Der trojanische Strauß - Harald J. Krueger - E-Book

Der trojanische Strauß E-Book

Harald J. Krueger

4,8

Beschreibung

Jan Wolewski, ein junger Ingenieur aus Hamburg, entdeckt bei der Auflösung des Haushalts seines Opas rätselhafte Unterlagen. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf ein jahrzehntelang gehütetes Familiengeheimnis. Die mühsam zusammengetragenen Fundstücke verändern nicht nur die Beurteilung seiner persönlichen Lebensgeschichte, sondern lüften auch ein Geheimnis des Weltgeschehens, von dem noch nicht einmal die damaligen Hauptakteure etwas wussten. Mit diesem ergreifenden Roman fesselt Harald J. Krueger seine Leser. Heitere Stellen gewähren das Luftholen bei der atemberaubenden Spannung.

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für Wiebke

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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1.

Genervt fauchend setzte Jan Wolewski die scharfe Seite der Klinge zum Aufschlitzen an und zog sie bis zum Ende durch. Er legte das Werkzeug auf den Tisch und ertastete den Inhalt. Mit Daumen und Zeigefinger entnahm er ihn. Dabei entfaltete er ihn bereits, soweit möglich, mit einer routinierten Drehung des rechten Handgelenks. Gleichzeitig warf er den leeren Briefumschlag, den er in der linken Hand hielt, in den Papierkorb. Im Falle von Reklame folgte sie sofort mit. Doch diesmal war es wieder einer der Briefe ohne Absender, also von einer Bank. Allerdings zierte diesen Briefkopf ein hellblaues Wappen als Firmenlogo. Auf allen anderen vorher prangte ein gelbes. Jan stutzte und las. Es handelte sich um die Jahresabschlussrechnung per 31. Dezember 2008 mit einem Guthaben von 61.938 Euro. Jan entfuhr ein anerkennender Pfiff, wie ihn manche Kerle attraktiven Frauen auf der Straße widmen. Er platzierte den blauen Brief neben den Stapel der gelben.

Zwei Stunden später gab es keinen ungeöffneten Briefumschlag mehr im Haus. Die vorsortierten Schreiben legte Jan in die vorbildlich beschrifteten Ordner ab. Nur für den blauen Brief fand Jan keinen. Das wunderte ihn, passte es doch so gar nicht zu Opas Ordnung.

Anfangs war es Jan nicht aufgefallen. Opa wirkte zwar mitunter etwas tüttelig. Das hielt Jan mit seinen fünfundzwanzig Jahren aber bei einem Fünfundsiebzigjährigen eher für putzig als für bedenklich. Erst die ungeöffneten Briefe im Kühlschrank alarmierten Jan, sich um Opa zu kümmern. Jan war genau vor einem Jahr im Juli gleich nach Abschluss des Ingenieurstudiums ausgezogen. Da er finanziell auf eigenen Beinen stand, wollte er sie nicht mehr bei den Großeltern unter den Tisch stellen. Er fühlte sich nicht rausgedrängt, war aber froh, sie endlich von der Last der Enkelaufzucht zu befreien. Im November war seine Oma eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Seit dem hatte Opa die Post nicht mehr geöffnet. Oma war demnach die Schlitzerin gewesen. Einige Wochen später wurde offensichtlich, dass auch niemand mehr das Haus putzte und die Wäsche wusch. Jan ermahnte Opa mehrfach. Dabei fiel es ihm schwer, nicht über die vertauschte Erzieherrolle zu grinsen. Opa gelobte zwar Besserung, doch wenn er sich tatsächlich einmal an einer der Omatätigkeiten versuchte, bereute es Jan. Oft übertraf der Schaden den Nutzen. Putzfrauen und Zugehfrauen waren überfordert. Haushälterinnen hätten das Budget überfordert. Schließlich musste Jan die undankbare Rolle des Ins-Heim-Abschiebers übernehmen. Umso überraschter war er, dass Opa nicht rebellierte. Im März fanden sie eine bezahlbare Wohnung mit Betreuungsservice.

Vier Wochen später zog Opa in die Zweizimmerwohnung in Hamburg-Othmarschen. Vorsichtshalber wartete Jan zweieinhalb Monate mit der Auflösung des alten Haushalts. Nicht dass Opa womöglich wieder zurück in sein Haus in Hamburg-Lurup wollte. Doch ihm gefiel es in der kleinen Wohnung. Gewiss, weil er sich um nichts kümmern musste. Soweit es die Zimmer erlaubten, hatte er die Möbel mitgenommen. Lediglich um seinen Schreibtisch kämpfte Opa verbissen. Um Opa zum Verzicht zu überreden, übertrieb Jan im wahrsten Sinne des Wortes maßlos. Das Monstrum hätte angeblich im Schlafzimmer nur statt des Betts oder im Wohnzimmer nur statt des Sofas Platz gefunden. Warum Opa so an dem übergroßen Schnörkelkoloss hing, verstand Jan sowieso nicht. Zumal Opa ja noch nicht einmal mehr seine Briefe öffnete. Jan fand die Post der letzten fünf Monate allerorts im Haus. Überall lagen Stapel. Jeder so klein, dass man sie kaum bemerkte. Erst die gekühlten Briefe im Eisschrank hatten Jan erschaudern lassen.

Ganz uneigennützig waren Jans Vorbehalte gegen den Schreibtisch nicht. Er hatte sich bewusst keinen für seine Wohnung in Hamburg-Altona besorgt, sondern auf die Übernahme dieses antiken Großmöbels spekuliert. Jetzt krabbelte er auf allen vieren unter ihn, um zu untersuchen, ob sich die Oberplatte von den beiden Unterschränken lösen ließ. Nur so schien Jan ein Transport überhaupt möglich. Sein Abstieg brachte es zutage. Die Platte war mit hölzernen Keilen an den Seitenschränken befestigt. Offensichtlich stammte dieser Schreibtisch aus der Zeit, als Tischler noch alles aus Holz schreinerten. Leim, Schrauben oder gar Metallwinkel verschmähten sie, entweihten sie doch das natürliche Holz. Die seelenlosen Spanplatten waren noch nicht erfunden.

Jan zog den linken Befestigungskeil heraus. Das ging leichter als erwartet. Dafür klemmte der rechte umso mehr. Jan rüttelte lange, bis er sich löste. Jetzt lag die schwere Schreibtischplatte lose auf den Unterschränken. Beim Zurückkriechen entdeckte Jan im Zwischenraum über dem linken Unterbau und der Tischplatte etwas. Es war zu dunkel, um es zu erkennen. Mit den Fingerspitzen bekam er es zufassen und zog es heraus. Es war ein simpler Pappschnellhefter. Jan schlug ihn auf. Oben prangte das blaue Wappen der Bank, für deren Auszug er keinen Ordner gefunden hatte, kein Wunder bei dem Versteck. Jan durchblätterte die Kontoauszüge. Sie reichten bis zum 1. Januar 2000 zurück. Um sicherzugehen, dass dort nicht noch mehr versteckt worden war, schob Jan die Schreibtischplatte weiter zur Seite. Tatsächlich, auf dem rechten Unterschrank lag auch ein Hefter mit Kontoauszügen, vom 1. April 1990 bis zum 31. Dezember 1999. Jan riss sich von den geheimnisvollen Bankauszügen los. Die wollte er sich zu Hause in Ruhe ansehen. Zunächst galt es, den Hausrat in drei Kategorien zu trennen. Erstens wenige Teile, die noch zum Opa gebracht werden sollten. Zweitens einige Sachen, die Jan für sich haben wollte, und drittens den ganzen Rest. Für diese freudlose Aufgabe opferte Jan den Samstag. Dabei maulte er ständig vor sich hin: ‚Immer muss ich alles alleine machen. Andere haben Geschwister. Die würden sich die Arbeit teilen.‘ Dass die sich dann aber auch oft genug bei der Aufteilung streiten, übersah Jan in seinem Groll. ‚Eigentlich müssten sich ja meine Eltern um die Auflösung des Haushalts kümmern.‘ Dass die ihm genommen wurden, kurz bevor er zur Schule kam, hatte Jan dem Schicksal bis heute nicht verziehen. ‚Warum starb Oma mit fünfundsiebzig? Andere werden über neunzig Jahre alt.‘ Immerhin war sie seine Ersatzmutter gewesen. Bedripst fragte sich Jan, ob Oma, die Nurhausfrau, noch leben würde, wenn er nicht ausgezogen wäre. ‚Hatte sie dadurch etwa ihre Lebensaufgabe verloren und das Leben aufgegeben? Oder hatte gar die Enkelaufzucht ihr die Lebenskraft geraubt und ihr Leben verkürzt?‘ Jan schüttelte sich, um sich von diesen trüben Gedanken zu befreien. Doch es kam gleich der nächste: ‚Wer weiß, ob Opa nicht besser beisammen wäre, wenn Oma noch lebte?‘ Verbittert presste Jan die Lippen. Wie so oft fühlte er sich benachteiligt.

2.

Jan kehrte erst am Samstagabend in seine Wohnung zurück. Am liebsten hätte er sich sofort das mysteriöse Konto genauer angesehen, aber zunächst musste er duschen. Sonst würde er nur zu staubigen Ergebnissen kommen. Er hatte den älteren der beiden Schnellhefter in der Hand, da biss ihn Hunger. Mit einem bedauernden Achselzucken legte er die Bankauszüge wieder zur Seite. Beim Essen kreisten seine Gedanken nur noch um das versteckte Konto.

Als er endlich sauber und satt die Kontobewegungen durchblätterte, war er enttäuscht. Er hatte zwar keine klare Vorstellung, was er erwartet oder erhofft hatte, auf jeden Fall nicht etwas derartig Monotones, die ideale Einschlaflektüre für Schlafgestörte mit Medikamentenaversion. Ab April 1990 wurden jeden Monat 500 DM, damals Deutsche Mark, (255 Euro) gutgeschrieben. Zum Jahresende spendierte die Bank noch ein Brosamen Zinsen. Das ging jahrelang so. Die monatlichen Gutschriften erhöhten sich jedes Jahr ein wenig. War das ein Inflationsausgleich? Es gab nur zwei Ausnahmen. Im Jahre 2003 wurden 6.000 Euro und vier Jahre danach sogar 21.000 Euro abgebucht. Der letzte Zahlungseingang erfolge im Juni 2008. Seit dem tat sich gar nichts mehr. Das ergab immerhin nach achtzehn Jahren ein Guthaben von 61.938 Euro. Das wären ohne die beiden Entnahmen sogar über 92.000 Euro geworden. Jan griente: ‚Da kann man mal sehen, was sich durch eisernes Sparen und Zinseszins anhäufen lässt, wenn man nur lange genug wartet. Was mag Opa dazu bewogen haben? Von wem kam das Geld überhaupt?‘

Auf den Kontoauszügen las Jan immer nur den abgekürzten Buchungstext:

Überw. RA Lambrecht, Berlin

Die ausgehenden Überweisungen gingen beide an Horst Wolewski, seinen Opa. Wofür hatte RA Lambrecht achtzehn Jahre lang jeden Monat circa 300 Euro überwiesen? Warum benutzte Opa dafür nicht sein normales Konto? Und vor allen Dingen, aus welchem Grund versteckte er die Kontoauszüge? Vor wem überhaupt? Jan hatte nie den Eindruck, dass Opa Geheimnisse vor ihnen verbarg. Oder befürchtete er eine polizeiliche Hausdurchsuchung? Na klar! Opa hatte jemand erpresst. Der raffinierte Hund! Opa ließ sich sein Schweigen durch diese regelmäßigen Gutschriften bezahlen. Das war für beide Seiten weniger auffällig als eine große Zahlung, womöglich noch in bar. Vielleicht hätte der Erpresste einen höheren Betrag auch gar nicht auf einmal aufbringen können. ‚Was wusste Opa, um dieses Schweigegeld zu kassieren?‘, grübelte Jan. Allzu schäbig konnte es nicht gewesen sein. Für Jan war Opa die Redlichkeit in Person. ‚Oder sollte es etwa doch einen Fleck auf der reinen Weste des ehemaligen Abteilungsleiters im Katasteramt geben?‘

3.

Am nächsten Morgen fuhr Jan, wie jeden Sonntag, zu Horst, seinem Opa. Dass Jan seinen Opa mit Horst ansprach, hatten seine Eltern vor über zwanzig Jahren eingeführt. Alle sagten Mutti, Jan musste Petra und zu Vati Michael sagen. Anfangs schämte sich Jan vor seinen Freunden dafür ein bisschen. Später gestand ihm einer von ihnen, wie sehr er ihn darum beneidete, weil er meinte, das klänge erwachsener. Jan hatte ihm nicht widersprochen, obwohl er das nie so empfunden hatte.

Normalerweise kam Jan sonntags so zu Horst, dass sie bald zum Mittagessen beim Italiener oder Chinesen um die Ecke einkehrten. Das entband den Witwer und den Junggesellen von der Küchenarbeit und entlastete das Portemonnaie des Jungingenieurs.

Heute trieb Jan jedoch die Neugier wegen des Geheimkontos gleich nach dem Frühstück aus der Wohnung. Horst begrüßte seinen Enkel: »Oh, muss ich meine Uhren neu stimmen.«

»Das lasse man lieber, ich bin nur früher dran.«

Sie setzten sich in das Wohnzimmer. Auf dem Balkon war es wie so oft an Wochenenden im Juli zu nass und kalt. Zunächst tauschten sie Neuigkeiten der vergangenen Woche aus. Dann platzte es aus Jan heraus: »Wofür hat dir Lambrecht jeden Monat Geld überwiesen?«

»Wer ist denn Lambrecht?«

»Du wirst dich doch an den Rechtsanwalt in Berlin erinnern.«

Opa rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich erinnere mich nur an Rechtsanwälte, die von mir Geld bekamen. Den umgekehrten Fall können Anwälte in aller Regel vermeiden.«

»Wofür überwies jemand achtzehn Jahre lang jeden Monat Geld auf dein Konto?«

»Das wäre ja traumhaft. Das käme gleich nach meinem Lieblingstraum, dem vom Harem.«

Jan verkniff sich das Lachen: »Warum endeten die Zahlungen vor einem Jahr?«

Horst schaute grübelnd an die Decke: »Sag mal ehrlich, willst du nicht doch lieber in unser Haus ziehen? Da hast du ordentlich Platz und einen schönen Garten.«

Jan blies verbrauchte Luft aus der Nase und knallte die Schnellhefter mit den Kontoauszügen auf den Sofatisch: »Du erklärst mir jetzt sofort die Geschichte dieses Kontos!«

Opa öffnete den Pappdeckel und las den oberen Beleg: »Das ist ja ein flottes Guthaben. Ich hätte nie gedacht, dass sich eine Bank so vertun kann.«

Nun musste auch Jan lachen: »Das ist gewiss noch nie einer Bank passiert.«

Horst erhob sich: »Ich mach uns mal einen Tee.«

Jan sah seinen Opa streng in die Augen: »Du bleibst jetzt hier sitzen und erzählst mir die ganze Geschichte. Wer, wofür und vor allem wieso seit einem Jahr nichts mehr?«

Horst sackte in sich zusammen und starrte auf das Teppichmuster.

Jan wartete minutenlang, dann brach es aus ihm heraus: »Na gut, wenn du mir nicht vertraust, sollst du wissen, was ich vermute. Du hast jemand erpresst und der hat dir brav jeden Monat dein Schweigen bezahlt, sogar mit Inflationsausgleich. Aber warum überweist er nicht mehr? Ist er gestorben?«

Kaum erkennbar zuckte Horst die Achseln und schüttelte den Kopf.

In Jan keimte Mitleid auf. Deshalb erklärte er: »Nicht dass du denkst, ich verurteile dich. Im Gegenteil, viel lieber wäre mir die Fortsetzung dieses monatlichen Zuschusses.«

Horst atmete schwer, rang mit sich und überwand sich: »Jan, ich mache dir ein Angebot. Ich schließe das Konto und überweise dir das Guthaben auf dein Konto. Dafür stellst du mir keine weiteren Fragen. Einverstanden?«

Jan musste drei Mal schlucken, bis er wieder Worte fand: »Lass uns darüber noch mal eine Woche nachdenken und nächsten Sonntag entscheiden.«

Horst schnellte aus seinem Sessel hoch und verkündete: »Dann mach ich uns jetzt einen Tee.«

Jan folgte ihm, mindestens so schwer atmend wie Opa, in die Küche.

4.

Am Sonntagnachmittag streifte Jan durch seine Wohnung. Opas Angebot nahm ihm die Ruhe. Warum wollte Opa sein Schweigen so teuer bezahlen? War das Geheimnis so wertvoll oder so verwerflich billig? Jan fühlte sich auch etwas beschämt. Er wollte kein Geld von seinem Ersatzvater. Jan erhoffte sich nur, die versiegte Geldquelle wieder sprudeln zu lassen. Das wollte er auch ohne Opas Hilfe weiterverfolgen. Entschlossen startete er seinen Computer und googelte Telefonnummer und Anschrift des Rechtsanwalts Lambrecht. In Berlin gab es zum Glück nur einen. Olaf Lambrecht residierte in der Uhlandstraße, nahe der Ecke zum Kurfürstendamm. Eine private Rufnummer gab das sonst so allwissende Netz nicht preis.

Am Montag kurz nach 10 Uhr unterstellte Jan, dass selbst ein Berliner Staranwalt in der Kanzlei telefonisch erreichbar sein müsste. Es meldete sich indes eine schnoddrige Frauenstimme und empfahl, es um 11:45 Uhr erneut zu versuchen. Sie versprach, diesen Termin in den Anwaltskalender zu buchen. »Dann klappt das bestimmt. Warum geht es denn bitte?«

»Um Horst Wolewski,« verriet Jan der Neugierigen.

Jan fragte sich, während sich die eineinhalb Stunden dahin schleppten, ob Olaf Lambrecht montags immer erst um 11:30 Uhr ins Büro kam oder tatsächlich, wie vorgebracht, auswärtige Mandantentermine wahrnahm. Auf jeden Fall erreichte Jan zur gebuchten Zeit Herrn Lambrecht.

Mit schneidender Stimme erklärte der Anwalt: »Telefonische Auskünfte erteile ich grundsätzlich nicht an Personen, die mir nicht persönlich bekannt sind.«

»Ich will aber doch nur wissen, wer meinem Opa über Sie regelmäßig Geld überwiesen hat.«

»Wie ich Ihnen bereits sagte, telefonisch wird das nichts. Wir können uns gerne bei mir im Büro treffen. Wann würde es Ihnen passen?«

Jan gab auf. Sie verabredeten sich für kommenden Freitag um 10:30

Uhr. Jan war überzeugt, dass es dem Advokaten nur darum ging, ein höheres Honorar herauszuschinden. Entsprechend mürrisch bestellte Jan die ICE-Tickets von Hamburg nach Berlin im Internet und beantragte bei seinem Chef einen Tag Urlaub.

5.

Am Freitag erkannte Jan im Anwaltsbüro bei der Begrüßung die schnoddrige Frauenstimme sofort wieder. Die alterslose Kurzhaarige bat um seinen Personalausweis und bot ihm an, auf dem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Sitzend beobachtete Jan, wie sie beide Seiten des Plastikkärtchens kopierte. Sie gab es ihm zurück, ergriff das Telefon und säuselte überraschend lieblich: »Herr Lambrecht, Herr Jan Wolewski ist eingetroffen.« Sie lauschte noch einige Sekunden auf die Stimme ihres Herrn, schaute auf ihre Armbanduhr und legte auf. Mit einer Akte vor der Brust führte sie Jan in das Chefzimmer.

Mit ausgestrecktem Arm und einem dröhnenden: »Hallo Herr Wolewski!«, kam Jan ein Elefantenbaby entgegen. Der große, schlanke Jan, der sich für normal hoch und breit hielt, musste zu dem über Fünfzigjährigen aufschauen. Das erlebte er nur selten. Es hätten sich auch zwei seiner Statur hinten dem Koloss verstecken können. Sie setzten sich gegenüber an den Schreibtisch.

Nach einleitenden Höflichkeiten über komfortable Bahnfahrt, lebendige Stadt und durchwachsenem Sommer fabelte Jan: »Ich muss mich, weil mein Opa leider dazu nicht mehr in der Lage ist, auch um seine Konten kümmern. Dabei fand ich heraus, dass Sie seit einem Jahr nichts mehr überwiesen haben. Wann werden Sie die Zahlungen wieder aufnahmen?«

Olaf Lambrecht schlug die Akte vor sich auf, blätterte und las. Dann blickte er Jan an: »Sobald mein Mandant mir entsprechende Anweisungen erteilt.«

»Wer ist Ihr Mandant?«

»Das unterliegt meiner Schweigepflicht.«

»Aber ich muss doch Kontakt zu dieser Person aufnehmen können. Wie soll denn mein Opa sein Geld bekommen?«

Der Anwalt kippte den Bullerkopf nach rechts und zuckte mit beiden Schultern.

Jan las daraus ein gewisses Bedauern und beklagte sich: »Da lassen Sie mich extra ganz aus Hamburg anreisen, um mir mitzuteilen, dass Sie mir nichts sagen können!«

»So stellt sich das leider jetzt für Sie dar. Es hätte ja aber auch durchaus sein können, dass Sie …« Das Telefon unterbrach, sein Gesülze. Schweigend hörte er einen Augenblick zu. Mit strenger Stimme erwiderte er: »Na gut, dann komme ich kurz.« Er wandte sich an Jan: »Landunter im Sekretariat. Ich muss Sie für einige Minuten alleine lassen. Entschuldigen Sie bitte.« Er schritt aus dem Raum. Der Dielenboden bebte. Sobald die Tür geschlossen war, umrundete Jan den Schreibtisch und öffnete die Akte, in der zuvor geblättert wurde. Er fand nur Kontoauszüge. Der oberste vom Juni 2008 mit drei Buchungen:

Überweisung von Sano-Apotheke 390 €

Überweisung an Horst Wolewski 365 €

Umbuchung auf Kanzleikonto 25 €.

Die Seiten darunter sahen genauso aus. Die Salden am Monatsende waren stets null. Jan huschte zurück auf den Besucherstuhl. Sekunden später stapfte der Anwalt an seinen Platz. Jan verabschiedete sich, da er nicht erwartete, mehr zu erfahren, als er jetzt bereits wusste.

Als er die Kanzlei verlassen hatte, steckte Lambrecht den Kopf in das Vorzimmer und raunte: »So schnell, wie der eben verduftet ist, hat der Jüngling mein stilles Informationsangebot wahrgenommen. Sie haben genau im rechten Augenblick angerufen.«

6.

Jan ärgerte sich zwar noch über den verschwiegenen Advokaten. Aber er bedachte ihn nicht mit seinen üblichen Verwünschungen. Immerhin hatte er durch ihn, wenn auch in Selbstbedienung, von der Sano-Apotheke erfahren, Opas Geldquelle. Was wusste Opa über die, dass sie so viele Jahre brav gezahlt hatte?

Jans Handy lieferte ihm sofort die Adresse und Telefonnummer der Sano-Apotheke: Prenzlauer Allee 180. Der Internet-Fahrplan der BVG (Berliner Verkehrs Gesellschaft) schlug zwei Routen vor. Mit U- und S-Bahn oder mit Bus und S-Bahn. Jan entschied sich für den Bus. Dadurch würde er mehr von der Stadt sehen können. Nach wenigen Minuten saß Jan oben in der zweiten Reihe. Er genoss seine erste Fahrt in einem Doppeldeckerbus.

Es dauerte fast eine Dreiviertelstunde, bis er an der Sano-Apotheke vorbeischlenderte. Das Schaufenster war mit den üblichen Papptafeln der Pharmaindustrie dekoriert. Im Vorbeigehen gewann Jan den Eindruck, dass er vorsichtshalber diverse Präparate erwerben sollte, um sich gegen die gesundheitlichen Risiken des Sommers zu wappnen. Der Optiker nebenan glich in Größe und Unauffälligkeit dem Pillenhöker. Von der S-Bahn-Station bis hierher reihten sich auf beiden Straßenseiten Einzelhändler, nur unterbrochen durch die schlichten Hauseingänge zu den Wohnungen darüber. Jan kehrte zum Bahnhof zurück. Dort hatte er vorher eine der durch die Handys vom Aussterben bedrohten Telefonzellen entdeckt. Er wollte zunächst telefonisch sein Glück bei der Sano-Apotheke versuchen, sich dabei aber natürlich nicht durch sein eigenes Handy verraten. In der Kabine muffelte es schmutzig, als ob hier jemand im Winter übernachtet hatte. Leider war der Münzfernsprecher mit Zifferntasten ausgestattet. Jan hatte gehofft, zum ersten Mal eine Wählscheibe wie in alten Filmen benutzen zu können.

Mit links hielt er einen klobigen Telefonhörer, der mehr als zehn Handys wog, mit rechts tippte er die Nummer ein. Schneller als erwartet meldete sich eine Männerstimme: »Sano-Apotheke.«

Jan trimmte seine Stimme eine Oktave tiefer und grollte: »Zahlen Sie ab sofort wieder jeden Monat!«

»Für einen sicheren Logenplatz im Himmel, oder was?«

»Für mein Schweigen, Spaßvogel.« Jan war sich unsicher, ob er den Apotheker siezen oder duzen sollte.

»Was wollen Sie denn wem verschweigen?«

»Ich weiß alles!«

»Davon träumen wir alle.«

»Wenn nicht wieder regelmäßig gezahlt wird, gibt es ganz gewaltig Ärger.«

»Das möchte ich allerdings unbedingt vermeiden. Das besprechen wir aber besser nicht am Telefon. Sie wissen ja alles. So werden Sie mich leicht finden. Kommen Sie doch einfach gleich mal vorbei.

Dann klären wir die Einzelheiten.«

Jan hörte ein kurzes Knacken und dann nur noch das Tütüt der Telekom. Der dreiste Apotheker hatte aufgelegt. Jan knallte den Telefonhörer in die Gabel und verließ die Zelle. Es ärgerte ihn zwar, nicht mehr erreicht zu haben. Er hatte aber auch nicht ernsthaft erwartet, mit nur einem Anruf die Quelle wieder zum Sprudeln zu

bringen. Entschlossen stapfte er zur Apotheke. Im Vorbeigehen sah er eine Kundin vor der Kasse. Jan blieb am nächsten Schaufenster stehen, simulierte Interesse an dem Überangebot von Brillenfassungen und wartete, dass die Apotheke kundenfrei wurde. Bald kam eine weißhaarige Frau mit praller Handtasche Jan entgegen.

Von draußen überzeugte sich Jan, dass sich keine Kunden in der Apotheke aufhielten. Forsch betrat er die Apotheke und fixierte mit strenger Miene den Mitte fünfzigjährigen Mann im Weißkittel hinter dem Ladentisch. Bevor der grüßen konnte, polterte Jan los: »Ich nehme an, wir haben eben telefoniert und Sie wissen, worum es geht.« Angesichts des doppelt so Alten hatte er sich fürs Siezen entschieden.

»Es ist gut möglich, dass wir eben telefoniert haben. Worum es geht, weiß ich allerdings nicht.«

»Sie sollen Ihre monatlichen Zahlungen wieder aufnehmen«, fauchte Jan.

Der Apotheker schaute ebenso ratlos wie harmlos: »Wofür sollte ich Ihnen Geld geben?«

»Nun kommen Sie mir nicht so. Sie wissen ganz genau, dass Sie sich nur so mein Schweigen sichern können. Wenn Sie sofort wieder jeden Monat überweisen, will ich großzügig über die einjährige Unterbrechung hinwegsehen. Die Weltwirtschaftskrise hat wahrscheinlich sogar Ihren Laden hier gebeutelt.«

Der Gesichtsausdruck des Weißkittelträgers erhellte sich: »Ich habe die Sano-Apotheke erst vor einem Dreivierteljahr übernommen. Dann geht es vermutlich um meinen Vorgänger.«

Darauf wusste Jan auf die Schnelle nichts zu erwidern.

Darum fuhr der Erhellte munter fort: »Ja, ja, der Wolewski. Erst drehte er mir diese Bruchbude an. Und nun kommt auch noch raus, dass der Gauner selbst erpresst wurde. Wer hätte das gedacht, ausgerechnet der ehrenwerte Herr Doktor Michael Wolewski!«

Jans Körper setzte aus. Die Knie erweichten, die Haut nässte, die Hände zitterten. Er hörte nur noch dumpf und sah verschwommen. Halt suchend schwankte er nach draußen. Einen Augenblick stützte er sich an die Hauswand und bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Sein Blick schärfte sich wieder. Weit entfernt stand eine Bushaltestelle mit einer Wartebank. Er holte tief Luft, als ob er bis dorthin tauchen müsste, und wankte die fünfzehn Meter zu der Rettungsstation. Klitschnass ließ er sich auf das Hartplastik plumpsen. Erschöpft lehnte er den Kopf an die schmutzige Glaswand hinter sich. Er spürte aufsteigende Übelkeit. Mit Entsetzen stellte er sich vor, jetzt auch noch kotzen zu müssen. Dann würden ihn sämtliche Passanten für sturzbetrunken halten und womöglich noch den Notarzt oder gar die Polizei rufen. Völlig erledigt schloss Jan die Augen.

7.

Tina Teschke hatte den merkwürdigen Dialog ihres Vaters mit dem jungen Mann durch den Türspalt aus dem Hinterzimmer der Apotheke mitbekommen. Er hatte sie sogar vorher darum gebeten: »Da hat eben ein komischer Knülch angerufen. Der kommt eventuell gleich noch vorbei. Behalte den bitte ein bisschen im Auge.«

Die Apothekertochter nickte und konzentrierte sich wieder auf ihr Bewerbungsschreiben. Dafür benutzte sie lieber den PC-Drucker der Apotheke. Der schob vorzeigbarere Seiten heraus als ihr ausgeleierter Schmierfink zu Hause. Ihr Vater schätzte ihre Anwesenheit, besonders wenn, wie heute, Frau Zöpfel, die angestellte Apothekenhelferin, freihatte. Dann konnte er auch mal zur Toilette gehen, ohne die Ladentür abzuschließen. Jetzt, wo Tina ihr Medizinstudium vollendet hatte, würde sie sich hier wahrscheinlich bald gar nicht mehr aufhalten.

Als der Fremde aus der Apotheke taumelte, war Tina zur Eingangstür gesprungen. Sie beobachtete, wie der Kollabierende zur Bushaltestelle torkelte und auf die Bank sank. Sie schnappte sich einen kleinen Plastikbecher, füllte ihn mit Leitungswasser und eilte zu ihm.

8.

Jan hörte dumpf wie aus weiter Entfernung: »Hier, trinken Sie ein Schluck Wasser.« Benommen hob er den Blick. Direkt vor sich flimmerte etwas Helles. Dahinter schimmerte das Gesicht eines Engels.

Blonde Haare umrahmten in sanften Wellen die weichen Züge eines Mädchengesichts. Das Blau ihrer Augen belebte Jans trübe Schwarz-Weiß-Sicht. Die Welt um ihn herum wurde wieder farbig.

Er spürte immer noch aufsteigende Übelkeit. Mit unsicherer Hand ergriff er den Becher, setzte ihn an die Lippen und schluckte.

Bestürzt befürchtete er, damit jetzt einen unkontrollierbaren Reflex auszulösen, und dem Engel in das Gesicht speien zu müssen. Den Katholiken droht für solch einen Frevel gewiss das Fegefeuer. Selbst als Ungläubiger graute ihm vor einer biblischen Strafe. Jans automatisches Steuerungssystem justierte die Funktionen seines Körpers wieder in den Normalbetrieb. Er atmete dreimal bewusst tief durch, setzte sich aufrecht hin und sprach die Samariterin an: »Vielen Dank. Das kam im rechten Augenblick.«

»Haben Sie öfter diese Schwächeanfälle?«

»Das war mein Erster.«

»Was könnte die Ursache gewesen sein?«

Jan erschrak. Das Versagen des Körpers und die Hilfe des Engels hatten den Schock verdrängt. Jetzt kehrte er zurück. Doch diesmal traf er Jan nicht mehr völlig unvorbereitet. Stockend erklärte er:

»Doktor Michael Wolewski war mein Vater. Ich hielt ihn, seit ich sechs Jahre alt war, für tot. Offiziell war er verschwunden, kurz nach dem tödlichen Unfall meiner Mutter. Ich bin immer davon ausgegangen, dass er sich das Leben genommen hatte, und man mir nur nicht die Wahrheit sagen wollte.«

»Na vor einem Dreivierteljahr lebte er noch hier in Berlin. Ich habe ihn zwar nie gesehen, aber mein Vater mehrmals. Zum 1. Oktober 2008 hat er dessen Apotheke übernommen.«

»Haben die beiden noch Kontakt?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Jan ballte seine Fäuste: »Was muss mein Vater für ein Egoistenschwein sein! Einfach abzuhauen und sein einziges, bereits halbwaises Kind Oma und Opa aufs Auge zu drücken.«

Tina senkte beschämt den Blick.

Jan meckerte weiter: »Jetzt verstehe ich auch diese merkwürdigen Überweisungen auf das Sonderkonto meines Opas. Mein Rabenvater wollte sich aus seiner Verantwortung freikaufen. Klar, deshalb endeten die Zahlungen auch letztes Jahr, als ich mein Studium abschloss und den ersten Job antrat. Und ich dachte, mein Opa erpresst die Sano-Apotheke.«

Tina schüttelte missbilligend den Kopf: »Ach, und das wolltest du jetzt fortführen. Du scheinheiliger Erpresser.« Jans Offenheit ermunterte sie, den gleichaltrigen zu duzen.

Jan registrierte das dankbar: »Dass Opa das beinah zwanzig Jahre verheimlichen konnte, ist fast bewunderungswürdig. Er hat es mir noch nicht einmal letzten Sonntag verraten, als ich ihn wegen der regelmäßigen Überweisungen befragte.«

»Hast du ihm gesagt, was du vorhattest?«

Jan nickte verlegen: »Er wollte das nicht. Er hat mir sogar angeboten, das ganze Geld zu überschreiben, wenn ich in dieser Sache nicht weiter rumstochere.«

»Aber da hatte dich die Gier bereits gepackt.«

»Stimmt, aber das entlastet weder meinen verschwundenen Vater noch meinen verschwiegenen Opa.«

»Immerhin hat dein Opa das Geld für dich gespart. Während du ein krummes Ding drehen wolltest.«

Jan schnaufte schuldbewusst. Dann strahlte er sie an: »Ein Glück, dadurch habe ich nicht nur erfahren, dass mein Vater noch lebt, sondern obendrein die hübscheste Berlinerin kennengelernt.«

»Danke. Wobei du kaum einen schlechteren ersten Eindruck hättest vermitteln können.«

Jan nickte zerknirscht: »Soll ich mich bei deinem Vater entschuldigen?«

Schweigend gab Tina ihm einen winzigen Pluspunkt, ein Nichts im Meer der Minuspunkte: »Das lass mich mal lieber machen. Sonst giftet ihr euch doch gleich wieder an. In der Hinsicht ähnelt ihr euch ziemlich.«

Jan schaute auf die Uhr: »Ich habe noch einige Stunden bis zur Rückfahrt. Ich lade dich zum Mittagessen ein, allein zur Wiedergutmachung.«

»Das ist nett. Aber das geht jetzt nicht. Wo musst du denn hin?«

»Nach Hamburg.«

»Was für ein Zufall, ich will mich für eine Stelle in Hamburg bewerben.«

»Für was, bei wem?«

»OP-Ärztin in Hamburg-Eppendorf.«

»Oh, so jung und Ärztin. Glückwunsch. Ich habe kürzlich gelesen, dass die Uni-Klinik in Eppendorf das modernste Krankenhaus in Europa geworden sei.«

»Deshalb erwäge ich ja auch den Umzug aus der bankrotten Hauptstadt in das Dorf.«

Erst stutzte Jan, dann lachte er: »Ach du meinst Eppendorf. Das ist ein Stadtteil in Hamburg wie Wilmersdorf in Berlin. Dörfliches gibt es bei beiden längst nicht mehr.« Er fummelte in der Innentasche seiner Jacke, zückte eine Visitenkarte und reichte sie ihr: »Hier hast du meine Handynummer. Versprich mir, dass du mich anrufst, wenn du zum Vorstellungstermin nach Hamburg kommst. Dann lade ich dich dort zum Essen ein.«

Tina las die Karte: »Oh, Diplom-Ingenieur bei Airbus, alle Achtung!«

»Ich meine es ernst. Ruf mich bitte an. Ich weiß, wo wir lecker speisen können.«