Der Friedhofsänger 6: Das Geschenk - Daniel Stenmans - E-Book

Der Friedhofsänger 6: Das Geschenk E-Book

Daniel Stenmans

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Beschreibung

Ein Weihnachtsgrusel: In diesem Jahr erhält Martin Verheyen sein Weihnachtsgeschenk bereits vor den Festtagen: Die Nachricht über den Tod seines Vaters lässt ihn aufatmen. Am Heiligen Abend jedoch wartet unter dem Weihnachtsbaum ein weiteres Geschenk auf ihn, von dem niemand weiß, wie es dahin gekommen ist: ein Gemälde. Das Porträt seines toten Vaters. Und dieses Bild hat es in sich ... In der Horror-Mystery-Grusel-Serie "Friedhofsänger" von Daniel Stenmans sind 5 weitere Bände erschienen: 1: "Der Polizist", 2: "Die Puppe", 3: "Die Traumfrau", 4: "Die Schreibmaschine" und 5: "Das Atelier".

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Seitenzahl: 165

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Die Serie:

Werner P. Bonner besitzt eine unheimliche Gabe: Wenn er seine Hand auf die Grabsteine des Friedhofs legt, sieht er, wie die Menschen zu Tode gekommen sind. Mehr noch: Er sieht die Wahrheit. Eine Wahrheit, so düster und unheimlich, dass man sie besser nicht erzählen sollte. Doch Bonner kann nicht anders. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Wahrheiten zu verkünden.

Jede Nacht zieht der Friedhofsänger, so nennen ihn die Leute, weil er so schaurige Geschichten zu erzählen weiß, durch die Straßen von Kevelaer, einem Wallfahrtsort am unteren Niederrhein, immer auf der Suche nach neuen Zuhörern ...

BAND 6: DAS GESCHENK

In diesem Jahr erhält Martin Verheyen sein Weihnachtsgeschenk bereits vor den Festtagen: Die Nachricht über den Tod seines Vaters lässt ihn aufatmen. Am Heiligen Abend jedoch wartet unter dem Weihnachtsbaum ein weiteres Geschenk auf ihn, von dem niemand weiß, wie es dahin gekommen ist: ein Gemälde. Das Porträt seines toten Vaters. Und dieses Bild hat es in sich ...

Der Autor:

Daniel Stenmans wurde 1979 in Goch (Nordrhein-Westfalen) geboren und wohnt in Kevelaer. Er hat diverse Theaterstücke veröffentlicht (u.a. ‚Es muss ja nicht immer Shakespeare sein‘, ‚Haltet den… Hasen‘, ‚Holland in Not‘) und, gemeinsam mit Michael Hübbeker, die interaktiven Mystery-Hörbücher ‚Die Femeiche‘ und ‚Die schwarze Kirche‘ (Ueberreuter Verlag). ‚Der Friedhofsänger‘ ist seine erste E-Book-Reihe.

Daniel Stenmans

Der Friedhofsänger

Band 6:Das Geschenk

Mystery-Horror-Reihe

mainbook Verlag Frankfurt

ISBN 978-3-946413-57-8

Copyright © 2017 mainbook VerlagAlle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd FischerCover-Layout und -Rechte: Boris Braun

Weitere spannende Bücher finden Sie auf:www.mainbook.de und auf www.mainebook.de

Inhalt

Der Autor:

Intro

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Outro

Intro

Guten Abend.

Wie geht es Ihnen? Sie hier zu sehen, sagt mir, dass Ihre morbide Neugier größer ist als Ihre Angst. Wollen mal sehen, ob wir das nicht umkehren können…

Ein paar neue Gesichter sehe ich auch. Sie haben von mir gehört? Und von meinen Geschichten? Dann möchte ich mich Ihnen zu Beginn kurz vorstellen.

Ich bin ein harmloser Kerl, der niemandem etwas Böses will. Zumindest glauben die meisten, dass ich einer bin. Die, die das nicht glauben, gehen mir einfach aus dem Weg. Sobald sie mich sehen, wechseln sie die Straßenseite oder machen einfach auf dem Absatz kehrt. Die Menschen hier glauben, es ist besser, nichts mit mir zu tun zu haben. Sie glauben, dass ich das Böse anziehe.

Und sie haben durchaus recht.

Werner P. Bonner, so heiß ich. Aber erinnern können sich nur noch die wenigsten an meinen richtigen Namen. Die meisten nennen mich einfach nur den Friedhofsänger.

Ich ziehe durch die Straßen von Kevelaer, einem kleinen, beschaulichen Wallfahrtsort im Kreis Kleve, in Nordrhein-Westfalen. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Zuhörern. Menschen, denen ich meine Geschichten erzählen kann. Menschen wie Sie. Was ich Ihnen erzählen will, sind Geschichten, die man eigentlich nicht hören möchte, aber denen man sich einfach nicht entziehen kann. Geschichten, die eine eigenartige Faszination besitzen.

Eine beängstigende Faszination.

Sie sollten wissen, Kevelaer ist ein Ort gewaltiger Kräfte. Vor allem spiritueller Kräfte. Der Handelskaufmann Hendrik Busmann hatte im 17. Jahrhundert eine Marienerscheinung, woraufhin er der Mutter Gottes eine Kapelle bauen ließ – die Gnadenkapelle, mitten im Herzen Kevelaers. Doch das Leben strebt immer nach einem Gleichgewicht. Wo Licht ist, existiert auch Schatten. Und die Schatten hier in Kevelaer sind tief. Schatten, in denen sich allerhand verborgen hält. Und manchmal krabbelt etwas daraus hervor und bringt das Gleichgewicht ins Wanken. Und schon entwickelt sich eine Geschichte, von der niemand etwas weiß, aber die erzählt werden will. Und da komme ich ins Spiel.

Es gibt die offizielle Geschichte… und es gibt die wahre Geschichte. Ich kenne sie alle. Die wahren Geschichten. Die offiziellen interessieren mich nicht. Dabei handelt es sich um eine Wahrheit, die immer im Schatten verborgen bleibt. Denn würde sie daraus hervor kriechen, würde sie sowieso niemand glauben. Aber nur weil etwas nicht wahrhaftig sein kann, heißt es nicht, dass es nicht trotzdem wahr ist… Ich lege meine Hand auf einen Grabstein des Friedhofs und schon erfahre ich, was wirklich passiert ist. Denn hinter einer Geschichte, gibt es immer noch eine zweite, von der niemand etwas wissen will.

Denn die kostet den Verstand.

Soll ich sie Ihnen erzählen?

Die wahre Geschichte…

Das hier ist der Grabstein von Martin Verheyen. Er war 34 Jahre alt, als er das Zeitliche segnete. Sein Leben verlief in sicheren Bahnen, er hatte alles erreicht, was man sich wünschen konnte: ein Haus, einen guten Job und eine liebe Frau, die ein Kind von ihm unterm Herzen trug. Doch ein Geschenk zu Weihnachten brachte seine Welt zum Einsturz und verwandelte es in einen furchtbaren Albtraum.

Hören Sie gut zu.

1

Frohe Weihnachten, dachte Martin am Morgen des 24. Dezembers. Er öffnete die Augen und reckte sich. Dafür, dass vor sechs Tagen sein Vater verstorben war, ging es ihm überraschend gut.

Warum auch nicht?, fragte er sich. Es war kein Geheimnis, dass sie sich nicht sonderlich nahe gestanden hatten. Soweit zumindest die offizielle Variante. In Wahrheit hassten sie sich. Gegenseitig. Zumindest ging Martin davon aus, dass Viktor Verheyen ihn genauso hasste wie er seinen Vater.

Martin drehte sich herum, legte sich auf die rechte Schulter und lächelte seine noch schlafende Frau an. Ihr Mund stand halb offen und ein leichtes Schnarchen war zu hören. Er schmunzelte.

Dann fielen ihm die Bilder seines Albtraumes wieder ein und sein Lächeln verschwand. Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht an den Traum denken, nicht an seinen Vater. Vorsichtig legte er seine linke Hand auf den runden Bauch seiner Frau und schloss die Augen. Er konzentrierte sich, hoffte eine kleine Bewegung zu spüren, wäre sie auch noch so gering. Doch er spürte nichts. Womöglich schlief sein kleines Baby.

Er zuckte mit den Schultern und stand leise auf. Sorgsam darauf achtend, nicht zu viel Lärm zu machen.

Martin passierte sein Arbeitszimmer, hielt kurz inne und verschloss die Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Er hatte es zwar nicht geschafft, sein gestriges Tagessoll zu schaffen, aber heute wollte er sich auch nicht nochmal dransetzen. Heute war Heiligabend. Heute nahm er sich frei. Sowie die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr.

Er ging in die Küche, kochte sich einen Kaffee und stellte, während sein morgendliches Lebenselixier durchlief, Teller, Tassen und Besteck für das gemeinsame Frühstück auf ein Tablett.

Mit einem dampfenden Kaffee in der Hand ging er ins Wohnzimmer. Er wollte gerade einen vorsichtigen Schluck nehmen, als sein Blick auf den Weihnachtsbaum fiel. Martin hielt in der Bewegung inne. Marion hatte bereits ein Geschenk unter den Baum gelegt. Neugierig trat er näher heran und nahm einen vorsichtigen, schlürfenden Schluck von seinem Kaffee.

Er ging in die Hocke.

Der Weihnachtsbaum maß ungefähr einen Meter und fünfzig. Er war mit goldenen und silbernen Kugeln geschmückt. Außerdem mit Lametta. Martin bestand auf Lametta. Marion fand es Quatsch, diese in dürren Streifen geschnittene Alufolie an die Äste zu hängen, aber für Martin gehörte es zu Weihnachten dazu wie für andere der obligatorische Kartoffelsalat mit Würstchen. Eine Krippe besaßen sie nicht. Noch nicht. Vielleicht nächstes Jahr, wenn ihr Baby auf der Welt sein würde.

Was kann das nur sein, fragte sich Martin und schätzte das Paket auf gut 1,5 mal 1 Meter. Es war verhältnismäßig dünn, maximal 5 Zentimeter. Irritierend fand er, dass es statt in weihnachtlichem Geschenkpapier in einfaches braunes Packpapier eingepackt war. Und das, obwohl Marion die Kreativität in Person war. Er musste wieder schmunzeln.

So langsam lässt sie sich gehen, dachte er und schlürfte wieder an seinem Kaffee. Er war sehr gespannt.

Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, schlich sich Martin in den Schuppen im Garten – eine Örtlichkeit, die Marion niemals freiwillig aufsuchte, da es dort, wie sie annahm, vor Spinnen nur so wimmelte – und holte seine Weihnachtsgeschenke für sie hervor. In einem Päckchen befand sich ein dünner Loop-Schal, im anderen ein Parfum. Eines, das sie eigentlich stets selbst kaufte. Zugegeben nicht sehr kreativ, aber dafür mit Liebe eingekauft. Er legte die kleinen Pakete neben das große und schämte sich, dass er nicht etwas anderes für sie gekauft hatte.

Aber nun war es zu spät.

Neun Stunden später fand die Bescherung statt. Marion und Martin aßen gemütlich zu Abend. Bei Kerzenschein, wie es sich gehörte. Dadurch veredelten sie den Kartoffelsalat. Anschließend setzten sie sich neben den Weihnachtsbaum, hielten sich im Arm, während Martin ihren kugelrunden Bauch streichelte, und hörten Musik. Es war eine CD mit Weihnachtsliedern, nicht gerade Rock-Christmas, aber Bing Crosby und Elvis Presley waren vertreten.

„Du fängst an“, sagte Martin nach einem leisen Rülpser. Er hoffte, dass Marion ihn nicht bemerkt hatte.

„Okay…“, sagte sie. Sie wand sich aus seinem Arm, krabbelte auf allen Vieren zum Weihnachtsbaum und holte die beiden kleinen Pakete hervor, die er dort für sie abgelegt hatte. Ob sie sich wirklich freute, konnte er beim besten Willen nicht sagen, aber er freute sich, dass sie auf jeden Fall so tat, als handelte es sich um die besten Geschenke, die sie je erhalten hatte.

Nun war er an der Reihe.

Seine Neugierde stieg ins Unermessliche.

Er streckte die Hand gerade nach dem braunen Paket aus, als er erkannte, dass ein kleineres, in einem blauen Sternchenpapier direkt danebenlag. Auf einem daran befestigten Etikett stand sein Name. Also griff Martin zunächst danach. Entweder hatte Marion das kleine Päckchen erst später dazu gelegt, oder es war ihm heute Morgen nicht aufgefallen. Er riss die blauen Sterne entzwei und entblößte dadurch das Cover des neusten Stephen-King-Romans.

Martin strahlte. „Danke, Schatz!“ Und gleichzeitig war er erfreut darüber, dass Marion auch nicht kreativer war als er.

Sie umarmten sich. Und gaben sich einen Kuss.

„Darf ich jetzt das Große aufmachen?“, fragte Marion und grinste übers ganze Gesicht. An Weihnachten werden selbst Erwachsene zu kleinen Kindern, dachte Martin. Marions große braune Augen funkelten vor Freude und gespannter Erwartung.

„Du?“, fragte Martin. Er war irritiert.

„Ach, komm schon…“ Sie piekste ihm in die Seite und grinste noch breiter.

„Ja, aber… das ist doch meines, oder?“, fragte er.

„Deins?“

Er nickte.

„Aber hast du es denn nicht für mich hingelegt?“, fragte sie.

„Ich?“

Sie nickte.

„Nein. Als ich heute Morgen herunterkam, lag es schon da. Deshalb dachte ich, du hättest es hingelegt.“

Marion ging ein wenig auf Abstand. In ihrem Blick lag nun Besorgnis. „Nein. Ich hab mein Geschenk erst heute Mittag da hingelegt. Da lagen deine beiden schon dort. Deshalb dachte ich, das Große sei auch von dir.“

Martin schüttelte den Kopf. Ihm wurde heiß und kalt. Schweiß bildete sich zwischen seinen Schulterblättern und in seinen Eingeweiden begann es zu brodeln und zu blubbern, als wirbelte dort eine Küchenmaschine alles durcheinander.

„Martin?“

Martin sagte nichts.

„Martin… das macht mir Angst…“

„Nun mal langsam… in unserem Wohnzimmer… unter unserem Weihnachtsbaum… liegt ein Geschenk… das ganz offensichtlich weder von dir noch von mir ist… Sehe ich das richtig?“

Marion sah ihn an. In ihren Augen las er, dass sie es wirklich mit der Angst zu tun bekam. Sie nickte schwach.

„Was soll der Scheiß?“, sagte Martin laut. Dabei wollte er es nur denken. Und nicht laut sagen.

„Martin!“, sagte Marion mit zitternder Stimme. „Hör auf damit!“

Ich hab echt Schiss, dachte er. Aber warum eigentlich? Klar: Wenn weder er noch sie dieses Paket dorthin gelegt hatte, dann musste es ein dritter getan haben. Jemand, der entweder einen Schlüssel zu ihrem Haus besaß oder auf anderem Weg eingedrungen war. Martin schluckte, und das Blubbern in seinem Bauch wurde immer schlimmer. Ich mach mir gleich in die Hosen, dachte er sorgenvoll.

Aber er musste stark sein. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren.

Martin ging in die Knie, reckte die Hand nach dem Paket aus.

„Was hast du vor?“

Martin zuckte zurück.

„Es aufmachen“, sagte er stöhnend.

„Und wenn es eine Bombe ist?“

„Warum sollte uns jemand eine Bombe ins Wohnzimmer legen?“

„Warum sollte uns überhaupt jemand etwas ins Wohnzimmer legen?“

Eins zu null für dich, Schatz, dachte Martin, strich seiner Frau Mut machend über die Wange und wandte sich wieder dem mysteriösen Geschenk zu. Er schluckte. Sein Unterhemd klebte am Rücken und seine Eingeweide verkrampften sich, dass er zusammenzuckte.

Seine Fingerspitzen berührten das Packpapier. Es war kalt. Dann strichen sie langsam darüber, spürten die zarten Riffel. Seine Finger griffen zu und zerrten das Paket unter dem Baum hervor.

„Lass uns die Polizei rufen.“

„Und was sollen wir sagen? Dass unter unserem Weihnachtsbaum ein Geschenk liegt, dass weder du noch ich dorthin gelegt haben? Mach dich nicht lächerlich, Schatz!“

„Ich denke, die Polizei wurde schon wegen weniger gerufen.“

Martin hielt das Paket nun mit beiden Händen. Es war schwer, schwerer als es zunächst aussah. Am Rand spürte er eine wuchtige Wulst, die einmal um das gesamte, rechteckige Objekt herumführte.

„Ich mach das Ding jetzt auf!“

Martin fasste nach der Klebefalz und schob die Finger darunter.

„Warte!“, rief Marion aus, der kleine Schweißperlen auf der Oberlippe standen.

„Was denn?“

„Ich liebe dich!“, sagte sie. Ihr Lächeln war unsicher, aber ernst gemeint.

„Ich liebe dich auch“, sagte er. Und dann: „Alles wird gut!“

Martin riss das Packpapier auf und wickelte den Inhalt daraus hervor. Sein Herz raste, hämmerte in seiner Brust. Er stöhnte, merkte nicht einmal, wie Marion hinter ihn trat und ihm die Hände auf die Schultern legte. Als er das Geschenk ausgepackt hatte und sah, worum es sich handelte, stöhnte er abermals auf. Er ließ das es fallen, rannte aus dem Wohnzimmer zur Gästetoilette und übergab sich. Marion sah ihm fassungslos hinterher.

Und dann auf das Geschenk.

„Was soll das sein?“, fragte Martin. „Ein Scherz?“

„Was soll es denn sonst sein?“

„Wenn es das ist, dann ist es ein ziemlich geschmackloser Scherz!“

Martin und Marion hielten sich bei den Händen, ihre Schultern berührten sich. So mussten Hänsel und Gretel ausgesehen haben, kurz bevor sie über die Schwelle des Pfefferkuchenhäuschens getreten waren.

Sie starrten das Geschenk an.

Eines, das seinen Weg geradewegs aus der Hölle hierher gefunden hatte.

Die Wulst, die Martin unter seinen Händen gespürt hatte, und an der er das Ding hatte festhalten können, war ein verschnörkelter, wuchtiger Bilderrahmen aus schwerem Holz gefertigt und mit goldener Farbe bemalt. Martin hätte sich nicht gewundert, wenn es echtes Gold wäre, so pompös wie der Rahmen aussah. Erst bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass es sich bei den Verzierungen nicht um irgendwelche Ornamente oder Muster handelte, sondern um Schlangen, die sich gegenseitig umschlängelten, sich umkreisten und, wie es aussah, sich gegenseitig auffraßen.

Wie nett, dachte Martin.

Doch nicht der abstrakte Rahmen hatte das Entsetzen in Martin heraufbeschworen, sondern das Motiv des Gemäldes, das ein Unbekannter ihm geschenkt hatte. Es handelte sich um das Porträt seines Vaters.

Es zeigte den gewaltigen, runden Kopf, über die breiten, stiernackigen Schultern, bis hin zur Brust. Die Augen, die unter den Wülsten einer kräftigen Stirn hervor lugten, waren kalt wie die Gletscher am Nordpol und stachen Martin bis ins Mark. Die kräftige Nase, die mindestens einmal gebrochen worden war – wie das passiert war, hatte Martin nie erfahren – prangte in der Mitte des Gesichts und warf einen Schatten auf die untere Gesichtshälfte. Die Mundwinkel waren leicht angehoben, dass es weder nach einem Lächeln noch nach einem neutralen Blick aussah. Es hatte etwas Gemeines, Bedrohliches. Der erste Begriff, der Martin einfiel, lautete: Böse. Viktor Verheyens feiste Wangen waren gerötet, spiegelten das Feuer der Hölle wieder. Die Härchen seines akkurat getrimmten Schnurbartes stachen hervor wie kleine Dolche. Schatten lagen auf seinem Gesicht, ließen sein Antlitz diabolisch und düster erschienen. Es kam einem vor, als wäre es gemalt worden, während eine Kerze die Szenerie ausleuchtete. Alles irgendwie unheimlich. Surreal.

Genau wie die Tatsache, dass dieses Bild überhaupt den Weg in ihr Wohnzimmer gefunden hatte.

Wie war es hergekommen?

2

Sechs Tage vorher. An diesem Tag bekam Martin Verheyen sein erstes, sein eigentliches Geschenk zu Weihnachten. Allerdings sagte er weder Danke noch dass er sich wahnsinnig darüber freute.

Er saß in seinem Arbeitszimmer, raufte sich mit den Händen die Haare, während seine brennenden Augen auf den flirrenden Bildschirm seines Computers starrten. Die geraden Linien seines Architektenentwurfs verschwammen vor seinen tränenden Augen und wuselten durcheinander wie ein Haufen aufgeschreckter Schlangen. Der größte Auftrag des Jahres war vor ein paar Wochen auf seinen Schreibtisch gesegelt. Er sollte ein Bürogebäude entwerfen. Nicht nur ein einfaches Büro, sondern ein ganzes Gebäude für eine namhafte Versicherungsgesellschaft, die in Kevelaer eine größere Zweigstelle eröffnen wollte. Dieser Auftrag war seine große Chance. Er musste das Ding rocken, dann wäre er aus dem Gröbsten raus und konnte mit Fug und Recht behaupten, sich als Architekt in Kevelaer einen Namen gemacht zu haben. Doch so wie es aussah, sollte die Rechnung nicht aufgehen. Die Wünsche des Kunden waren kreativ, innovativ und bedeuteten etwas Neues, allerdings haperte es derzeit an Martins Kreativität, diese Wünsche wahr werden zu lassen.

„Verdammter Mist“, stöhnte er und vergrub sein Gesicht in den Händen. „So wird das nichts. Reiß dich zusammen, Mann!“

Das Telefon klingelte und verhinderte, dass er noch weiter in dem Sumpf aus Selbstzweifel abrutschte.

Er stöhnte auf und nahm den Hörer von der Gabel. Zu spät wanderte sein gehetzter Blick aufs Display. Eine Nummer wurde nicht angezeigt, dafür der Name des Anrufers. Wilma Verheyen. Ein Familientherapeut hätte es sehr bezeichnend gefunden, weshalb Martin die Nummer seiner Mutter unter ihrem Vor- und Zunamen abgespeichert hatte, und sie nicht mit Mama oder wenigstens Mutter ins elektronische Telefonbuch eingegeben hatte. Er hatte seinerzeit eine geschlagene halbe Stunde mit sich gerungen. Doch es war ihm nicht möglich gewesen, die liebevoll meinenden Worte Mama oder Mutter auf der Tastatur einzugeben. Ihr Name musste genügen. Letzen Endes diente ihr Eintrag nur als Warnung. Und wäre Martin nicht zu sehr in Gedanken gewesen, hätte er gewiss den Hörer nicht abgenommen.

Nun war es zu spät.

„Ja“, ächzte er in den Hörer. Kein Hallo, Mutter. Kein Schön von dir zu hören. Einfach nur Ja. Alles andere wäre auch eine Lüge gewesen.

„M-m-maaartin…“, wimmerte die Frau, die ihn vor 35 Jahren geboren hatte, in den Hörer.

Martin schloss die Augen und atmete tief durch. „Ich hab keine Zeit, Mutter. Ich hab in zwei Tagen einen Abgabetermin und…“

„Dein Vater!“

Martins Herzschlag setzte für einen Moment aus. Und dies war mehr als eine Floskel. Vor Schreck versagte der Muskel in seiner Brust, der dafür sorgte, dass sein Blut durch seine Adern floss, seinen Dienst und erstarrte, um dann mit einem gewaltigen Aufbäumen seine Arbeit fortzusetzen. Schweiß brach auf seiner Stirn aus, kalt und feucht. Der Kragen seines Hemdes wurde zu eng, er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen.

„Was?“, krächzte er. Zu mehr war er nicht in der Lage.

„Er… er…“, stotterte Wilma Verheyen.

„Mutter, bitte! Ich hab einen Arsch voll Arbeit und…“

„Er ist tot!“

Stille.

Diese drei Worte trafen ihn wie ein Schlag, ein gezielter Fausthieb, genau zwischen die Augen. Sein Kopf zuckte sogar zurück, als hätte es diesen Schlag tatsächlich gegeben.

„Hast du… gehört… was ich gesagt habe…?“

„Ja…“ Er hatte sich die selbe Frage vor wenigen Sekunden gestellt: Hatte er wirklich richtig gehört?

„Wann?“, fragte er. Er fühlte sich seltsam taub, seine Muskeln schlapp und kraftlos. Der Hörer drohte ihm zwischen den Fingern hindurch zu rutschen.

„Vor drei Stunden.“

„Was ist… Wie?“, fragte er weiter.

„Er hat 30 Stunden gekämpft. Gegen einen Innenwandinfarkt. Und verloren.“

Martins Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Grinsen. Dies war wohl Viktor Verheyens erster Kampf, den er verloren hatte. Und der letzte. Ein Glucksen bildete sich in Martins Kehle, tief und heiser. Es ähnelte sehr einem Lachen. Er schämte sich deswegen. Doch es hatte bereits seinen Mund verlassen. Aber Wilma hatte es nicht gehört.

Dann schwiegen sie. Martin und seine Mutter.

Was sollten sie auch sagen? Das wichtigste war gesagt. Die Infos waren weitergegeben worden.

„Ich wollte nur…“, begann Wilma und ihre Stimme klang wieder etwas fester. „Ich wollte nur, dass du es weißt.“