Der Friedenskrieg - Vernor Vinge - E-Book

Der Friedenskrieg E-Book

Vernor Vinge

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Beschreibung

Im Amerika des 22. Jahrhunderts wurden Wissenschaft und Technologie abgeschafft. Alles, was das religiös-fundamentalistische Regime stört, wurde in gewaltige, blasenartige Sphären verbannt, einschließlich unliebsamer Widerständler. Was keiner ahnt: In den Blasen wartet ein Geheimnis, und ein Krieg gegen das vermeintlich friedliche Regime scheint unausweichlich …

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Das Buch

Amerika in der Zukunft: Wissenschaftler haben ein Verfahren entwickelt, mit dem man Gegenstände, Menschen oder ganze Städte mit Stasisblasen umgeben und von der Umwelt völlig isolieren kann. Diese Blasen sind absolut undurchdringlich, und niemand weiß, was in ihnen vorgeht. Bleibt in ihnen die Zeit stehen? Kann man in ihrem Innern überleben? Zerfallen sie irgendwann und werden wieder zugänglich? Um eine Ära des Friedens zu schaffen und sich selbst dabei zur Weltregierung emporzuschwingen, hat das sogenannte »Friedensamt« ganze Städte mit solchen Blasen umgeben. Aber der Preis für diesen Frieden ist hoch. Wissenschaft und Technik werden gnadenlos unterdrückt, politische Gegner werden kurzerhand in Stasisblasen eingeschlossen. Dann entdeckt der geniale Tüftler Paul Naismith eine Möglichkeit, diese Blasen mit geringem Energieaufwand selbst zu generieren. Er entwickelt einen Plan, um den zentralen Generator des Friedensamtes auszuschalten, und plötzlich scheint ein Krieg gegen das »friedliche« Regime unausweichlich …

Der Autor

Vernor Vinge, 1944 in Wisconsin geboren, ist einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Sein Roman Ein Feuer auf der Tiefe, für den er mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Fortsetzung Eine Tiefe am Himmel zählen zu den einflussreichsten Science-Fiction-Werken der letzten zwanzig Jahre. Vernor Vinge ist außerdem ein bekannter Mathematiker und Informatiker, der mit seinen Studien zur Künstlichen Intelligenz für großes Aufsehen gesorgt hat. Er lehrt an der San Diego State University in Kalifornien. Neben Der Friedenskrieg sind von Vernor Vinge folgende Romane im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Gestrandet in der Realzeit, Ein Feuer auf der Tiefe, Eine Tiefe am Himmel.

Mehr über Vernor Vinge und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

VERNOR VINGE

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE PEACE WAR

Deutsche Übersetzung von Rosemarie Hundertmarck

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Überarbeitete Neuausgabe 01/2019

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 1984 Vernor Vinge

Copyright © 2019 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-22900-9V002

www.diezukunft.de

Meinen Eltern,

Clarence L. Vinge und Ada Grace Vinge,

mit Liebe gewidmet.

RÜCKBLICK

Einhundert Kilometer weiter unten und beinahe zweihundert entfernt sah die Küste der Beaufortsee gar nicht so aus, wie man sich die Arktis im Allgemeinen vorstellt: Der Sommer war auf der nördlichen Halbkugel weit fortgeschritten, und ein helles Grün breitete sich über das Land, hie und da von den dunkleren Tönen des Grases schattiert. Das Leben hielt sich zäh fest und ließ nur eine vereinzelte Halbinsel oder Bergkette grau und kahl.

Captain Allison Parker von der Air Force der Vereinigten Staaten rückte so weit zur Seite, wie es ihr der Sicherheitsgurt erlaubte, um sich den bestmöglichen Blick über die Schulter des Piloten zu verschaffen. Bei einer Mission hatte sie die meiste Zeit eine viel bessere Aussicht als einer der »Lastwagenfahrer«, aber sie wurde es nie müde hinauszuschauen, und nie war ihr Wunsch, etwas zu sehen, größer, als wenn sie sich dafür anstrengen musste. Angus Quiller, der Pilot, beugte sich vor, ganz auf die Bildschirmwerte der Bremsraketen konzentriert. Angus war ein netter Kerl, doch er verschwendete keine Zeit mit Hinaussehen. Wie viele Piloten – und einige Missionsspezialisten – hatte er seine Umgebung akzeptiert und machte sich keine Gedanken mehr darüber.

Allison dagegen war schon immer der Typ gewesen, der gern aus Fenstern hinaussah. Ihr Vater pflegte sie im Flugzeug mitzunehmen, als sie noch sehr jung war, und sie wusste damals nicht, was sie sich am meisten wünschte: aus den Fenstern das Land zu betrachten oder fliegen zu lernen. Bis sie alt genug war, um selbst einen Flugschein zu machen, hatte sie sich für das Hinaussehen entschieden. Später erfuhr sie, dass sie ohne Erfahrung in einem Kampfflugzeug nie als Pilotin einer Maschine zugelassen werden würde, die so hoch aufstieg, wie sie es sich wünschte. Also entschied sie sich wieder für eine Arbeit, die ihr die Möglichkeit gab, aus den Fenstern zu sehen. Manchmal fand sie, die Elektronik, die Geografie, die Spionage-Aspekte ihres Jobs – das sei alles unwichtig, verglichen mit der Freude, einfach die Welt so zu betrachten, wie sie wirklich ist.

»Ein Kompliment Ihrem Autopiloten, Fred. Diese Zündung hat uns genau auf den richtigen Kurs gebracht.« Wenn etwas tadellos klappte, während Fred Torres, der Kommandeur, die Verantwortung trug, schrieb Angus es niemals Fred zu. Immer war es der Autopilot oder die Bodenkontrolle. Torres grunzte etwas gleichermaßen Beleidigendes und sagte dann zu Allison: »Ich hoffe, Sie haben Spaß daran. Es kommt nicht oft vor, dass wir diese Kiste nur für ein hübsches Mädchen um den Block fliegen.«

Allison grinste, antwortete jedoch nicht. Was Fred sagte, stimmte. Normalerweise wurde eine Mission mehrere Wochen im Voraus geplant und diente vielfältigen Aufgaben, die das Raumschiff drei oder vier Tage lang oben hielten. Aber für diesen Auftrag war die Zwei-Mann-Crew von einem Wochenendurlaub zurückgerufen und sofort auf eine außerplanmäßige Spritztour geschickt worden – nur fünfzehn Umkreisungen und zurück nach Vandenberg. Offensichtlich war, dass es um eine globale Tiefenaufklärung ging, und viel mehr wussten Fred und Angus auch nicht. Außer dass die Zeitungsartikel in den letzten paar Wochen ziemlich bösartig gewesen waren.

Die Beaufortsee glitt im Norden außer Sicht. Das Raumfahrzeug lag auf dem Rücken, die Nase nach unten gerichtet, eine Fluglage, bei der manchen Spezialisten übel wurde, die aber in Allison nur das Gefühl erweckte, die Welt, die sie betrachtete, ziehe über ihrem Kopf dahin. Sie hoffte, wenn die Air Force eine ständige Aufklärungsplattform erhielt, dort stationiert zu werden.

Fred Torres – oder, je nach Standpunkt, sein Autopilot – drehte das Raumschiff langsam um 180 Grad, um es für den Wiedereintritt auszurichten. Einen Augenblick lang zeigte es senkrecht nach unten. Für jeden, der einmal aus dieser Höhe auf Glazialschutt hinuntergeblickt hatte, hörte das Wort auf, ein abstrakter Begriff zu sein. Das Land war deutlich zerschrammt und gefurcht, wie der Boden vor einer Planierraupe. Kleine Pfützen waren stehen geblieben: Hunderte von kanadischen Seen, so viele, dass Allison verfolgen konnte, wie das Spiegelbild der Sonne von einem zum anderen wanderte.

Das Raumschiff drehte sich weiter. Der südliche Horizont, blau und dunstig, tauchte auf und verschwand. Allison würde den Boden erst wieder zu sehen bekommen, wenn sie viel tiefer waren, in einer Höhe, die auch ein normales Flugzeug erreichen konnte. Sie lehnte sich zurück und zog den Gurt über ihren Schultern fester. Dabei klopfte sie auf das Päckchen mit den Disketten, das neben ihr festgezurrt war. Es enthielt den Grund für ihre Anwesenheit an Bord. Bei ihrer Rückkehr würde eine Reihe von Generälen vor Erleichterung tief aufatmen, und ein paar Politiker noch tiefer. Die »Detonationen«, die die Livermore-Crew entdeckt hatte, mussten auf Unfälle zurückzuführen sein. Die Sowjets waren so unschuldig, wie diese Schufte überhaupt sein konnten. Allison hatte sie sowohl mit ihrer »normalen« als auch mit der Tiefensonden-Ausrüstung, die nur bestimmten militärischen Geheimdiensten zur Verfügung stand, überprüft und keine Vorbereitungen für einen neuen Angriff entdeckt. Nur …

Nur die Tiefensondierungen, die sie in eigener Initiative über Livermore durchgeführt hatte, waren beunruhigend. Sie hatte sich auf ihre Verabredung mit Paul Hoehler gefreut, schon um sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihm sagte, die Ergebnisse ihrer Tests seien geheim. Paul war so überzeugt von den finsteren Machenschaften seiner Vorgesetzten in Livermore. Er mochte recht haben – in Livermore ging tatsächlich etwas vor. Ohne Allisons Tiefensondierung wäre es vielleicht nicht bemerkt worden; man hatte sich offensichtlich Mühe gegeben, die Sache zu verbergen. Aber wenn Allison Parker etwas genau kannte, waren es ihre Hochintensitäts-Reaktorprofile, und da unten gab es ein neues, das nicht auf den AFIA-Listen stand. Und sie hatte noch mehr entdeckt – von den Sonden nicht zu durchdringende unterirdische Sphären in der Nachbarschaft des Reaktors.

Auch das war so, wie Paul Hoehler es vorausgesagt hatte.

Nuklearmagnetik-Spezialisten wie Allison Parker hatten eine Menge Spielraum, um ihre Erkundungsaufträge nach eigenem Ermessen zu erweitern. Das hatte schon mehr als eine Mission gerettet. Allison würde wegen der eigenmächtigen Sondierung eines US-Laboratoriums keine Schwierigkeiten bekommen, solange sie über alle Einzelheiten Meldung erstattete. Aber wenn Paul recht hatte, würde das einen gewaltigen Skandal auslösen. Und wenn Paul unrecht hatte, dann war er in Schwierigkeiten, vielleicht schon auf dem Weg ins Gefängnis.

Allison spürte, wie ihr Körper sich leicht in die Andruckliege presste. Knarrende Geräusche kamen durch die Hülle des Raumschiffs. Hinter den vorderen Bullaugen begann das Schwarz des Weltalls in blassen Orange- und Rottönen zu flackern. Die Farben wurden kräftiger, und das Gefühl, Gewicht zu besitzen, verstärkte sich. Allison wusste, es war noch weniger als ein halbes g, nur kam es ihr nach einem Tag im Orbit mehr vor. Quiller sagte, er wolle auf Laserkommunikation übergehen. Allison versuchte sich das Land achtzig Kilometer weiter unten vorzustellen, erst Taigawald, dann Ackerland und dann die kanadischen Rocky Mountains – aber so schön wie der tatsächliche Anblick war es nicht.

Immer noch etwa vierhundert Sekunden bis zum endgültigen Wiedereintritt. Müßig überlegte sie, was letzten Endes aus Paul und ihr werden würde. Sie war schon mit besser aussehenden Männern ausgegangen, aber noch mit keinem klügeren. Wahrscheinlich war das ein Teil des Problems. Hoehler war verliebt in sie, aber ihr war es nicht erlaubt, mit ihm zu fachsimpeln, und das, was an seiner Arbeit nicht geheim war, ergab für sie keinen Sinn. Außerdem war er offensichtlich an seinem Arbeitsplatz so etwas wie ein Unruhestifter – ein Paradoxon in Anbetracht seiner beinahe unbeholfenen Schüchternheit. Körperliche Anziehungskraft hält nur begrenzte Zeit vor, und Allison fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er ihrer überdrüssig wurde – oder umgekehrt. Und diese Sache mit Livermore war auch nicht gerade dazu angetan, ihre Beziehung zu fördern.

Die Feuerfarben verschwanden vom Himmel, der jetzt einen schwachen Hauch von Blau zeigte. Fred – er behauptete, er habe die Absicht, zur zivilen Luftfahrt zurückzukehren – ließ sich hören: »Willkommen, Lady und Gentleman, an dem herrlichen Himmel von Kalifornien … oder vielleicht ist es immer noch der von Oregon.«

Die Nase senkte sich aus der Wiedereintrittslage nach unten. Der Blick war ähnlich dem aus einem normalen Flugzeug, wenn man die leichte Krümmung des Horizonts und die Dunkelheit des Himmels ignorierte. Kaliforniens Great Valley bildete einen grünen Korridor quer über ihrem Pfad. Zur Rechten versteckte sich die Bucht von San Francisco im Dunst. Sie würden etwa neunzig Kilometer östlich von Livermore vorbeikommen. Der Ort hatte sich in den Mittelpunkt von allem geschoben, was mit diesem Flug zusammenhing: Fehlerhafte Meldungen der dortigen Detektorsysteme hatten Militärs und Politiker überzeugt, die Sowjets planten einen Verrat. Und dieser Detektor war Teil desselben Projekts, gegen das Hoehler ein solches Misstrauen hegte – aus Gründen, die er nicht ganz enthüllen wollte.

Mit diesem Gedanken endete Allison Parkers Welt.

1

Das Old-California-Einkaufscenter war der größte Kunde der Santa-Ynez-Polizeigesellschaft – und eine der Kontrollrunden, die Miguel Rosas am liebsten machte. An diesem schönen Sonntagnachmittag bevölkerten Hunderte von Kunden das Center, Leute, die dafür viele Kilometer auf der alten 101 gereist waren. An diesem Tag war besonders viel los. Während der ganzen Woche hatten die Produktions- und Qualitätsberichte gezeigt, dass die Geschäfte erstklassige Angebote zu machen hatten. Und es würde bis zum späten Abend nicht regnen. Mike wanderte die Einkaufsstraßen auf und ab, machte hie und da halt, um ein paar Worte zu wechseln oder einen Laden zu betreten und sich die Ware genauer anzusehen. Die meisten Kunden wussten, wie wirksam die Diebstahlssicherungen waren, und bis jetzt hatte er noch nichts zu tun bekommen.

Das war Mike durchaus recht. Er war von der Santa-Ynez-Polizeigesellschaft offiziell für drei Jahre angestellt. Und davor, bis hin zu der Zeit, als er und seine Schwestern in Kalifornien eingetroffen waren, hatte er von Fall zu Fall für die Gesellschaft gearbeitet. Sheriff Wentz hatte ihn mehr oder weniger adoptiert; so war er mit Polizeiarbeit aufgewachsen und hatte schon mit dreizehn die Stellung eines bezahlten Hilfssheriffs bekleidet. Wentz hatte ihm zugeredet, einen technischen Beruf zu ergreifen, aber immer hatte die Polizeiarbeit mehr Reiz für ihn gehabt. Die SYP-Gesellschaft war ein beliebtes Unternehmen, das mit den meisten Familien rings um Vandenberg in geschäftlicher Beziehung stand. Die Bezahlung war gut, die Gegend friedlich, und Mike hatte das Gefühl, etwas zu tun, womit er den Menschen wirklich half.

Er verließ das Einkaufscenter und stieg den grasbewachsenen Hügel hoch, den die Geschäftsleitung immer kurz geschnitten und sauber hielt. Von oben konnte er auf all die Läden und die bunten Planen, die die Arkaden beschatteten, hinabblicken.

Er schaltete für den Fall, dass man ihn unten bei einem Verkehrsproblem brauchte, sein Funkgerät ein. Diesseits der am Rand des Centers gelegenen Parkzone waren Pferde und Wagen nicht zugelassen. Normalerweise hielten ihre Eigentümer sich auch daran, aber an diesem Nachmittag waren so viele gekommen, dass sie versuchen könnten, die Vorschriften etwas freier auszulegen.

Dicht unter der Kuppe saß Paul Naismith vor seinem Schachbrett und genoss den doppelten Sonnenschein. Alle paar Monate kam Paul an die Küste herunter, manchmal nach Santa Ynez, manchmal in Städte weiter nördlich. Naismith und Bill Morales trafen immer frühzeitig ein, um sich einen guten Parkplatz zu sichern. Paul stellte sein Schachbrett auf, und Bill ging für ihn einkaufen. Gegen Abend brachten dann die Tüftler ihre Spezialitäten zum Vorschein, und vielleicht schloss Paul mit ihnen einen Handel ab. Im Augenblick hockte der alte Mann hinter seinem Schachbrett und aß seinen Lunch.

Mike näherte sich ihm schüchtern. Naismith’ Person hatte nichts Furchterregendes an sich. Tatsächlich konnte man sich leicht mit ihm unterhalten. Aber Mike kannte ihn besser als die meisten anderen – und wusste, die Herzlichkeit des alten Mannes war eine Maske für all das Seltsame und Unheimliche, das man ihm nachsagte.

»Ein Spielchen, Mike?«, fragte Naismith.

»Tut mir leid, Mr. Naismith, ich bin im Dienst.« Außerdem weiß ich, dass Sie nie verlieren, falls es nicht in Ihrer Absicht liegt.

Der Ältere winkte ungeduldig. Er spähte über Mikes Schulter auf etwas zwischen den Läden, dann erhob er sich mühsam. »Ah, heute Nachmittag erwische ich doch niemanden. Da kann ich auch hinuntergehen und einen Schaufensterbummel machen.«

Mike kannte den Ausdruck, obwohl es im Einkaufscenter keine »Schaufenster« gab, falls man nicht die Glasdeckel über den Schmucksachen und elektronischen Spielen meinte. Naismith’ Generation stellte immer noch die Mehrheit dar, sodass dieser längst veraltete Begriff in Gebrauch blieb. Mike hob einigen Unrat auf, konnte die verantwortlichen Missetäter aber nicht entdecken. Er entsorgte den Abfall und holte Naismith auf dem Weg bergab ein.

Die Lebensmittelverkäufer machten gute Geschäfte, wie vorhergesagt. Ihre Tische quollen über von Bananen und Kakao und anderen lokalen Produkten wie auch von solchen, die von weiter her kamen, Äpfeln etwa. Rechts war die Spielzone immer noch das Herrschaftsgebiet der Kinder. Das würde sich gegen Abend ändern. Die Vorhänge und Baldachine waren bunt und blähten sich in der leichten Brise, aber erst wenn es dunkel wurde, leuchteten die Lichter auf und vollführten ihren magischen Tanz. Im Augenblick war alles gedämpft, viele der Spiele liefen nicht mit voller Energie. Sogar beim Schach und den anderen symbiotischen Spielen ging es langsam zu. Es war beinahe Brauch geworden, bis zum Abend mit dem Kaufen und Verkaufen solch frivoler Geräte zu warten.

Nur um Gerry Tellmans Celest-Spiel hatte sich eine Gruppe von fünf oder sechs Jungen versammelt. Was ging da vor? Ein kleiner Schwarzer spielte – schon seit fünfzehn Minuten, kam es Mike zu Bewusstsein. Tellman ließ sein Celest auf einem sehr realistischen Niveau laufen, und er war kein großzügiger Mann. Hmmm.

Vor Mike trottete Naismith auf das Spiel zu. Offenbar war auch seine Neugier erwacht.

Innerhalb des Ladens war es schattig und kühl. Tellman hockte auf einem abgenutzten Holztisch und maß seinen kleinen Kunden mit finsteren Blicken. Der Junge wirkte wie zehn oder elf und war eindeutig ein Fremder. Er hatte buschiges Haar und schmutzige Kleider. Seine Arme waren so dünn, dass er unter einer Krankheit oder Hunger gelitten haben musste. Mike Rosas hatte den Verdacht, dass das, worauf er kaute, Tabak war – entschieden nicht das Verhalten eines Jungen von hier.

Der Junge hielt einen Packen gAu-Noten der Bank von Santa Ynez umklammert. Aus Tellmans Gesichtsausdruck konnte Rosas schließen, woher sie stammten.

»Otra vez«, sagte der Junge und gab Tellman den bösen Blick zurück. Der Eigentümer zögerte, sah sich in dem Kreis von Gesichtern um und bemerkte die Erwachsenen.

»Na gut«, stimmte Tellman zu, »aber das ist dann das letzte Mal … Esta es el final, entiende?«, wiederholte er auf Pidgin-Spanisch. »Ich … äh … ich muss zum Lunch.« Letzteres erklärte er wahrscheinlich Naismith’ und Rosas’ wegen.

Der Junge zuckte die Achseln. »Okay.«

Tellman initialisierte das Celest-Spiel – auf Stufe neun, wie Rosas bemerkte. Der Junge studierte die Anordnung mit berechnendem Blick. Tellmans Display war flach. Auf dem Schirm war ein hypothetisches Sonnensystem erschienen, von einem Punkt oberhalb der Rotationsebene gesehen. Die drei Planeten bewegten sich als Lichtscheibchen um die Sonne. Ihre Größe gab einen Hinweis auf ihre Masse; die genauen Werte erschienen unten am Rand. Der Start- und der Zielplanet zogen auf sichtlich exzentrischen Bahnen dahin, der Startplanet mit einer Umdrehung alle fünf Sekunden – schnell genug, um ein äußeres Drehmoment zu erzeugen. Zwischen ihm und dem Zielplaneten verfolgte eine dritte Welt ebenfalls einen exzentrischen Kurs. Rosas verzog das Gesicht. Zweifellos ließ Tellman es nur deswegen bei einem koplanaren Problem bewenden, weil er keine Holo-Anlage für sein Celest hatte. Mike hatte noch nie gesehen, dass jemand die Start/Ziel-Version von Celest auf Stufe neun ohne symbiotischen Prozessor spielte. Aus der Zeitangabe ging hervor, dass der Spieler – der Junge – zehn Sekunden hatte, um seine Rakete zu starten und ans Ziel zu bringen. Nach der Treibstoffanzeige war Rosas überzeugt, dass nicht genug Energie zur Verfügung stand, um die Rakete auf eine direkte Bahn zu steuern. Zu allem anderen also auch noch ein Bandenstoß!

Der Junge legte alle seine Banknoten auf den Tisch und sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Schirm. Noch sechs Sekunden. Er fasste die Kontrollgriffe und ruckte daran. Der kleine goldene Funke, der sein Raumschiff repräsentierte, fiel von der grünen Scheibe der Startwelt nach innen auf die gelbe Sonne zu, um die sich alles drehte. Er hatte mehr als neun Zehntel seines Treibstoffs verbraucht und flog in die falsche Richtung. Die Kinder um ihn herum gaben murmelnd ihr Missvergnügen kund, und auf Tellmans Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Das Grinsen gefror.

Als sich das Raumschiff dem Zentralgestirn näherte, zog der Junge noch einmal an den Kontrollen. Mithilfe der Schwerkraft der Sonne schickte das den leuchtenden Punkt weit hinaus in das System des Spiels. Er zog über den Zwei-Meter-Schirm, aber nicht auf den Zielplaneten, sondern auf die dazwischenliegende Welt zu. Unwillkürlich stieß Rosas ein leises Pfeifen aus. Auch er hatte schon Celest gespielt, allein und mit Prozessor. Das Spiel war nahezu ein Jahrhundert alt und fast so beliebt wie Schach. Es erinnerte einen daran, was die menschliche Rasse beinahe erreicht hätte. Doch noch nie hatte er einen solchen Zwei-Banden-Stoß von einem Spieler gesehen, der keine Hilfe hatte.

Tellmans Lächeln blieb, nur sein Gesicht wurde ein bisschen grau. Das Schiff kam, während es sich langsam um das Zentralgestirn schwang, nahe an den mittleren Planeten heran. Der Junge nahm während der Annäherungsperiode kaum wahrnehmbare Korrekturen an der Bahn vor. Der Treibstoffvorrat wurde mit 0,001 angegeben. Das Bild des Planeten und das Raumschiff verschmolzen für einen Augenblick. Doch das galt nicht als Kollision, denn der Punkt zog schnell weiter auf den Rand des Schirms zu.

Die anderen Jungen ringsherum schubsten sich und johlten. Sie rochen einen Sieger, und der alte Tellman würde etwas von dem Geld verlieren, das er ihnen früher am Tag abgenommen hatte. Rosas und Naismith und Tellman sahen nur zu und hielten den Atem an. Ohne einen Tropfen Treibstoff war es Glückssache, ob es zum Schluss zu einem Kontakt kam.

Die rötliche Scheibe des Zielplaneten schwamm gemächlich dahin, der Punkt, der das Raumschiff darstellte, stieg im Bogen höher und höher, langsamer und langsamer, und beide Bahnen wurden beinahe tangential. Das Raumschiff beschleunigte jetzt, fiel in den Schwerkraftschacht des Zielplaneten, rief den quälenden Eindruck eines Erfolges hervor, den man immer erhält, wenn man es beinahe schafft. Näher und näher. Und die beiden Lichter wurden auf dem Schirm eins.

»Landung«, verkündete die Anzeige, und die Zahlen strömten über den unteren Teil des Schirms. Rosas und Naismith sahen sich an. Der Junge hatte gewonnen.

Tellman war jetzt sehr blass. Er betrachtete die Banknoten, die der Junge gesetzt hatte. »Tut mir leid, Junge, aber so viel habe ich im Augenblick nicht da.« Er wiederholte die Entschuldigung auf Spanisch, aber der Junge stieß einen Schwall von unverständlichen Beschimpfungen in Spañolnegro aus. Rosas sah Tellman bedeutungsvoll an. Sein Auftrag umfasste den Schutz der Kunden ebenso wie den der Geschäftsinhaber. Wenn Tellman nicht auszahlte, konnte er seinem Pachtvertrag Lebewohl sagen. Das Einkaufscenter stand schon genug unter Beschuss seitens der Eltern, deren Kinder hier Geld verloren hatten. Und wenn der Junge klug genug war, ihn zu verklagen …

Schließlich erhob der Geschäftsinhaber die Stimme über das Geschrei der Jugendlichen. »Okay, dann zahle ich eben. Pago, pago … du kleiner Hurensohn.« Er zog eine Handvoll gAu-Noten aus seinem Geldkasten und schob sie dem Jungen zu. »Und jetzt verschwinde!«

Der schwarze Junge war vor jedem anderen zur Tür hinaus. Rosas beobachtete seinen Abgang nachdenklich. Tellman jammerte, halb im Selbstgespräch: »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Der kleine Bastard ist den ganzen Vormittag hier drin gewesen. Ich schwöre, er hatte noch nie zuvor eine Spielanlage gesehen. Aber er passte immerzu auf. Diego Martinez musste es ihm erklären. Er fing an zu spielen. Hatte kaum genug Geld. Und er wurde besser und besser. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Ich finde …« Sein Gesicht erhellte sich, und er sah Mike an. »Ich denke, ich bin hereingelegt worden. Ich wette, der Junge trägt einen Prozessor bei sich und stellt sich nur jung und einfältig. He, Rosas, was ist? Davor muss ich geschützt werden. Das war sozusagen Betrug, besonders bei diesem letzten Spiel. Er …«

»… hatte in Wirklichkeit keine Chance, wie, Telly?«, setzte Rosas den Satz da fort, wo der Geschäftsinhaber ihn abgebrochen hatte. »Ja, ich weiß. Der Gewinn war Ihnen sicher. Die Wette hätte tausend zu eins stehen sollen, nicht nur eins zu eins, wie das, was Sie ihm ausbezahlt haben. Aber ich kenne das Spiel mit einem symbiotischen Prozessor, und es gibt keine Möglichkeit, wie er das ohne eine sehr teure Ausrüstung gemacht haben könnte.« Er sah aus dem Augenwinkel, dass Naismith zustimmend nickte. »Trotzdem …« Er rieb sich das Kinn und blickte in die Helligkeit jenseits des Eingangs hinaus. »… ich würde gern mehr über ihn wissen.«

Naismith folgte ihm aus dem Zelt, während Tellman hinter ihnen weiterschimpfte. Die meisten Jungen waren noch da. Sie standen in Gruppen auf der Tüftlerstraße herum.

Der geheimnisvolle Sieger war nirgendwo zu sehen. Das hätte er aber sein müssen. Die Spielzone ging auf den im Mittelpunkt angelegten Rasen hinaus, und alle Wege waren einzusehen. Mike drehte sich verwirrt ein paarmal um sich selbst. Naismith trat zu ihm. »Ich glaube, der Junge war uns um zwei Schritte voraus, seit wir anfingen, ihn zu beobachten, Mike. Ist Ihnen aufgefallen, dass er nicht widersprach, als Tellman ihm den Gewinn gab? Ihre Uniform muss ihn verscheucht haben.«

»Ja. Bestimmt ist er, sobald er draußen war, losgerannt, als wäre der Teufel hinter ihm her.«

»Ich weiß nicht. Eigentlich halte ich ihn für raffinierter.« Naismith legte einen Finger auf die Lippen und winkte Rosas, ihm um die Planen zu folgen, die die Spielhalle seitlich abgrenzten. Sie hätten es nicht nötig gehabt, so heimlich zu tun. Die Käufer machten Lärm, und hinter dem Pavillon der Renovierer wurden unter Rufen und Lachen Möbel auf mehrere Wagen geladen.

Die frühnachmittägliche Brise, die von Vandenberg herkam, blähte die farbigen Stoffe. Das doppelte Sonnenlicht ließ nichts im Schatten. Trotzdem wären sie beinahe über den Jungen gestolpert, der sich unter dem Rand einer Zeltbahn zusammengerollt hatte. Er schoss hoch wie eine zusammengedrückte Stahlfeder und direkt in Mikes Arme. Hätte Rosas der älteren Generation angehört, wäre es gar nicht erst zu einem Kampf gekommen. Der diesen betagten Männern in Fleisch und Blut übergegangene Respekt vor Kindern und die Unfähigkeit, eins davon zu verletzen, hätte den Jungen aus seinem Griff entschlüpfen lassen. Aber der Hilfssheriff war bereit, ziemlich grob zu werden, und für einen Augenblick verwandelten sich die beiden in eine wilde Masse aus schwingenden Armen und Beinen. Mike sah etwas in der Hand des Jungen aufblitzen, und dann durchfuhr der Schmerz seinen Arm.

Rosas fiel auf die Knie. Der Junge, der das Messer noch umklammerte, riss sich los und raste davon. Der Hilfssheriff war sich vage des roten Flecks bewusst, der sich auf dem lohfarbenen Stoff seines linken Ärmels ausbreitete. Er kniff die Augen gegen den Schmerz zusammen und zog seine Dienstpistole.

»Nein!« Naismith’ Aufschrei war ein Reflex, geboren aus der Tatsache, dass er mit Betäubungsgewehren aufgewachsen und später Zeitzeuge des ersten Abschnitts der Geschichte gewesen war, in dem man Leben in Wahrheit als heilig betrachtet hatte.

Der Junge fiel zu Boden und lag zuckend im Gras. Mike steckte seinen Lähmer ins Holster und mühte sich auf die Füße, die Rechte auf die Wunde gepresst. Sie sah oberflächlich aus, tat aber höllisch weh. »Rufen Sie Seymour«, krächzte Mike dem alten Mann zu. »Wir werden diesen kleinen Satan aufs Revier tragen müssen.«

2

Die Santa-Ynez-Polizeigesellschaft war der größte Schutzdienst südlich von San José. Schließlich war Santa Ynez die erste Stadt nördlich von Santa Barbara und der Aztlán-Grenze. Sheriff Seymour Wentz beschäftigte drei Ganztags-Deputies und hatte Verträge mit achtzig Prozent der Einwohner abgeschlossen. Das lief auf beinahe viertausend Kunden hinaus.

Wentz’ Büro lag auf einem ziemlich hohen Hügel, der die alte 101 überblickte. Von hier konnte man über mehrere Kilometer die Frachter des Friedensamtes auf ihrer Fahrt nach Norden und Süden beobachten. Im Augenblick bewunderte niemand außer Paul Naismith die Aussicht. Miguel Rosas sah mit finsterem Gesicht zu, wie Seymour eine halbe Stunde bei einem Telefongespräch mit Santa Barbara vertrödelte und es dann sogar noch fertigbrachte, in das Getto von Pasadena durchgestellt zu werden. Wie Mike erwartet hatte, konnte niemand südlich der Grenze helfen. Die Herrscher von Aztlán gaben eine Menge Geld bei ihren Bemühungen aus, die »illegale Auswanderung von Arbeitskräften« aus Los Angeles zu verhindern, verschwendeten aber nie Zeit darauf, Leuten nachzuspüren, die es geschafft hatten. Die Beschreibung des Jungen schien den sabio in Pasadena anfangs aufzuregen, doch dann wurde er einsilbig und leugnete jedes Interesse an ihm. Die einzige andere Spur führte zu einer Gruppe von Vertragsarbeitern, die in der Woche auf ihrem Weg zu den Kakaofarmen bei Santa Maria durch Santa Ynez gekommen waren. Hier hatte Sy einigen Erfolg. Er brachte einen gewissen Larry Faulk, Agent für Vertragsarbeit, dazu, mit ihm zu reden. Der geschniegelte Agent freute sich gar nicht, den Sheriff und die in seinem Büro Anwesenden zu sehen.

»Natürlich kenne ich den Knirps, Sheriff. Sein Name ist Wili Wáchendon.« Er buchstabierte es. Die »Ws« klangen wie eine Mischung von »W«, »V« und »B« – eine Art Lautverschiebung in der Entwicklung des Spañolnegro. »Er war gestern, als meine Crew abreiste, nicht mehr da, und ich kann nicht sagen, dass ich darüber traurig bin – oder sonst wer hier oben.«

»Hören Sie, Mr. Faulk. Dieses Kind ist von Ihren Leuten offensichtlich misshandelt worden.« Sy wies mit der Hand über die Schulter auf die Zelle, in der der Junge – Wili – lag. Bewusstlos sah er noch verhungerter und kläglicher aus als in Bewegung.

»Ha!«, kam Faulks Antwort über die Glasfiber. »Wie ich sehe, haben Sie den Nichtsnutz eingesperrt, und ich sehe außerdem, dass Ihr Deputy den Arm verbunden hat.« Er zeigte auf Rosas, der mürrisch zurückstarrte. »Ich wette, Klein-Wili ist wieder seinem Hobby nachgegangen, an Menschen herumzuschlitzen. Sheriff, Wili Wáchendon mag irgendwo schwere Zeiten durchgemacht haben; ich persönlich glaube, dass er auf der Flucht vor den Ndelante Ali ist. Aber ich habe ihn niemals geschlagen. Sie wissen doch, wie wir Agenten arbeiten. In der guten alten Zeit mag es anders gewesen sein, aber jetzt sind wir Geschäftsleute, wir bekommen zehn Prozent, und unsere Leute können uns verlassen, wann immer sie wollen. Bei den Löhnen, die sie erhalten, ziehen sie ständig in der Gegend umher, wollen neue Verträge, wollen mehr Geld herausschlagen. Ich muss verdammt beliebt und tüchtig sein, sonst würden sie zu jemand anders gehen.

Dieser Junge hat sich von Anfang an als Tunichtgut erwiesen. Er hat immer halb verhungert ausgesehen; ich glaube, er ist ein Kränkler. Wie er von L. A. zur Grenze gelangt ist …« Seine nächsten Worte gingen in dem Lärm eines Frachters unter, der die Autostraße unterhalb des Reviers entlangzischte. Mike sah aus dem Fenster. Der Behemoth-Diesel transportierte verflüssigtes Erdgas nach Süden zu der Enklave des Friedensamtes in Los Angeles. »… ich ihn genommen, weil er behauptete, er könne meine Bücher führen. Es stimmt zwar, dass der kleine Schur …, der Junge etwas von Buchhaltung versteht. Aber er ist auch ein Faulpelz und ein Dieb. Und ich kann es beweisen. Falls Ihre Gesellschaft mich schikaniert, wenn ich auf dem Rückweg wieder durch Santa Ynez komme, verklage ich Sie, bis Sie kaputt sind.«

Es folgten noch ein paar verbale Runden, und dann unterbrach Sheriff Wentz die Verbindung. Er drehte sich in seinem Sessel um. »Weißt du, Mike, ich glaube, er sagt die Wahrheit. Es kommt in der neuen Generation nicht mehr so oft vor, aber Kinder wie deine Schwestern Sally und Arta …«

Mike nickte düster und hoffte, Sy werde das Thema nicht weiterverfolgen. Sally und Arta, seine kleinen Schwestern waren seit Jahren tot. Sie waren Zwillinge gewesen, fünf Jahre jünger als er, geboren, als seine Eltern in Phoenix gelebt hatten. Sie hatten Kalifornien mit ihm zusammen erreicht, aber sie waren immer krank gewesen. Beide starben, bevor sie zwanzig wurden, und sie hatten nie älter als zehn ausgesehen. Mike wusste, wer dieses Stück Hölle geschaffen hatte. Er sprach nie darüber.

»In der Generation davor war es noch schlimmer. Aber damals war es nur eine weitere Seuche, und die Leute achteten nicht besonders darauf.« Die Seuchen und die Sterilität hatten eine Art von Welt hervorgebracht, von denen die Bombenmacher des vorhergegangenen Jahrhunderts sich nichts hatten träumen lassen. »Wenn dieser Wili wie deine Schwestern ist, würde ich ihn auf ungefähr fünfzehn schätzen. Kein Wunder, dass er klüger ist, als er aussieht.«

»Es ist mehr als das, Boss. Der Junge ist wirklich intelligent. Du hättest sehen sollen, was er mit Tellmans Celest angestellt hat.«

Wentz zuckte die Achseln. »Wenn schon. Jetzt müssen wir entscheiden, was wir mit ihm anfangen. Ich frage mich, ob Fred Bartlett ihn wohl aufnehmen würde.« Das war milder Rassismus; die Bartletts waren schwarz.

»Boss, er würde sie bei lebendigem Leib auffressen.« Rosas klopfte auf seinen verbundenen Arm.

»Na, dann lass dir etwas Besseres einfallen, Mike. Wir haben viertausend Kunden. Darunter muss jemand sein, der helfen kann. Ein verloren gegangenes Kind und niemand, der sich darum kümmert … Das hat es noch nie gegeben!«

Der ist mir vielleicht ein Kind! Aber Mike konnte Sally und Arta nicht vergessen. »Ja.«

Während dieses Gesprächs hatte Naismith sich still verhalten, hatte die beiden Polizisten beinahe ignoriert. Die alte 101 draußen schien ihn mehr zu interessieren als das, worüber sie sprachen. Jetzt drehte er sich in dem hölzernen Sessel um und wandte dem Sheriff und seinem Deputy das Gesicht zu. »Ich werde den Jungen aufnehmen, Sy.«

Rosas und Wentz sahen ihn in verblüfftem Schweigen an. Paul Naismith wurde in einem Land als alt angesehen, dessen Bevölkerung zu zwei Dritteln über fünfzig war. Wentz leckte sich die Lippen. Er war offenbar unsicher, wie er es ihm ausreden sollte. »Paul, Sie haben doch gehört, was Mike sagte. Der Junge hätte ihn heute Nachmittag beinahe umgebracht. Ich weiß, was Leute Ihres … äh … Alters für Kinder empfinden, aber …«

Der alte Mann schüttelte den Kopf und streifte Mike mit einem schnellen Blick, der weder geistesabwesend noch schwach war. »Sy, Sie wissen, wie man mich seit Jahren bedrängt, einen Lehrling aufzunehmen. Nun, ich habe mich entschieden. Abgesehen davon, dass er versucht hat, Mike zu töten, hat er wie ein Meister Celest gespielt. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand das Schwerkraftschacht-Manöver ohne Prozessor durchführt.«

»Mike hat es mir erzählt. Es ist riskant, aber ich habe es schon bei einer Menge Spielern gesehen. Wir benutzen es fast alle. Beweist das wirklich solche Klugheit?«

»Je nach der Herkunft eines Menschen beweist es mehr als das. Isaak Newton hat auch nicht viel mehr getan, als er aus dem Entfernungsquadratgesetz elliptische Umlaufbahnen ableitete.«

»Hören Sie, Paul … es tut mir ehrlich leid, aber selbst mit Bill und Irma ist es einfach zu gefährlich.«

Mike dachte an den Schmerz in seinem Arm. Und dann an die Schwestern, die er einmal gehabt hatte. »Äh … Boss, könnten du und ich einen Augenblick lang miteinander reden?«

Wentz hob eine Augenbraue. »Weshalb …? Okay. Entschuldigen Sie uns eine Minute, Paul.«

Verlegenes Schweigen entstand, als die beiden den Raum verließen. Naismith rieb sich mit seiner etwas behinderten Hand die Wange und sah über den Highway 101 auf die blassen Lichter hinaus, die gerade im Einkaufscenter aufleuchteten. So viel hatte sich verändert, und die Jahre dazwischen verwischten sich jetzt. Einkaufscenter? Ganz Santa Ynez wäre in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts bei einem guten Basketballspiel einer Highschool in der Zuschauermenge untergegangen. Heutzutage galt ein County mit siebentausend Einwohnern als blühendes Land.

Es war kurz nach Sonnenuntergang, und in dem Büro wurde es immer dunkler. Die Monitore schwebten wie undeutlich schimmernde Geister in der Luft. Die meisten waren mit Kameras unten in den Einkaufszonen verbunden. Paul sah, dass der Betrieb dort lebhafter wurde. Die Tüftler und Mechaniker und Renovierer hatten ihre Waren hinausgestellt, und Menschenansammlungen drängten sich um die Holos. Auf der gegenüberliegenden Seite des Büros zeigten andere Schirme Bilder in Rot und Grün. Das waren Infrarotaufnahmen von Kameras, die Wentz’ Kunden gekauft hatten.

Aus dem Nebenzimmer drang das Gespräch der beiden Polizisten als leises Gemurmel herüber. Naismith lehnte sich zurück und stellte sein Hörgerät lauter. Einen Augenblick lang dröhnte ihm der Lärm in den Ohren, den seine Lungen und sein Herz machten. Dann erkannten die Filter die periodischen Geräusche und dämpften sie, und Naismith verstand Wentz und Rosas deutlicher als ein Mensch ohne technische Hilfsmittel. Nicht viele Leute konnten sich einer solchen Ausrüstung rühmen, aber Naismith verlangte hohe Honorare, und Tüftler von Norcross bis Beijing waren mehr als glücklich, wenn sie ihn mit überdurchschnittlichen Prothesen versorgen durften.

Rosas’ Stimme kam klar durch: »… glaube, Paul Naismith kann für sich selbst sorgen, Boss. Er lebt seit Jahren in den Bergen. Und die Morales’ sind zäh und nicht älter als fünfundfünfzig. In früheren Zeiten hat es da oben lästige Räuber und ehemalige Truppen gegeben …«

»Gibt es immer noch«, warf Wentz ein.

»Das ist nichts gegen damals, als überall massenhaft Waffen herumlagen. Naismith war schon alt, als die Banden stark waren, und er hat überlebt. Ich habe von seinem Wohnsitz gehört. Er hat Erfindungen gemacht, die wir noch auf Jahre hinaus nicht zu sehen bekommen werden. Er wird nicht umsonst der Tüftler-Hexenmeister genannt. Ich …«

Der Rest wurde von einem lauten Kreischen ausgelöscht, das in Naismith’ Ohren zu fast schmerzhafter Intensität anstieg und dann verklang, als die Filter die Lautstärke reduzierten. Naismith warf wilde Blicke um sich und sagte sich dann beschämt, es müsse ein Mikrobeben gewesen sein. So nahe an Vandenberg gab es sie immerzu. Die meisten waren kaum zu bemerken – falls man keine spezielle Verstärkung benutzte, wie Paul es jetzt tat. Das Kreischen war ein leises Quietschen des Bauholzes in den Wänden gewesen. Es verstummte – und er konnte die beiden Polizisten wieder hören.

»… was er darüber sagt, dass er einen Lehrling braucht, ist wahr, Boss. Nicht nur wir hier in Mittelkalifornien haben ihn deswegen bedrängt. Ich kenne Leute in Medford und Norcross, die vor Angst, er könne ohne Nachfolger sterben, den Verstand verlieren. Er ist der beste Algorithmen-Mann in Nordamerika … ich würde sogar sagen, auf der ganzen Welt, doch ich möchte vorsichtig sein. Ich weiß, dein Herz hängt an der Kommunikationsanlage hinten im Kontrollraum. Sie ist dein kostbarstes Spielzeug, und meins auch. Nun, all diese hübschen, farbigen Bilder, die uns über Glasfaser und Mikrowelle erreichen, kommen durch die Bandbreitenkompression zustande, und die gäbe es nicht ohne die Tricks, die er den Tüftlern verkauft hat. Und das ist längst nicht alles …«

»Schon gut!« Wentz lachte. »Ich merke, du hast es ernst genommen, als ich dir sagte, du solltest dich auf unsere Hightech-Kunden spezialisieren. Ich weiß, ohne Naismith hätten wir in Mittelkalifornien keinen Fortschritt, aber …«

»Und wir werden einen Rückschritt haben, wenn er einmal nicht mehr ist, es sei denn, er findet einen Lehrling. Seit Jahren will man ihn überreden, ein paar Studenten ins Haus zu nehmen oder sogar Unterricht zu geben, wie es vor dem Zusammenbruch üblich war, doch er hat sich geweigert. Und ich finde, er hat recht. Es muss einer schon außerordentlich kreativ sein, um neue Algorithmen zu schaffen. Ich glaube, er hat gewartet … abgewartet, bis er heute seinen Lehrling gefunden hat. Der Junge ist gemein, er ist fähig zu töten. Und ich weiß nicht, was er außer Geld wirklich will. Trotzdem hat er das eine, das uns die besten Absichten und Beweggründe der Welt nicht verschaffen können, und das ist Verstand. Du hättest ihn beim Celest-Spiel sehen sollen, Boss …«

Die Diskussion – oder die Predigt – ging noch mehrere Minuten weiter, aber der Ausgang war vorherzusehen. Der Hexenmeister der Tüftler hatte endlich einen Lehrling gefunden.

3

Nacht und dreifacher Mondschein. Wili lag hinten im Wagen, dick in Decken eingewickelt. Das Schlingern und die Stöße der Fahrt über ansteigenden, gesprungenen Beton wurden größtenteils von weichen Federn abgefangen. Wili hörte keine anderen Geräusche als das Rascheln der Bäume im kühlen Wind, das stetige Klappklappklapp der mit Gummi überzogenen Hufeisen des Pferdes und sein gelegentliches Schnauben in der Dunkelheit. Sie hatten den Wald noch nicht erreicht. Dieser große, schwarze Wald erstreckte sich von Norden nach Süden, und es war, als breite sich ganz Mittelkalifornien rings um ihn aus. Der Seenebel, der die Nächte hier so oft dunkel machte, fehlte, und der Mondschein gab der Luft einen beinahe leuchtenden blauen Ton. In genau westlicher Richtung – der Richtung, in die Wili schaute – lag Santa Ynez gefroren in dem stillen Licht. Die Beleuchtung war spärlich, aber das Muster der Straßen trat klar hervor, und das offene Viereck des Basars strahlte eine Andeutung von Orange und Violett aus.

Wili wand sich tiefer in die Decken. Die kitzelnde Lähmung seiner Glieder war jetzt fast verschwunden. Die Wärme in Armen und Beinen, die kalte Luft auf seinem Gesicht und die Landschaft, die sich unter ihm ausbreitete, wirkten anregend wie eine der Drogen, die er in Pasadena gestohlen hatte. Das Land war schön, aber es bot nicht die günstigen Gelegenheiten zum Stehlen, auf die er gehofft hatte, als er aus dem Ndelante nordwärts geflohen war. Es gab unbewohnte Ruinen, so viel stimmte. Er konnte rechtwinklig angeordnete, ganz überwachsene Trümmerreihen erkennen, in denen kein einziges Licht brannte. Dort musste Santa Ynez vor dem Zusammenbruch gelegen haben.

Das Feld war größer als die moderne Version der Stadt, aber in nichts mit dem verheißungsvollen Becken von L. A. zu vergleichen. Kilometer auf Kilometer erstreckten sich die Ruinen, weiter, als ein Mann in einer Woche wandern konnte, und viele von ihnen waren noch nicht geplündert. Falls man jedoch auf aufregendere, profitablere Art reich werden wollte, gab es da noch die Jonque-Villen in den Bergen über dem Becken. Diese hoch gelegenen Aussichtspunkte boten einen märchenhaften Blick auf Los Angeles: Von Horizont zu Horizont flackerten kleine Feuer, die Siedlungen inmitten der Trümmer markierten. Hie und da strahlten die weißen Lichter der Jonque-Vorposten. Und im Mittelpunkt standen als leuchtende Kristallstruktur die Türme der Enklave des Friedensamtes. Wili seufzte. Das war gewesen, bevor seine Welt bei den Ndelante Ali in Trümmer fiel, bevor er Old Ebenezers Betrug entdeckte … Sollte er jemals zurückkehren, würden sich die Ndelante und die Jonques darum streiten, wer ihm als Erster die Haut abziehen durfte.

Wili konnte nicht zurück.

Aber er hatte auf dieser Reise nach Norden eines gesehen, das es wert war, hierher gejagt worden zu sein. Dieses eine machte die Landschaft für immer eindrucksvoller als die von L. A. Er blickte über Santa Ynez hinweg auf den Gegenstand seiner Ehrfurcht.

Die silberne Kuppel ragte im Mondlicht aus dem Meer. Sie wirkte noch aus dieser Entfernung und Höhe hoch. Die Menschen gaben ihr viele Namen, und sogar in Pasadena hatte er von ihr gehört, obwohl er die Geschichten nicht geglaubt hatte. Larry Faulk nannte sie Mount Vandenberg. Der alte Mann Naismith – gerade pfiff er tonlos vor sich hin, während sein Diener den Wagen in die Berge lenkte – hatte von ihr als der Vandenberg-Blase gesprochen. Doch welchen Namen man ihr auch gab, keiner wurde ihr gerecht.

In ihrer Größe und Vollkommenheit war sie gewaltiger als die Natur. Von Santa Barbara aus hatte er sie gesehen. Sie war eine Halbkugel von mindestens zwanzig Kilometern Durchmesser. Wo sie in den Pazifik abfiel, brach sich die vom Mond beschienene Brandung lautlos an ihrer Wölbung. Der See auf der landeinwärts gelegenen Seite, Lompoc-See nannten sie ihn, war still und dunkel.

Vollkommen, vollkommen. Die Form war eine Abstraktion jenseits der Realität. Die spiegelglatte Oberfläche fing den Mond ein und warf ein Bild zurück, das ebenso klar war wie das Original. Und so hatte die Nacht zwei Monde, einen sehr hoch oben am Himmel, den anderen von der Kuppel leuchtend. Draußen auf dem Meer zog sich die normale Spiegelung als blasssilberner Streifen bis zum Horizont. Insgesamt das Licht von drei Monden! Am Tag fing der große Spiegel auf ähnliche Weise die Sonne ein. Larry Faulk behauptete, die Farmer bebauten ihr Land so, dass sie Vorteil aus dem doppelten Sonnenschein zögen.

Wer hatte die Vandenberg-Kuppel erbaut? Der Eine Wahre Gott? Irgendein Jonque- oder Anglo-Gott? Und wenn sie von Menschenhand gemacht war, wie? Was mochte in ihrem Innern sein? Wili träumte und malte sich den Einbruch aller Einbrüche aus – hineinzugelangen und zu stehlen, was an Schätzen in einem Schatz, so groß wie diese Kuppel, verborgen sein würde …

Als er erwachte, waren sie im Wald. Die Fahrt ging immer noch bergauf, und die Bäume umgaben sie dicht und dunkel. Die höheren Nadelbäume bewegten sich und sprachen beunruhigend im Wind. Einen so tiefen Wald hatte Wili noch nie gesehen. Der wirkliche Mond stand jetzt niedrig. Gelegentlich schwappte Silber durch die Zweige und legte sich auf weitere Bäume, deren Nadeln glitzerten. Über Wilis Kopf war ein Streifen des Nachthimmels sichtbar, heller als die Bäume. Die Sterne waren herausgekommen.

Der Diener des Anglos ließ das Pferd langsamer gehen. Die alte Betonstraße war verschwunden; der Pfad war kaum breit genug für den Wagen. Wili versuchte, nach vorn zu sehen, aber die Decken und die noch nicht abgeklungene Wirkung des Polizei-Tasers hinderten ihn daran. Jetzt sprach der alte Mann leise in die Dunkelheit. Parole! Wili krümmte sich und sah nach, ob die Polizisten sein zweites Messer entdeckt hatten. Nein. Es war noch da, an die Innenseite der Wade geschnallt. Von L. A. her wusste Wili eine Menge über alte Männer, die Arbeitslager leiteten. Er war der eine Sklave, den dieser alte Mann nicht besitzen würde.

Nach einem Augenblick kam die Stimme einer Frau zurück, die sie fröhlich aufforderte näher zu kommen. Das Pferd nahm sein früheres Tempo wieder auf. Wili sah keine Spur von der Sprecherin.

Der Wagen bog um die nächste Haarnadelkurve. Seine Räder erzeugten auf dem Teppich aus Tannennadeln, die den Boden bedeckten, so gut wie kein Geräusch. Noch einmal hundert Meter, noch eine Kurve und …

Es war ein Palast! Bäume und Schlingpflanzen engten das Gebäude von allen Seiten ein, aber trotzdem sah man deutlich, dass es ein Palast war, wenn auch ungeschützter als die Festungen der Jonque-Jefes in Los Angeles. Jene Lords bauten für gewöhnlich Villen aus der Zeit vor dem Zusammenbruch wieder auf, und der Sicherheit wegen installierten sie Elektrozäune und Maschinengewehrnester. Dieses Haus war ebenfalls alt, aber ansonsten war es merkwürdig. Von außen waren überhaupt keine Verteidigungsanlagen zu erkennen – was bedeutete, dass der Eigentümer das Land auf Kilometer im Umkreis kontrollieren musste. Aber Wili hatte auf ihrer Fahrt hierherauf keine Forts gesehen. Die Leute hier im Norden konnten nicht so dumm und so schutzlos sein, wie es aussah.

Der Wagen fuhr an der Villa entlang. Vor dem Eingang erweiterte sich der Pfad zu einer Lichtung, und Wili hatte den bisher besten Ausblick. Das Haus war kleiner als die Paläste von L. A. Wenn der Innenhof eine angemessene Größe hatte, würden sich all die Diener und die Familie eines großen jefe darin nicht unterbringen lassen. Aber es war massiv, Holz und Steine waren fachmännisch ineinandergefügt. Das bisschen Mondschein, das noch da war, glitzerte auf metallenem Maßwerk und erzeugte verlaufende Bilder des Mondgesichts auf dem geglätteten Holz. Das Dach war dunkler und reflektierte gar nichts. Es hatte Giebel und einen seltsamen Turm: Dunkle Kugeln, deren Durchmesser von fünf Zentimetern bis zu beinahe zwei Metern variierten, waren auf einer blanken Nadel aufgespießt.

»Wach auf! Wir sind da.« Hände lösten die Decken, und der alte Mann schüttelte ihn sacht an der Schulter. Es kostete Wili Anstrengung, nicht zuzuschlagen. Er grunzte schwach und tat, als erwache er langsam. »Estamos llegado, chico«, sagte Morales, der Diener. Wili ließ sich von dem Wagen helfen. Er war tatsächlich noch etwas unsicher auf den Füßen, aber je weniger sie von seinen Fähigkeiten wussten, desto besser. Sollten sie ruhig glauben, er wäre schwach und verstehe kein Englisch.

Eine Dienerin kam aus dem Haupteingang gelaufen (oder konnte der Eingang für die Dienerschaft so großartig sein?). Sonst erschien niemand, aber Wili wollte sich fügsam verhalten, bis er mehr wusste. Die Frau – wie Morales in mittlerem Alter – begrüßte die beiden Männer herzlich. Dann führte sie Wili über das Steinpflaster zur Tür. Der Junge hielt den Blick nach unten gerichtet, als wäre er benommen. Doch aus dem Augenwinkel sah er noch etwas – ein silbernes Gewebe wie ein gigantisches Spinnennetz war zwischen einem Baum und der Seite der Villa gespannt.

Hinter der großen, geschnitzten Tür brannte ein mattes Licht, und Wili erkannte, dass das Haus sich mit allem, was es in Pasadena gab, messen konnte, auch wenn keine Kunstgegenstände oder goldenen Statuen herumstanden. Die Frau führte ihn über eine breite Treppe nach oben (nicht nach unten! Was war das für ein jefe, der seine geringsten Diener in einem der oberen Stockwerke unterbrachte?) und in ein Dachzimmer. Das einzige Licht spendete der Mond. Er schien durch ein Fenster herein, das mehr als groß genug war, um zu fliehen.

»Tienes hambre?«, fragte die Frau ihn.

Wili schüttelte stumpf den Kopf und wunderte sich über sich selbst. Er hatte wirklich keinen Hunger; es musste eine Nachwirkung des Tasers sein. Die Frau zeigte ihm eine Toilette im Nebenzimmer und sagte ihm, er solle sich schlafen legen.

Und dann wurde er allein gelassen!

Wili lag auf dem Bett und blickte über den Wald hinweg. Er meinte einen Schimmer von der Vandenberg-Kuppel zu sehen. So viel Glück war kaum zu fassen. Er dankte dem Einen Gott, dass er am Eingang zu der Villa nicht davongelaufen war. Wer hier auch der Herr sein mochte, er hatte keine Ahnung von Sicherheitsmaßnahmen, und er beschäftigte Idioten. Eine Woche in diesem Haus, dachte Wili, und er würde jeden einzelnen kleinen Gegenstand kennen, der es wert war, gestohlen zu werden. In einer Woche würde er mit einem Schatz verschwunden sein, von dem er lange, lange leben konnte!

VORAUSBLICK

Captain Allison Parkers neue Welt begann mit dem Geräusch reißenden Metalls.

Mehrere Sekunden lang war sie nur damit beschäftigt, wahrzunehmen und zu reagieren. Sie versuchte nicht, sich irgendetwas zu erklären. Die Hülle war beschädigt. Quiller bemühte sich, zu ihr nach hinten zu kriechen. Auf seinem Gesicht war Blut. Durch Risse in der Außenhaut konnte sie Bäume und einen blassen Himmel sehen. Bäume?

Ihr Gehirn blockte das Erstaunen ab. Allison wand sich aus ihren Gurten. Sie hakte das Päckchen mit den Disketten an ihrem Gürtel fest und zog den leichten Helm mit seinem zehnminütigen Luftvorrat herunter. Ohne nachzudenken, befolgte sie die Vorschriften für den Fall eines Lecks, die man ihnen immer wieder eingeschärft hatte. Wenn sie nachgedacht hätte, dann hätte sie den Helm vielleicht weggelassen – schließlich hörte man Vögel und das Rauschen des Windes in den Bäumen – und wäre gestorben.

Allison zog Quiller von den Kontrollen und sah, warum die Gurte ihn nicht geschützt hatten: Der Bug der Fähre war in Richtung des Piloten eingedrückt. Noch ein paar Zentimeter, und er wäre zermalmt worden. Ein hartes, knisterndes Geräusch kam deutlich durch die dünne Schale ihres Helms. Sie setzte Quiller den seinen auf und aktivierte die Sauerstoffzufuhr. Den Geruch, der noch in ihrem Helm hing, kannte sie: Das war der Gestank, der ihrem Landetreibstoff hinterherzog.

Angus Quiller richtete sich auf und entzog sich ihrem Griff. Benommen sah er sich um. »Fred?«, rief er.

Draußen gerieten die unwahrscheinlichen Bäume in Brand. Gott allein wusste, wie lange die vordere Hülle das Feuer in den Bugtanks daran hindern würde, in die Mannschaftskabine durchzubrechen.

Allison und Quiller zogen sich nach vorn … und sahen, was mit Fred Torres geschehen war. Das schreckliche Geräusch zu Beginn dieses Albtraums war entstanden, als die linke Vorderseite des Raumschiffs aufs Flugdeck herunterkrachte. Die Rückenlehne von Freds Andruckliege war heil, aber für den Mann kam jede Hilfe zu spät. Quiller hatte sehr viel Glück gehabt.

Sie blickten durch den Riss, der direkt über ihren Köpfen klaffte. Er war gezackt und lang, vielleicht breit genug, dass sie hindurchsteigen konnten. Allison sah von der Kabine zur Hauptluke. Sie war heimtückisch eingebeult; auf diesem Weg würden sie nie ins Freie gelangen. Sogar in ihren Druckanzügen spürten sie jetzt die Hitze. Der Himmel über dem Riss war nicht länger blau. Sie blickten in einen Feuerkanal aus Rauch und Flammen hoch, der an den Nadelbäumen ringsum emporschoss.

Quiller formte einen Steigbügel mit seinen Händen und schob die Nuklearmagnetik-Spezialistin durch den gezackten Riss in der Hülle. Allisons Kopf war jetzt draußen. Unter weniger fantastischen Umständen hätte sie beim Anblick dessen, was in den Flammen saß, geschrien: Es war ein riesiger dunkler Krake mit brennenden Gliedern, der knisterte und schwankte. Allison wand sich mit den Schultern aus dem Loch und stemmte sich hoch. Dann streckte sie dem Piloten die Hand entgegen. Gleichzeitig stellte ein Teil ihres Verstandes fest, dass das, was sie gesehen hatte, kein Krake war, sondern die Wurzelmasse eines ziemlich großen Baums, der irgendwie auf den Bug des Raumschiffs gefallen war. So war Fred Torres ums Leben gekommen.

Quiller sprang hoch und fasste ihre Hand. Seine breitere Gestalt blieb in der Öffnung stecken, aber nach einer koordinierten Anstrengung von Schieben und Ziehen kam er frei. Ein Teil seiner umgeschnallten Ausrüstung blieb an dem gezackten Metall der aufgerissenen Hülle zurück.

Sie befanden sich auf dem Grund eines langen Kraters, der jetzt mit Hitze und rötlichem Rauch gefüllt war. Ohne ihren Sauerstoff hätten sie keine Chance gehabt. Auch so war das Feuer gefährlich genug. Der vordere Teil des Raumschiffs brannte lichterloh, und ganze Flammenbäche waberten nach hinten, wo die Tanks mit dem größten Teil des Landetreibstoffs waren. Allison warf gehetzte Blicke um sich. Sie nahm in sich auf, was sie sah, aber sie dachte nicht weiter darüber nach; sie dachte an nichts als an einen Ausweg.

Quiller zeigte nach rechts. Wenn es ihnen gelang, über die Tragfläche zu laufen, trug ein kurzer Sprung sie in den Haufen aus Sträuchern und kleinen Bäumen, die in den Krater gefallen waren. Erst viel später stellte Allison sich die Frage, wie all das Buschwerk auf das Raumschiff hatte fallen können, als es abstürzte.

Sekunden danach zogen sie sich Hand über Hand an der Wand aus Zweigen und Schlingpflanzen hoch. Das Feuer fraß sich stetig durch die feuchte Masse unter ihnen und schickte entlang den Tannennadeln, die in die Schlingpflanzen eingebettet waren, flammende Bänder voraus. Oben angekommen, drehten sich Allison und Quiller kurz um und sahen zurück. In diesem Augenblick brach die Ladebucht entzwei, und das Raumschiff sackte in den merkwürdigen leeren Raum unterhalb des Rumpfs. So starb Allisons gesamte optische und Tiefensonden-Ausrüstung im Wert einiger Millionen Dollar. Ihre Hand klammerte sich um das Päckchen mit den Disketten, das immer noch an ihrer Seite hing.

Der Haupttank explodierte, und gleichzeitig knickte Allisons rechtes Bein ein. Sie fiel zu Boden. Quiller folgte ihr eine Sekunde später. »Verdammte Dummheit«, hörte sie ihn sagen, während Trümmer auf sie herabregneten, »dazustehen und eine Bombe anzuglotzen. Machen wir, dass wir wegkommen!«

Allison versuchte aufzustehen und sah das Blut durch den Stoff ihres Hosenbeins sickern. Der Pilot bückte sich und trug sie zwanzig oder dreißig Meter gegen den Wind durch das feuchte Unterholz. Dann setzte er sie ab, nahm ein Messer aus seiner Überlebenstasche und sägte den zähen Stoff des Druckanzugs rings um die Wunde weg.

»Sie haben Glück gehabt. Was Sie auch getroffen haben mag, es ist glatt durchgegangen. Ich würde es einen Kratzer nennen, wenn die Wunde nicht so tief wäre.« Er besprühte die Stelle mit Erster-Hilfe-Kunsthaut, und der Schmerz ließ etwas nach, hämmerte im Takt mit ihrem Puls.

Der dichte rote Rauch trieb von ihnen weg. Das Raumschiff selbst war unter dem Kraterrand verborgen. Die Explosionen setzten sich in unregelmäßigen Abständen fort, doch waren sie nicht sehr heftig. Hier müssten sie sicher sein. Quiller half Allison aus ihrem Druckanzug und kämpfte sich dann aus seinem.

Er ging ein paar Schritte in Richtung Wrack zurück, bückte sich und hob einen merkwürdigen hölzernen Gegenstand auf. »Sieht aus, als wäre es von der Explosion hergeschleudert worden.« Es war ein christliches Kreuz, der Fuß noch mit Erde bedeckt.

»Wir sind auf einem Friedhof abgestürzt.« Allison versuchte zu lachen, aber ihr wurde davon schwindelig. Quiller antwortete nicht. Er sah sich das Kreuz mehrere Sekunden lang genau an. Schließlich legte er es hin, kam zurück und untersuchte Allisons Bein. »Das hat die Blutung gestillt. Andere Verletzungen sehe ich nicht. Wie fühlen Sie sich?«

Allison betrachtete den roten Fleck auf ihrem grauen Kampfanzug. Hübsche Farben, solange es nicht das eigene Blut war. »Lassen Sie mich ein bisschen hier sitzen. Ich schaffe es sicher, auf eigenen Füßen zu den Rettungshubschraubern zu laufen, wenn sie kommen.«

»Hmm. Okay, ich sehe mich einmal um … Vielleicht ist in der Nähe eine Straße.« Er hakte die Überlebenstasche los und stellte sie neben Allison. »Bin in fünfzehn Minuten wieder da.«

4

Am nächsten Morgen nahmen sie sich Wili vor. Es war die Frau, Irma hieß sie, die ihn nach unten brachte und ihm in einer kleinen Nische des Speisesaals Frühstück gab. Sie war eine freundliche Frau, aber noch jung genug, um Kräfte zu haben, und sie sprach sehr gutes Spanisch. Doch niemand bedrohte ihn, und das Essen wurde ihm nicht zugeteilt; er aß so viel, dass er seinen ewig nagenden Hunger beinahe befriedigen konnte. Die ganze Zeit redete Irma, ohne dabei viel zu sagen, als wisse sie, dass er sich auf sein enormes Frühstück konzentrierte. Andere Hausbewohner waren nicht sichtbar. Allmählich kam Wili zu der Überzeugung, der Lord sei verreist und habe die drei Diener zurückgelassen, damit sie sein Anwesen so lange in Ordnung hielten. Dieser jefe war sehr mächtig oder sehr dumm, weil Wili auch bei Tageslicht keine Spur von Verteidigungsanlagen entdeckte. Wenn er verschwinden konnte, bevor der jefe zurückkam …

»… und weißt du, warum du hier bist, Wili?«, fragte Irma. Sie räumte die Teller von der Mosaikplatte des Frühstückstischs.

Wili nickte und spielte den Schüchternen. Natürlich wusste er es. Jeder brauchte Arbeiter, und die Alten und Mittelalten brauchten manchmal ganze Kolonnen, wenn sie ein Leben in Luxus führen wollten. Aber er sagte: »Um Ihnen zu helfen?«

»Nicht mir, Wili. Paul. Du wirst sein Lehrling sein. Er hat lange Zeit nach einem gesucht, und er hat dich erwählt.«

Das leuchtete ihm ein. Der alte Gärtner – oder was er sonst war – sah wie mindestens achtzig aus. Im Augenblick wurde Wili fürstlich behandelt. Er hatte allerdings den Verdacht, das geschehe nur, weil der alte Mann und seine beiden Lakaien unrechtmäßigen Gebrauch von dem Haus ihres Herrn machten. Zweifellos würden sie teuer dafür zu bezahlen haben, wenn der jefe zurückkehrte. »Und … und was habe ich für meine Lady zu tun?« Wili sprach mit großer Ehrerbietigkeit.

»Was Paul von dir verlangt.«

Sie führte ihn zur Hinterseite des Hauses, wo sich ein großer Teich, beinahe ein See, unter den Nadelbäumen ausdehnte. Das Wasser sah klar aus, nur hie und da schwammen Klümpchen aus Tannennadeln. Zur Mitte hin, wo es frei von den Schatten der Bäume war, spiegelte es das leuchtende Blau des Himmels wider. Bergab sah Wili durch eine Lücke in den Bäumen Gewitterwolken, die sich um Vandenberg zusammenballten.

»Jetzt herunter mit deinen Sachen, damit du baden kannst.« Sie wollte die Knöpfe seines Hemdes öffnen – eine Erwachsene, die einem Kind half.

Wili wich zurück. »Nein!« Nackt hier bei der Frau zu stehen!

Irma lachte, hielt seinen Arm fest und knöpfte sein Hemd weiter auf. Für einen Augenblick vergaß Wili seine Rolle als Kind, als gehorsames Kind. Natürlich wäre eine solche Behandlung im Ndelante unvorstellbar. Und sogar im Jonque-Gebiet wurde der Körper respektiert. Keine Frau zwang einem Mann Bäder und Nacktheit auf.

Aber Irma war stark. Als sie ihm das Hemd über den Kopf zog, fasste er schnell nach dem Messer, das er an die Wade geschnallt trug, und hielt es ihr vors Gesicht. Irma schrie. In Gedanken verfluchte Wili sich.

»Nein, nein! Ich werde es Paul sagen.« Sie ging rückwärts, hielt die Hände abwehrend vor sich, als wolle sie sich schützen. Wili war klar, er musste entweder weglaufen (und er konnte sich nicht vorstellen, dass diese drei ihn einholen würden), oder tun, was nötig war, um zu bleiben. Denn jetzt wollte er bleiben.

Er ließ das Messer fallen und warf sich auf die Knie. »Bitte, Lady, ich habe gehandelt, ohne nachzudenken.« Das war die Wahrheit. »Bitte, verzeihen Sie mir. Ich will alles tun, um es wiedergutzumachen. Sogar, sogar …«

Die Frau blieb stehen, kam zurück und hob das Messer auf. Offensichtlich hatte sie keine Erfahrung als Aufseherin, sonst hätte sie ihm nicht alles geglaubt, was er sagte. Die ganze Situation war fremdartig und unberechenbar. Wili hätte die Peitsche, die Berechenbarkeit beinahe vorgezogen. Irma schüttelte den Kopf, und als sie sprach, klang aus ihrer Stimme immer noch ein bisschen Angst. Wili war sicher, sie wusste jetzt, dass er beträchtlich älter war, als er aussah; sie traf keine Anstalten, ihn zu berühren. »Na gut. Es bleibt zwischen uns, Wili. Ich werde es Paul nicht sagen.« Sie lächelte, und Wili hatte das Gefühl, da sei etwas, das sie ihm nicht erzählte. Sie streckte ihren Arm zu voller Länge aus und reichte ihm Bürste und Seife. Wili entkleidete sich, watete in das kalte Wasser und schrubbte sich ab.

»Zieh das an!«, sagte Irma, als er wieder draußen war und sich abgetrocknet hatte. Die neuen Kleider waren weich und sauber und stellten schon allein ein kleineres Beutestück dar. Sie gingen zum Haus zurück. Irma war fast wieder ihr altes Ich, und Wili hielt es für ungefährlich, die Frage zu stellen, die er schon den ganzen Morgen im Kopf wälzte. »Meine Lady, ich bemerke, dass wir vier hier ganz allein sind – oder zumindest hat es so den Anschein. Wann werden wir wieder unter dem Schutz des Gutsherrn stehen?«

Irma blieb stehen, und nach einer Sekunde lachte sie. »Was für ein Gutsherr? Dein Spanisch ist zu merkwürdig. Du glaubst wohl, dies sei eine Burg, auf der es Sklaven und Truppen gibt.« Sie setzte wie im Selbstgespräch hinzu: »Obwohl das vielleicht deine Realität ist. Ich habe nie im Süden gelebt.«

»Du hast den Gutsherrn bereits kennengelernt, Wili«, fuhr sie dann fort. Dann sah sie seinen verständnislosen Blick. »Es ist Paul Naismith, der Mann, der dich aus Santa Ynez mitgebracht hat.«

»Und …« – Wili traute sich kaum, die Frage zu stellen – »… ihr drei seid ganz allein hier?«

»Gewiss. Aber hab keine Angst. Du bist hier bestimmt viel sicherer, als du im Süden je gewesen bist.«

Davon bin ich überzeugt, Lady. So sicher wie ein Kojote unter Hühnern.