Gestrandet in der Realzeit - Vernor Vinge - E-Book

Gestrandet in der Realzeit E-Book

Vernor Vinge

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein jahrtausendealter Mord

Fünfzig Millionen Jahre in der Zukunft: Die blasenartigen Sphären, in denen die Menschen seit dem 22. Jahrhundert alle „unliebsamen Elemente“ eingesperrt haben, platzen nach und nach und entlassen ihre Bewohner wieder in die Normalzeit. Doch das, was sie außerhalb der Sphären erwartet, ist ein herber Schock: die Menschen auf der Erde sind verschwunden! Waren es Aliens? Oder haben sie die Menschen in einem gewaltigen Krieg selbst vernichtet? Kam es zu einer Singularität, die irgendwie von den Blasen verursacht worden ist? Will Brierson war Polizist, der von einem Verbrecher in einer dieser Blasen eingesperrt wurde. Jetzt wird er von den letzten Menschen beauftragt, einen Jahrtausende alten Mordfall zu lösen: eine Frau namens Marta Korolev wurde getötet, etwa zu der Zeit, als die Menschen verschwunden sind. Ihr Tagebuch könnte nicht nur Aufschluss über ihren Mörder geben, sondern auch darüber, was mit der Erde passiert ist …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 539

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VERNOR VINGE

 

 

 

GESTRANDET

IN DER REALZEIT

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe
MAROONED IN REALTIME
Aus dem Amerikanischen von Rosemarie Hundertmarck
Überarbeitete NeuausgabeRedaktion: Rainer Michael RahnCopyright © 1986 by Vernor VingeCopyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-22897-2V002

Das Buch

Fünfzig Millionen Jahre in der Zukunft: Die blasenartigen Sphären, in denen die Menschen seit dem 22. Jahrhundert alle »unliebsamen Elemente« eingesperrt haben, platzen nach und nach und entlassen ihre Bewohner wieder in die Normalzeit. Doch das, was sie außerhalb der Sphären erwartet, ist ein herber Schock: Die Menschen auf der Erde sind verschwunden! Waren es Aliens? Oder haben sie die Menschen in einem gewaltigen Krieg selbst vernichtet? Kam es zu einer Singularität, die irgendwie von den Blasen verursacht worden ist? Will Brierson war Polizist, der von einem Verbrecher in einer dieser Blasen eingesperrt wurde. Jetzt wird er von den letzten Menschen beauftragt, einen Jahrtausende alten Mordfall zu lösen: Eine Frau namens Marta Korolev wurde getötet, etwa zu der Zeit, als die Menschen verschwunden sind. Ihr Tagebuch könnte nicht nur Aufschluss über ihren Mörder geben, sondern auch darüber, was mit der Erde passiert ist …

 

 

 

 

Der Autor

Vernor Vinge, 1944 in Wisconsin geboren, ist einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Sein Roman Ein Feuer auf der Tiefe, für den er mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, und die Fortsetzung Eine Tiefe am Himmel zählen zu den einflussreichsten Science-Fiction-Werken der letzten zwanzig Jahre. Vernor Vinge ist außerdem ein bekannter Mathematiker und Informatiker, der mit seinen Studien zur Künstlichen Intelligenz für großes Aufsehen gesorgt hat. Er lehrt an der San Diego State University in Kalifornien. Von Vernor Vinge sind folgende Romane im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Der Friedenskrieg, Gestrandet in der Realzeit, Ein Feuer auf der Tiefe, Eine Tiefe am Himmel.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

 

 

 

Für alle, die gestrandet

und ohne Hoffnung auf Rettung sind

1

 

Am Tag der großen Rettung machte Wil Brierson einen Spaziergang am Strand. Es würde hier an diesem Nachmittag bestimmt menschenleer sein.

Der Himmel war klar, aber der übliche Nebel beschränkte die Sicht auf wenige Kilometer. Der Strand, die niedrigen Dünen, das Meer – alles war in einen leichten Dunst gehüllt, der sich immer in seiner Blickrichtung zu konzentrieren schien. Wil schlenderte am Rand der Wellen dahin, wo der Sand nass, glatt und kühl war. Mit seinen neunzig Kilo ließ er perfekte Abdrücke seiner nackten Füße hinter sich. Er ignorierte die wild umherflatternden Seevögel, ging mit gesenktem Kopf und beobachtete, wie das Wasser bei jedem Schritt zwischen seinen Zehen hervorquoll. Die feuchte Brise trug den scharfen, angenehmen Geruch nach Tang heran. Jede halbe Minute brachen sich die Wellen, und klares Seewasser flutete um seine Knöchel. Wenn nicht gerade Sturm herrschte, war das alles an »Brandung«, was man an dem Binnenmeer zu sehen bekam. Beinahe konnte Wil sich einbilden, wieder am Michigan-See zu sein. Wie lange war das her! Jeden Sommer hatten er und Virginia am Seeufer gezeltet. Beinahe konnte er sich einbilden, er kehre von einem mittäglichen Streifzug an einem sehr trüben Michigan-Tag zurück, und wenn er weit genug laufe, werde er Virginia und Anne und Billy finden, die ungeduldig am Lagerfeuer warteten und ihn aufzogen, weil er ganz allein losgezogen war.

Beinahe …

Wil blickte auf. Dreißig Meter weiter entdeckte er den Grund für den Aufruhr unter den Seevögeln. Ein Stamm Fischeraffen spielte am Rande des Wassers. Die Affen mussten ihn inzwischen bemerkt haben. Noch vor ein paar Wochen wären sie beim Anblick eines Menschen oder einer Maschine sofort im Meer verschwunden. Jetzt blieben sie am Ufer. Die jüngeren wackelten ihm entgegen. Wil ließ sich auf ein Knie nieder, und sie drängten sich um ihn. Ihre mit Schwimmhäuten versehenen Finger durchsuchten neugierig seine Taschen. Einer zog eine Lochkarte heraus. Wil grinste und nahm sie ihm wieder weg. »Aha! Ein Taschendieb. Du bist verhaftet!«

»Einmal Polizist, immer Polizist, nicht wahr, Inspektor?« Die Stimme war weiblich, der Ton leicht. Sie erklang irgendwo über ihm. Wil legte den Kopf in den Nacken. Eine ferngesteuerte Drohne hing wenige Meter über ihm.

Er grinste. »Ich will nur nicht aus der Übung kommen. Sind Sie das, Marta? Ich dachte, Sie wären dabei, die ›Festlichkeiten‹ für heute Abend vorzubereiten.«

»Bin ich auch. Und ein Teil der Vorbereitungen ist, törichte Leute vom Strand zu vertreiben. Wir können mit dem Feuerwerk nicht bis zum Dunkelwerden warten.«

»Was?«

»Dieser Steve Fraley – er hat eine große Szene gemacht, hat versucht, Yelén einzureden, sie müsse die Rettung verschieben. Deshalb wird sie sie ein bisschen früher durchführen, nur um Steve zu zeigen, wer der Boss ist.« Marta lachte, aber Wil wusste nicht recht, ob über Yelén Korolews Reaktion oder über Fraley. »Deshalb werden Sie höflich gebeten, sich zu trollen, Sir. Ich muss noch ein paar andere Leute verscheuchen. Ich erwarte, dass Sie vor dieser Drohne zurück in der Stadt sind.«

»Jawohl, Madam!« Wil salutierte scherzhaft, machte kehrt und joggte den Weg zurück, den er gekommen war. Er hatte etwa dreißig Meter zurückgelegt, als hinter ihm ein grausiger Schrei gellte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass die Drohne mit flackernden Lichtern und heulenden Sirenen zum Sturzflug in die andere Richtung ansetzte. Vor diesem Angriff löste sich die neu erworbene Überlegenheit der Fischeraffen in nichts auf. Sie gerieten in Panik, und mit der kreischenden Maschine zwischen sich und dem Meer blieb ihnen keine andere Wahl, als ihren Nachwuchs zu packen und in die Dünen hochzuklettern. Martas Drohne folgte ihnen und ließ links und rechts von ihnen Lärmbomben fallen. Drohne und Affen verschwanden über den Sandhügeln im Dschungel, und der Lärm verebbte. Wil schoss die Frage durch den Kopf, wie weit Marta die Affen würde jagen müssen, um sie auf ungefährdetes Gebiet zu bringen. Er wusste, ihr weiches Herz und ihr praktischer Sinn hielten sich die Waage. Niemals hätte sie die Tiere vom Strand verscheucht, wenn es nicht eine Chance gäbe, dass sie es in einen sicheren Hafen schafften. Wil lächelte vor sich hin. Er würde sich gar nicht wundern, wenn Marta für die Explosionen Jahreszeit und Tag so ausgewählt hätte, dass die Todesfälle unter den wild lebenden Tieren auf ein Minimum beschränkt wurden.

Drei Minuten später hatte Brierson die wackeligen Stufen, die zur Einschienenbahn führten, fast erklommen. Er sah nach unten und entdeckte, dass er nicht der einzige Mensch am Strand gewesen war. Jemand schlenderte auf die Treppe zu. Im Lauf von mehr als einer halben Million Jahrhunderten hatten die Korolews eine ansehnliche Sammlung von seltsamen Erscheinungen gerettet oder rekrutiert, aber wenigstens sahen sie äußerlich alle ziemlich normal aus. Diese … Person … war anders. Der Fremde trug einen verstellbaren Sonnenschirm und war bis auf ein Lendentuch und eine Schultertasche nackt. Seine Haut war blass, teigig. Als er den Fuß auf die Treppe setzte, neigte sich der Sonnenschirm nach hinten und enthüllte einen Kopf, der haarlos war wie ein Ei. Und Wil sah, dass der Fremde ebenso gut eine Sie (oder ein Es) sein mochte. Das Wesen war klein und schlank, seine Bewegungen wirkten graziös. Um die Brustwarzen waren leichte Schwellungen erkennbar.

Brierson winkte zögernd; es war aus politischen Gründen angebracht, sich mit allen neuen Nachbarn bekannt zu machen, besonders mit den fortgeschrittenen Reisenden. Aber dann sah das Wesen zu Brierson hoch, und noch aus einer Entfernung von zwanzig Metern durchbohrten ihn diese dunklen Augen mit kalter Gleichgültigkeit. Der kleine Mund zuckte, doch es drangen keine Worte hervor. Wil schluckte, drehte sich um und stieg weiter die Plastikstufen hinauf. Es mochte Nachbarn geben, von denen man besser durch andere erfuhr.

 

Korolew. Das war der amtliche Name der Stadt, den ihr Yelén Korolew gegeben hatte. Es gab fast ebenso viele rivalisierende Namen wie Einwohner. Wils indische Freunde wollten die Stadt »Neuest-Delhi« nennen. Die (im Exil ohne Wiederkehr befindliche) Regierung von Neumexiko wollte sie »Neu-Albuquerque« nennen. Den Optimisten gefiel »Zweite Chance«, den Pessimisten »Letzte Chance«. Für die Größenwahnsinnigen war sie die »Große Stadt«.

Wie man sie auch nennen mochte, die Stadt schmiegte sich an die Ausläufer des Indonesischen Zentralmassivs und lag hoch genug, dass Hitze und Feuchtigkeit des Äquators zu einem fast gleichmäßig angenehmen Klima gemildert wurden. Hier hatten die Korolews und ihre Freunde die Geretteten aus allen Zeiten versammelt. So gut wie jedem architektonischen Geschmack war Rechnung getragen worden. Die neumexikanischen Anhänger der Planwirtschaft bewohnten eine mit großen (zumeist leeren) Gebäuden gesäumte Hauptstraße, in Wils Augen ein Sinnbild ihrer Bürokratie. Die meisten anderen aus dem 21. Jahrhundert – Wil eingeschlossen – lebten in kleinen Gruppen von Häusern, die ihren früheren sehr ähnlich waren. Die fortgeschrittenen Reisenden wohnten höher in den Bergen.

Die Stadt Korolew war so angelegt, dass sie Tausende aufnehmen konnte. Im Augenblick zählte die Bevölkerung – jedes einzelne menschliche Wesen mitgerechnet – weniger als zweihundert. Sie brauchten mehr Leute; Yelén Korolew wusste, wo man einhundert weitere bekommen konnte, und war entschlossen, sie sich zu holen.

Steve Fraley, Präsident der Republik von Neumexiko, wollte, dass diese Hundert ungerettet blieben. Bei Briersons Ankunft trug er immer noch seine Gründe vor. »… und außerdem berücksichtigen Sie die Geschichte unserer Ära nicht, Madam. Die Friedensbeamten hätten die menschliche Rasse beinahe ausgelöscht. Sicher, die Rettung dieser Gruppe wird Ihnen ein paar lebende Körper mehr bescheren. Dafür setzen Sie jedoch das Überleben unserer gesamten Kolonie, ja der gesamten menschlichen Rasse aufs Spiel.«

Yelén Korolew wirkte ruhig, aber Wil kannte sie gut genug, um die Zeichen einer unmittelbar bevorstehenden Explosion zu erkennen: Ihre Wangen bekamen rosige Flecken, während ihr Gesicht ansonsten noch blasser als gewöhnlich war. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr blondes Haar. »Mr. Fraley, die Geschichte Ihrer Ära ist mir wohlbekannt. Vergessen Sie nicht, dass wir fast alle in einem Zeitraum von zweihundert Jahren Kinder gewesen sind, ganz gleich, welches Alter und welche Erfahrungen wir heute haben. Vielleicht hat das Friedensamt …« – ihre Lippen verzogen sich bei dem Namen zu einem schnellen Lächeln – »den weltweiten Krieg von 1997 tatsächlich begonnen. Vielleicht ist es sogar für die schrecklichen Seuchen zu Anfang des 21. Jahrhunderts verantwortlich. Aber als Regierung betrachtet, war es relativ gütig. Diese Gruppe hier in Kambodscha …« – sie wies nach Norden – »ging 2048 in Stasis, als das Friedensamt gestürzt wurde. Damals gab es noch keine anständige Gesundheitsfürsorge. Es ist gut möglich, dass keiner der ursprünglichen Kriminellen mehr dabei ist.«

Fraley öffnete und schloss den Mund ein paarmal, bevor er herausbrachte: »Haben Sie nie von ihrem ›Renaissance‹-Plan gehört? Im Jahr 2048 waren sie bereit, von Neuem Millionen zu töten. Die Kerle dort unten müssen mehr Höllenbomben besitzen, als ein Hund Flöhe hat. Diese Basis war ihre geheime Trumpfkarte. Wenn sie keinen Fehler gemacht hätten, wären sie 2100 aus der Stasis gekommen und hätten uns alle ausgelöscht. Und Sie wären wahrscheinlich gar nicht erst geboren worden …«

Yelén unterbrach den Wortstrom. »Höllenbomben? Schießgewehre. Das wissen Sie selbst. Mr. Fraley, wenn wir weitere hundert Menschen für unsere Kolonie gewinnen, ist sie gerade groß genug, um zu überleben. Marta und ich haben schließlich nicht unser Leben ihrem Aufbau gewidmet, nur um sie ebenso wie die unterbesetzten Versuche der Vergangenheit sterben zu sehen. Nur aus dem Grund, dass wir die Friedensbeamten retten wollten, wenn ihre Blase platzt, haben wir die Gründung von Korolew bis zum Megajahr fünfzig verschoben.«

Sie drehte sich zu ihrer Partnerin um. »Hast du festgestellt, wo sich jeder befindet?«

Marta Korolew hatte während des Streits schweigend dagesessen, das dunkle Gesicht entspannt, die Augen geschlossen. Durch ihr Stirnband stand sie in Kommunikation mit den autonomen Geräten des Geländes. Zweifellos hatte sie während der letzten halben Stunde ein halbes Dutzend Drohnen dirigiert und die Gegend von vagabundierenden Kolonisten reingefegt, die von den Korolew-Satelliten entdeckt worden waren. Nun öffnete sie die Augen. »Es sind alle in Sicherheit. Tatsächlich …« – sie entdeckte Wil, der im Hintergrund des Amphitheaters stand, und grinste – »sind fast alle hier auf dem Gebiet der Burg. Leute, ihr werdet heute Nachmittag etwas zu sehen bekommen.« Entweder war sie dem Streit zwischen Yelén und Fraley nicht gefolgt, oder – was wahrscheinlicher war – sie hatte sich entschlossen, ihn zu ignorieren.

»Okay, fangen wir an!« Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Zuschauermenge. Viele stammten wie Wil aus dem 21. Jahrhundert. Aber so viel wussten sie über die fortgeschrittenen Reisenden: Eine solche Ankündigung war eine Garantie für ein spektakuläres Ereignis.

Von seinem Platz oben im Amphitheater aus hatte Wil eine gute Aussicht nach Norden. Die Wälder der höheren Erhebungen verschwammen zu dem Graugrün des äquatorialen Dschungels. Jenseits davon löschte der Dunst das Binnenmeer aus. Selbst an einem der seltenen klaren Tage, wenn der Seenebel sich hob, versteckte sich das Kambodscha-Massiv unter dem Horizont. Trotzdem müsste die Rettung sichtbar sein. Es überraschte Wil ein bisschen, dass das bläuliche Weiß des nördlichen Horizonts unberührt blieb.

»Es wird aufregender werden, das verspreche ich.« Yeléns Stimme lenkte seinen Blick wieder zur Bühne. Hinter Yelén schwebten zwei große Schirme. Sie standen in schreiendem Widerspruch zu dem mit Moos und Gold üppig verzierten Tempel, der hinter der Bühne aufragte. Burg Korolew war typisch für den überladenen Stil der Residenzen, die sich die fortgeschrittenen Reisenden zugelegt hatten. Was an Mauerwerk und Statuen darunterlag, war ein halbes Jahrtausend früher gebaut und dann dem Gebirgsregen, der es erodierte, dem Moos, das es überwucherte, und den Bäumen, die es durchsetzten, überlassen worden. Später versteckten Bauroboter die ganze raffinierte Maschinerie des späten 22. Jahrhunderts in den »Ruinen«. Wil respektierte diese Technik. Hier war ein Ort, an dem kein Sperling unbemerkt vom Himmel fallen konnte. Die Eigentümer waren vor einem geräuschlosen Messer im Rücken ebenso sicher wie vor einem ballistischen Raketenangriff.

»Wie Mr. Fraley sagt, die Blase der Friedensbeamten hätte geheim bleiben sollen. Sie befand sich von Anfang an unter der Erde. Jetzt liegt sie noch viel tiefer – irgendjemand hat Mist gebaut. Was ein Fünfzigjahressprung hatte werden sollen, wurde … länger. Soweit wir es berechnen können, wird ihre Blase irgendwann in den nächsten paar Tausend Jahren platzen; die Leute sind dann fünfzig Millionen Jahre in Stasis gewesen. In dieser Zeit sind Kontinente abgetrieben und neue Grabenbrüche entstanden. Teile von Kambodscha rutschten tief unter neue Gebirge.« Ein vielfarbiger Querschnitt des Kambodscha-Massivs erschien auf dem Schirm. Das Blau, in dem die obere Kruste dargestellt war, ging in größerer Tiefe in Gelb und Orange über. Genau an der Grenze zwischen dem Orange und dem Magma-Rot zeigte sich eine kleine schwarze Scheibe – die Blase der Friedensbeamten, auf der Decke der Hölle schwebend.

Innerhalb der Blase stand die Zeit still. Die Menschen darin befanden sich immer noch im gleichen Zustand wie in dem Augenblick eines beinahe vergessenen Krieges, als die Verlierer sich entschlossen, in die Zukunft zu fliehen. Keine Macht konnte auf den Inhalt einer Blase einwirken, keine Macht konnte ihre Stabilität beeinflussen – weder das Herz eines Sterns noch das Herz eines Liebenden.

Aber wenn die Blase platzte, wenn die Stasis endete … Die Friedensbeamten steckten in einer Tiefe von rund vierzig Kilometern. In einem Augenblick voller Lärm und Hitze und Schmerz würde das Magma sie verschlingen. Einhundert Männer und Frauen würden sterben, und eine gewisse gefährdete Spezies hätte einen weiteren Schritt auf ihr endgültiges Ende zu getan.

Die Korolews hatten sich erboten, die Blase an die Oberfläche zu heben, wo sie für die wenigen von bleibenden Jahrtausende ihrer Dauer sicher sein würde. Yelén wies mit der Hand auf den Schirm. »Das wurde aufgenommen, kurz bevor wir mit der Operation begannen. Jetzt kommt die weitere Entwicklung.«

Das Bild flackerte. Das rote Magma erhob sich Tausende von Metern über die Blase. In dem Orange und Gelb, das die feste Kruste repräsentierte, blitzten stecknadelkopfgroße weiße Lichter. Am Ort eines jeden dieser Lichter blühte Rost auf und verbreitete sich, beinahe – Wil zuckte bei dem Gedanken zusammen – wie Blut aus einer Stichwunde. »Die Funken stellen Hundert-Megatonnen-Bomben dar. In den letzten paar Sekunden haben wir mehr Energie entfesselt als in sämtlichen Kriegen der Menschheit zusammen.«

Das Rot der Wunden floss zu einer großen Blutung im Busen von Kambodscha zusammen. Das Magma war immer noch zwanzig Kilometer unter der Erdoberfläche. Die Zündung der Bomben war zeitlich so abgestimmt, dass es dicht über dem höchsten Niveau der roten Farbe unablässig funkelte. Die Schmelze rückte immer näher an die Oberfläche heran. Unten auf dem Schirm schwebte die Blase, unerschüttert und unberührt. In diesem Maßstab dargestellt, war ihre Bewegung nach oben nicht wahrnehmbar.

Wil riss seine Augen von dem Schirm los und richtete sie auf das Land jenseits des Amphitheaters. Es gab keine Veränderung: Der nördliche Horizont war immer noch dunstig und blassblau. Die Rettungsaktion spielte sich in einer Entfernung von eintausendfünfhundert Kilometern ab, aber trotzdem hatte er etwas Spektakuläres erwartet. Minuten vergingen. Eine kühle Brise strich sanft um das Theater, raschelte in den Fast-Jakarandas, die die Bühne begrenzten, und verbreitete den Duft ihrer großen Blüten in der Zuschauermenge. In den oberen Zweigen des einen Baumes hatte eine Spinnenfamilie ein Schaunetz gewebt. Die Seidenfäden schimmerten vor dem Himmel in allen Regenbogenfarben.

Die Uhr auf dem Bildschirm zeigte schon fast vier Minuten verstrichene Zeit an. Das Korolew-Muster von Bombenexplosionen lag immer noch tausend Meter unter der Oberfläche.

Präsident Fraley erhob sich von seinem Sitz. »Madame Korolew, bitte. Noch ist es möglich, das zu stoppen. Ich weiß, Sie haben die ausgefallensten Typen gerettet, Spinner, Vergnügungsreisende, Kriminelle, Opfer. Aber die da sind Ungeheuer.« Dieses eine Mal meinte Wil, Aufrichtigkeit – vielleicht sogar Furcht – in der Stimme des Neumexikaners zu hören. Und er könnte recht haben. Wenn die Gerüchte stimmten, wenn die Friedensbeamten die Seuchen des frühen 21. Jahrhunderts hervorgerufen hatten, dann waren sie verantwortlich für den Tod von Milliarden. Und wenn ihr Renaissance-Projekt Erfolg gehabt hätte, wären die meisten der Überlebenden von ihnen getötet worden.

Yelén Korolew sah zu Fraley hinab, antwortete jedoch nicht. Der Neumexikaner richtete sich zu voller Größe auf. Dann winkte er abrupt seinen Leuten zu. Einhundert Männer und Frauen – die meisten in neumexikanischer Kleidung – standen rasch auf. Es war, wenn sonst nichts, eine dramatische Geste: Wenn sie gingen, würde das Amphitheater beinahe leer sein.

»Herr Präsident, ich schlage vor, dass Sie und die anderen sich wieder hinsetzen.« Das war Marta Korolew. Ihr Ton war so liebenswürdig wie immer, aber die in ihren Worten enthaltene Beleidigung trieb Steve Fraley das Blut ins Gesicht. Er gestikulierte zornig und wandte sich den Steinstufen zu, die aus dem Theater führten.

Wil war eher geneigt, Martas Aufforderung wörtlich zu befolgen: Yelén mochte Sarkasmus und gebieterische Autorität benutzen, aber Marta gab einen Rat für gewöhnlich nur, um zu helfen. Wieder sah Wil nach Norden. Über den Dschungelgipfeln wellte und kräuselte sich etwas. Hoppla! In plötzlichem Begreifen glitt Wil auf eine Bank in der Nähe.

Die durch den Boden laufende Schockwelle traf einen Augenblick später ein. Es war eine geräuschlose, rollende Bewegung, die Fraley die Füße unter dem Körper wegriss. Seine Leutnants halfen ihm schnell wieder auf, aber er war fuchsteufelswild. Die Blicke, die er Marta zuwarf, verkündeten Tod. Dann stapfte er schnell – und vorsichtig – die Stufen hinauf. Er bemerkte Wil erst, als er fast schon an ihm vorbei war. Die Republik von Neumexiko hatte für W.W. Brierson einen Extraplatz in ihrem Pantheon an Höllengestalten reserviert. Dass Wil jetzt Zeuge dieser Demütigung geworden war, konnte diese Stellung nur festigen. Dann drängten die Generale ihren Präsidenten weiter. Die ihnen Folgenden streiften Brierson nur kurz mit ihren Blicken oder vermieden es ganz, ihn anzusehen.

Die sich entfernenden Schritte waren noch deutlich von jenseits des Amphitheaters vernehmbar. Sekunden später hatten sie die Motoren ihrer gepanzerten Mannschaftstransportwagen angelassen und ratterten davon, zu ihrem Stadtteil. Während der ganzen Zeit bebte die Erde weiter, richtig unheimlich für jemanden, der in Michigan aufgewachsen war. Die rollende, schaukelnde Bewegung war beinahe lautlos. Aber auch die Vögel waren verstummt, und die Spinnen auf dem Schaunetz rührten sich nicht mehr. Aus dem tiefen Innern der steinernen Burg war ein Knarren zu hören.

In der Querschnittsdarstellung hatte das Magma-Rot fast die Oberfläche erreicht. Die winzigen Lichter, die Bomben darstellten, flackerten dicht unter dem Boden, und das letzte Gelb fester Erde … verdampfte einfach.

Doch die Bombardierung ging weiter und schuf einen großen roten See.

Und endlich tat sich etwas am nördlichen Horizont. Endlich gab es einen direkten Beweis für den dort stattfindenden Kataklysmus. In dem blassen Blau blitzte immer wieder etwas sehr Helles auf, das sich durch den Nebel bohrte, als versuche eine Sonne aufzugehen. Über die Blitze erhob sich langsam ein Band aus Weiß, beinahe wie ein zweiter Horizont. Die obere Schicht der nördlichen Ausläufer des Kambodscha-Massivs war weggeblasen worden.

Von der Zuschauermenge stieg ein Seufzer auf. Wil sah nach unten, sah, dass verschiedene Leute nach oben zeigten. Schwach, purpurn, kaum heller als der Himmel breitete sich eine gespenstische Erscheinung beinahe direkt von Norden nach Süden aus. Ein Nordlicht bei Tag?

Seltsame Blitze flackerten an den Hängen unterhalb der Burg. Die Luft im Amphitheater war geladen von statischer Elektrizität, aber alles war unheimlich still. Der Lärm, den die Rettung verursachte, würde auch über die Distanz von eintausendfünfhundert Kilometern eintreffen, aber dieser Lärm war noch eine Stunde entfernt, tuckerte über das Kambodscha-Massiv auf das Binnenmeer zu.

Und die Blase der Friedensbeamten konnte wie Treibgut, das die Sommersonne aus dem Eis gelöst hat, an die Oberfläche steigen.

2

 

Jeder stimmte mit Marta darin überein, die Show sei eindrucksvoll gewesen. Vielen war jedoch nicht klar, dass die »Show« nicht mit dem einen nachmittäglichen Feuerwerk endete. Eine ganze Reihe von ›Zugaben‹ würde folgen, und sie würden eher scheußlich als eindrucksvoll sein.

Bei der Rettungsaktion war ungefähr hundertmal so viel Energie freigesetzt worden wie beim Ausbruch des Krakatau im 19. Jahrhundert. Milliarden Tonnen Asche und Gestein wurden an diesem Nachmittag in die Stratosphäre geschleudert. Die Sonne war in den folgenden Tagen ein seltener Anblick und schimmerte bestenfalls als trübe rötliche Scheibe durch die Dunkelheit. In Korolew war der Boden jeden Morgen von einer dicken Eisschicht bedeckt. Die Fast-Jakarandas welkten und starben. Ihre Spinnenfamilien waren entweder tot oder hatten sich in Höhlen verkrochen. Sogar in dem Dschungel entlang der Küste stieg die Temperatur jetzt kaum noch über vierzehn Grad.

Es regnete beinahe den ganzen Tag – aber kein Wasser: Der Staub setzte sich ab. Wenn er trocken herunterkam, war er wie graubrauner Schnee und sammelte sich zu obszönen Wehen auf Häusern und Bäumen und den Körpern kleiner Tiere. Die Neumexikaner lernten um den Preis des letzten ihrer Jetkopter, was Steinstaub Turbinen antun kann. Noch schlimmer war es, wenn der Staub nass herunterkam, eine schwarze Flüssigkeit, die die Wehen in Schlamm verwandelte. Es war ein geringer Trost, dass die Bomben sauber waren und der Staub ein »natürliches Produkt« darstellte.

Korolew-Roboter bauten schnell eine neue Einschienenbahn. Wil und die Dasgupta-Brüder machten einen Ausflug zum Meer hinunter.

Die Dünen waren verschwunden, von der Flutwelle des Rettungstages landeinwärts getrieben. Die Bäume südlich der Dünen lagen flach am Boden und zeigten sämtlich vom Meer weg. Nirgendwo war Grün zu sehen; alles war mit Asche bedeckt. Sogar auf dem Meer schwamm eine schaumige Schicht. Wie durch ein Wunder waren noch ein paar Fischeraffen am Leben. Wil sah kleine Gruppen am Strand, die sich gegenseitig die Asche aus dem Fell putzten. Sie verbrachten die meiste Zeit im Wasser, das immer noch warm war.

Die Rettung selbst war ein einwandfreier Erfolg. Die Blase der Friedensbeamten saß jetzt auf der Oberfläche. Am dritten Tag nach der Detonation besuchte ein Korolew-Flieger den Standort. Die Bilder, die er übertrug, waren überwältigend. Sturmwinde, immer noch mit Asche befrachtet, rasten über graues, verkrustetes Land. Durch ein Netzwerk von Ritzen in dem Schorf glühte es orangerot. Im Mittelpunkt dieses langsam gefrierenden Steinsees saß eine perfekte Sphäre, die Blase. Sie ragte zu zwei Dritteln aus dem Fels hervor. Natürlich entstellte kein Kratzer, keine Delle ihre Oberfläche. Keine Spur von Asche oder Stein war an ihr hängengeblieben. Sie war in der Tat beinahe unsichtbar. Ihre spiegelnde Oberfläche reflektierte die sie umgebende Landschaft und zeigte das Netz von glühenden Rissen, die in der Ferne im Nebel verschwanden.

Eine typische Blase an einem untypischen Ort.

»Es geht alles vorüber.« Das war eine beliebte Redensart von Rohan Dasguptas. In wenigen Monaten würde der geschmolzene See überfroren sein, und ein Mensch konnte ungeschützt bis zu der Blase hinübergehen. Etwa um die gleiche Zeit endeten dann die Verdunkelung und der Schlammregen. Für die nächsten paar Jahre waren prachtvolle Sonnenuntergänge und ungewöhnlich kühles Wetter zu erwarten. Verwundete Bäume erholten sich. Sämlinge ersetzten die, die gestorben waren. In einem Jahrhundert oder in zweien hatte die Natur diese Beleidigung vergessen, und die Beamtenblase spiegelte grünen Wald wider.

Aber es würde noch unbekannte Jahrtausende dauern, bis die Blase platzte und sich die Männer und Frauen darin der Kolonie anschließen konnten.

Wie üblich hatten die Korolews einen Plan. Wie üblich blieb den Low-Techs kaum eine andere Wahl, als dabei mitzumachen.

 

»He, wir geben heute Abend eine Party. Haben Sie Lust zu kommen?«

Wil und die anderen blickten von ihrer Schaufelarbeit auf. Nachdem sie drei Stunden lang in der Asche herumgewühlt hatten, sahen sie alle ziemlich gleich aus. Schwarze, Weiße, Chinesen, Aztlán – alle waren mit grauer Asche bedeckt.

Die vor ihnen erschienene Vision war in strahlendes Weiß gekleidet. Ihre fliegende Plattform schwebte direkt oberhalb des Aschehaufens, den die Low-Techs auf die Straße geschoben hatten. Es war eine der Robinson-Töchter. Tammy? Auf jeden Fall sah sie wie ein Model aus dem 20. Jahrhundert aus: blond, sonnengebräunt, siebzehn, freundlich.

Dilip Dasgupta grinste sie an. »Wir kämen bestimmt gern. Aber heute Abend? Wenn wir diese Asche nicht von den Häusern weggeschafft haben, bevor die Korolews uns verblasen, werden wir für immer in der Asche sitzen.« Wils Rücken und Arme waren ein einziger heftiger Schmerz, aber er musste Dilip zustimmen. Sie machten das seit zwei Tagen, seit die Korolews verkündet hatten, die Verblasung werde noch an diesem Abend stattfinden. Wenn sie das ganze graue Zeug von den Häusern entfernten, bevor sie verblast wurden, würde es, wenn sie zurückkehrten, von tausend Jahren Wetter weggespült worden sein. Jeder auf der Straße hatte mitgemacht, wenn auch unter vielem Murren, das sich hauptsächlich gegen die Korolews richtete. Die Neumexikaner hatten sogar ein paar zwangsverpflichtete Männer mit Schubkarren und Schaufeln geschickt. Wil wunderte sich darüber: Sollte der Geist der Kooperation tatsächlich einen Mann wie Fraley erfasst haben? Das war entweder ehrliche Hilfsbereitschaft seitens der niedrigeren Offiziere oder ein raffinierter Versuch, die anderen Low-Techs als zukünftige Verbündete gegen die Korolews und die Friedensbeamten auf die NM-Seite zu ziehen.

Das Robinson-Mädchen verlagerte sein Gewicht, und die Plattform trieb näher an Dasgupta heran. Sie blickte die Straße hinauf und hinunter, und dann erklärte sie in vertraulichem Tonfall: »Meine Verwandten mögen Yelén und Marta sehr – ehrlich. Aber Daddy findet, dass sie manchmal zu weit gehen. In ein paar Jahrzehnten werdet ihr frühen Vögel sowieso unser technisches Niveau erreicht haben. Warum sollt ihr wie Sklaven schuften müssen?«

Sie biss sich auf einen Fingernagel. »Ich wünschte wirklich, ihr könntet zu unserer Party kommen … He! Machen wir es doch so: Ihr arbeitet bis … sagen wir, bis ungefähr sechs weiter. Vielleicht habt ihr dann überhaupt schon alles sauber gemacht. Aber wenn nicht, können unsere Familienroboter dann den Rest besorgen, während ihr euch für die Party zurecht macht.« Sie lächelte und setzte beinahe schüchtern hinzu: »Meint ihr, das geht in Ordnung? Könntet ihr dann kommen?«

Dilip sah seinen Bruder Rohan an. Dann antwortete er trocken: »O doch. Ich denke, mit dieser Unterstützung wäre es zu schaffen.«

»Fein! Jetzt pass auf! Die Party findet in unserem Haus statt und beginnt um acht. Also arbeitet nicht länger als bis sechs Uhr, verstanden? Und haltet euch nicht mit Essen auf. Bei uns ist genug da. Wir feiern bis zur Geisterstunde. Das lässt euch eine Menge Zeit, nach Hause zu kommen, bevor die Korolews euch verblasen.«

Ihre Plattform schwebte zur Seite und stieg über die Bäume, die das Haus umgaben. »Bis dann!« Zwölf verschwitzte Schaufelschwinger sahen dem Abflug des Robinson-Mädchens in benommenem Schweigen zu.

Langsam verzog sich Dilips breites Gesicht zu einem Lächeln. Er betrachtete seine Schaufel, dann rollte er die Augen in Richtung der anderen. Schließlich brüllte er: »Zur Hölle damit!«, warf die Schaufel zu Boden und sprang darauf herum.

Das rief bei den anderen, die NM-Korporale eingeschlossen, ein aufrichtiges Jubelgeschrei hervor. Augenblicke später waren die von ihrem Job befreiten Arbeiter auf dem Heimweg.

Nur Brierson blieb auf der Straße, das Gesicht immer noch in die Richtung gewandt, die das Robinson-Mädchen eingeschlagen hatte. Er empfand ebenso viel Neugier wie Dankbarkeit. Wil hatte sich große Mühe gegeben, die High-Techs kennenzulernen: Trotz all ihrer Eigenheiten hatte er den Eindruck gehabt, sie stünden geschlossen hinter den Korolews. Aber ganz gleich, wie freundlich sie Gegensätzlichkeiten behandelten, er sah jetzt, dass es auch bei ihnen Fraktionen gab. Ich möchte doch wissen, was die Robinsons uns verkaufen wollen.

 

Der für die Öffentlichkeit zugängliche Teil des Robinson-Grundstücks war freundlicher als der des Korolew-Anwesens. Glühlampen hingen von Eichenästen. Die Teak-Tanzfläche öffnete sich zu einem Buffetraum, eine Terrasse und ein verdunkeltes Theater, wo, wie die Gastgeber versprachen, später ein paar außergewöhnliche, selbst aufgenommene Filme gezeigt werden sollten.

Immer noch trafen Gäste ein. Die jüngeren Robinson-Kinder rannten lärmend über die Tanzfläche und schlängelten sich in einem wilden Fangen-Spiel zwischen den Gästen hindurch. Sie durften es, sie durften mehr als das. Sie waren die einzigen Kinder auf der Welt.

In gewissem Sinn lebte jeder der Anwesenden im Exil. Einige waren entführt worden, einige waren gesprungen, um einer Strafe (teils verdient, teils nicht) zu entgehen, einige (wie die Dasguptas) hatten geglaubt, wenn sie ein paar Jahrhunderte übersprangen, während ihre Geldanlagen sich vervielfachten, würden sie reich werden. Im allgemeinen waren die ersten Sprünge kurz gewesen – in das 24., 25., 26. Jahrhundert.

Aber irgendwann im 23. Jahrhundert verschwand der Rest der Menschheit. Die Reisenden, die gleich nach dem Großen Sterben herauskamen, fanden Ruinen vor. Einige – die Leichtsinnigsten und diejenigen Kriminellen, die es am eiligsten gehabt hatten – hatten nichts mitgebracht. Sie verhungerten oder führten ein paar Jahre lang ein jämmerliches Leben in dem zerfallenden Mausoleum, das die Erde war. Die besser Ausgerüsteten – die Neumexikaner zum Beispiel – verfügten über die Mittel, in die Stasis zurückzukehren. Sie verblasten sich in der Hoffnung, eine wiederauferstandene Zivilisation vorzufinden, durch das dritte Jahrtausend. Doch alles, was sie fanden, war eine Welt, die in den Urzustand zurückfiel. Die Werke des Menschen verschwanden unter Dschungel und Wald und Meer.

In der Realzeit blieben jedoch auch diese Reisenden nur ein paar Jahre am Leben. Sie hatten keinen Nachschub an Medikamenten, keine Möglichkeit, ihre Maschinen zu warten oder Lebensmittel zu produzieren. Ihre Ausrüstungen versagten bald, und dann waren sie in der Wildnis gestrandet.

Aber einige, einige ganz wenige, hatten sich gegen Ende des 22. Jahrhunderts verblast, und damals hatte die Technik dem einzelnen Individuum größeren Wohlstand ermöglicht, als im 20. Jahrhundert ganze Völker besessen hatten. Diese wenigen konnten außer ihren fortschrittlichsten Werkzeugen alles warten und von Neuem herstellen. Die meisten verließen die Zivilisation mit dem Wunsch, Abenteuer zu erleben. Sie hatten die Hilfsmittel, um weniger Glückliche zu retten, die über die Jahrhunderte, die Jahrtausende und schließlich die Megajahre verstreut waren.

Außer den Robinsons hatte keiner Kinder. Kinder in die Welt zu setzen, war für die Zukunft reserviert, wenn die Geister der Menschheit einen letzten Versuch machen würden, die Existenz der Rasse zu schützen. Deshalb waren die Kinder, die auf der Tanzfläche lärmend Fangen spielten, ein größeres Wunder als jede High-Tech-Magie. Als die Robinson-Töchter ihre jüngeren Geschwister einsammelten, um sie zu Bett zu bringen, herrschte ein Augenblick seltsamen, traurigen Schweigens.

Wil schlenderte durch den Buffetraum, blieb hie und da stehen und sprach mit seinen neuen Bekannten. Er war entschlossen, nach und nach jeden kennenzulernen. Ein hohes Ziel: Gelang es ihm, würde er jedes lebende Mitglied der menschlichen Rasse kennen. Die größte Gruppe – und die, die es Wil am schwersten machte, ihnen näher zu kommen – waren die Neumexikaner. Fraley selbst war nirgendwo in Sicht, aber die meisten seiner Leute waren da. Wil entdeckte die Korporale, die ihm beim Schaufeln geholfen hatten, und sie stellten ihn einigen anderen Leuten vor. Die Atmosphäre war freundlich, bis sich ihnen ein NM-Offizier zugesellte.

Wil entschuldigte sich und schob sich langsam auf die Tanzfläche zu. Die meisten fortgeschrittenen Reisenden waren auf der Party, und sie mischten sich unter die anderen. Eine Menschenmenge umgab Juan Chanson. Der Archäologe erläuterte seine Theorie über das Große Sterben. »Invasion. Vernichtung. Das ist der Anfang und das Ende davon.« Sein abgehackter, rasselnder englischer Dialekt machte seine Ausführungen noch eindrucksvoller.

»Aber, Professor«, wandte jemand – es war Rohan Dasgupta – ein, »mein Bruder und ich sind 2465 aus der Stasis gekommen. Das Große Sterben kann nicht viel mehr als zwei Jahrhunderte vorher stattgefunden haben. Neuest-Delhi lag in Ruinen. Viele der Gebäude waren vollkommen eingestürzt. Spuren von Atom- oder Laserwaffen gab es jedoch überhaupt keine.«

»Natürlich. Stimme Ihnen zu. Nicht bei Delhi. Aber Sie müssen sich klarmachen, mein Junge, Sie haben nur einen sehr kleinen Teil des Bildes gesehen. Die meisten von denen, die gleich nach dem Großen Sterben zurückkehrten, hatten nicht die Ausrüstung zu studieren, was sie sahen. Ein Jammer. Ich kann Ihnen Bilder zeigen … Los Angeles ein Fünfzig-Kilometer-Krater, Beijing ein großer See. Noch heute ist es möglich, mit der richtigen Ausrüstung den Beweis von nuklearen Explosionen zu finden.

Ich habe Jahrhunderte darauf verwendet, die Reisenden, die Ende des dritten Jahrtausends gelebt haben, aufzuspüren und zu befragen. Ich habe doch sogar Sie interviewt.« Chansons Blick ging für einen Sekundenbruchteil ins Leere. Wie die meisten der High-Techs trug er ein Interface-Band um die Stirn. Ein kurzer Gedanke konnte eine Flut von Erinnerungen herbeirufen. »Sie und Ihr Bruder. Das war etwa im Jahr 10 000, nachdem die Korolews Sie gerettet hatten …«

Dasgupta nickte eifrig. Für ihn war das erst Wochen her. »Ja, sie hatten uns nach Kanada verlagert. Ich weiß immer noch nicht, warum …«

»Der Sicherheit wegen, mein Junge. Das Sankt-Lorenz-Schelf ist ein sicherer Ort für langfristige Lagerungen, fast so gut wie eine Kometenumlaufbahn.« Mit einer Handbewegung schob er das Thema beiseite. »Wesentlich ist, ich und ein paar weitere Befrager haben diese getrennten Beweisstückchen zusammengesetzt. Knifflige Arbeit – die Zivilisation des 23. Jahrhunderts verfügte über riesige Datenbanken, aber die Speichermedien zerfielen innerhalb von Jahrzehnten nach dem Großen Sterben bis zur Unbrauchbarkeit. Wir haben weniger zeitgenössische Aufzeichnungen aus dieser Ära als von den Mayas. Trotzdem sind es genug … Ich kann sie Ihnen zeigen: Meine Rekonstruktionen der Norcross-Invasion-Graffiti, das gelochte Vanadiumband, das W.W. Sánchez auf Charon fand. Todesschreie der menschlichen Rasse.

Bei diesen Beweisen muss jeder vernünftige Mensch zugeben: Das Große Sterben war Ergebnis eines massierten Angriffs, der sich gegen eine irgendwie hilflose Bevölkerung richtete.

Jetzt behaupten doch einige, die menschliche Rasse habe sich einfach selbst umgebracht, der Krieg, vor dem die Leute im 20. Jahrhundert so viel Angst hatten, sei schließlich ausgebrochen und habe die ganze Welt zerstört …« Er sah zu Monica Raines hinüber. Die Malerin mit dem verkniffenen Gesicht lächelte säuerlich zurück, schluckte aber den Köder nicht. Monica gehörte der philosophischen Schule »Menschen taugen nichts« an. Das Große Sterben barg für sie keine Geheimnisse. Nach kurzer Pause fuhr Chanson fort: »Wenn Sie die Beweise richtig studieren, werden Sie Spuren von äußeren Einflüssen entdecken. Sie werden sehen, dass unsere Rasse von etwas ermordet wurde, das … von außen kam.«

Die Frau neben Rohan keuchte leise auf. »Aber diese … diese Aliens. Was ist aus ihnen geworden? Wenn sie je zurückkommen – dann sitzen wir hier wie die Enten!«

Wil trat vom Rand der Gruppe zurück und ging weiter in Richtung Tanzfläche. Hinter sich hörte er Juan Chanson triumphieren: »Genau! Das ist die praktische Seite meiner Nachforschungen. Wir müssen an der solaren Front Wache halten …« Seine Stimme ging im Hintergrundgeschnatter unter. In Gedanken zuckte Wil die Achseln. Juan war einer der zugänglichsten High-Techs, und Wil hatte diesen Sermon schon öfter gehört. Ohne Frage war das Große Sterben das zentrale Mysterium ihres Lebens. Aber das Thema in einer oberflächlichen Unterhaltung anzugehen, war wie eine Diskussion über Theologie – und obendrein deprimierend.

 

Ein Dutzend Paare tanzte. Auf der Bühne sorgten Alice Robinson und Tochter Amy für die Musik. Amy spielte so etwas wie eine Gitarre. Alices Instrument war eine konventionellere Konsole. Sie improvisierten auf der Grundlage automatischer Musikgeneratoren. Die beiden echten Menschen im Vordergrund, deren Stimmen und Hände einen Teil der Musik erzeugten, machten das Orchester aufregend und real.

Sie spielten alles von Strauß-Walzern über die Beatles bis zu W.W. Arai. Ein paar der Arai-Nummern hatte Wil noch nie gehört. Sie mussten nach seiner … Abreise komponiert worden sein. Die Partner wechselten von Tanz zu Tanz. Die Arai-Melodien lockten mehr als dreißig Paare auf die Tanzfläche. Wil war es für den Augenblick zufrieden, den Beobachter zu spielen, und blieb am Rand stehen. Auf der anderen Seite sah er Marta Korolew; ihren Partner konnte er nicht entdecken.

Marta wiegte sich im Stehen und schnippte im Takt der Musik mit den Fingern. Ein verträumtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie ähnelte Virginia ein bisschen: Ihre schokoladenbraune Haut hatte fast den Ton, an den Wil sich erinnerte. Zweifellos stammte Martas Vater oder Mutter aus Amerika. Aber der andere Zweig ihrer Familie war offenbar chinesisch.

Von dem Äußeren abgesehen, gab es noch andere Ähnlichkeiten. Marta besaß Virginias extrovertierten goldenen Humor. Sie verband gesunden Menschenverstand mit ungewöhnlicher Teilnahme. Wil beobachtete sie viele Minuten lang, wobei er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Mehrere der kühneren Partygäste – Dilip war der erste – forderten sie auf. Marta sagte begeistert zu und war bald bei jeder Nummer auf der Tanzfläche. Sie bot einen erfreulichen Anblick. Wenn nur …

Eine Hand berührte seine Schulter, und eine weibliche Stimme klang ihm ins Ohr. »He, Mr. Brierson, stimmt es, dass Sie Polizist sind?«

Wil sah in blaue Augen, die nur ein paar Zentimeter von seinen entfernt waren. Tammy Robinson hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um ihm ins Ohr zu brüllen. Jetzt, wo sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, brachte sie die Fersen wieder auf die Erde, was ihr immer noch eine respektable Größe von 180 Zentimetern ließ. Wie immer war sie in fleckenloses Weiß gekleidet. Ein Interface-Band hielt ihr langes Haar zurück und wirkte wie ein Schmuckstück. Ihr Lächeln war von Grübchen flankiert. Sogar ihre Augen lächelten.

Brierson lächelte zurück. »Ja. Zumindest war ich früher einer.«

»Oh, wow.« Sie nahm seinen Arm und zog ihn weg von dem Lärm. »Ich habe noch nie einen Polizisten kennengelernt. Aber das sagt wohl nicht viel.«

»So?«

»Ja. Ich bin rund zehn Megajahre nach der Singularität – nach dem Großen Sterben, wie Juan sagt – geboren. Ich habe alles über Polizisten und Kriminelle und Soldaten gelesen und mir angesehen, aber bis heute bin ich nie einem begegnet.«

Wil lachte. »Nun, jetzt können Sie alle drei Arten kennenlernen.«

Tammy geriet in Verlegenheit. »Verzeihung. So unwissend bin ich gar nicht. Ich weiß, dass Polizisten etwas anderes sind als Kriminelle und Soldaten. Aber es ist so seltsam: Das sind alles Berufe, die es nur geben kann, wenn sich Massen von Leuten entschließen zusammenzuleben.«

Massen von Leuten. Mehr als eine einzige Familie. Brierson erkannte den Abgrund, der sie trennte.

»Ich glaube, es wird Ihnen gefallen, andere Leute um sich zu haben, Tammy.«

Sie lächelte und drückte seinen Arm. »Daddy sagt das auch immer. Langsam verstehe ich es.«

»Stellen Sie es sich nur einmal vor. Bevor Sie hundert sind, wird Korolew beinahe eine Großstadt sein. Sie können dann ein paar Tausend Leute kennenlernen, Leute, die interessanter und Ihrer Aufmerksamkeit würdiger sein werden als Kriminelle.«

»Ja, aber wir werden das nicht abwarten. Ich möchte schon mit vielen Leuten zusammenkommen – zumindest Hunderten. Aber wie soll man es aushalten, in einem kleinen Winkel der Zeit eingeschlossen zu sein?« Sie sah ihn an, und plötzlich schien ihr aufzugehen, dass Briersons ganzes Leben auf ein einziges Jahrhundert beschränkt gewesen war. »Hm, wie kann ich es erklären? Also dort, wo Sie herkommen, hat es Luft- und Raumfahrt gegeben, richtig?« Brierson nickte. »Sie konnten reisen, wohin Sie wollten. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie hätten stattdessen Ihr Leben in einem Haus in einem tiefen Tal verbringen müssen. Manchmal hätten Sie Geschichten über andere Orte gehört, aber Sie hätten nie das Tal verlassen können. Wären Sie dabei nicht verrückt geworden?

Genauso empfinde ich, was einen Daueraufenthalt in Korolew angeht. Wir sind jetzt sechs Wochen hier. Das ist nicht lange im Vergleich zu manchen unserer Besuche, aber für mich lange genug, dieses Gefühl zu bekommen. Die Tiere verändern sich nicht. Ich sehe hinaus, und die Berge sitzen einfach da.« Sie seufzte resigniert. »Ach, ich kann es nicht erklären. Aber heute Abend werden Sie etwas zu sehen bekommen, das Ihnen zeigt, was ich meine. Daddy wird den Videofilm vorführen, den wir aufgenommen haben. Er ist phantastisch!«

Wil lächelte. Blasen änderten die Tatsache nicht, dass die Zeit eine Einbahnstraße war.

Tammy sah die Ablehnung in seinen Augen. »Sie müssen doch auch empfinden wie ich. Kein kleines bisschen? Ich meine, warum sind Sie dann in Stasis gegangen?«

Wil schüttelte den Kopf. »Tammy, hier sind viele Menschen, die nicht darum gebeten haben, verblast zu werden … Ich bin dazu gezwungen worden.« Es war ein lausiger Fall von Veruntreuung gewesen. Wenn er zurückdachte, war er ganz frisch in seinem Gedächtnis, in vieler Beziehung realer als die Welt der letzten paar Wochen. Der Auftrag hatte ganz ungefährlich ausgesehen. Die Anforderung eines bewaffneten Ermittlers war eine Formalität gewesen, die die Vorschriften seiner Gesellschaft verlangten: Der gestohlene Betrag lag gerade eben über zehntausend gAu. Aber irgendjemand war verzweifelt oder leichtfertig gewesen … oder einfach bösartig. In Wils Zeitalter galt offensives Verblasen für mehr als ein Jahrhundert unter den meisten Gerichtsbarkeiten als Totschlag, und Wils Stasis hatte eintausend Jahrhunderte gedauert. Natürlich sah Wil nicht den Mord an einem gewissen W.W. Brierson als das eigentliche Verbrechen an. Viel schrecklicher war die Vernichtung der Welt, die er gekannt, der Familie, die er geliebt hatte.

Er erzählte Tammy die Geschichte, und sie machte große Augen. Sie versuchte es zu verstehen, aber Wil meinte, aus ihrem Blick eher Staunen als Teilnahme herauszulesen. Verlegen brach er ab.

Während er noch über einen passenden Themenwechsel nachsann, fiel ihm die helle Gestalt auf der anderen Seite der Tanzfläche auf. Es war die Person, die er am Strand gesehen hatte. »Tammy, wer ist das?« Er deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung.

Tammy riss ihren Blick von seinem Gesicht los und spähte hinüber. »Oh! Sie ist unheimlich, nicht wahr? Eine Raumfahrerin. Können Sie sich das vorstellen? In fünfzig Millionen Jahren hat sie die ganze Galaxis bereist. Wir vermuten, dass sie mehr als neuntausend Jahre alt ist. Und die ganze Zeit allein.« Tammy erschauerte.

Neuntausend Jahre! Damit wäre sie der älteste Mensch, den Wil je gesehen hatte. Hier sah sie wesentlich menschlicher aus als am Strand. Zunächst einmal hatte sie mehr an: Eine Bluse und einen Rock, die entschieden feminin waren. Ihren Schädel bedeckten jetzt kurze schwarze Stoppeln. Ihr Gesicht war glatt und blass. Wil konnte sich vorstellen, dass sie, wenn die Haare gewachsen waren, wie eine normale junge Frau aussehen würde – wahrscheinlich wie eine Chinesin.

Ein Meter Leere umgab die Raumfahrerin. Überall sonst drängten sich die Gäste dicht bei dicht. Viele klatschten in die Hände und sangen; kaum einer konnte widerstehen, im Takt der Musik mit dem Fuß zu wippen oder mit dem Kopf zu nicken. Aber die Raumfahrerin stand still da, fast bewegungslos, die dunklen Augen ungerührt auf die Tanzenden gerichtet. Gelegentlich zuckte bei ihr ein Arm oder ein Bein wie in einer gebrochenen Resonanz auf die Melodien.

Anscheinend spürte sie Wils Blick. Sie sah zu ihm herüber, die Augen ausdruckslos, analysierend. Diese Frau hatte mehr gesehen als die Robinsons, die Korolews – mehr als all die High-Techs zusammen. War seine Phantasie schuld, dass er sich plötzlich wie ein Käfer auf einem Objektträger fühlte? Die Lippen der Frau bewegten sich in dieser verkrampften Bewegung, an die er sich vom Strand her erinnerte. Damals hatte er den Eindruck kalter Fremdartigkeit, einer beinahe insektenhaften Geste gehabt. Jetzt kam Wil blitzartig die Einsicht: Erinnerte sich ein Mensch nach neuntausend Jahren Einsamkeit, neuntausend Jahren auf Gott weiß wie vielen Welten noch an so einfache Dinge wie ein Lächeln?

»Kommen Sie, Mr. Brierson, tanzen wir.« Tammy Robinson zog an seinem Ellbogen.

 

Wil tanzte in dieser Nacht mehr als seit der Zeit, in der er mit Virginia ausgegangen war. Die kleine Robinson konnte einfach nicht genug bekommen. Nicht etwa, dass sie mehr Stehvermögen gehabt hätte als Brierson. Er achtete auf seine Kondition und hielt sein biologisches Alter bei etwa zwanzig; mit seinem schweren Knochenbau und der Neigung zu Übergewicht konnte er sich ein schickes mittleres Alter nicht leisten. Aber Tammy hatte den Enthusiasmus einer Siebzehnjährigen. Mit einer anderen Hautfarbe hätte sie ihn an seine Tochter Anne erinnert: knuddelig, aufgeweckt und ein kleines bisschen räuberisch, wenn es um die Männer ging, die sie wollte.

Drehten sich im Kreis herum, und Marta Korolew erschien immer wieder in seinem Blickfeld. Marta tanzte nur ein paarmal mit ein und demselben Partner und verbrachte beträchtliche Zeit abseits der Tanzfläche im Gespräch. Dieser Abend würde den Ruf der Korolews beträchtlich verbessern. Später, als er sie zu der Vorführung weggehen sah, unterdrückte er einen Seufzer der Erleichterung. Es war ein deprimierendes Spielchen gewesen, sie zu beobachten und die ganze Zeit so zu tun, als sehe er nicht zu ihr hin.

Die Beleuchtung wurde heller, und die Musik verstummte. »Es ist noch eine Stunde bis Mitternacht, Leute«, erklang Don Robinsons Stimme. »Wenn Sie möchten, tanzen Sie ruhig bis zur Geisterstunde weiter, aber ich würde Sie gern mit ein paar Bildern und Ideen von mir bekannt machen. Falls Sie daran Interesse haben, gehen Sie bitte den Flur hinunter.«

»Das ist der Videofilm, von dem ich Ihnen erzählt habe. Sie müssen sich anhören, was Daddy zu sagen hat.« Tammy führte Wil von der Tanzfläche, obwohl gerade eine neue Nummer begann. Die Musik hatte an Schwung eingebüßt. Amy und Alice Robinson hatten das Podium verlassen. Für den Rest des Abends würde es nur noch Aufnahmen ohne Interpretation geben.

Hinter ihnen löste sich die Menge um die Tanzfläche auf. Den ganzen Abend über waren Andeutungen gefallen, diese letzte Party werde höchst spektakulär werden. Fast alle würden sich im Theater der Robinsons einfinden.

Beim Weg durch den Flur wurden die Lampen über ihnen matter. Das Theater selbst war ganz in blaues Licht getaucht. Ein Globus der Erde, vier Meter im Durchmesser, hing über den Sitzen. Wer über verschiedene Satelliten-Blickwinkel verfügte, konnte ein Holo des gesamten Planeten konstruieren und in blaugrüner Perfektion über den Zuschauern aufhängen. Vom Eingang des Theaters aus gesehen, befand sich diese Welt in Viertelphase; die Sonnenaufgangslinie berührte gerade den Himalaja. Mondschein glitzerte schwach auf dem Indischen Ozean. Die Umrisse der Kontinente waren die aus dem Zeitalter des Menschen.

Trotzdem war etwas Merkwürdiges an dem Bild. Wil musste zweimal hinsehen, ehe er es erkannte: Es gab keine Wolken.

Gerade wollte er um den Globus herumgehen zu den Sitzen, als er zwei Schatten hinter der dunklen Seite bemerkte. Sie sahen wie Don Robinson und Marta Korolew aus. Wil blieb stehen, hörte nicht auf Tammys Drängen, sie müssten sich beeilen, um die besten Plätze zu bekommen. Der Raum füllte sich rasch mit Partygästen, aber Wil vermutete, dass er der Einzige war, der Robinson und Marta gesehen hatte. Etwas war seltsam: Marta Korolews angespannte Haltung. Alle paar Sekunden schlug sie nach der Luft zwischen ihnen. Der Schatten, der Don Robinson war, blieb bewegungslos, auch als Martas Aufregung wuchs. Wil hatte den Eindruck, dass auf leidenschaftliche Fragen kurze, wenig zufriedenstellende Antworten gegeben wurden. Die Worte verstehen konnte er nicht; entweder standen sie hinter einem Schallschirm, oder sie dämpften ihre Stimmen. Schließlich drehte Robinson sich um und verschwand hinter dem Globus. Marta, immer noch gestikulierend, folgte ihm.

Nicht einmal Tammy hatte etwas bemerkt. Sie führte Brierson an den Rand des Zuschauerraums, und sie setzten sich hin. Eine Minute verging. Marta tauchte von jenseits der sonnenbeschienenen Hemisphäre auf, ging durch den Zuschauerraum und nahm nahe der Tür Platz.

Musik erklang, gerade laut genug, um die Versammelten zum Schweigen zu bringen. Tammy berührte Wils Hand. »Oh. Da kommt Daddy.«

Don Robinson erschien plötzlich neben der sonnenbeschienenen Hemisphäre. Er warf keinen Schatten auf den Globus, obwohl beide von dem gleichen synthetischen Sonnenlicht angestrahlt wurden. »Guten Abend allerseits. Ich möchte unsere Party mit dieser kleinen Licht-Show beenden – und Ihnen dazu ein paar Ideen vortragen, die Sie, wie ich hoffe, zum Nachdenken anregen werden.« Er hob die Hand und grinste entwaffnend. »Ich verspreche, hauptsächlich werden es Bilder sein!«

Sein Holo-Bild drehte sich zur Seite und tätschelte den Globus vertraulich. »Wir alle haben, ein paar Glückliche ausgenommen, unsere Reise zeitabwärts unvorbereitet angetreten. Die erste Verblasung war entweder ein Unfall oder als einmaliger Sprung in etwas geplant, das wir uns als eine freundlichere zukünftige Zivilisation vorstellten. Unglücklicherweise – wie wir alle entdeckt haben – gibt es keine solche Zivilisation, und viele von uns waren gestrandet.« Robinson sprach freundlich und geläufig, und der Ton seiner Stimme war der, den man traditionell mit dem Verkauf von Frühstücksflocken oder Religion in Verbindung bringt. Wil irritierte es, dass Robinson »wir« und »uns« auch dann sagte, wenn er nur die Low-Tech-Reisenden meinte.

»Nun gab es aber auch solche, die gut ausgerüstet waren. Einige von ihnen haben daran gearbeitet, die Gestrandeten zu retten, uns alle an einem Ort zusammenzubringen, wo wir frei über den neuen Kurs der Menschheit bestimmen können. Meine Familie, Juan Chanson und andere, wir haben getan, was wir konnten … aber die Korolews hatten die Hilfsmittel, um dies zu bewerkstelligen. Marta Korolew ist heute Abend hier.« Er winkte mit großer Geste in ihre Richtung. »Ich finde, Marta und Yelén verdienen einen herzlichen Applaus.« Es wurde höflich geklatscht.

Wieder tätschelte er den Globus. »Keine Bange, ich komme schon zu unserem Freund hier … Ein Problem gibt es bei all diesen Rettungsaktionen. Die meisten von uns haben die letzten fünfzig Millionen Jahre in langfristiger Stasis verbracht und darauf gewartet, dass sich alle ›Akteure‹ zu dieser letzten Diskussion versammeln. Fünfzig Millionen Jahre ist eine lange Zeit, und es ist derweilen viel geschehen.

Folgendes möchte ich Ihnen heute Abend mitteilen. Alice, die Kinder und ich waren unter den Glücklichen. Wir besitzen fortschrittliche Verblaser und viele autonome Geräte. Wir sind Hunderte von Malen aus der Stasis gekommen. Wir hatten die Möglichkeit, mit der Erde zu leben und zu wachsen. Die Bilder, die ich Ihnen gleich zeigen werde, sind eine Dokumentation unserer Reise in die Gegenwart.

Ich beginne mit dem großen Bild – mit der Erde, aus dem Weltraum gesehen. Der Globus, den Sie hier sehen, ist in Wirklichkeit eine Fotomontage aus Teilen ohne Wolkendecke. Die Aufnahmen stammen vom Anfang des vierten Jahrtausends, unmittelbar nach dem Zeitalter des Menschen. Dies ist unser Startpunkt.

Beginnen wir nun unsere Reise.« Robinson verschwand und gewährte den Zuschauern einen ungehinderten Blick auf den Globus. Jetzt bemerkte Wil einen grauen Nebel, der die polare Eiskappe umwallte. »Wir bewegen uns etwa ein halbes Megajahr pro Minute vorwärts. Die Kamera-Satelliten waren programmiert, jedes Jahr zur gleichen Zeit dieselben Gebiete zu fotografieren. Bei dieser Geschwindigkeit sind sogar Klimazyklen nur als unscharfe Gebiete erkennbar.« Der graue Nebel musste der Rand des antarktischen Packeises sein! Wil sah sich Asien genauer an. Dort gingen in phantastischer Geschwindigkeit grüne und braune Flecken ineinander über. Trockene und feuchte Perioden. Wälder und Dschungel im Kampf gegen Savanne und Wüste. Im Norden flackerte es weiß wie von Blitzen. Plötzlich breitete sich die gleißende Helle nach Süden aus. Sie drang vor und zog sich zurück, wieder und immer wieder. In weniger als einer Viertelstunde hatte sie sich hinter den nördlichen Horizont zurückgezogen. Abgesehen von den schimmernden Schneegipfeln des Himalaja breitete sich über Asien von Neuem das Grün und Braun aus. »Wir hatten hier eine recht anständige Eiszeit«, erklärte Robinson. »Sie dauerte länger als hunderttausend Jahre … Wir haben uns mittlerweile aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Menschen entfernt. Ich erhöhe die Geschwindigkeit … auf fünf Megajahre pro Minute.«

Wil sah zu Marta Korolew hinüber. Sie beobachtete die Vorführung, aber ihr Gesicht zeigte einen für sie uncharakteristischen Ausdruck von Missvergnügen. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.

Tammy Robinson beugte sich leicht zu ihm herüber und flüsterte: »Jetzt geht es erst richtig los, Mr. Brierson!«

Wil wandte sich wieder dem Globus zu, aber seine Aufmerksamkeit war zwischen dem Film und dem Geheimnis von Martas Ärger geteilt.

Fünf Millionen Jahre pro Minute. Gletscher und Wüste und Wald und Dschungel gingen ineinander über. Die eine oder andere Farbe mochte den pastellfarbenen Nebel vorübergehend beherrschen, aber der allgemeine Eindruck war stabil und beruhigend. Doch jetzt … doch jetzt bewegten sich die Kontinente! Ein Murmeln lief durch den Raum, als die Zuschauer begriffen, was sie da sahen. Australien rückte nordwärts, glitt in die östlichen Inseln des Indonesischen Archipels. Gebirge falteten sich entlang der Kollision auf. Dieser Teil der Welt lag nahe der Sonnenaufgangslinie. Waagerecht einfallende Sonnenstrahlen machten aus dem neuen Gebirge ein Relief.

Es war auch etwas zu hören. Von dem Globus stiegen Geräusche auf, die Wil an das Reiben von nassem Holz an nassem Holz erinnerten. Ein Knistern, als zerknülle man Papier, begleitete die Geburt des Indonesischen Massivs. »Diese Geräusche sind echt, Freunde«, sagte Don Robinson. »Wir hatten eine System von Seismophonen auf der Erdoberfläche angebracht. Was Sie hören, sind Langzeit-Durchschnittsgeräusche seismischer Aktionen. Tausende von größeren Erdbeben waren notwendig, um eine Sekunde dieser Tonaufnahmen zu füllen.«

Während er sprach, verbanden sich Australien und Indonesien, setzten ihre Fahrt nordwärts gemeinsam fort und drehten sich leicht. Schon waren die Umrisse des Binnenmeeres zu erkennen. »Niemand konnte vorhersehen, was als Nächstes passieren würde«, setzte Robinson seine Reisebeschreibung fort. »Da! Achten Sie auf den Sprung, der sich durch Kambodscha zieht und die asiatische Platte zerbricht.« Eine Reihe von schmalen Seen erschien quer über Südostasien. »In einem Augenblick werden wir sehen, wie die neue Teilplatte die Richtung ändert, zurückgleitet und China rammt – wodurch sich das Kambodscha-Massiv auffaltet.«

Aus dem Augenwinkel sah Brierson, dass Marta der Tür zustrebte. Was geht hier vor? Er wollte aufstehen und stellte fest, dass Tammys Arm immer noch auf seinem lag.

»Warten Sie! Warum wollen Sie gehen, Mr. Brierson?«, flüsterte sie, sich erhebend.

»Ich muss etwas nachprüfen, Tammy.«

»Aber …« Sie erkannte wohl, dass eine weitere Diskussion sie von der Vorführung ihres Vaters ablenken würde, und setzte sich. Ihr Gesicht zeigte, dass sie verwirrt und ein bisschen verletzt war.

»Tut mir leid, Tam«, flüsterte Wil. Er ging zur Tür. Hinter ihm krachten Kontinente ineinander.

 

Die Geisterstunde. Die Zeit zwischen Mitternacht und dem Beginn des nächsten Tages. Eigentlich waren es fünfundsiebzig Minuten statt einer Stunde. Seit dem Zeitalter des Menschen hatte sich die Erdrotation verlangsamt. Jetzt, nach fünfzig Megajahren dauerte ein Tag etwas länger als fünfundzwanzig Stunden. Statt die Definition der Sekunde oder der Stunde zu ändern, hatten die Korolews dekretiert (als eines unter vielen Dekreten), der Standardtag solle aus vierundzwanzig Stunden plus der Zeitspanne bestehen, die notwendig war, um eine Umdrehung zu vollenden. Yelén nannte die zusätzliche Zeit die Dehnfuge. Alle anderen nannten sie die Geisterstunde.

Wil wanderte in der Geisterstunde umher und hielt nach irgendeiner Spur von Marta Korolew Ausschau. Er befand sich immer noch auf dem Grundstück der Robinsons, das war offensichtlich: Als fortschrittliche Reisende besaßen die Robinsons viele Roboter. Die Asche des Rettungstages war sorgfältig von den Steinsitzen, den Springbrunnen, den Bäumen, sogar von dem Boden entfernt worden. Eine kühle Nachtbrise trug den Duft der Fast-Jakarandas mit sich.

Auch ohne die Lichtlein, die die Pfade entlangschwebten, hätte Wil seinen Weg ohne Schwierigkeiten gefunden. Zum ersten Mal seit den Explosionen war die Nacht klar – nun, nicht richtig klar, aber er konnte den Mond sehen. Die stratosphärische Asche gab seinem fahlen Licht lediglich einen leichten Rotschimmer. Der alte Bursche sah noch ziemlich genauso aus wie zu Wils Zeit, nur die Flecken der industriellen Vergiftung waren verschwunden. Rohan Dasgupta behauptete, der Mond sei jetzt ein Stückchen weiter entfernt, und es werde nie wieder eine totale Sonnenfinsternis geben. Der Unterschied war allerdings nicht so groß, dass Wil ihn hätte erkennen können.

Das rötliche Silberlicht fiel hell in den Garten der Robinsons, aber Marta war nirgendwo zu sehen. Wil blieb stehen, ließ den Atem entweichen und lauschte. Da waren Schritte. Er rannte in ihre Richtung und holte Marta noch innerhalb des Besitzes ein.

»Marta, warten Sie!« Sie hatte bereits haltgemacht und sich zu ihm umgedreht. Etwas Dunkles und Massiges schwebte ein paar Meter über ihr. Wil warf einen Blick nach oben und verlangsamte sein Tempo. Diese autonomen Geräte erregten in ihm immer noch ein unbehagliches Gefühl. Zu seiner Zeit hatte es sie nicht gegeben, und ganz gleich, wie oft man ihm versicherte, sie seien ungefährlich, es war entnervend, an die Feuerkraft zu denken, die ihnen zu Gebote stand – unabhängig von den direkten Befehlen ihrer Herren. Mit ihrem Beschützer in der Luft über sich war Marta beinahe ebenso sicher wie zu Hause auf Burg Korolew.

Jetzt, wo er sie eingeholt hatte, wusste er nicht recht, was er sagen sollte. »Was ist los, Marta? Ich meine, stimmt etwas nicht?«

Erst dachte er, sie wolle ihm nicht antworten. Sie stand mit geballten Fäusten da. Der Mondschein zeigte Tränenspuren auf ihrem Gesicht. Sie sank in sich zusammen und presste die Hände an die Schläfen. »Dieser Sch-schuft Robinson! Dieser schleimige Schuft!«, stieß sie hervor.

Wil trat näher. Das Schutzgerät rückte ein Stück vor und behielt ihn im Blick. »Was ist geschehen?«

»Sie wollen es wissen? Ich werde es Ihnen erzählen … aber setzen wir uns doch. Ich gl-glaube nicht, dass ich noch viel länger stehen kann. Ich bin s-so wütend.« In der Nähe stand eine Bank; sie ging dorthin und setzte sich. Wil ließ sich neben ihr nieder und wäre fast wieder aufgesprungen. Bei einer Berührung mit der Hand fühlte die Bank sich wie Stein an, aber unter dem Gewicht des ganzen Körpers gab sie nach wie ein Kissen.

Marta legte ihm die Hand auf den Arm, und einen Augenblick lang hielt er es für möglich, dass sie den Kopf an seine Schulter legen würde. Die Welt war jetzt sehr leer, und Marta erinnerte ihn so sehr an Verlorenes … Aber in die Welt der Korolews einzudringen, war wahrscheinlich das Ungehobeltste, das Gefährlichste, was er tun konnte. Abrupt stellte er fest: »Das ist vielleicht nicht der beste Ort, um miteinander zu reden.« Er wies auf den Springbrunnen und die sorgfältig gepflegten Bäume. »Ich wette, die Robinsons überwachen das ganze Grundstück mit Monitoren.«

»Ha! Wir sind abgeschirmt.« Marta nahm ihre Hand von seinem Arm. »Außerdem weiß Don, was ich von ihm halte.

In all diesen Jahren haben die Robinsons so getan, als unterstützten sie unseren Plan. Wir haben ihnen geholfen, haben ihnen die Pläne für Fabriken überlassen, die es noch gar nicht gab, als sie die Zivilisation verließen. Aber die ganze Zeit haben sie nur abgewartet und dabei ihre hübschen Bilder aufgenommen, während wir die Arbeit getan und das, was von der menschlichen Rasse übrig war, an einen Ort und in eine Zeit geholt haben.

Und jetzt, wo wir alle zusammengebracht haben, jetzt, wo wir die Mithilfe eines jeden brauchen, jetzt fangen sie an, Leute von uns wegzulocken. Ich will Ihnen etwas sagen, Wil. Unsere Siedlung ist die letzte Chance der Menschheit. Ich werde alles, und ich meine alles, tun, um sie zu schützen.« Marta hatte immer so fröhlich, so optimistisch gewirkt. Das machte ihren Zorn noch eindrucksvoller. Aber diese beiden Eigenschaften straften sich nicht gegenseitig Lügen. Marta war wie eine Katzenmutter, plötzlich wild und tödlich, um ihre Jungen zu schützen.

»Also wollen die Robinsons die Stadt entzweireißen? Wollen sie eine eigene Kolonie gründen?«

Marta nickte. »Aber nicht, wie Sie denken. Diese Wahnsinnigen wollen weiter zeitabwärts springen und auf ihrem Weg in die Ewigkeit alle Sehenswürdigkeiten mitnehmen. Robinson bildet sich ein, wenn er die meisten von uns überreden kann mitzukommen, wird er ein stabiles System haben. Er nennt es eine ›Zeit-Urbanisierung‹. In den nächsten paar Milliarden Jahren soll seine Kolonie immer einen Monat pro Megajahr außerhalb der Stasis verbringen. Wenn die Sonne die Hauptreihe verlässt, will er in den Weltraum gehen und sich durch immer längere Sprünge hinausverblasen. Er hat tatsächlich vor, der Evolution des ganzen gottverdammten Universums zu folgen!«