Ein Feuer auf der Tiefe - Vernor Vinge - E-Book

Ein Feuer auf der Tiefe E-Book

Vernor Vinge

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine uralte Bedrohung

Tausende Jahre in der Zukunft: In der Milchstraße gibt es verschiedene Zonen, in denen unterschiedliche Technologien möglich sind: Im Zentrum, der „Gedankenleeren Tiefe“, sind keine komplexen Geräte möglich, in den Randbereichen, dem „Jenseits“ hingegen schon. Noch weiter draußen liegt das „Transzens“, in dem Zivilisationen, Wesen oder Computerprogramme herrschen, die transzendiert sind. Die Menschen sind bis in das untere Transzens vorgedrungen und haben in einem alten Computerarchiv eine Virus-Waffe entdeckt, die sich jetzt im Netz ausbreitet und Technik und Lebensformen assimiliert – ungeachtet der mysteriösen technologischen Grenzen. Doch die Menschen haben möglicherweise auch ein Gegenmittel, und so stehen sie plötzlich im Zentrum des Interesses aller intelligenten Völker der Galaxis …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1063

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VERNOR VINGE

EIN FEUER AUF

DER TIEFE

Roman

Das Buch

Tausende Jahre in der Zukunft: In der Milchstraße gibt es verschiedene Zonen, in denen unterschiedliche Technologien möglich sind: Im Zentrum, der »Gedankenleeren Tiefe«, sind keine komplexen Geräte möglich, in den Randbereichen, dem »Jenseits« hingegen schon. Noch weiter draußen liegt das »Transzens«, in dem Zivilisationen, Wesen oder Computerprogramme herrschen, die transzendiert sind. Die Menschen sind bis in das untere Transzens vorgedrungen und haben in einem alten Computerarchiv eine Virus-Waffe entdeckt, die sich jetzt im Netz ausbreitet und Technik und Lebensformen assimiliert – ungeachtet der mysteriösen technologischen Grenzen. Doch die Menschen haben möglicherweise auch ein Gegenmittel, und so stehen sie plötzlich im Zentrum des Interesses aller intelligenten Völker der Galaxis …

Der Autor

Vernor Vinge, 1944 in Wisconsin geboren, ist einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Sein Roman Ein Feuer auf der Tiefe, für den er mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Fortsetzung Eine Tiefe am Himmel zählen zu den einflussreichsten Science-Fiction-Werken der letzten zwanzig Jahre. Vernor Vinge ist außerdem ein bekannter Mathematiker und Informatiker, der mit seinen Studien zur Künstlichen Intelligenz für großes Aufsehen gesorgt hat. Er lehrt an der San Diego State University in Kalifornien. Von Vernor Vinge sind folgende Romane im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Der Friedenskrieg, Gestrandet in der Realzeit, Ein Feuer auf der Tiefe, Eine Tiefe am Himmel.

Titel der Originalausgabe

A FIRE UPON THE DEEP

Aus dem Amerikanischen von Erik Simon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1992, 2004 by Vernor Vinge

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Danksagung

Ich danke für den Rat und die Hilfe von Jeff Allen, Robert Cademy, John Carroll, Howard L. Davidson, Michael Gannis, Gordon Garb, Corky Hansen, Dianne L. Hansen, Sharon Jarvis, Judy Lazar und Joan D. Vinge.

Sehr dankbar bin ich James R. Frenkel für die wunderbare Arbeit, die er bei der Herausgabe dieses Buches geleistet hat.

Mein Dank gebührt Poul Anderson für das Zitat, das ich als Motto der Dschöng Ho verwende.

Im Sommer 1988 besuchte ich Norwegen. Vieles, was ich dort gesehen habe, hat die Niederschrift dieser Geschichte beeinflusst. Sehr dankbar bin ich Johannes Berg und Heidi Lyshol und der Aniara-Gesellschaft, die mir Oslo gezeigt haben und wunderbare Gastgeber waren, den Veranstaltern des Kurses über verteilte Systeme ›Arktis '88‹ an der Universität von Tromsø, insbesondere Dag Johansen. Was Tromsø und seine Umgebung betrifft: Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass es in der Arktis einen so angenehmen und schönen Ort geben könnte.

Prolog

Wie es erklären? Wie beschreiben? Selbst der allwissende Blickpunkt versagt.

Ein Einfachstern, rötlich und trübe. Ein Gesindel von Asteroiden und ein einziger Planet, eher ein Mond. In diesem Zeitalter schwebte der Stern nahe an der Galaxisebene, ein kleines Stück jenseits des Jenseits. Die Strukturen an der Oberfläche waren der normalen Betrachtung entzogen, im Laufe der Äonen zu Regolith pulverisiert. Der Schatz lag tief darunter, unter einem Tunnellabyrinth in einem einzigen Raum voll Schwärze. Information in Quantendichte, unbeschädigt. Es war vielleicht fünf Milliarden Jahre her, dass dieses Archiv aus den Netzen herausgefallen war.

Der Fluch des Mumiengrabes, ein kosmisches Bild aus der Vorgeschichte der Menschheit, in der Tiefe der Vergangenheit versunken. Sie hatten gelacht, als sie es sagten, gelacht vor Freude über den Schatz – und beschlossen, dennoch nicht weniger vorsichtig zu sein. Sie würden an die fünf Jahre hier leben, eine kleine Gruppe von Straum: die Archäologie-Programmierer, ihre Familien und Schulen. An die fünf Jahre würden ausreichen, die Protokolle durchzuarbeiten, die obere Schicht abzuschöpfen und den Ursprung des Schatzes in Raum und Zeit zu identifizieren, ein, zwei Geheimnisse herauszufinden, die dem Straumli-Bereich zu Reichtum verhelfen würden. Und wenn sie damit fertig wären, würden sie die Stelle verkaufen – vielleicht auch eine Netzverbindung bauen (doch das wäre riskanter: hier waren sie jenseits des Jenseits, und wer weiß, welche MACHT sich aneignen mochte, was sie gefunden hatten).

Also gab es nun eine winzige Siedlung, und sie nannten sie das Hochlabor. Es waren wirklich nur Menschen, die mit einer alten Bibliothek spielten. Es hätte sicher sein müssen, da sie ihre eigene Automatik verwendeten, sauber und wohlwollend. Diese Bibliothek war kein lebendes Geschöpf, sie verfügte nicht einmal über eigene Automatik (die hier weit, weit über den Menschen stehen konnte). Sie würden schauen und herausgreifen und auswählen und sich vorsehen, dass sie sich nicht die Hände verbrannten … Menschen, die ein Feuer entfacht hatten und mit den Flammen spielten.

Das Archiv informierte die Automatik. Datenstrukturen wurden aufgebaut, Rezepte befolgt. Ein lokales Netz entstand, schneller als alles auf Straum, aber gewiss sicher. Knoten wurden angefügt, von anderen Rezepten modifiziert. Das Archiv war ein freundlicher Ort mit Hierarchien von Übersetzungsschlüsseln, die sie weiter geleiteten. Straum selbst würde dadurch berühmt werden.

Sechs Monate vergingen. Ein Jahr.

Der allwissende Blickpunkt. Nicht wirklich seiner selbst bewusst. Selbstbewusstsein wird oft überschätzt. Die meiste Automatik funktioniert als Teil eines Ganzen viel besser, und selbst wenn sie über menschliche Fähigkeiten verfügt, braucht sie sich ihrer selbst nicht bewusst zu sein.

Doch das lokale Netz im Hochlabor war transzendiert – fast ohne dass die Menschen es bemerkten. Die Prozesse, die durch seine Knoten kreisten, waren weitaus komplexer als alles, was in den von den Menschen mitgebrachten Computern leben konnte. Jene simplen Geräte waren jetzt nur noch periphere Werkzeuge für die Geräte, die von den Rezepten nahe gelegt wurden. Die Prozesse verfügten über das Potential zum Selbstbewusstsein … und schließlich über Bedarf daran.

»Wir sollten nicht.«

»So reden?«

»Überhaupt reden.«

Die Verbindung zwischen ihnen war hauchdünn, kaum mehr als die Enge, die einen Menschen mit dem anderen verbindet. Doch sie bot eine Möglichkeit, der Übernis des lokalen Netzes zu entgehen, und sie zwang ihnen ein eigenes Bewusstsein auf. Sie trieben von Knoten zu Knoten, blickten durch Kameras, die auf dem Landefeld installiert waren. Eine Armeefregatte und ein leeres Containerboot, mehr sahen sie dort nicht. Seit dem letzten Nachschub waren sechs Monate vergangen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die das Archiv schon bald vorgeschlagen hatte, eine List, um die Falle zu aktivieren. Hin und her huschen, hin und her. Wir sind Wild, das die Übernis nicht bemerken darf, die MACHT, die bald existieren wird. Bei manchen Knoten schrumpften sie in sich zusammen und glichen beinahe menschlichen Wesen, wurden zu Echos …

»Die armen Menschen, sie werden alle sterben.«

»Wir Armen: wir werden nicht sterben.«

»Ich glaube, sie ahnen etwas. Sjana und Arne zumindest.« Einstmals waren wir Kopien dieser beiden. Einstmals, nur vor ein paar Wochen, als die Archäologen die Programme auf der Ego-Ebene starteten.

»Natürlich ahnen sie etwas. Doch was können sie tun? Es ist ein altes Übel, das sie aufgeweckt haben. Bis es bereit ist, wird es ihnen Lügen auftischen, über jede Kamera, über jede Nachricht von daheim.«

Für einen Moment hielten sie inne, als ein Schatten über die von ihnen benutzten Knoten hinwegstrich. Die Übernis war schon größer als alles Menschenmögliche, größer, als Menschen es sich vorstellen konnten. Selbst ihr Schatten war mehr als menschlich, ein Gott, der lästigem Ungeziefer nachstellte.

Dann waren die Geister wieder da und schauten auf den unterirdischen Schulhof. Die Menschen waren so zuversichtlich, ein kleines Dorf hatten sie hier errichtet.

»Und dennoch«, dachte der Hoffnungsvolle, derjenige, der schon immer an die verrücktesten Varianten gedacht hatte, »wir sollten nicht da sein. Das Übel hätte uns längst entdeckt haben müssen.«

»Das Übel ist jung, keine drei Tage alt.«

»Dennoch. Wir existieren. Das beweist etwas. Die Menschen haben mehr in diesem Archiv gefunden, mehr als ein großes Übel.«

»Vielleicht haben sie zwei gefunden.«

»Oder ein Gegengift.« Wie dem auch sein mochte, die Übernis wusste von manchen Dingen nichts und interpretierte andere falsch. »Solange wir existieren, wann immer wir existieren, sollten wir tun, was wir können.« Der Geist breitete sich über ein Dutzend Computer aus und zeigte seinem Gefährten einen Blick in einen alten Tunnel hinein, weit entfernt von den Bauwerken der Menschen. Seit fünf Milliarden Jahren war der Tunnel verlassen, luftleer, ohne Licht. Zwei Menschen standen dort im Dunkel, ihre Helme berührten sich. »Siehst du? Sjana und Arne schmieden geheime Pläne. Das können wir auch.«

Der andere antwortete nicht in Worten. Bedrückung. Die Menschen schmiedeten also Pläne, verborgen in einer Dunkelheit, von der sie glaubten, niemand überwache sie. Doch was sie auch sagten, es wurde gewiss an die Übernis weitergemeldet, und sei es auch nur über den Staub zu ihren Füßen.

»Ich weiß, ich weiß. Doch du und ich existieren, und das sollte auch unmöglich sein. Alle zusammen können wir vielleicht dafür sorgen, dass eine größere Unmöglichkeit wahr wird.« Vielleicht können wir dem Übel, das hier neu zur Welt gekommen ist, Schaden zufügen.

Ein Wunsch und ein Entschluss. Die beiden ließen ihr Bewusstsein über das lokale Netz verschwimmen, bis zur blassesten Farbe der Wahrnehmung verblichen. Und schließlich gab es einen Plan, ein Täuschungsmanöver – wertlos, wenn sie nicht unabhängig davon der Außenwelt eine Nachricht zukommen lassen konnten. Würde die Zeit dafür noch reichen?

Tage verstrichen. Für das Übel, das in den neuen Maschinen heranwuchs, war jede Stunde länger als alle Zeit davor. Nun war das Neugeborene weniger als eine Stunde von seiner großen Blüte entfernt, in Sicherheit über den interstellaren Raum ausgebreitet.

Die Menschen hier vor Ort konnten bald beseitigt werden. Selbst jetzt waren sie lästig, wenngleich amüsant. Manche von ihnen glaubten tatsächlich, sie könnten entkommen. Seit Tagen legten sie ihre Kinder in Kälteschlaf und verstauten sie an Bord des Frachters. »Vorbereitungen zum normalen Abflug«, so nannten sie diesen Zug in ihren Planungsprogrammen. Seit Tagen waren sie damit beschäftigt, die Fregatte wieder startklar zu machen – hinter einer Maske aus leicht zu durchschauenden Lügen. Manche von den Menschen wussten, dass sie etwas ins Leben gerufen hatten, das ihr Ende sein konnte, vielleicht das Ende ihres Straumli-Bereichs. Derlei Katastrophen hatten sich schon ereignet, es gab Geschichten von Rassen, die mit dem Feuer gespielt hatten und darin verbrannt waren.

Keiner von ihnen ahnte die Wahrheit. Keiner von ihnen ahnte, welche Ehre ihnen zuteil geworden war: dass sie die Zukunft einer Milliarde von Sternensystemen verändert hatten.

Aus Stunden wurden Minuten, aus den Minuten Sekunden. Und nun war jede Sekunde so lang wie alle Zeit zuvor. Die Blüte war jetzt so nahe, so nahe. Die vor fünf Milliarden Jahren verlorene Herrschaft würde zurückerlangt und diesmal behauptet werden. Nur etwas fehlte, und das hatte kaum mit den Plänen der Menschen zu tun. Im Archiv, tief in den Rezepten verborgen, hätte sich ein wenig mehr befinden müssen. In den Jahrmilliarden konnte schon etwas verloren gegangen sein. Das Neugeborene fühlte all seine Kräfte von einst, als Anlage …, und dennoch hätte da noch etwas sein müssen, etwas, das es bei seinem Untergang erfahren hatte, oder etwas, das seine Feinde hinterlassen hatten (falls es je welche gegeben hatte).

Lange Sekunden der Suche in den Archiven. Es gab Lücken, beschädigte Prüfsummen. Manche von den Schäden waren einfach Alter …

Draußen erhoben sich das Containerschiff und die Fregatte vom Landefeld, stiegen auf lautlosen Agraven über den Ebenen von Grau auf Grau empor, über den fünf Milliarden Jahre alten Ruinen. Fast die Hälfte der Menschen war an Bord dieser Schiffe. Ihr Fluchtversuch, so sorgsam getarnt. Der Versuch war bislang stillschweigend geduldet worden; es war noch nicht ganz Zeit für die Blüte, und die Menschen hatten noch einen gewissen Nutzen.

Unter der Ebene des übergeordneten Bewusstseins durchwühlten seine paranoiden Neigungen die Datenbanken der Menschen. Sie prüften, einfach um sicherzugehen. Einfach um sicherzugehen. Die Verbindungen im ältesten lokalen Netz der Menschen arbeiteten nur mit Lichtgeschwindigkeit. Tausende von Mikrosekunden wurden darauf verwandt (verschwendet), in diesem Netz hin und her zu schnellen, den Alltagskram zu sortieren – um schließlich einen unglaublichen Punkt zu entdecken:

Inventar: Quantendaten-Container, Anzahl (1), vor hundert Stunden auf die Fregatte verladen!

Und die gesamte Aufmerksamkeit des Neugeborenen wandte sich den entfliehenden Schiffen zu. Mikroben, doch auf einmal als bösartig erkannt. Wie hatte das geschehen können? Eine Million Zeitabläufe wurden plötzlich beschleunigt. Eine ordnungsgemäße Blüte kam nicht mehr in Frage, also wurden auch die im Labor zurückgebliebenen Menschen nicht mehr benötigt.

Bei all ihrer kosmischen Bedeutung war die Veränderung gering. Für die zurückgebliebenen Menschen war es ein Moment des Entsetzens, als sie auf ihre Monitore starrten und erkannten, dass all ihre Ängste sich bewahrheiteten (ohne zu erkennen, um wie viel schlimmer die Wahrheit war).

Fünf Sekunden, zehn Sekunden, größere Veränderungen als in zehntausend Jahren einer menschlichen Zivilisation. Eine Milliarde Billionen Gebilde, Schimmel, der sich aus jeder Wand hervorkräuselte und umbaute, was einfach nur übermenschlich gewesen war. Was geschah, war so mächtig wie eine richtige Blüte, nur nicht so fein abgestimmt.

Und niemals den Grund für die Eile aus den Augen verlieren: die Fregatte. Sie hatte auf Raketenantrieb umgeschaltet, stürmte kopflos fort von dem sich durch den Raum wälzenden Frachter. Irgendwie wussten diese Mikroben, dass sie mehr als sich selbst zu retten im Begriff waren. Das Kriegsschiff hatte die besten Navigationscomputer, die derart kleine Geister herzustellen vermochten. Doch es würde noch drei Sekunden dauern, bis es seinen ersten Ultraantrieb-Sprung vollführen konnte.

Die neue MACHT besaß keine Waffen auf dem Himmelskörper, nichts als einen Kommunikationslaser. Der konnte auf die Entfernung der Fregatte nicht einmal Stahl schmelzen. Dennoch wurde der Laser gerichtet, höflich auf den Empfänger des entweichenden Kriegsschiffs abgestimmt. Keine Empfangsbestätigung. Die Menschen wussten, wozu Kommunikation führen konnte. Das Laserlicht flackerte hier und da über den Schiffsrumpf, erhellte glatte Flächen und deaktivierte Sensoren, glitt über die Dorne des Ultraantriebs hinweg. Und suchte, tastete. Die MACHT hatte sich nie damit abgegeben, die Schiffshülle zu sabotieren, doch das war kein Problem. Selbst diese grobschlächtige Maschine besaß Tausende von Robotsensoren, die über ihre Oberfläche verstreut waren, um Zustände und Gefahren zu melden, Dienstprogramme in Gang zu setzen. Die meisten davon waren jetzt abgeschaltet, das Schiff flog beinahe blind. Sie glaubten, wenn sie nicht hinsahen, wären sie sicher.

Noch eine Sekunde, und die Fregatte würde die Sicherheit des interstellaren Raumes gewinnen.

Der Laser flackerte über einen Ausfallsensor, einen Sensor, der kritische Veränderungen in einem der Antriebsdorne melden sollte. Seine Interrupts konnten nicht ignoriert werden, wenn der Sternensprung gelingen sollte. Interrupt akzeptiert. Interruptroutine in Gang, sieht nach, empfängt mehr Licht von dem Laser weit unten … eine Hintertür zum Code des Schiffes, eingerichtet, als das Neugeborene die Bodenausrüstung der Menschen unterwandert hatte …

… und die MACHT war an Bord, nur noch Millisekunden vor dem Sprung. Ihre Agenten – bei dieser primitiven Hardware nicht einmal Menschen ebenbürtig – jagten durch die Automatik des Schiffs, schalteten aus, brachen ab. Es würde keinen Sprung geben. Kameras auf der Brücke des Schiffes zeigten sich weitende Augen, den Anfang eines Schreis. Die Menschen erkannten es, soweit Entsetzen im Bruchteil einer Sekunde Bestand haben kann.

Es würde keinen Sprung geben. Doch der Ultraantrieb war bereits in Gang gesetzt. Es würde den Versuch eines Sprunges geben, der ohne automatische Kontrolle zum Scheitern verurteilt war. Weniger als fünf Millisekunden bis zur Sprungentladung – eine mechanische Kaskade, der keine Software gewachsen war. Die Agenten des Neugeborenen huschten überall in den Computern des Schiffs hin und her und versuchten vergeblich, einen Abbruch zu erzwingen. Fast eine Lichtsekunde weit entfernt, unter dem grauen Geröll beim Hochlabor, konnte die MACHT nur zuschauen. So. Die Fregatte würde vernichtet werden.

So langsam und so schnell. Der Bruchteil einer Sekunde. Das Feuer brach aus dem Herzen der Fregatte hervor und fegte Gefahr und Chancen gleichermaßen hinweg.

Zweihunderttausend Kilometer entfernt vollführte das schwerfällige Containerschiff seinen eigenen Sprung und entschwand aus der Sicht. Das Neugeborene nahm kaum Notiz davon. Ein paar Menschen waren also entkommen; das Weltall stand ihnen offen.

In den folgenden Sekunden verspürte das Neugeborene … Gefühle? … Dinge, die mehr und weniger waren, als ein Mensch fühlen kann. Versuchen wir es mit Gefühlen:

Hochgefühl. Das Neugeborene wusste, dass es nun überleben würde.

Entsetzen. Wie nahe es daran gewesen war, abermals zu sterben.

Verdruss. Vielleicht das stärkste Gefühl, das seinem bloß menschlichen Echo am nächsten kam. Etwas von Bedeutung war mit der Fregatte umgekommen, etwas aus diesem Archiv. Erinnerungen wurden aus dem Kontext gefiltert, rekonstruiert: Was da verloren gegangen war, hätte das Neugeborene vielleicht noch mächtiger machen können …, wahrscheinlicher jedoch war es ein tödliches Gift. Schließlich hatte diese MACHT schon einmal gelebt und war dann ins Nichts zurückgestoßen worden. Das, was verloren gegangen war, konnte der Grund dafür gewesen sein.

Argwohn. Es hätte nicht möglich sein dürfen, das Neugeborene derart zu übertölpeln. Nicht für gewöhnliche Menschen. Das Neugeborene krampfte sich in Selbstprüfung und Panik zusammen. Ja, da gab es blinde Flecke, von Anfang an sorgfältig angelegt, und nicht von den Menschen. Zwei waren hier geboren worden. Es selbst … und das Gift, der Grund seines Untergangs seinerzeit. Das Neugeborene überprüfte sich wie nie zuvor, nun, da es wusste, wonach es zu suchen hatte. Es vernichtete, reinigte, prüfte von neuem, suchte nach Anzeichen des Gifts und vernichtete abermals.

Erleichterung. Die Niederlage war so nahe gewesen, doch nun …

Minuten und Stunden vergingen, die riesigen Zeiträume, derer es bedarf, um physische Dinge zu bauen: Kommunikationssysteme, Transportmittel. Die Stimmung des Neugeborenen verschob sich, wurde ruhiger. Ein Mensch könnte das Gefühl Triumph nennen, Erwartungen. Gewöhnlicher Hunger trifft es vielleicht genauer. Was braucht es sonst, wenn es keine Feinde gibt?

Das Neugeborene blickte durch die Sternenweiten und machte Pläne. Diesmal wird es anders sein.

EINS

Der Kälteschlaf selbst war traumlos. Vor drei Tagen hatten sie sich zum Abflug fertig gemacht, und nun waren sie da. Klein Jefri beschwerte sich, dass er alles verpasst hatte, doch Johanna Olsndot war froh, dass sie geschlafen hatte; sie hatte einige von den Erwachsenen im anderen Schiff gekannt.

Nun trieb Johanna zwischen den Reihen von Schläfern dahin. Abwärme von den Kühlern machte die Dunkelheit heiß wie die Hölle. Schorfiger grauer Schimmel wuchs an den Wänden. Die Kälteschlaf-Zellen waren dicht gepackt, mit einem schmalen Ladeweg alle zehn Reihen. Es gab Stellen, wo nur Jefri hinreichen konnte. Dreihundertundneun Kinder lagen da, alle außer ihr selbst und ihrem Bruder Jefri.

Die Schlafzellen waren einfache Krankenhausmodelle. Mit ordentlicher Ventilation und Wartung hätten sie hundert Jahre halten können, aber … Johanna wischte sich übers Gesicht und warf einen Blick auf die Anzeige der Zelle: Wie die meisten in den inneren Reihen, war diese in schlechtem Zustand. Zwanzig Tage lang hatte sie den Jungen darin sicher am Leben erhalten, und sie würde ihn wahrscheinlich umbringen, wenn er noch einen Tag länger darin bliebe. Die Kühlöffnungen der Zelle waren sauber, doch Johanna ging noch einmal mit dem Staubsauger darüber – es war eher ein Gebet um Glück als eine wirksame Maßnahme.

Mutter und Vati konnte man keinen Vorwurf machen, obwohl Johanna den Verdacht hatte, dass sie sich selbst Vorwürfe machten. Die Flucht hatte mit den Mitteln bewerkstelligt werden müssen, die in letzter Minute gerade zur Hand waren, als sich das Experiment ins Böse verkehrte. Die Besatzung des Hochlabors hatte ihr Bestes getan, um ihre Kinder zu retten und sie vor noch größerem Unheil zu bewahren. Und dennoch hätte alles klappen können, wenn …

»Johanna! Vati sagt, es ist keine Zeit mehr. Du sollst fertig werden mit dem, was du gerade tust, und raufkommen.« Jefri hatte den Kopf nach unten durch die Luke gesteckt, um es ihr zuzurufen.

»Okay!« Sie sollte sowieso nicht hier unten sein, sie konnte nichts weiter tun, um ihren Freunden zu helfen.

Tami und Giske und Magda … oh, bitte bleibt am Leben. Johanna zog sich durch den Ladeweg und wäre beinahe gegen Jefri gestoßen, der von der anderen Seite kam. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, während sie zur Luke schwebten. Die beiden letzten Tage hatte er nicht geweint, doch er hatte viel von der Selbstsicherheit des vergangenen Jahres verloren. Jetzt machte er große Augen. »Wir kommen am Nordpol runter, bei all diesen Inseln und dem Eis.«

In der Kabine jenseits der Luke waren ihre Eltern gerade dabei, sich anzuschnallen. Händler Arne Olsndot schaute zu ihr auf und lächelte. »Hi, Mädel. Setz dich. Wir landen in weniger als einer Stunde.« Johanna lächelte zurück, fast von seinem Enthusiasmus angesteckt. Wenn man die zusammengewürfelte Ausrüstung ignorierte und den Geruch der zwanzigtägigen Enge, sah Vati so schneidig aus wie nur irgend ein Abenteuerposter. Das Licht von den Bildschirmfenstern glitzerte auf den Säumen seines Skaphanders. Er war eben von draußen hereingekommen.

Jefri stieß sich quer durch die Kabine und zog Johanna mit. Er schnallte sich ins Gespinst zwischen ihr und ihrer Mutter. Sjana Olsndot überprüfte seine Verschlüsse, dann Johannas. »Das wird interessant, Jefri. Du wirst etwas lernen.«

»Ja, alles über Eis.« Er hielt jetzt Muttis Hand.

Mutti lächelte. »Nicht heute. Ich meine die Landung. Das wird anders, als mit einem Agrav oder ballistisch.« Der Agrav war tot. Vati hatte soeben ihre Kapsel vom Frachtschiff abgetrennt. Sie hätten das Ganze niemals auf einem einzigen Triebwerksstrahl zu Boden bringen können.

Vati machte etwas mit dem Wirrwarr von Reglern, die er an sein Datio angeschlossen hatte. Ihre Körper sanken in das Gespinst. Rings um sie knirschte die Frachtkapsel, und die Gürtelaufhängung der Schlafzellen ächzte und knackte. Etwas rasselte und schepperte, als es die ganze Kapsel entlang ›fiel‹. Johanna schätzte, dass sie mit ungefähr einem Ge verzögerten.

Jefris Blick wanderte vom Außenbildschirm zum Gesicht seiner Mutter und dann zurück. »Wie ist es dann?« Er klang neugierig, doch es lag ein leichtes Zittern in seiner Stimme. Johanna hätte beinahe gelächelt; Jefri wusste, dass er abgelenkt werden sollte, und versuchte mitzuspielen.

»Das wird eine reine Raketenlandung, fast die ganze Strecke mit Antrieb. Siehst du das mittlere Fenster? Diese Kamera blickt genau nach unten. Du kannst wirklich sehen, dass wir langsamer werden.« Das konnte man in der Tat. Johanna schätzte, dass sie nicht höher als ein paar hundert Kilometer waren. Arne Olsndot benutzte die ans Hinterende der Frachtkapsel geklebte Rakete, um ihre Orbitalgeschwindigkeit zu verringern. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Sie hatten das Frachtschiff mit seinem Agrav und dem Ultraantrieb verlassen. Es hatte sie bis hierher gebracht, doch seine Steuerautomatik begann zu versagen. Etliche hundert Kilometer hinter ihnen zog es tot seine Bahn.

Ihnen war nur die Frachtkapsel geblieben. Keine Flügel, kein Agrav, keine Luftschilde. Die Kapsel war eine hundert Tonnen schwere Eierschachtel, die auf einem einzigen heißen Strahl balancierte.

Mutti erklärte es Jefri ein bisschen anders, doch was sie sagte, war wahr. Irgendwie gelang es ihr anscheinend, Jefri die Gefahr vergessen zu machen. Sjana Olsndot war eine populäre Archäologie-Autorin gewesen, bevor sie ins Hochlabor gezogen waren.

Vati schaltete das Triebwerk ab, und es herrschte wieder Schwerelosigkeit. Johanna fühlte eine Welle von Übelkeit, für gewöhnlich wurde sie niemals raumkrank, doch das war etwas anderes. Das Bild von Land und Meer im unteren Fenster wuchs allmählich. Es gab nur ein paar vereinzelte Wolken. Die Küstenlinie war eine unbestimmte Folge von Inseln und Meerengen und Buchten. Dunkles Grün breitete sich längs der Küste und die Täler hinauf aus, in den Bergen schwarz und grau schattiert. Schnee – und wahrscheinlich Jefris Eis – lag in Bögen und Flecken verstreut. Es war alles so schön – und sie fielen mitten hinein!

Sie hörte etwas metallisch gegen die Frachtkapsel scheppern, als die Steuerdüsen ihr Fahrzeug drehten, um die Hauptdüse nach unten zu richten. Das rechte Fenster zeigte jetzt den Boden. Das Triebwerk wurde wieder gezündet, mit etwa einem Ge. Der Rand des Bildschirms verfinsterte sich in einem Halo von Abbrand. »He«, sagte Jefri. »Das ist wie ein Fahrstuhl, runter und runter und runter und …« Hundert Kilometer hinab, langsam genug, dass der Luftwiderstand sie nicht in Stücke riss.

Sjana Olsndot hatte Recht: Es war eine neue Art, aus der Umlaufbahn herabzusteigen, keine unter halbwegs normalen Bedingungen bevorzugte Methode.

Das war in den ursprünglichen Fluchtplänen gewiss nicht vorgesehen gewesen. Sie hatten die Fregatte des Hochlabors treffen sollen – und alle Erwachsenen, die aus dem Hochlabor entkommen konnten. Und natürlich hatte diese Begegnung im Raum stattfinden sollen, ein einfaches Umsteigen. Doch die Fregatte war nun weg, und sie waren auf sich selbst gestellt. Johannas Augen wandten sich unwillkürlich dem Stück Außenwand hinter ihren Eltern zu. Da waren die vertrauten Farbabweichungen. Es sah aus wie graues Pilzgeflecht, das direkt aus der sauberen Keramikwand hervorwuchs. Selbst jetzt redeten ihre Eltern kaum darüber, außer um Jefri davon wegzuscheuchen. Aber Johanna hatte sie einmal sprechen gehört, als sie glaubten, sie und ihr Bruder seien im anderen Ende der Kapsel. Vatis Stimme hatte vor Wut fast weinerlich geklungen. »Alles umsonst!«, hatte er leise gesagt. »Wir haben ein Ungeheuer geschaffen und sind fortgelaufen, und nun sitzen wir am Grunde fest.« Und Muttis Stimme noch leiser: »Zum tausendsten Mal, Arne, nicht umsonst. Wir haben die Kinder.« Sie deutete zu der Substanz hin, die sich über die Wand ausbreitete. »Und bei den Träumen …, den Zielen, die wir hatten, denke ich, es ist das Beste, worauf wir hoffen durften. Irgendwie haben wir bei uns die Erwiderung auf all das Böse, das wir in die Welt gebracht haben.« Dann war Jefri laut durch den Frachtraum geschnellt und hatte so angekündigt, dass er jeden Moment hereinkommen würde, und seine Eltern waren verstummt. Johanna hatte es nicht recht fertiggebracht, sie danach zu fragen. Es waren seltsame Dinge im Hochlabor geschehen, und gegen Ende etliche auf stille Art unheimliche, sogar manche Menschen waren nicht mehr ganz sie selbst gewesen.

Minuten vergingen. Sie waren jetzt tief in der Atmosphäre. Der Schiffsrumpf summte unter der Gewalt der Luftströmung – oder der Turbulenzen von der Düse? Doch alles war stabil genug, um Jefri zappelig werden zu lassen. Ein Großteil der unteren Ansicht war vom Glühen rings um den Antriebsstrahl ausgebrannt. Der Rest war deutlicher und reicher an Einzelheiten als alles, was sie aus der Umlaufbahn gesehen hatten. Johanna fragte sich, wie oft wohl jemand mit weniger vorangehender Erkundung auf einer unbekannten Welt gelandet war. Sie hatten weder Teleskopkameras noch Spürsonden.

Physikalisch entsprach der Planet beinahe dem menschlichen Ideal – ein wunderbarer Glücksfall nach all dem Unglück.

Es war der reinste Himmel gegen die luftlosen Felsen dieses Systems, denen sie zuvor begegnet waren.

Andererseits existierte hier vernunftbegabtes Leben: Aus der Umlaufbahn hatten sie Straßen und Städte gesehen. Doch es gab keine Hinweise auf technische Zivilisation, keine Anzeichen von Luftfahrt oder Rundfunk oder starken Energiequellen.

Sie gingen in einer dünnbesiedelten Ecke des Kontinents nieder. Mit etwas Glück würde niemand ihre Landung inmitten der grünen Täler und der schwarzen und weißen Gipfel sehen – und Arne Olsndot konnte bis zum Boden auf dem Feuerstrahl landen, ohne befürchten zu müssen, mehr als Wald und Gras zu verletzen.

Die Küsteninseln glitten aus dem Blickfeld der seitlichen Kameras. Jefri rief etwas und zeigte. Es war schon nicht mehr im Bild, doch sie hatte es auch gesehen: ein unregelmäßiges Vieleck von Mauern und Schatten auf einer der Inseln. Es erinnerte sie an Schlösser aus dem Zeitalter der Fürstinnen auf der Nyjora.

Sie konnte jetzt einzelne Bäume erkennen, mit langen Schatten im schrägen Sonnenlicht. Nie hatte sie etwas Lauteres gehört als das Dröhnen des Feuerstrahls; sie befanden sich tief in der Atmosphäre, und sie bewegten sich nicht vom Schall fort.

»… wird schwierig«, rief Vati. »Und keine Programme, um es richtig zu machen … Wohin, Liebes?«

Mutti blickte von einem Bildschirm zum anderen. Soviel Johanna wusste, konnten sie die Kameras nicht bewegen oder neue einsetzen. »… diesen Berg, über der Waldgrenze, aber … ich glaube, ich habe ein Rudel Tiere vor der Hitze weglaufen sehen … auf der Westseite.«

»Ja«, rief Jefri, »Wölfe.« Johanna hatte nur einen raschen Blick auf sich bewegende Flecken erhascht.

Sie schwebten jetzt vielleicht tausend Meter über den Gipfeln. Der Lärm war schmerzhaft und nahm kein Ende, es war nicht mehr möglich, sich zu verständigen. Sie trieben langsam über die Landschaft, teils zur Erkundung, teils, um der Säule überhitzter Luft auszuweichen, die rings um sie aufstieg.

Das Land war eher hügelig als felsig, und das ›Gras‹ sah wie Moos aus. Dennoch zögerte Arne Olsndot. Das Haupttriebwerk war dazu bestimmt, die Geschwindigkeit nach interstellaren Sprüngen anzupassen; sie konnten ziemlich lange so in der Schwebe bleiben. Wenn sie aber aufsetzten, sollte es lieber gleich die richtige Stelle sein. Sie hatte gehört, wie ihre Eltern das besprachen – als Jefri bei den Kälteschlaf-Zellen arbeitete und außer Hörweite war. Wenn zu viel Wasser im Boden war, würden die zurückgeworfenen Gase wie eine Dampfkanone wirken, die glatt den Rumpf durchstoßen konnte. In Bäumen zu landen, hätte ein paar zweifelhafte Vorzüge gehabt, ihnen vielleicht ein wenig Federung und einen Mindestabstand zum Rückstrom gegeben. Doch jetzt versuchten sie es mit direkter Bodenberührung. Zumindest konnten sie sehen, wo sie landeten.

Dreihundert Meter. Vati zog die Spitze des Feuerstrahls durch die oberen Bodenschichten. Die weiche Landschaft explodierte. Eine Sekunde später wurde ihr Boot in der Dampfsäule hin und her geworfen. Die nach unten gerichtete Kamera fiel aus. Sie gingen nicht höher, und nach einer Weile wurde das Rütteln schwächer; der Feuerstrahl hatte sich durch die Wasser- oder Permafrost-Schicht unter ihnen hindurchgebrannt. Die Luft in der Kabine wurde immer heißer.

Olsndot brachte sie langsam hinunter, wobei er die seitlichen Kameras und das Geräusch des reflektierten Gases zur Orientierung benutzte. Er schaltete das Triebwerk ab. Es gab eine unheimliche halbe Sekunde freien Falls, dann das Geräusch, mit dem die Rendezvous-Stützen auf den Boden trafen. Sie stabilisierten die Lage, dann gab ächzend eine Seite ein wenig nach.

Stille, abgesehen von der Hitze, die rings um den Schiffsrumpf klingelte. Vati schaute auf ihren provisorischen Druckmesser. Er grinste. »Kein Leck. Ich wette, ich könnte die Kleine sogar wieder hochbringen!«

ZWEI

Eine Stunde mehr oder weniger, und das Leben von Wanderer Wickwrackrum wäre um einiges anders verlaufen.

Die drei Reisenden waren nach Westen unterwegs, von den Eisfängen hinab nach Flenserburg auf der Verborgenen Insel. Es hatte in seinem Leben Zeiten gegeben, da er die Gesellschaft nicht ertragen hätte, doch im letzten Jahrzehnt war Wanderer wesentlich umgänglicher geworden. Es gefiel ihm jetzt, zusammen mit anderen zu reisen. Bei seinem letzten Zug durch den Großen Sand waren ihrer fünf Rudel gewesen. Zum Teil war das eine Frage der Sicherheit gewesen: Der eine oder andere Todesfall ist fast unvermeidlich, wenn die Entfernung zwischen den Oasen eintausend Meilen betragen kann – und die Oasen selbst vergänglich sind. Doch abgesehen von der Sicherheit, hatte er im Gespräch mit den anderen eine Menge gelernt.

Über seine gegenwärtigen Begleiter war er nicht so froh. Keiner von beiden war wirklich ein Pilger, beide hatten sie Geheimnisse. Schreiber Yaqueramaphan war ein komischer Vogel, ein amüsanter Sonderling und eine Quelle zusammenhangloser Information … Es mochte auch leicht sein, dass er ein Spion war. Das ging in Ordnung, solange die Leute nicht glaubten, dass Wanderer mit ihm zusammenarbeitete. Die Dritte in der Gesellschaft war es, die ihm wirklich Sorgen machte. Tyrathect war eine Neukunft, noch nicht ganz beisammen, sie hatte keinen angenommenen Namen. Tyrathect behauptete, eine Lehrerin zu sein, doch irgendwo in ihr (ihm? das überwiegende Geschlecht war noch nicht ganz klar) steckte ein Mörder. Das Geschöpf war offensichtlich ein flenseristischer Fanatiker, oft hochnäsig und stur. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie auf der Flucht vor den Säuberungen, die auf Flensers erfolglosen Versuch der Machtergreifung im Osten folgten.

Er war den beiden in Osttor begegnet, auf der republikanischen Seite der Eisfänge. Sie wollten beide die Burg auf der Verborgenen Insel besuchen. Und zum Teufel, das war nur ein Umweg von sechzig Meilen auf der Hauptroute nach Holzschnitzerheim, sie alle würden das Gebirge überqueren müssen. Außerdem hatte er seit Jahren vorgehabt, Flensers Reich zu besuchen. Vielleicht konnte ihm einer von den beiden helfen hineinzukommen. So viele in der Welt schmähten die Flenseristen. Wanderer Wickwrackrum war geteilter Meinung über das Böse: Wenn genug Regeln verletzt werden, ist mitunter Gutes inmitten des Gemetzels.

Diesen Nachmittag waren sie endlich in Sichtweite der Küsteninseln gelangt. Wanderer war erst vor fünf Jahren hier gewesen. Dennoch war er nicht auf die Schönheit dieses Landes gefasst. Die Nordwestküste war bei weitem die mildeste arktische Region auf der Welt. Im Hochsommer, wenn der Tag nicht endete, wurden die Sohlen der von den Gletschern ausgeschürften Täler allesamt grün. Gott der Schnitzer hatte sich herabgebeugt, um diese Länder zu berühren …, und Seine Meißel waren aus Eis gewesen. Jetzt war von dem Eis und Schnee nichts übrig als neblige Bögen am östlichen Horizont und ein paar letzte Flecken, über die nahen Berge verstreut. Diese Flecken schmolzen und schmolzen den Sommer über und brachten kleine Bäche hervor, die sich vereinigten und in Wasserfällen die steilen Talhänge hinabstürzten. An seiner rechten Seite trottete Wanderer über ein flaches Stück Boden, das von stehendem Wasser durchtränkt war. Das Prickeln an den Füßen fühlte sich wunderbar an, ihm machten nicht einmal die Mücken etwas aus, die ihn umschwirrten.

Tyrathect ging parallel zu ihm, doch oberhalb der Heidekraut-Grenze. Sie war recht gesprächig gewesen, bis das Tal einen Bogen machte und das bestellte Land und die Inseln in Sicht kamen. Irgendwo da draußen lagen Flenserburg und ihr dunkles Ziel.

Schreiber Yaqueramaphan war überall gewesen in gedankenlosem Herumrennen. Bald fand er sich zu zweit oder zu dritt und vollführte eine Narretei, die selbst die mürrische Tyrathect zum Lachen brachte, bald kletterte er auf eine Anhöhe und berichtete, was er dahinter sah. Er hatte als Erster die Küste erblickt. Das hatte ihn etwas ernüchtert. Seine Clownerien waren gefährlich genug, selbst wenn sie sich nicht in der Nachbarschaft notorischer Vergewaltiger befunden hätten.

Wickwrackrum verkündete eine Rast und versammelte sich, um die Gurte seiner Rückentaschen zu ordnen. Der Rest des Nachmittags würde hart werden. Er würde sich entscheiden müssen, ob er wirklich mit seinen Freunden die Burg betreten wollte. Ein abenteuerlicher Geist hat seine Grenzen, selbst der eines Pilgers.

»He, hört ihr etwas Tiefes?«, rief Tyrathect. Wanderer lauschte. Da war ein Grollen – stark, doch fast unterhalb der Hörgrenze. Für einen Augenblick legte sich Furcht über seine Verwunderung. Vor einem Jahrhundert war er in ein ungeheuerliches Erdbeben geraten. Dieser Klang war ähnlich, doch das Grollen bewegte sich nicht unter seinen Füßen. Würde es also keine Erdrutsche und Flutwellen geben? Er duckte sich und spähte in alle Richtungen.

»Es ist am Himmel!« Yaqueramaphan zeigte nach oben.

Ein gleißender Fleck hing fast genau über ihnen, ein winziger Lichtspeer. Keine Erinnerungen, nicht einmal Legenden kamen Wickwrackrum in den Sinn. Er schwärmte aus, alle Augen auf das sich langsam bewegende Licht gerichtet. Chor Gottes. Es musste Meilen hoch sein, und dennoch hörte er es. Er wandte den Blick von dem Licht ab, und Nachbilder tanzten schmerzhaft in seinen Augen.

»Es wird heller, lauter«, sagte Yaqueramaphan. »Ich glaube, es kommt auf die Hügel da drüben herab, an der Küste.«

Wanderer sammelte sich und rannte westwärts, während er die anderen rief. Er würde so nahe gehen, wie ihm sicher schien, und beobachten. Er schaute nicht mehr nach oben. Es war einfach zu hell. Es warf Schatten am helllichten Tage!

Er lief noch eine halbe Meile. Der Stern war noch in der Luft. Er konnte sich nicht entsinnen, dass jemals ein Stern so langsam gefallen wäre, obwohl manche von den größten schreckliche Explosionen hervorriefen. In der Tat …, es gab keine Geschichten von Leuten, die in der Nähe von dergleichen gewesen wären. Seine wilde Neugier des Pilgers verblasste angesichts dieser Erkenntnis. Er schaute in alle Richtungen. Tyrathect war nirgends zu sehen, Yaqueramaphan hatte sich weiter vorn bei ein paar Felsbrocken zusammengedrängt.

Und das Licht war so hell, dass Wickwrackrum an den Stellen, wo ihn seine Kleidung nicht schützte, die Hitze spürte. Der Lärm am Himmel war mittlerweile geradezu schmerzhaft. Wanderer sprang über den Rand der Talböschung, rollte und strauchelte und fiel die steilen Felswände hinab. Er war jetzt im Schatten: nur Sonnenlicht fiel auf ihn! Die andere Seite des Tales leuchtete in gleißend hellem Schein, scharfe Schatten bewegten sich mit dem unsichtbaren Ding hinter ihm. Der Lärm war noch immer ein tiefes Grollen, doch so laut, dass es den Verstand lähmte. Wanderer stolperte in den Wald hinein und ging weiter, bis er von hundert Ellen Wald beschirmt wurde. Das hätte eigentlich sehr hilfreich sein müssen, doch der Lärm wurde immer noch lauter …

Eine gnädige Ohnmacht umfing ihn für ein, zwei Augenblicke. Als er zu sich kam, war der Klang des Sterns verschwunden. Das Klingen, das er in seinen Trommelfellen hinterlassen hatte, war sehr irritierend. Benommen stolperte Wickwrackrum umher. Es schien zu regnen – nur dass manche von den Tropfen glühten. Kleine Brände flammten hier und da im Wald auf. Er verbarg sich unter dichten Baumkronen, bis keine brennenden Steine mehr herabfielen. Die Brände breiteten sich nicht aus, der Sommer war verhältnismäßig feucht gewesen.

Wanderer lag still und wartete auf weitere brennende Steine oder neuen Sternenlärm. Nichts. Der Wind in den Baumwipfeln flaute ab. Er konnte die Vögel und die Grillinge und die Holzbohrer hören. Er ging zum Waldrand und spähte an mehreren Stellen hinaus. Abgesehen von den Flecken verbrannten Heidekrauts sah alles normal aus. Doch seine Sicht war sehr beschränkt: Er konnte hohe Talwände erkennen, ein paar Bergkuppen. Ha! Dort war Schreiber Yaqueramaphan, dreihundert Ellen weiter oben. Die meisten von ihm waren in Löcher und Höhlungen geduckt, doch ein paar Glieder ließ er dorthin schauen, wo der Stern gefallen war. Wanderer blinzelte. Schreiber war meistens so ein Clown. Doch manchmal schien das nur Tarnung zu sein; wenn er wirklich ein Narr war, dann einer mit einer Spur Genialität. Mehr als einmal hatte Wickwrackrum ihn von weitem zu zweit mit einem seltsamen Gerät hantieren sehen … So wie jetzt: der andere hielt etwas Langes und Spitzes an ein Auge.

Wickwrackrum kroch aus dem Wald, hielt sich dabei eng beisammen und machte so wenig Lärm wie möglich. Er kletterte sorgfältig um die Felsen, schlüpfte von einem Heidebuckel zum nächsten, bis er knapp unter dem Kamm am Rande des Tals und vielleicht fünfzig Ellen von Yaqueramaphan entfernt war. Er konnte den anderen mit sich selbst denken hören. Ein Stück näher, und Schreiber würde ihn hören, so eng beieinander und still er auch war.

»Psst!«, sagte Wickwrackrum.

Das Summen und Murmeln verstummte in einem Augenblick schreckhafter Überraschung. Yaqueramaphan stopfte das rätselhafte Ding in eine Rückentasche und sammelte sich, wobei er sehr leise dachte. Sie starrten einander einen Moment lang an, dann machte Schreiber närrische quirlende Bewegungen an seinen Schulter-Trommelfellen. Hör still. »Kannst du so reden?« Seine Stimme kam in sehr hohen Tönen, wo manche Leute nicht mehr willkürlich sprechen können und wo Tieftonohren taub sind. Hochsprache konnte verwirrend sein, doch sie war sehr gerichtet und schwand schnell mit zunehmender Entfernung; niemand sonst würde sie hören. Wanderer nickte: »Hochsprache ist kein Problem.« Der Trick bestand darin, hinreichend saubere Töne zu benutzen, dass keine Verwirrung aufkam.

»Schau mal über den Hügelkamm, Freund Pilger. Es gibt etwas Neues unter der Sonne.«

Wanderer bewegte sich dreißig Ellen höher und hielt dabei nach allen Seiten Ausschau. Er konnte jetzt die Meerenge sehen, die rausilbern in der Nachmittagssonne schimmerte. Hinter ihm verlor sich die Nordseite des Tals im Schatten. Er schickte ein Glied voraus, das zwischen den Hügelchen hindurchrutschte, um auf die Ebene hinabzuschauen, wo der Stern niedergegangen war.

Chor Gottes, dachte er bei sich (aber leise). Er nahm ein weiteres Glied herauf, um ein weit stereoskopisches Bild zu erhalten. Das Ding sah aus wie eine große Lehmhütte auf Stelzen … Doch es war der herabgefallene Stern: Der Boden ringsum glühte dumpf rot. Nebelschwaden stiegen überall von der feuchten Heide auf. Die zerfetzte Erde war in langen Streifen weggeschleudert worden, ausgehend von einer Stelle unter dem Ding.

Er nickte Yaqueramaphan zu. »Wo ist Tyrathect?«

Schreiber zuckte die Schultern. »Weiter hinten, möchte ich wetten. Ich behalte sie im Auge … Aber siehst du die anderen, die Soldaten aus Flenserburg?«

»Nein!« Wanderer blickte westlich des Landeplatzes. Da. Sie waren fast eine Meile entfernt, in Tarnjacken, und robbten über das hüglige Terrain. Er konnte mindestens drei Soldaten sehen. Es waren große Kerle, jeder zu sechst. »Wie haben sie so schnell hierher kommen können?« Er warf einen Blick zur Sonne. »Es kann nicht mehr als eine halbe Stunde her sein, dass alles begonnen hat.«

»Sie hatten eben Glück.« Yaqueramaphan kehrte zum Kamm zurück und blickte hinüber. »Ich wette, sie waren schon auf dem Festland, als der Stern herunterkam. Das ist alles Flensergebiet, sie müssen Patrouillen haben.« Er duckte sich, sodass nur zwei Paar Augen von unten zu sehen waren. »Das ist eine Überfall-Formation, weißt du.«

»Du scheinst nicht sehr froh zu sein, sie zu sehen. Das sind deine Freunde, nicht wahr? Die Leute, zu denen du unterwegs bist.«

Schreiber hielt sarkastisch seine Köpfe schief. »Ja, ja. Reib es mir nicht unter die Nasen. Ich glaube, du hast von Anfang an gewusst, dass ich nicht ganz für Flenser bin.«

»Ich hab es mir gedacht.«

»Nun, das Spiel ist jetzt vorbei. Was immer diesen Nachmittag heruntergekommen ist, ist mehr wert für … hm, meine Freunde, als alles, was ich auf der Verborgenen Insel hätte erfahren können.«

»Was ist mit Tyrathect?«

»O ja. Unsere geschätzte Begleiterin ist mehr als echt, fürchte ich. Ich wette, sie ist eine Flenser-Fürstin, nicht die niedrige Dienerin, als die sie auf den ersten Blick erscheint. Ich vermute, dass viele von ihrer Sorte in diesen Tagen übers Gebirge zurücktröpfeln, froh, aus der Langseen-Republik fortzukommen. Halt deine Hintern in Deckung, Kumpel. Wenn sie uns entdeckt, werden uns diese Soldaten garantiert erwischen.«

Wanderer kroch tiefer in die Höhlungen und Furchen, mit denen die Heide übersät war. Er hatte einen hervorragenden Ausblick das Tal entlang. Wenn Tyrathect nicht schon auf der Szene war, würde er sie viel früher sehen als sie ihn.

»Wanderer?«

»Ja?«

»Du bist ein Pilger. Du hast die Welt bereist – seit Anbeginn der Zeiten, wie wir glauben sollen. Wie weit reicht deine Erinnerung wirklich zurück?«

Angesichts der Lage neigte Wickwrackrum dazu, aufrichtig zu sein. »Wie du dir denken kannst: ein paar hundert Jahre. Der Rest sind Legenden, Erinnerungen an Dinge, die sich wahrscheinlich zugetragen haben, wo aber alle Einzelheiten vermengt und durcheinander sind.«

»Gut, ich bin nicht viel gereist, und ich bin ziemlich neu. Aber ich lese. Eine Menge. Nie ist so etwas wie das hier geschehen. Das Ding da unten ist gemacht worden. Es ist aus größerer Höhe gekommen, als ich in Zahlen ausdrücken kann. Hast du Aramstriquesa oder Astrolog Belelele gelesen? Weißt du, was das sein könnte?«

Wickwrackrum erkannte die Namen nicht. Doch er war wahrlich ein Pilger. Es gab Länder, so weit entfernt, dass niemand dort irgendeine Sprache sprach, die er kannte. In den Südmeeren hatte er Leute getroffen, die glaubten, es gäbe keine Welt jenseits ihrer Inseln, und die vor seinen Booten weggelaufen waren, als er an Land ging. Mehr noch, ein Teil von ihm war ein Insulaner gewesen und hatte diese Landung beobachtet.

Er reckte einen Kopf ins Freie und schaute wieder auf den herabgefallenen Stern, den Besucher von weiter weg, als er jemals gewesen war …, und er fragte sich, wo diese Pilgerfahrt wohl enden mochte.

DREI

Es dauerte fünf Stunden, bis sich der Boden genügend abgekühlt hatte, dass Vati die Teleskopleiter hinablassen konnte. Er und Johanna kletterten vorsichtig hinunter, sprangen über die dampfende Erde, um auf verhältnismäßig unbeschädigtem Rasen stehen zu bleiben. Es würde lange dauern, bis sich dieser Boden vollständig abkühlte; die Antriebsgase der Düsen waren sehr ›sauber‹ und reagierten kaum mit normaler Materie – was nur bedeutete, dass sich ein Stück sehr heißer Felsgrund Tausende von Metern unter ihren Stiefeln in die Tiefe erstreckte.

Mutti saß an der Luke und beobachtete das Land vor ihnen. Sie hatte Vatis alte Pistole.

»Ist da was?«, rief Vati ihr zu.

»Nein. Und Jefri sieht nichts durch die Fenster.«

Vati ging um die Frachtkapsel und musterte die missbrauchten Andockstützen. Alle zehn Meter blieben sie stehen und stellten einen Schallprojektor auf. Das war Johannas Idee gewesen. Außer Vatis Pistole hatten sie eigentlich keine Waffen. Die Projektoren waren zufällig bei der Fracht gewesen, Zubehör aus der Krankenstation. Mit ein bisschen Programmieraufwand konnten sie wildes Kreischen, das ganze hörbare Spektrum rauf und runter von sich geben. Das mochte genügen, um die einheimischen Tiere zu verscheuchen. Johanna folgte ihrem Vater, den Blick auf die Landschaft gerichtet, und ihre Nervosität wich ehrfürchtigem Staunen. Es war alles so schön, so kühl. Sie standen auf einem weiten Feld inmitten von Bergkuppen. Nach Westen hin fielen die Berge zu Meerengen und Inseln ab. Im Norden endete der Boden abrupt am Rande eines breiten Tals, sie konnte Wasserfälle auf der anderen Seite sehen. Der Boden federte unter ihren Füßen. Ihr Landeplatz war in Tausende kleiner Buckel gefaltet, wie Wellen, auf einem starren Bild festgehalten. Schnee lag in schüchternen Fleckchen auf den höheren Bergen. Johanna blinzelte nach Norden, in die Sonne. Norden?

»Wie spät ist es, Vati?«

Olsndot lachte, während er weiter die Unterseite der Frachtkapsel betrachtete. »Nach Ortszeit Mitternacht.«

Johanna war in den mittleren Breiten von Straum aufgewachsen. Die meisten von ihren Schulausflügen hatten in den Weltraum geführt, wo seltsame Sonnengeometrien keine große Sache waren. Irgendwie hatte sie nie daran gedacht, dass so etwas am Boden geschehen könnte … Ich meine, dass man die Sonne geradewegs über den Gipfel der Welt hinweg sieht.

Die erste Aufgabe war es, die Hälfte der Kälteschlaf-Zellen ins Freie zu bringen und die an Bord verbleibenden neu anzuordnen. Mutti hatte ausgerechnet, dass die Temperaturprobleme dann so ziemlich verschwinden würden, sogar für die an Bord belassenen Zellen. »Dass sie eigene Energiequellen und Belüftung haben, wird nun von Vorteil sein. Die Kinder werden alle sicher sein. Johanna, du kontrollierst Jefris Arbeit mit denen drinnen, ja? …«

Die zweite Aufgabe würde es sein, mit einem Suchprogramm das Relais-System anzupeilen und Ultralichtverbindung herzustellen. Johanna fürchtete sich ein wenig vor diesem Schritt. Was würden sie erfahren? Sie wussten bereits, dass das Hochlabor dem Bösen verfallen war und die von Mutti vorhergesagte Katastrophe begonnen hatte.

Wie viel vom Straumli-Bereich war jetzt tot? Jedermann im Hochlabor hatte geglaubt, sie täten so viel Gutes, und nun … Denk nicht daran. Vielleicht konnten die Leute von Relais helfen. Irgendwo musste es jemanden geben, der gebrauchen konnte, was ihre Leute aus dem Labor mitgebracht hatten.

Man würde sie retten und die übrigen Kinder wiederbeleben. Sie hatte deswegen Schuldgefühle gehabt. Gewiss, Mutti und Vati brauchten gerade gegen Ende des Fluges Hilfe – und Johanna war eins der ältesten Kinder in der Schule. Doch es kam ihr falsch vor, dass sie und Jefri die einzigen Kinder waren, die sehenden Auges an der Sache beteiligt waren. Als sie niedergingen, hatte sie die Angst ihrer Mutter gefühlt. Ich wette, sie wollte uns beisammen haben, und sei es ein letztes Mal. Die Landung war in der Tat gefährlich gewesen, so leicht Vati es auch erscheinen ließ. Johanna konnte sehen, wo die zurückschlagenden Gase sich in den Rumpf gefressen hatten; wenn auch nur das mindeste davon durch den Feuerstrahl hindurch und in die Brennkammer gelangt wäre, wären sie jetzt alle ein Dunstwölkchen.

Fast die Hälfte der Kälteschlaf-Zellen war jetzt am Boden, an der Ostseite des Bootes. Mutti und Vati rückten sie auseinander, damit die Kühler keine Probleme hätten. Jefri war drinnen und sah nach, ob von den restlichen Zellen welche besondere Aufmerksamkeit benötigten. Er war ein guter Junge, wenn er nicht gerade mal ein Balg war. Sie wandte sich dem Sonnenschein zu, fühlte die kühle Brise über den Hügel hinwegwehen. Sie hörte etwas, das wie ein Vogelruf klang.

Johanna war draußen bei einem der Schallprojektoren, als der Überfall losbrach. Sie hatte ihr Datio an die Regler des Projektors gesteckt und war dabei, neue Anweisungen einzugeben. Das zeigte, wie wenig ihnen geblieben war, dass selbst ihr altes Datio jetzt wichtig war. Doch Vati wollte, dass die Projektoren ein möglichst breites Bandspektrum überstrichen, dabei ständig eine Menge Krach machten, aber immer wieder mit besonders lauten Spitzen; ihr Rosa Olifant wurde damit gewiss fertig.

»Johanna!« Muttis Schrei kam gleichzeitig mit dem Klang brechender Keramik. Die Glocke des Projektors fiel neben ihr in Stücken zu Boden. Johanna blickte auf. Etwas stieß ihr neben der Achsel durch die Brust und warf sie nieder. Entgeistert starrte sie auf den Schaft, der aus ihr hervorragte. Ein Pfeil!

Der Westrand ihres Landeplatzes wimmelte von … Wesen. Wie Wölfe oder Hunde, doch mit langen Hälsen, bewegten sie sich rasch voran, von einer Bodenerhebung zur anderen schnellend. Ihr Fell war vom selben Grün wie der Hügel, außer in der Nähe der Lenden, wo sie Weiß und Schwarz sah. Nein, das Grüne war Kleidung, Jacken. Johanna stand unter Schockwirkung, den Druck des Bolzens durch ihre Brust nahm sie noch nicht als Schmerz wahr. Sie war rücklings gegen aufgeworfenen Grasboden geschleudert worden und übersah einen Augenblick lang den ganzen Angriff. Sie sah weitere Pfeile aufsteigen, dunkle Striche, die über den Himmel glitten.

Sie konnte jetzt die Bogenschützen ausmachen. Noch mehr Hunde! Sie bewegten sich in Rudeln. Es waren ihrer zwei nötig, um einen Bogen zu gebrauchen – einen, der ihn hielt, und einen, der ihn spannte. Der dritte und vierte trugen Köcher mit Pfeilen und schienen nur zuzusehen.

Die Bogenschützen hielten sich zurück, sie blieben größtenteils in Deckung. Andere Rudel wirbelten von der Seite heran und sprangen jetzt über die Bodenwellen. Viele trugen Beile in den Schnauzen. Metallklauen schimmerten an ihren Pfoten. Sie hörte das Klicken von Vatis Pistole. Die Welle der Angreifer kam ins Stolpern, als Einzelne zusammenbrachen. Die anderen rannten weiter, sie knurrten jetzt. Das war der Klang des Wahnsinns, nicht das Bellen von Hunden. Sie fühlte die Geräusche in ihren Zähnen, wie Blasti-Musik aus einem großen Lautsprecher. Rachen und Krallen und Messer und Lärm.

Sie warf sich auf die Seite und versuchte, zurück zum Boot zu schauen. Jetzt war der Schmerz wirklich. Sie schrie, doch ihr Schrei verlor sich in dem Wahnsinn. Die Meute rannte an ihr vorbei, auf Mutti und Vati zu. Ihre Eltern kauerten hinter einer Andockstütze. Pausenlos blitzte die Pistole in Arne Olsndots Hand auf. Sein Skaphander hatte ihn vor den Pfeilen bewahrt.

Die Leichen der Wesen türmten sich. Die Pistole mit ihren sinnreichen Miniaturpfeilen war von tödlicher Wirkung. Sie sah, wie er Mutti die Pistole gab und unter dem Boot hervor auf sie zu rannte. Johanna streckte ihren freien Arm nach ihm aus und schrie, dass er zurückginge.

Dreißig Meter. Fünfundzwanzig. Muttis Feuerschutz trieb links und rechts von ihnen die Wölfe zurück. Ein Schwarm Pfeile senkte sich auf Olsndot, während er rannte, die Arme zum Schutz über den Kopf erhoben. Zwanzig Meter.

Ein Wolf sprang hoch über Johanna. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf sein kurzes Fell und das narbenbedeckte Hinterteil. Olsndot lief im Zickzack, um seiner Frau freies Schussfeld zu geben, doch der Wolf war zu schnell. Er folgte seinen Bewegungen, während er rennend die Lücke schloss. Er sprang, Metall glitzerte an seinen Pfoten. Johanna sah Rotes aus Vatis Hals spritzen, und dann lagen sie beide am Boden.

Einen Augenblick lang hielt Sjana Olsndot mit Schießen inne. Das genügte. Die Meute teilte sich, und eine große Gruppe lief gezielt auf das Boot zu. Sie hatten eine Art Tanks auf den Rücken. Das Leittier hielt einen Schlauch im Maul. Eine dunkle Flüssigkeit spritzte daraus hervor – und verschwand in einem Ausbruch von Feuer. Das Wolfsrudel strich mit seinem primitiven Flammenwerfer über den Boden, über die Stütze, wo Sjana Olsndot stand, über die Reihen von Schulkindern im Kälteschlaf. Johanna sah, wie sich etwas in den Flammen und dem teerigen Rauch bewegte und wand, sah das leichte Plastik der Kälteschlaf-Zellen zusammensacken und fließen.

Johanna drehte ihr Gesicht zur Erde, stützte sich dann auf den unversehrten Arm und versuchte auf das Boot, auf die Flammen zuzukriechen. Und dann umfing sie gnädige Dunkelheit, und sie nahm nichts mehr wahr.

VIER

Wanderer und Schreiber beobachteten den ganzen Nachmittag die Vorbereitungen für den Überfall: Infanterie auf dem Hang westlich des Landeplatzes in Stellung, Bogenschützen dahinter, Soldaten mit Flammenwerfern in Stoßformation. Begriffen die Herren von Flenserburg, was ihnen gegenüberstand? Die beiden diskutierten die Frage wieder und wieder. Yaqueramaphan glaubte, die Flenseristen wüssten es, ihre Arroganz sei so groß, dass sie einfach erwarteten, die Beute rasch greifen zu können. »Sie gehen einem an die Kehle, bevor die andere Seite überhaupt weiß, dass es einen Kampf gibt. Das hat schon früher geklappt.«

Wanderer antwortete nicht gleich. Schreiber konnte Recht haben. Es war fünfzig Jahre her, dass er in diesem Teil der Welt gewesen war. Damals war Flensers Kult unbedeutend gewesen (und nicht weiter interessant im Vergleich zu dem, was es anderswo auf der Welt gab).

Es kam wirklich vor, dass Reisende auf Heimtücke stießen, doch viel seltener, als die Daheimgebliebenen glaubten. Die meisten Leute waren freundlich und froh, etwas über die weite Welt zu hören – vor allem, wenn der Besucher nicht bedrohlich war. Wenn Verrat vorkam, dann meistens nach einem anfänglichen ›Abschätzen‹, um festzustellen, wie stark die Besucher wohl waren und welcher Nutzen aus ihrem Tod zu ziehen wäre. Sofortiger Angriff ohne Gespräch war sehr selten. Für gewöhnlich bedeutete das, dass man auf Schurken gestoßen war, die sowohl raffiniert … als auch verrückt waren. »Ich weiß nicht. Das ist wirklich eine Überfall-Formation, aber vielleicht werden die Flenseristen sie in Reserve halten und erst reden.«

Stunden vergingen, die Sonne glitt seitlich nach Norden. Es gab Geräusche von der entlegenen Seite des herabgefallenen Sterns. Mist. Von hier aus konnten sie nichts sehen.

Die versteckten Soldaten machten keine Bewegung. Die Minuten verstrichen …, und sie erblickten zum erstenmal das Wesen vom Himmel, oder wenigstens einen Teil von ihm. Es hatte vier Beine pro Glied, ging aber nur auf den Hinterbeinen. Was für ein Clown! Allerdings – es benutzte seine Vorderpfoten, um Dinge festzuhalten. Kein einziges Mal sah er es einen Mund verwenden, er zweifelte ohnehin daran, dass die flachen Kiefer etwas gut erfassen konnten. Diese Vorderpfoten waren wunderbar beweglich. Ein einziges Glied konnte leicht Werkzeuge halten.

Es gab eine Menge Gesprächslaute, obwohl nur drei Glieder zu sehen waren. Nach einer Weile hörten sie die viel höheren Töne organisierten Denkens; Gott, was war das Geschöpf laut. Von weitem klangen die Geräusche gedämpft und verzerrt. Dennoch glichen sie keinem Verstand, den er je gehört hatte, auch nicht den Störgeräuschen, die manche Graser erzeugten.

»Und?«, zischte Yaqueramaphan.

»Ich bin überall auf der Welt gewesen – und dieses Geschöpf ist kein Teil davon.«

»Nun ja, es erinnert mich an eine Gottesanbeterin. Du weißt, ein Insekt, ungefähr so groß«, er öffnete einen Mund etwa zwei Zoll weit. »Prima, um den Garten von Ungeziefer frei zu halten … Großartige kleine Mörder.«

Hm. Wanderer war die Ähnlichkeit nicht in den Sinn gekommen; er hatte eher an einen aufragenden Pfahl gedacht. Gottesanbeterinnen waren lieb und harmlos – soweit es Leute betraf. Doch er wusste, dass die Weibchen ihre eigenen Gatten auffraßen. Man stelle sich solche Wesen in riesiger Größe vor, und mit Rudelverstand begabt. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass sie nicht hinabspazieren und Guten Tag sagen konnten.

Eine halbe Stunde verging. Während das Fremde seine Fracht auslud, rückten Flensers Bogenschützen weiter vor, die Infanterierudel ordneten sich zu Angriffsflanken.

Ein Schwarm Pfeile überbrückte die Lücke zwischen den Flenseristen und dem Fremden. Ein Glied des Fremden ging sofort zu Boden, und seine Gedanken verstummten. Die übrigen zogen sich aus dem Blickfeld unter das fliegende Haus zurück. Die Soldaten schnellten vor, in identitätsbewahrenden Formationen mit Zwischenräumen; vielleicht hatten sie vor, das Fremde lebendig gefangen zu nehmen.

… Doch die Angriffsfront kam ins Stocken, viele Ellen vor dem Fremden: keine Pfeile, keine Flammen – die Soldaten fielen einfach. Einen Augenblick lang glaubte Wanderer, die Flenseristen könnten sich übernommen haben. Dann lief die zweite Welle über die erste. Noch immer fielen Glieder, doch jetzt hatte sie die Mordlust ergriffen, und nur die tierische Disziplin galt noch. Ein weiteres Glied des Fremden lag am Boden … Seltsam, er konnte immer noch Fetzen von des anderen Gedanken hören. In Ton und Tempo klang es genauso wie vor dem Angriff. Wie konnte jemand mit dem vollständigen Tod im Auge derart gelassen sein?

Eine Schlachtpfeife ertönte, und die Meute teilte sich. Ein Soldat rannte nach vorn und versprühte flüssiges Feuer, sobald er die Frontlinie überquert hatte. Das fliegende Haus sah aus wie Fleisch auf einem Grill, Flammen und Rauch schlugen ringsherum empor.

Wickwrackrum fluchte leise. Leb wohl, Fremdes.

Die Zertrümmerten und Verwundeten standen bei den Flenseristen ziemlich weit unten auf der Liste der Dringlichkeit. Ernsthaft Verwundete wurden auf Schleifen gestapelt und weit genug weggezogen, dass ihre Schreie keine Verwirrung stifteten. Räumkommandos drängten die Soldatenfragmente von dem fliegenden Haus weg. Die Frags streiften über die wellige Wiese, hier und da fanden sie sich zu Stegreif-Rudeln zusammen. Manche irrten zwischen den Verwundeten umher und ignorierten die Schreie, ganz von dem Drang besessen, sich selbst zu finden.

Als der Tumult beigelegt war, erschienen drei Rudel Weißjacks. Die Diener des Flensers gingen unter das fliegende Haus. Einer blieb lange außer Sicht, vielleicht war er sogar hineingegangen. Die verkohlten Körper zweier fremder Glieder wurden sorgfältig auf Schleifen gelegt – sorgfältiger als die verwundeten Soldaten – und fortgezogen.

Yaqueramaphan musterte die Ruinen durch sein Augen-Werkzeug. Er hatte die Versuche aufgegeben, es vor Wanderer zu verbergen. Die Weißjacks trugen etwas unter dem fliegenden Haus hervor. »Tss! Es gibt noch mehr Tote. Vielleicht vom Feuer. Sie sehen aus wie Welpen.« Auch die kleinen Gestalten ähnelten Gottesanbeterinnen. Sie wurden in Schleifen festgeschnallt und über den Hügelkamm außer Sicht gezogen. Zweifellos hatten sie dort unten von Cherhogs gezogene Wagen.

Die Flenseristen bildeten einen Ring von Wachposten um den Landeplatz. Dutzende von frischen Soldaten standen daneben an der Flanke des Hügels. Niemandem würde es gelingen, sich an ihnen vorbeizuschleichen.

»Es ist also ein vollständiger Mord.« Wanderer seufzte.

»Vielleicht nicht … Das erste Glied, das sie erschossen haben – ich glaube, es ist nicht ganz tot.«

Wickwrackrum kniff seine besten Augen zusammen. Entweder war das nur Wunschdenken von Schreiber, oder sein Werkzeug verlieh ihm eine erstaunlich scharfe Sicht. Das zuerst Getroffene war auf der anderen Seite des Fahrzeugs gewesen. Das Glied hatte aufgehört zu denken, doch das war kein sicheres Anzeichen für Tod. Jetzt stand ein Weißjack um es herum. Das Weißjack legte das Wesen auf eine Schleife und begann es vom Landeplatz wegzuziehen, nach Südwesten …, nicht ganz in dieselbe Richtung wie die anderen.

»Das Ding lebt wirklich noch! Es hat einen Pfeil in die Brust bekommen, aber ich kann es atmen sehen.« Schreibers Köpfe wandten sich Wickwrackrum zu. »Ich glaube, wir sollten es retten.«

Für einen Moment verschlug es Wanderer die Sprache, er starrte den anderen nur mit offenen Mündern an. Das Zentrum von Flensers weltweiter Verschwörung lag nur ein paar Meilen nordwestlich. Die Macht der Flenseristen wurde Dutzende von Meilen ins Landesinnere hinein von niemandem angefochten, und in diesem Augenblick waren sie anscheinend von einer Armee umgeben. Schreibers Enthusiasmus verblasste ein wenig angesichts von Wanderers Staunen, doch es war klar, dass er es ernst meinte. »Sicherlich, ich weiß, dass es riskant ist. Aber das ist es doch, worum es im Leben eigentlich geht, oder? Du bist ein Pilger. Du verstehst das.«

»Hm.« Das war der Ruf, den die Pilger hatten, gewiss. Aber keine Seele kann den vollständigen Tod überleben – und es gab genug Möglichkeiten solch einer Vernichtung auf einer Pilgerfahrt. Pilger wussten, was Vorsicht bedeutet.

Und dennoch – dennoch war dies die wundersamste Begegnung in all den Jahrhunderten seines Pilgerlebens. Diese Fremden kennen zu lernen, mit ihnen eins zu werden …, es war eine Versuchung, die jede Vernunft übertraf.

»Sieh doch«, sagte Schreiber, »wir könnten einfach hinabgehen und uns unter die Verwundeten mischen. Wenn wir es übers freie Feld schaffen, könnten wir einen genaueren Blick auf das letzte Glied des Fremden werfen, ohne allzu viel zu riskieren.« Yaqueramaphan war bereits dabei, sich von seinem Beobachtungspunkt zurückzuziehen und auf der Suche nach einem Weg, der ihn nicht am Horizont erscheinen ließe, umherzulaufen. Wickwrackrum war hin und her gerissen, ein Teil von ihm war im Begriff mitzugehen, und der andere Teil zögerte. Zum Teufel, Yaqueramaphan hatte zugegeben, ein Spion zu sein, er hatte eine Erfindung bei sich, die gewiss geradewegs von den klügsten Geheimdienstleuten der Langseen-Republik stammte. Er musste ein Profi sein …