Der Ring der Offenbarung - Harald J. Krueger - E-Book

Der Ring der Offenbarung E-Book

Harald J. Krueger

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Beschreibung

Der frisch getrennt lebende Armin Blumenberg verreist zum ersten Mal alleine mit seiner kleinen Tochter Dorit. Eigentlich wollte er mit ihr gemütlich das magische Andalusien im Süden Spaniens erkunden. Stattdessen geraten sie in eine Hetzjagd nach einem mysteriösen Ring, der aus einem Kloster gestohlen wurde. Nur der amtierende Abt darf die wundersame Wirkung des Rings kennen. Um das Geheimnis zu wahren, werden seit Jahrhunderten keine lebenden Mitwisser geduldet. Ständig auf der Flucht stolpern die beiden deutschen Urlauber von einem Albtraum in den nächsten. In seinem dritten Roman erzählt Harald J. Krueger hinreißend vergnüglich, wie der ahnungslose Sonntagsvater sein fantasievolles Töchterchen wochentags kennen lernt. Zudem erfährt der Leser von Menschen und Orten in Andalusien, die Touristen meist verschlossen bleiben. Vor allem aber fesselt die atemberaubende Spannung bis zur letzten Seite.

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Für Wiebke

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

1.

Armin Blumenberg schob mit dem Fuß seine Reisetasche einen Schritt vorwärts. Jetzt standen nur noch drei Touristenpaare vor ihm. Auch sie wollten ihr Gepäck abgeben für den Flug von Frankfurt nach Malaga. Als ob es helfen würde, schaute Armin zum hundertsten Mal zu den Eingangstüren. Karin, seine Noch-Ehefrau, hätte mit der kleinen Dorit schon längst eintreffen müssen. Hier sollte er die viereinhalbjährige Tochter übernehmen.

Die Reise würde in jeder Hinsicht eine Premiere werden. Zum ersten Mal, seit sie sich vor zehn Jahren kennen gelernt hatten, würde er ohne Karin in Urlaub fahren. Zum ersten Mal würde der Sonntagsvater eine ganze Woche alleine mit Dorit verbringen. Obendrein sollte es für die Kleine ihr Flugdebüt werden. An sich schon aufregend genug, befand Armin.

Ein Rentnerpaar drückte ihm die Kofferkarre in den Rücken. Erst jetzt bemerkte Armin, dass es weiterging. Übergemächlich hob er seine Nylontasche hoch und setzte sie einen halben Meter vor. Nur noch zwei Paare vor ihm. Wollte Karin ihn etwa versetzen? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Das wäre nicht ihre Art. Als Rechtanwältin hätte sie wahrscheinlich sogar noch Bedenken wegen etwaiger Schadensersatzansprüche. Außerdem hatten sie gestern Abend ja auch noch telefoniert. Ob das Schalterfräulein ihm überhaupt zwei Bordkarten aushändigte, ohne das Kind gesehen zu haben? Wohl kaum, bei der heutigen Sicherheitshysterie.

Ob er zur Not alleine abfliegen würde, wollte er sich lieber nicht durchdenken. Dorit überbrückte den Graben zwischen Karin und ihm. Sie lebten jetzt schon seit Januar, fast sechs Monate, getrennt. Die Sonntage verbrachte Armin mit Dorit. Beim Abholen und Bringen traf er Karin flüchtig. Auch wenn es jedes Mal stach, freute er sich, sie zu sehen, sogar heute.

Armin musste aufrücken. Jetzt wurde das pummelige Frauenpaar vor ihm bedient. Er käme als nächster dran. Ohne Dorit kam keine Freude über das rasche Einchecken auf.

2.

Am gleichen Sonntag, auch um 7:15 Uhr, aber nicht auf dem Frankfurter Flughafen sondern im Kloster bei Jimena, hundert Kilometer südwestlich von Malaga, im tiefsten Süden Spaniens, wartete der Abt des Benediktiner Klosters ebenso sehnsüchtig. Unruhig wechselte sein Blick von der Kirchturmuhr zur zwei Kilometer langen Klosterzufahrt. Von dem schmalen Fenster seiner Kammer im ersten Stock hätte er die Aussicht auf das Tal mit der Orangenplantage genießen können. Doch heute verstellten Sorgen seinen Blick. Für ihn hing die Zukunft des Klosters an dem Besuch von Don Alfonso Domecq. Seine Spende könnte sie für die nächsten Monate retten. Die Höhe der Spende stand für den Abt in direktem Zusammenhang zum optimalen zeitlichen Ablauf. Und der schien zunehmend gefährdet.

Bei der Frühmesse hatte der Abt die Brüder noch zum Raunen gebracht. Seit Donnerstag hatten sie täglich gemeinsam um Gottes Hilfe für das Kloster gebetet. Heute, am Sonntag, hatte er ihnen den Besuch des großzügigen Sherry-Barons angekündigt. In Wahrheit wusste der Abt schon seit Mittwoch davon. Er hoffte, dass der Herr ihm diese kleine List verzieh. Diente sie doch nicht nur seinem Ego sondern stärkte vor allem den Glauben in die Kraft des gemeinsamen Gebets. Was stand ihnen bevor, wenn Don Alfonso Domecq sich verspäten sollte?

Dabei waren die Voraussetzungen optimal. Kein Wölkchen am tiefblauen Junihimmel drohte die Sonne zu verdunkeln. Das würde jedoch bald wenig nützen. Nach den jahrhundertealten Aufzeichnungen würde heute nur von 7:32 bis 7:37 Uhr die optische Sensation der Zeremonie stattfinden. Ohne diese Blendung fühlten sich die Besucher nicht erleuchtet. Ohne Erleuchtung spendeten sie wenig. Das Geld brauchte das Kloster dringend. Es war zwar Eigentümer des Korkeichenwalds am Hang hinter dem Kloster und der Orangenplantage im Tal davor, doch die Pachteinnahmen tröpfelten spät und spärlich. Trotz Selbstversorgung mit Obst, Gemüse und Fleisch brauchten die fünfundzwanzig an sich anspruchslosen Mönche ständig Geld. Erst gestern erinnerte Izan, der Küster, zum dritten Mal wie dringend ihr Kleintransporter repariert oder besser ganz ersetzt werden müsste. Bislang mahnte der Stapel unbezahlter Rechnungen noch stumm. Nur mit Geld ließe sich ihr klösterliches Leben aufrechterhalten. Diese weltliche Abhängigkeit ihres religiösen Eifers verdross den Abt. Sehnsüchtig streifte sein Blick die Zufahrtsstraße entlang. „Bitte lass ihn rechtzeitig eintreffen.“

3.

„Hallo Vati“, rief Dorit und riss Armin aus der gleichen stummen Fürbitte. Erleichtert drehte er sich um. Karin eilte mit Dorit an der linken und der Lederreisetasche in der rechten Hand an der Warteschlage entlang zum Schalter. Die beiden Diätopfer vor Armin wurden noch abgefertigt. Dorit riss sich los und stürmte zu ihrem Vater. Der hockte sich nieder, um sie zu umarmen. Sie hatten sich seit einer Woche nicht gesehen. Karin stand in ihrem azurblauen Hosenanzug daneben. Sie hatte sich schon gedacht, dass Armin in Jeans und seiner unvermeidlichen Weste reisen würde. So hätte sie sich nie auf dem Flughafen präsentiert.

Freudig glucksend nahmen die beiden schweren Urlauberinnen die Bordkarten entgegen und begaben sich auf die Suche nach ihren Traummännern. Das Rentnerpaar hinter Armin befürchtete durch die Begrüßung, den Abflug zu verpassen.

Armin richtete sich auf und überreichte dem Schaltermädchen den Flugschein. Wenn man selbst an der Reihe ist, geht alles so schnell, dass man sich wundert, warum es vorher so lange dauerte. Diesmal beklagte sich Armin nicht über die Warterei. Die beiden Reisetaschen verschwanden im Schlund des Gepäcklabyrinths. Armin erhielt die Bordkarten.

Seufzend drängten die Pensionäre mit der überladenen Gepäckkarre an den Schalter. Die Blumenbergs sammelten sich am unbenutzten Nebenschalter. Armin strich sich verlegen durch die Wellen seines hellbraunen Haars.

Die kleine Blonde fragte: „Wo ist denn unser Flugzeug?“

Das erlöste die Eltern aus ihrer Sprachlosigkeit.

„Das suchen wir jetzt gleich mal“, lachte Armin.

„Dorit, du bleibst immer bei Vati“, mahnte Karin. Sie presste besorgt die Lippen. Ihre zarten Gesichtszüge wirkten dadurch noch ernster als sonst.

Zögernd überwand sie sich: „Na, dann schöne Reise.

Armin, versprich mir, dass ihr nicht nach Marokko übersetzt!“

Armin nickte und bemühte sich, sein Dauergrinsen zu unterdrücken.

„Bis bald Mutti.“

Er sah, wie Karin mit den Tränen kämpfte. Zügig zog er mit der Tochter zur Sicherheitskontrolle.

4.

Der Abt hörte Reifen auf dem Sandweg zum Kloster knirschen. Ein schwarzer Mercedes näherte sich langsam. Das Kloster bestand aus vier Gebäuden, die einen Innenhof umschlossen. Der einzige Klostereingang befand sich in der Mitte des vorderen Querhauses. In diesem einstöckigen Wirtschaftstrakt wohnte links Izan, der Küster. Rechts kochten und wuschen die Mönche. Hinter der Küche, im Längsgebäude, aßen die Mönche an einer langen Tafel im Refektorium. Im Stockwerk darüber war die Bibliothek untergebracht.

Gegenüber auf der anderen Seite des Innenhofs schliefen die Mönche in kargen Zellen. Die Kapelle bildete das hintere Quergebäude. In der Ecke zwischen der Kirche und der Bibliothek überragte ein schlanker Glockenturm die Dächer. Durch den schmalen Rundgang weit oben ähnelte er einem Minarett. Auch einige Torbögen und Kacheln verrieten den maurischen Ursprung.

Erleichtert bekreuzigte sich der Abt und verließ seine Zelle. An der Tür vom Innenhof zur Kapelle traf er auf Izan, den schlaksigen Küster. Der Abt japste: „Er kommt. Ist alles vorbereitet?“

Der Atem des 60-jährigen verkürzte sich von Jahr zu Jahr.

Der fast vierzig Jahre jüngere Küster nickte. Das Sprechen wurde hier möglichst vermieden.

„Bring Don Alfonso Domecq bitte sofort zum Ostaltar.“

Izan schritt im flinken Mönchsgang zum Klostereingang. Der Abt huschte in die dunkle Kapelle. Im Raum hing noch der Weihrauch der Frühmesse. Der Abt bekreuzigte sich und kniete vor dem Marienaltar im Osterker nieder. Nur die beiden armdicken Kerzen neben der lebensgroßen Maria gaben dem Seitengewölbe ein unruhig schummriges Licht. Die heilige Jungfrau saß im lila Gewand und hielt mit beiden Händen das liegende Jesuskind. Eine nackte Puppe mit goldener Haut. Eine vergilbte Spitzendecke verhüllte dessen Scham und die rechte Hand der Mutter. Der Abt drehte sich um und vergewisserte sich, dass er allein war. Dann griff er mit der linken Hand unter das Tuch und fummelte. Es dauerte nur einen Atemzug. Dann zog er sie zurück. In der hohlen Hand verbarg er den Ring der Unbefleckten. Im weiten Ärmel seiner Kutte schob er ihn auf den rechten Zeigefinger. Dabei schaute er sich wieder besorgt um. Er fühlte sich unbeobachtet. Pedantisch zupfte er das Deckchen des Heilands so weit es der Anstand erlaubte zurück.

Schritte näherten sich. Die Zeiger seiner Armbanduhr standen auf 7:29. Erleichtert tupfte er sich die Schweißperlen vom Kopf und glättete den weißen Haarkranz. „Gott sei Dank, noch rechtzeitig!“, befand er und versank in andächtiger Betstellung.

5.

Zur gleichen Zeit betrat Paco seine Wohnung in Algeciras, der Hafenstadt bei Gibraltar. Er nahm an, wie üblich mit stummem Vorwurf, aber ebenso sehnsüchtig erwartet zu werden. Am Abend vorher hatte ihn seine Frau Ana angefleht, sie nicht wieder alleine zu lassen. Aber Paco, der Stämmige, ließ sich nicht aufhalten. Er hatte ihr sogar noch eine gelangt, als sie sich an ihn klammerte.

„Bitte bleib!“, hatte sie geheult.

Der grausträhnige Krauskopf hatte sie angekläfft: „Ich geh, wann ich will, und komm, wenn es mir passt.“ Brutal hatte er die Tür hinter sich zugeknallt.

Er blieb öfter mal über Nacht fort. Bislang traf er Ana am nächsten Morgen mit verquollenem Gesicht an. Heute saß Ana nicht wie früher mit ihrem Leidensblick auf dem Sofa. Paco schaute auf die Schnörkeluhr auf der Kommode im Wohnzimmer. Er vermutete, dass Ana am Sonntag um 7:30 Uhr noch im Bett lag. Er ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Das schmutzige Geschirr vom Abendessen dünstete sauer in der Spüle.

Paco nahm das letzte saubere Glas aus dem Geschirrschrank, füllte es am Wasserhahn randvoll und trank es mit drei Schlucken leer. Das löschte den Brand des nächtlichen Bier-Wein-Sherry-Gelages. Sein grauhäutiges Hohlwangengesicht belebte sich. Trotzdem sah er für seine vierzig Jahre ganz schön alt aus. Er beschloss, sich noch ein Weilchen ins Bett zu legen.

Das Doppelbett im Schlafzimmer sah unbenutzt aus. Verärgert lief Paco durch die Wohnung. Im Flur vermisste er Anas Kommunionfoto. Auf dem sah sie noch aus wie die Jungfrau Maria. Die schwammige 40-jährige von heute war weg. Im Bad entdeckte Paco auf dem Klodeckel einen Papierstreifen. Auf ihm lag Anas goldener Ehering. Auf dem Papier, es war die Rückseite eines Supermarkt-Kassenzettels, waren nur zwei Wörter mit einem blauen Filzschreiber geschmiert: ‚Me voy’ (Ich hau ab).

Paco grabschte sich den Ring, steckte ihn in die Hosentasche und stürmte ins Schlafzimmer. Er riss die Kleiderschranktür auf. Der Schrank war fast leer. „Soll sie doch, die Zicke!“, grollte er. Ihn ärgerte mehr ihre Eigenmächtigkeit als ihr Verschwinden. Er durchsuchte die Wohnung, um festzustellen, was die blöde Kuh sonst noch mitgenommen hatte. Im Badezimmerschränkchen fand er weniger Cremedosen und Lippenstifte als sonst. In der Küche vermisste Paco gar nichts. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Besorgt rannte er ins Wohnzimmer.

Ein Glück, das Buch stand noch am Platz, erkannte Paco schon an der Tür. Vorsichtig nahm er die dicke Bibel aus dem offenen Regalfach des Wohnzimmerschranks. Es war ihr einziges Buch - das obligatorische Geschenk des Pfarrers zur Hochzeit. Paco blätterte durchs Alte Testament.

„Dieses verdammte Miststück“, fluchte er. Immer hastiger durchwühlte er die Seiten. Schließlich schüttelte er die Heilige Schrift nur am Deckel haltend. Kein einziger Geldschein flatterte auf den Boden. Die gemeine Sau war mit seinem Geld abgehauen. Fassungslos vor Wut warf er sich aufs Sofa.

Seit Jahren deponierte Paco Geldscheine in der Bibel - seine Spardose, seine hohe Kante. Nie hatte er an der Sicherheit dieses Verstecks gezweifelt. Wer klaut schon eine Bibel? Außerdem kam er sich wie ein wohltätiger Spender vor, wenn er einen großen Schein zwischen die Seiten legte. Er hatte zwar noch nie etwas gespendet, stellte sich das Gefühl aber so vor. Selbst Paco biss manchmal bei seinen Gaunereien schlechtes Gewissen. Dann linderte solch eine ‚Spende’.

Wie könnte er möglichst rasch seine Notreserve wieder aufstocken? Verbittert holte er Anas Ring aus der Hosentasche, zerrte seinen Ehering vom Ringfinger und knallte beide auf den flachen Holztisch vor sich. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Noch nie hatte er sich so betrogen gefühlt. Voller Hass starrte er auf das bisschen Gold. Das brachte ihn auf eine Idee.

6.

Armin beobachtete, wie Dorit, immer wenn ein neues Flugzeug auftauchte, von der Wartebank aufsprang, zum Fenster hüpfte und juchzte: „Ist das unser Flugzeug?“ Dabei lief sie furchtlos den Vorbeihastenden vor die Gepäckwagen. Armin blieb jedes Mal das Herz stehen.

Als sie wieder neben Armin saß, flüsterte er ihr ins Ohr: „Weißt du eigentlich, dass es auch lebendige Gepäckwagen gibt, die von alleine rollen?“

Dorit schaute ihren Vater ungläubig an.

„Doch, doch, die gibt es. Sie sind selten und überaus scheu. Aber wenn du hier still sitzen bleibst, kannst du welche entdecken.“

Dorits große blaue Augen prüften jeden Gepäckwagen, der den Gang entlang kam. Ihr Köpfchen mit dem blonden Pferdeschwanz drehte sich anmutig von links nach rechts. Armin hoffte, sie so bis zum Einsteigen an den Platz zu fesseln.

„Da, da, da!“, aufgeregt fuchtelte Dorit mit den Armen, „da kommt eine ganze Herde.“

Im ersten Augenblick stutzte Armin selbst. Mindestens ein Dutzend ineinander geschobene Gepäckkarren näherte sich von rechts. Dann sah er den türkisch aussehenden Schieber in der Flughafenuniform dahinter.

„Siehst du den Mann am Ende? Der bringt sie in den Stall zurück.“

„Ach Quatsch, das ist eine Herde. So viele kann gar keiner schieben. Der tut nur so. Das ist ein Angeber. Einige Männer sind so.“

Endlich wurde ihr Flug aufgerufen. Behinderte und Reisende mit Kindern sollten als erstes einsteigen.

7.

„Mein Gott, sieht der behindert aus“, erschrak der Abt, als er sich umdrehte und Don Alfonso in der Kapelle erblickte. Er kannte ihn als hageren Asketen. Seine aufrechte Haltung zeichnete ihn früher besonders aus. Heute stand er gebeugt auf einen Ebenholzstock mit Silberknauf gestützt. Der linke Arm zitterte unkontrolliert. Das Gesicht hing schief. Nur die stahlgrauen Augen erinnerten an seine ehemalige Dominanz.

Dass man in wenigen Jahren so verfallen kann, erschütterte den Abt. Was ihm selbst wohl noch bevorstand?

Der Besucher kannte die Prozedur seit Jahrzehnten. Reden brauchten sie deshalb jetzt nicht. Der Abt stützte ihn beim Niederknien und lehnte den Stock an die Wand. Don Alfonso schaute ihn fragend an. Der Abt nickte auffordernd. Sanft legte der Gast beide Hände auf den Oberkörper des goldenen Jesuskinds. Er schloss die Augen und senkte den Kopf.

Verstohlen blickte der Abt zum hohen, schmalen Fenster. Still bedankte er sich beim Herrn für die perfekte zeitliche Fügung. Nun stellte er sich hinter den Knienden. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und kniff die Lippen, als ob er einen Schmerz erwarten würde. Dabei ließ er lediglich die Hände über dem Kopf des Gläubigen schweben. In der ersten Sekunde schauderte der Abt, überwand den Reflex aber sofort. Es war ihm nie gelungen, diese Reaktion zu unterdrücken. Die Wirkung überwältigte ihn immer wieder. Sobald sich der Ring dem Kopf näherte, offenbarte sich dessen Inhalt. Nicht nur, was gerade gedacht und gefühlt wurde. Das gesamte Gedächtnis lag offen - alles was je erlebt, erhofft und befürchtet wurde mit sämtlichen emotionellen Querverbindungen wie Freude, Liebe und Hass.

Der Abt konzentrierte sich auf die aktuellen Probleme wie Hoffnungen, Zweifel und Ängste. Wie könnte er Don Alfonso am besten helfen? Dadurch beruhigte sich der Wirbelsturm der Informationen. Das Bild strukturierte sich.

Don Alfonso bemerkte von all dem nichts. Seine Hände ruhten auf der heiligen Puppe. Er hielt seine Augen andächtig geschlossen. Um 7:32 Uhr strahlte das erste direkte Sonnenlicht durch das Kapellenfenster. Sekunden später reflektierte die glänzende Oberfläche der Goldpuppe das grelle Licht in voller Stärke. Das blendete den Knienden trotz der geschlossenen Augenlieder. Wie die meisten zuckte auch Don Alfonso mit dem Kopf. Das verriet dem Abt, dass die Erleuchtung empfunden wurde. Jetzt musste er diese inhaltlich so nutzbringend füllen, dass der Besucher großzügig spendete und wiederkam. Seit vierhundert Jahren kamen fast alle wieder. Neue Klienten gehörten in der Regel zu den Familien der Stammkunden.

Der Abt berührte Don Alfonsos Schulter. Mühselig richtete der Gebrechliche sich auf. Dankbar ließ er sich helfen. Nun kniete sich der Abt vor den Altar nieder und legte seinerseits beide Hände auf das blendende Gold. Don Alfonso stand auf seinen Stock gestützt im Kirchenschiff und wartete. Dieser Teil der Zeremonie suggerierte den Zweiflern, die immer für alles eine Erklärung brauchen, dass vorher von ihnen etwas in die Puppe überging, das der Abt jetzt empfing. Der Abt nutzte diese Phase, um sich auf seine Fragen und Empfehlungen zu konzentrieren.

Was der Ring heute dem Abt offenbart hatte, überzeugte ihn ein weiteres Mal von der Kraft des gemeinsamen Gebets und Gottes Fürsorge.

8.

Die Fürsorge der Lufthansa für die Kinder beschränkte sich nicht nur auf den Vortritt beim Einsteigen. Kaum hatten alle Gäste Platz genommen, überreichte eine der Profistrahlerinnen Dorit ein Malheft mit bunten Stiften. Begeistert begann Dorit, die Tierumrisse zu kolorieren.

Armin lehnte sich erleichtert zurück. Jetzt begann tatsächlich die lang ersehnte Reise nach Andalusien. Schon vor zehn Jahren, mit dreiundzwanzig, als er Karin auf der Uni kennen gelernt hatte, träumte er davon. Immer gab es gute Gründe, die Reise zu verschieben: kein Geld, Examen, Karriere, zu viele Schulden wegen des Hauskaufs, Kind zu klein. Bis Armin schließlich dahinter kam, dass für Karin der Imponierfaktor zu niedrig lag. Was hätte sie Freunden, Kollegen und Vorgesetzten danach erzählen können? Etwa: „Wir haben in den weißen Dörfern katholische Kirchen besichtigt.“ Das passte einfach nicht zu dem gewünschten Image: erfolgreich und wohlhabend. Dafür eignete sich besser ein mondänes Golfhotel. Das wiederum reizte Armin überhaupt nicht. Ob sie zu verschieden waren?

Dorit hielt ihm ihr erstes Werk vor die Nase. Eine grüne Kuh mit gelben Flecken auf blauer Wiese. Das gab dem unangepassten Vater Hoffnung. Begeistert lobte er die Kreative. Dorit strahlte und fragte:

„Weist du, dass ich die einzige bin, die artig war?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Mutti hat gesagt, die nehmen nur artige Kinder mit.

Ich bin das einzige Kind hier. Ich habe genau draufgeachtet.“

„Glückwunsch! Für den Rückflug sind die noch strenger.“

9.

Der Abt bezweifelte, dass Don Alfonso den üblichen Spaziergang nach der Zeremonie bewältigen würde. Das vertrauliche Gespräch dabei schuf den eigentlichen Wert des Ganzen. Das goldene Jesuskind, die Sonnenreflexion und das Blenden dienten nur der spirituellen Einstimmung und der Ablenkung vom Ring. Jetzt kam es darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. Die Antworten erlaubten dann dem Abt, Ratschläge zu erteilen. So wurde vertuscht, dass der Ring ihm schon alles offenbart hatte.

Drucksend begann der Abt: „Don Alfonso, ich weiß, wie gerne Sie beim Gedankenaustausch durch den schattigen Korkeichenwald wandern. Leider muss ich gestehen, dass mich heutzutage selbst ein kurzer Spaziergang zu sehr anstrengt.“

Don Alfonso grinste verschwörerisch: „Mir ging es nicht ums Gehen. Durch das Gehen, wollte ich nur ungebetenen Zuhörern entgehen.“

„Dafür sind wir hier bestens ausgestattet. Wir setzen uns einfach in den Beichtstuhl. Dort passen nur vier Ohren hinein und nach draußen schallt gar nichts.“

Bedächtig schritten sie durch die Kirche zu dem Beichtstuhl. Sobald sie im Dunklen saßen, fragte der Abt: „Wie weit haben Sie sich inzwischen aus der Firma zurückgezogen?“

„Mit sechzig wurde es mir empfohlen, aber damals fühlte ich mich noch zu jung. Mit fünfundsechzig wäre ich bereit gewesen, doch die Nachfolge erschien mir unreif. Heute mit siebzig bin ich ebenso hinfällig wie überfällig. Doch was soll ich tun?“

„Wer drei gesunde Kinder hat, sollte so nicht reden. Das klingt nach Undank des Glücklichen.“

Don Alfonso stutzte. Es passierte ihm selten, kritisiert zu werden. „Gesundheit ist das Wichtigste. Das lehrt uns das Leben jedes Jahr schmerzhafter. Doch ein Unternehmen dieser Größe zu leiten, erfordert mehr. Mein ältester Sohn ist aller Leute Liebling. Wahrscheinlich weil alle ihn als künftigen Chef hofieren. Er selbst meint wohl auch, das allein reiche. Ich bin sicher im hohen Maße selbst daran schuld. Er ist jetzt Mitte vierzig. Seit dreißig Jahren spielt er Polo und erobert Frauen. Gewiss, er ist immer zur Stelle, wenn es gilt, die Familie zu repräsentieren. Doch ist das genug, den vielen abhängigen Familien auch die nächsten zwanzig Jahre Lohn und Brot zu sichern?“

Obwohl der Abt das alles durch den Ring schon wusste, ermunterte er ihn, weiter zu reden.

Der Abt erlebte heute endlich mal eine angenehme Ausnahme. Normalerweise ließen sich die Probleme seiner Klienten auf einen gemeinsamen Nenner reduzieren: Sie stehen sich selbst im Wege, um vernünftig zu entscheiden. Sei es aus Stolz, Angst, Missgunst, Neid, Rache, Habgier. Fast alle Ratsuchenden kommen negativ denkend - nur darauf aus, Gefühle zu befriedigen. Nach seiner Beratung gehen die meisten dann positiv denkend - ihren Vorteil im Visier. Der Erfolg befriedigt später die Gefühle von alleine.

Don Alfonso fuhr fort: „Meine Frau kümmerte sich verstärkt um unseren zweiten Sohn. Der erste für das Unternehmen, der zweite für die Kultur. Heute lebt er in Paris, malt Ölbilder, die selten einer ausstellt, und kaum einer kauft. Wir wissen wenig. Umso düsterer quält uns die Fantasie.“

Dass er dabei an Homosexualität und Drogen dachte, hatte der Ring dem Abt offenbart. „Haben Sie schon mal mit ihm über Ihre Sorgen gesprochen?“

Don Alfonso erstarrte entgeistert: „Wo denken Sie hin!“ Die Frage ließ ihn einen Augenblick nachdenklich verstummen. Dann ergänzte er: „Unser drittes Kind, Teresa, lenkt uns zum Glück davon ab. Wir haben das anfangs gar nicht so registriert. Nach dem Abitur studierte sie fünf Jahre Agronomie in Kalifornien. Ihre Praktika absolvierte sie auf den dortigen Weingütern. Danach studierte sie in London Ökonomie. Für die Praktika ging sie zu einem internationalen Beratungsunternehmen nach Brüssel. Erst mit dreißig tauchte Teresa wieder bei uns auf. Seitdem optimiert sie die verschiedenen Abteilungen der Firma, immer nur für einige Monate, dennoch ungeheuer erfolgreich. Als erstes den Weinanbau, dann die Kellerei, die Logistik, die Buchhaltung und Personalabteilung, schließlich den Verkauf und jetzt will sie in die Geschäftsleitung. Bei allem Vaterstolz fällt es mir schwer zuzugeben, dass meine Tochter besser ist als ich.“

„Warum zögern Sie, Doña Teresa zu ernennen?“ fragte der Abt, obwohl er Don Alfonsos marternden Konflikt mit der Tradition schon vor dem Altar erkannt hatte.

„Ich will keinen Geschwisterzwist heraufbeschwören. Wenn ich nur wüsste, dass die beiden Älteren sie akzeptieren und fördern statt torpedieren.“

Der Abt hätte am liebsten Halleluja gejuchzt. Jetzt näherten sie sich seinem Ziel: „Sie wissen, Gottes Wege sind unerforschlich. Aber Don Alfonso, Sie wissen auch, welche Hilfe uns die barmherzige Mutter Gottes zukommen läßt. Besonders unser goldenes Christkind hat sich in diesen Fällen seit Generationen segensreich bewährt.“ Der Abt erkannte durch das Trenngitter, wie Don Alfonso dankbar nickte.

„Schicken Sie mir Ihre Kinder zur Zeremonie. Danach werde ich Ihnen . . .“

Ergriffen unterbrach Don Alfonso den Abt: „Oh, würden Sie das wirklich für uns tun – auch Teresa?“

„Die kommenden vier Sonntage werde ich für Ihre Familie reservieren. Nächsten Sonntag würde ich gerne mit Doña Teresa anfangen. Danach die beiden Söhne, zum Abschluss treffen wir uns noch mal. Bitten Sie die Drei, mich anzurufen, um die genauen Uhrzeiten abzustimmen. Doña Teresa muss das Kirchenportal benutzen. Der Innenhof ist den Frauen versagt.“

Die Erleichterung glättete Don Alfonsos zerfurchtes Gesicht. Mit zittriger Hand fingerte er einen prallen Briefumschlag aus der Innentasche seines braunen Sakkos und reichte ihn dem Abt beim Verlassen des Beichtstuhls.

„Wir werden dem Herrn Ihre Großzügigkeit in unserem Abendgebet preisen.“, bedankte sich der Abt.

10.

Paco fluchte heute beim Autofahren noch mehr als sonst. Anas Verschwinden hatte seinen Stolz verletzt. Das wog schon schwer. Aber dass sie auch noch sein Geld gestohlen hatte, erniedrigte ihn zutiefst. Es beraubte ihn seiner Sicherheit. Er sah kaum Chancen, es sich zurückzuholen. Anas Familie ließe ihn gar nicht an sie ran. Ihre nichtsnutzigen Brüder verjubelten das Gesparte wahrscheinlich schon. Es drängte ihn, schnellstens Ersatz zu beschaffen. Die Zeit der Rache würde schon noch kommen.

Jeden, den Paco nicht überholen konnte, nahm er auf die imaginären Hörner seiner Stoßstange. Mit seinem klapprigen Kastenwagen machte er sich damit bei vielen lächerlich. Der wirtschaftliche Aufschwung in Spanien zu Beginn des 21. Jahrhunderts dokumentierte sich nämlich besonders durch nagelneue Autos. Wer heute ein regelmäßiges Einkommen bezog, zeigte es allen mit seinem gewienerten Wagen. Mit auffälligen Autos hatte Paco schlechte Erfahrungen gemacht. Seine erste große Beute investierte er als neunzehnjähriger in einen Jaguar Sportwagen. Dadurch fiel er der Polizei auf und wurde für sechs Monate zur Strafe und Fortbildung ins Gefängnis gesteckt. Seitdem bevorzugte Paco die von der Sonne verblichenen Renault-Kastenwagen.

Der Verkehr von Algeciras ins Land wurde immer dünner. Am Sonntagmittag gondelten hier nur Ausflügler. Die meisten waren auch schon in die Landgasthäuser eingekehrt, um günstig viel zu essen. Zirka fünf Kilometer vor Jimena, einem weißen Dorf am Berghang unterhalb einer Burgruine, bog Paco von der Landstraße ab. Er holperte auf dem sandigen Feldweg zu den Korkeichen. Hier folgte er dem ansteigenden Waldweg Richtung Jimena. Dort, wo ein Fußpfad für die Jäger und Korkschäler abzweigte, lag die einzige Ausbuchtung. Nur hier konnte er wenden und den Wagen in Fluchtrichtung stehen lassen, ohne den Weg zu blockieren. Die restlichen zwei Kilometer wanderte er zu Fuß. Im Schatten der Bäume empfand er die Hitze angenehm wärmend. Überall raschelte und summte es. Bald sah er schon von weitem zwischen den Zweigen die weißgetünchten Wände des Klosters. Der Waldweg führte hinter dem Klostergelände vorbei. Dort gab es einen Hintereingang. Der Pfad endete am Platz vor der Kirchentür. Er trennte das eingezäunte Gehege für die Rehe von dem für die Gänse. Paco verharrte am Tor des Hintereingangs. Auf dem Parkplatz standen keine Autos. Die Kirchentür war, wie erwartet, geschlossen. Das hieß warten. Das hatte er in dieser Gegend schon früh gelernt, als er hier noch mit seinem Vater gewildert hatte.

Paco setzte sich in das vertrocknete Gras hinter einem wilden Olivenbusch und hoffte auf sein Glück. So wie der Tag begonnen hatte, stand ihm heute noch reichlich zu.

11.

Als Armin und Dorit das klimatisierte Flughafengebäude in Malaga verließen, empfing sie eine seidenweiche Wärme. Sie bestiegen den Mietwagen mit dem vorbestellten Kindersitz. Armin freute sich noch über sein Glück. Er hatte sich den Smart ausgesucht. Das Wägelchen wollte er immer schon mal fahren - das ideale Gefährt in den schmalen Gassen der weißen Dörfer. „Wenn das Karin wüsste!“, Armin schmunzelte über sich selbst. Wer das ganze Jahr mit einem dicken Mercedes unterwegs war, entzückte das einwöchige Smarterlebnis. So wie der Feinschmecker manchmal genüsslich eine Currywurst an der Würstchenbude verschlingt. Auch dass Dorit sich so artig beim Flug verhalten hatte, wertete Armin als positives Vorzeichen für ihren Urlaub. Doch dann kam alles anders.

Kaum brausten sie auf der Autobahn Richtung Marbella, entdeckte Dorit linker Hand das glitzernde Meer und quengelte im Minutentakt: „Wann gehen wir denn nun endlich an den Strand?“ „Ich will baden.“ „Wie lange dauert das denn noch?“

Nach einer halben Stunde löste eine McDonalds Reklametafel bei Dorit jammernden Hunger aus. Armin wunderte sich, dass deren Werbung sogar schon bei viereinhalbjährigen, die noch nicht mal lesen können, wirkte.

Beim Essen entschloss sich Armin, die Rundreise, die ursprünglich erst nach vier Tagen am Strand von Tarifa enden sollte, auf einen Tag zu kürzen. Später könnten sie ja hoffentlich von dort aus noch Touren unternehmen. Armin bedauerte, dass Dorit offenbar nach ihrer Mutter kam. So bog Armin nicht auf die Straße nach Ronda ab, sondern blieb auf der Küstenautobahn, um auf dem schnellsten Wege nach Jimena zu gelangen. Ronda, Alcala und Arcos lagen zu weit im Land. Die Orte hob er sich für glücklichere Tage auf.

Als sie von der Autobahn auf die Landstraße nach Jimena wechselten, jubelte Dorit: „Oh toll, jetzt geht es ans Meer.“

„Heute zeige ich dir erstmal was viel Interessanteres.“

„Oh ja, was denn?“

„Tiere, die du noch nie gesehen hast.“

Erwartungsvoll zappelte Dorit auf ihrem sicheren Sitzchen.

Nach einer Viertelstunde erkannte Armin den verrosteten Wegweiser zum Kloster. Er bremste scharf. Zum Glück waren sie beide angeschnallt und keiner in Siesta-Döse hinter ihnen hergefahren. Der Sandweg endete direkt vor dem Klosterportal. Die eisenbeschlagene Holztür wirkte düster und abweisend. Die wenigen schmalen Fenster waren vergittert. Rechts vor dem Eingang konnten drei bis vier Pkws parken. Links führte die Zufahrt um die weißgekalkten Gebäude herum zur angrenzenden Kapelle. Hinter der Kirche lag der Parkplatz für Besucher. Wer genug spendete, konnte sich hier trauen oder sein Kind taufen lassen. Die Tiergehege grenzten an den Parkplatz.

Armin tuckerte vor das Kirchenportal, stieg aus und öffnete Dorits Tür. Er befreite sie vom Gurt und hievte sie heraus. Hand in Hand spazierten sie zu den Gehegen. Im ersten standen scheue Rehe mit einem stolzen Bock unter den Bäumen. Wie weit das zirka zwanzig Meter breite Areal in den Wald hineinreichte, konnten sie nicht erkennen. Rechts davon, getrennt durch einen Pfad, schnatterten Gänse in einer zirka zehn Meter breiten Umzäunung. Daran schloss sich das gleichgroße Gebiet der Hühner an. Die letzte Umfriedung, zirka so groß wie die für die Rehe, beherrschten die Schwarzfußschweine. Die langbeinigen, dunkelhäutigen Schweine drängelten sich unter den Korkeichen und zerwühlten den Boden, um auch noch die letzte Eichel zu fressen. Dorit staunte gebannt und sprachlos. Armin schaute sich um. Alles wirkte so friedlich. Ihn drängte es zur Kirche: „Du darfst dir noch ein Weilchen die Tiere anschauen. Ich geh mal kurz in die Kirche. Ich bin gleich wieder zurück.“ Dorit blieb gerne bei den Tieren.

Armin eilte zur Kapelle und versuchte, die schmale Tür in dem übergroßen Holzportal zu öffnen. Es gab weder einen Knauf noch ein Schlüsselloch. Offensichtlich ließ sich diese Tür nur von innen aufmachen. Frustriert hämmerte er dreimal mit der flachen Hand auf das Holz. Drinnen hallte es. Armin trat einen Meter zurück und lauschte. Erst hörte er ein hölzernes Schaben, dann Schritte. Rumpelnd und quietschend tat sich die Kirchentür auf. Ein junger Mann trat aus der Kapelle. Er sah zwar mit seinem öligen nach hinten gekämmten Schwarzhaar spanisch aus, doch seine Größe übertraf den regionalen Standard und erreichte fast Armins knappe ein Meter neunzig. Er trug keine Mönchskutte sondern eine schlichte graue Hose und ein vergilbtes, weißes Hemd. Unfreundlich fragte er: „Was ist los?“

„Ich würde gerne die Kirche besichtigen“, erwiderte Armin.

Izan, der Küster, beäugte den Fremden. Wenn er nicht auf Spanisch angesprochen worden wäre, hätte er ihn unwirsch weggeschickt. So witterte er eine Chance: „Wir verlangen hier nicht wie in Sevilla Eintritt, aber das Kloster ist auf Spenden angewiesen.“