gebaut wurde als heute. Nur die Höhe entsprach nicht mehr den heutigen Anforderungen. Ulla musste den Kopf einziehen, um in das Gewölbe zu gelangen. Drinnen stank es natürlich intensiver. Doch die Kühle lud zum Verbleiben ein. Behauene Steinquader dienten als Uferbefestigung und Sitzbank. In der Decke fehlten einige Steine. Dadurch drang gerade ausreichend Tageslicht und Frischluft in den schummrigen Tunnel. Ulla beschloss, sich hier zu behandeln. Sie zog ihr wadenlanges Leinenkleid über den Kopf. Den Bikini hatte sie zuhause schon untergezogen. Sie kauerte sich auf den glatten Steinboden. Vorsichtig tauchte sie den linken Fuß in die fließende Graumilch. Die Flüssigkeit kühlte. Nach der Wanderung in der Nachmittagshitze empfand Ulla es erfrischend. Ermutigt setzte sie sich auf die obere Stufe und stellte beide Beine bis zu den Knien ins Wasser. Nachdem sie sich erstmal überwunden hatte, schreckten Gestank und Hässlichkeit des Schwefelflüsschens nicht mehr. Ulla rutschte eine Stufe tiefer und beugte sich soweit vor, dass sie auch die Unterarme wässern konnte. Als es ihr nach fünf Minuten zu unbequem wurde, stieg sie nach oben und lehnte sich mit dem Rücken an die Gewölbewand. Ihr jahrzehntelang geübter Blick als Fotografin entdeckte jetzt im Halbdunkel, dass die vermeintlich fehlenden Steine in der Decke ein Rautenmuster bildeten. Die Sonnenstrahlen kopierten es mit gleißend hellen Kreisen am Boden und an den Wänden. Entspannt lehnte Ulla den Kopf an das Mauerwerk und schloss die Augen. Das Vogelgezwitscher klang hier gedämpft. Dafür hörte sie das Plätschern und Gurgeln des Bachs klarer.

Ullas Gedanken wanderten wieder zu der Diskussion mit Holger. Was hatte sie ihm alles aufgezählt, um ihn zu überzeugen, hier zu bleiben. Angefangen hatte sie mit dem Ort Sotogrande in Andalusien. Ein weitläufiges Hügelgebiet direkt am Strand mit mehr als eintausend Traumhäusern in Gärten mit über zweitausend Quadratmetern. Dazu gehörten Golf- und Poloplätze, ein Yachthafen und ein Pferdegestüt. Das Ganze durch Zaun, Schranken und Sicherheitsdienst geschützt. Von dem Verkaufserlös für ihre Doppelhaushälfte in Hamburg hatten sie sich 1996 hier eine Luxusvilla gekauft. So ein Haus würden sie sich bestimmt nicht bei New York, London oder Frankfurt leisten können. Hier beschäftigten alle Personal für Haus und Garten. Die Nachbarn neideten weder das noch, dass sie nicht mehr arbeitete. Wie viele interessante Menschen aus aller Welt hatten sie hier in den fünf Jahren kennen gelernt? Jedenfalls viel mehr als vorher in Hamburg. Am meisten schätzten sie das milde Klima. Trotz der zirka dreihundert Sonnentage im Jahr wechselten die Jahreszeiten. Allerdings hatte es noch nie geschneit oder gefroren. Auf dem europäischen Kontinent konnte man nur hier ganzjährig reiten, golfen und segeln.

Holger hatte sich das alles freundlich grinsend angehört. Der Hinweis auf das Segeln im Winter schien ihn beeindruckt zu haben. Typisch, dass er sich schließlich nicht festgelegt hatte. Ulla zweifelte deshalb, ob sie ihn überzeugt hatte. Sie kannte ihn auch zu gut. Es wäre sinnlos gewesen, ihn sofort zu einer klaren Entscheidung zu drängen. Leider erlöste sie das nicht von der Sorge, ihr Paradies verlassen zu müssen. Wenn nur die Zukunft nicht so im Dunklen läge!

Jäh und grell wie ein Gewitterblitz schoss etwas Unbekanntes durch Ullas Bewusstsein. Ein Farbensturm wogte so gewaltig, dass sie erschrocken zusammenzuckte. Die flimmernde Halluzination riss nicht ab. Einen Sekundenbruchteil lang wunderte sich Ulla, dass sie trotz der Heftigkeit keine Schmerzen spürte. So wagte sie, genauer hinzusehen. Eine haushohe Feuerwand loderte so breit, wie sie schauen konnte. In panischer Angst sprang sie auf, stieß dabei mit dem Kopf an die niedrige Gewölbedecke und taumelte benommen aus dem Tunnel. Wieder stoben die Salamander erschrocken ins Dickicht. Vorsichtig kehrte Ulla mit gesenktem Haupt in das Gemäuer zurück. Sie schnappte sich ihre Tasche und das Kleid. Der Fleck, wo sie ihren Kopf an die Wand gelehnt hatte, stand jetzt durch das Loch in der Decke im vollen Sonnenlicht. Draußen zog sie das Kleid wieder an und eilte zurück zum Wagen.

Im Innenspiegel untersuchte sie die schmerzende Stelle am Kopf. Ulla ertastete sie mit den Fingern unter den Haaren. Die Beule schwoll, blutete aber nicht. Erleichtert lehnte sie sich im Fahrersitz zurück und rekapitulierte: Was war passiert? War sie im halbdunklen Schwefeldunst eingedöst? Hatte sie der wandernde Sonnenflecken geblendet und geweckt? Woher kam das Feuer? Ob das blendende Sonnenlicht dieses Trugbild ausgelöst hatte?

Ja, das Sonnenlicht in Andalusien! Es faszinierte Ulla vom ersten Tag an. Nicht umsonst heißt die Küste hier ‚Costa del Sol’ (Küste der Sonne) und der nächste Abschnitt sogar ‚Costa de la Luz’ (Küste des Lichts). Es war Liebe auf den ersten Blick, wenn auch schmerzhaft. Es stach in den Augen. Tränen linderten nicht. Dennoch verliebte sie sich in die Magie der extremen Helligkeit. Hier entdeckte sie die Farben. Als ob sie ihr ganzes Leben vorher durch eine schwarze Schweißerschutzbrille geschaut hätte. In Hamburg kamen für sie nur Schwarzweißfotos, hier nur Farbfotos in Frage. Das Licht gab den Dingen hier oft etwas Surreales. Wer es einmal erkannt hat, ist ihm verfallen.

Zuhause im Badezimmer untersuchte Ulla ihre Stellen. An den Beinen schien schon eine leichte Besserung eingetreten zu sein. Die Arme waren wahrscheinlich nicht lange genug gewässert worden.

„Erfolg rechtfertigt so manches“, kommentierte Holger abends ihren Bericht von dem altrömischen Kurbad.

Die Feuervision verschwieg sie. Für so etwas hatte Holger keinen Sinn.

2.

Als José am Mittwochmorgen kam, um den Rasen zu mähen, erkundigte er sich, ob die Señora das Schwefelbad gefunden hatte.

„Nur dank deiner guten Wegbeschreibung“, lobte Ulla.

Stolz fummelte er an dem Rasenmäher herum.

Ulla nutzte die Gelegenheit, etwas zu fragen, was ihr seit Montagnachmittag durch den Kopf ging: „Wie schaltet man die Sprinkleranlage ein?“

In Sotogrande waren die riesigen Gärten mit programmierbaren Bewässerungssystemen ausgestattet. Morgens vor Sonnenaufgang und abends nach Sonnenuntergang erhoben sich wie von Geisterhand drehbare Düsen aus den Rasen und Beeten und besprengten die Umgebung mit Wasser.

Wichtig schritt der Gartenzwerg vor Ulla zum Maschinenraum hinter der Garage. Hier waren die Filteranlage des Swimmingpools und der Schaltkasten der Beregnungsanlage untergebracht. Er zeigte ihr die simple Bedienung des Steuergeräts. Dabei setzte er den typischen spanischen Männerblick für Frauen auf. An den würde sich Ulla nie gewöhnen. Sie deutete ihn als überlegen aber gnädig. So als ob es an sich sinnlos wäre, einer Frau so etwas zu erklären. Die verstanden das sowieso nicht und würden es auch nie lernen. Für Ulla degradierten sich die Kerle durch dieses lächerliche Machogehabe selbst.

Am Donnerstagmorgen stellte Ulla fest, dass sich zwei Dinge beharrlich nicht verändert hatten:

Erstens blies unvermindert stark seit dem Wochenende ein trockener, dörrender Landwind. Beim Segeln hatte Holger ihn genossen. Normalerweise wechselte die Windrichtung mehrmals täglich. Der Seewind brachte erfrischende Feuchte. Deshalb wurde vermutlich das Klima in Sotogrande so geschätzt. Die drückende Sommerhitze Spaniens lähmte hier selten.

Zweitens stagnierte die Heilung der juckenden Pusteln. Das Schwefelbad am Montag hatte zwar kurierend gewirkt, besonders an den Beinen. Aber in der letzten Nacht hatte sie die Arme wiederaufgekratzt. Deshalb wollte Ulla nachmittags wieder zum Stinkebad.

Bei dieser Hitze genoss sie vormittags die relative Kühle in ihrem Atelier. Die Dienstage und Donnerstage schätzte sie besonders. Ohne Störungen durch das Personal konnte Ulla konzentriert ihrer Passion als Fotokünstlerin nachgehen. Heute begutachtete sie ihre Aufnahmen der letzten Wochen, um die golden nuggets rauszufischen. So nannte sie die Bilder, die sie später veredeln wollte. Ihre Werke fügte sie aus mehreren Teilausschnitten zusammen. Diese Kompositionen überraschten die Betrachter. So hatten sie das meist Alltägliche noch nie gesehen.

Fast jeder erkennt mal schemenhaft ein Gesicht im Vollmond, Tierfiguren in Kumuluswolken oder Gestalten in verwachsenen Bäumen. Ulla sah diese optischen Illusionen überall, ständig und intensiv. Schon bevor sie eingeschult wurde, beunruhigte sie damit ihre Eltern. Auf dem Gymnasium lernte sie, besser nicht darüber zu reden, sondern mit Fotos ihre Sicht zu beweisen. Nach dem Abitur hatte sie eine Lehre bei einem Fotofachgeschäft in der Hamburger Innenstadt absolviert. Wie das oft so ist, wenn man sein Hobby zum Beruf macht, enttäuschte die tägliche Praxis: Passbilder, Hochzeitsfotos und gelegentlich Ausschnittvergrößerungen. Zum Glück durfte sie das Labor für ihre Ambitionen benutzen.

Mit fünfundzwanzig traute sie sich zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Sie hatte mit Münzen und Banknoten Fotokollagen kreiert, die jeden verblüfften. So hatte noch keiner die Zahlungsmittel, die man jeden Tag in der Hand hat, wahrgenommen. In der Hamburger Zentrale der Global-Bank fanden in der Eingangshalle regelmäßig Ausstellungen statt. Ulla hatte ihre Geldserie angeboten und sofort die Zusage bekommen. Am ersten Tag der Ausstellung wanderte sie beglückt zwischen den Stellagen umher. Neugierig belauschte sie die Betrachter. Ihr kamen beinah die Tränen vor Glück. Einer von ihnen, der zufällig neben ihr stand, rief spontan: „Mensch, da ist ja ein Wort verborgen!“ Begeistert zeigte er auf das Großfoto mit Münzstapeln, dicht an dicht, zwei, drei Finger hoch. „Da steht ‚GELD’. Sehen Sie das auch? Achten Sie mal nur auf die Silberstücke.“

„Ich weiß. Ich habe es gemacht.“

So hatte sie Holger vor zwanzig Jahren kennen gelernt. Ulla spürte noch heute einen verliebten Schauer.

Das Foto einer rätselhaft gefurchten Korkeicherinde verdunkelte sich vor ihren Augen. Als erstes dachte Ulla, ihre Augen füllten sich mit Glückstränen, ausgelöst durch die Erinnerung an das schicksalhafte Treffen mit Holger. Aber dazu passte nicht das fremde Surren. Ulla blickte aus dem Fenster. Es flimmerte schummrig. Jetzt erkannte sie es. Ein dichter Strom Insekten schoss am Fenster vorbei Richtung Meer. Er verfinsterte das Atelier. Das vibrierende Schwirren steigerte sich zum kräftigen Brummen. Beunruhigt rannte Ulla auf die Terrasse. Der Insektenflug ließ langsam nach. Jetzt flogen die Schwächlichen oder von Natur aus Gemächlicheren. Die Ursache dieser kollektiven Flucht stand unübersehbar am Horizont. Eine schwarzgrau gescheckte Wand aus Rauch und Ruß ragte bis zu den Wolken. Den letzten Insekten folgte bereits Flugasche. Der Wald neben dem Golfplatz brannte. Die gierigen Flammen leckten aus den Baumkronen.

Ulla stürzte zum Telefon. Die Feuerwehr sei schon unterwegs, erfuhr sie vom betont gelassenen Telefonisten. Die beiden direkten Nachbarn brauchte Ulla nicht zu warnen. Die lebten in Madrid und kamen nur im August. Bei Holger in der Bank erreichte sie seine Sekretärin. „Es brennt. Mein Mann muss sofort kommen! Sofort!“ kreischte sie und legte auf.

Auf dem Weg zum Maschinenraum versuchte Ulla, sich zu konzentrieren, um jetzt keinen Fehler zu begehen. Der warme Landwind blies noch heißer. Er roch schon Rauch geschwängert. Mit wenigen Tastendrucken deaktivierte Ulla das Bewässerungsprogramm und startete die Beregung der Heckenregion, die dem nahenden Feuer am dichtesten lag.

Als sie wieder nach draußen kam, hörte sie die Sirenen der Feuerwehr. Es war noch dunkler geworden. Statt eine Stunde vor dem Sonnenhöchststand erschien es ihr jetzt wie eine Stunde vor Sonnenuntergang. Was nun? Aufgeregt raste Ulla ins Haus, schloss sämtliche Fenster und ließ die Rollläden herunter. Vom Balkon sah sie die Feuerwand bereits am Waldrand. Nur vier Gärten lagen dazwischen. Ulla erschienen sie zu Flecken geschrumpft. Flammen schlugen aus der ersten Hecke. Ulla riss sich los und rannte. Die Sprenger der Bewässerungsanlage drehten seelenruhig ihre Kreise.

In der Garage suchte Ulla den Gartenschlauch. Sie wusste, dass sie einen aus Hamburg mitgebracht hatten. Sie hatte nie gesehen, dass José ihn benutzte. Der gelbe Plastikschlauch lag sorgfältig aufgerollt in der Ecke. Das hat garantiert Holger gemacht, vermutete Ulla, Segler sind so. Ulla schraubte die Messingüberwurfmutter des Schlauchs auf das Gewinde am Außenwasserhahn. Ein Glück, sie passte. Rasch zog Ulla den Schlauch in Richtung der bedrohten Hecke. Die Länge reichte nicht. Für den Garten im Hamburg war er üppig bemessen gewesen.

Sie roch und hörte das prasselnde Feuer schon. Zu sehen war nur der schwarze Qualm, den der Wind mit immer mehr Rußflocken herbeifegte. Entfernt krachte es wie bei eine Explosion. War einer der überirdischen Gastanks in die Luft geflogen?

Jetzt aber rasch ins Haus und das Wichtigste in Sicherheit bringen, spornte sich Ulla an. Schnaufend schloss sie die Haustür hinter sich. Was sollte sie einpacken? Als erstes schnappte sie sich ihre drei Handtaschen, die sie zurzeit am meisten benutzte. In einer würden Kreditkarten, Ausweis und Geld mit Sicherheit sein. Aus der Abstellkammer holte sie die größte Reisetasche. Damit eilte sie in ihr Atelier und raffte die Negativkästen in die Tasche. Mit halbvoller Tasche riss sich Ulla schweren Herzens los und rannte in Holgers Arbeitszimmer. Sie zog die Kabel aus dem Laptop und verstaute ihn in der Tasche. Hastig überflog sie die Beschriftungen der Aktenordner. Sie wusste nicht, welche wichtig waren. Um den Papierkram hatte sich stets Holger gekümmert. Sie wählte die Ordner ‚Verträge’, ‚Versicherungen’ und ‚Urkunden’. Sie konnte die übervolle Tasche kaum tragen. Warum wog Papier so schwer? Keuchend schleppte sie das Monstrum zur Garage und ließ es in den Kofferraum plumpsen. Um sich den nächsten Gang zu verkürzen, rangierte sie den Wagen rückwärts vor die Haustür.

Zurück im Haus sammelte sie weiter. Plötzlich klingelte es. Automatisch eilte sie zum Badezimmerfenster, um zu schauen, wer am Tor an der Straße wartete. Doch sie hatte die herabgelassenen Rollos vergessen. Wild entschlossen, sich nicht aufhalten zu lassen, rannte sie zurück und stopfte noch drei Negativkästen in die viel zu kleine Tasche. Dann hetzte sie zur Haustür.