Komplize - Daniel Stenmans - E-Book

Komplize E-Book

Daniel Stenmans

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Beschreibung

Sie ist schön. Sie ist aufregend. Sie ist … gefährlich. Während einer Kneipentour in Krefeld trifft der Student Jan auf die geheimnisvolle Becca. Er ist ihr sofort verfallen und begleitet sie nach Hause. Dass in ihrer Wohnung eine Leiche liegen soll, hält er zunächst für einen Scherz. Doch der Tote mit dem Messer in der Brust ist real. Becca ist eine Mörderin. Und Jan wird zu ihrem Komplizen ...

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Daniel Stenmans

KOMPLIZE

Thriller

eISBN 978-3-948987-59-6

Copyright © 2023 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor – www.100covers4you.com

Bild-Copyright © Mann: Adobe Stock von farbkombinat.

Frau: Adobe Stock von Sondem

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Inhalt

Der Autor

Das Buch

Prolog

Teil Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Teil Zwei

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Teil Drei

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Epilog

Danksagung und so weiter …

Der Autor

Daniel Stenmans, Jahrgang 1979, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er lebt mit seiner Familie in dem beschaulichen Wallfahrtstädtchen Kevelaer am unteren linken Niederrhein. Nach komödiantischen Theater-Stücken veröffentlichte er 2015 die E-Book-Reihe „Der Friedhofsänger“ beim mainbook Verlag. „Komplize“ ist sein Thriller-Debüt. Daniel Stenmans arbeitet hauptberuflich als Leitung einer Kindertagesstätte in Kevelaer.

Das Buch

Der Student Jan lernt auf einer Kneipentour durch Krefeld die schöne, aber betrunkene Becca kennen. Er ist ihr sofort verfallen und begleitet sie nach Hause. Dass in ihrer Wohnung eine Leiche liegen soll, hält er zunächst für einen Scherz. Doch der Tote mit dem Messer in der Brust ist sehr real. Becca ist eine Mörderin. Sie sagt jedoch, es sei Notwehr gewesen. Jan hilft ihr, die Leiche verschwinden zu lassen. Doch Becca ist kurz darauf auch verschwunden und Jan weiß nicht, woran er bei ihr ist.

Nach einer misslungenen Verhaftung, bei der die Kriminalkommissarin Sonja Krüger beinahe gestorben wäre, befindet sie sich außer Dienst und verfällt in eine Depression. Ihr Familienleben droht zu scheitern. Als sich Kriminaldirektor Leon Gerberich hilfesuchend an sie wendet, um einen Serienmörder dingfest zu machen, bekommt sie eine zweite Chance. Sie setzt alles daran, den Mann zu fassen. Denn ein Verdacht überfallt sie: Der Gesuchte könnte jener Mann sein, der auch sie beinahe getötet hat.

Als sich Jans und Sonjas Wege kreuzen, geschieht ein weiterer Mord und Beccas Rolle wird immer zwielichtiger. Welches Spiel spielt sie?

Für meine Oma.

Prolog

Er lag auf der Matratze, die er Bett nannte, starrte zur Decke und dachte an den Tod. Über ihm Beton mit Rissen und Sprüngen, Brüchen und Spalten. Seine Arme lagen schlaff neben seinem Körper. Die Hand der Frau neben ihm lag auf seinem straffen Bauch.

Er beachtete sie gar nicht, ließ ihre Liebkosungen geschehen. Die sanften Finger der fremden Hand schlossen sich um seinen schlaffen Penis und sorgten dafür, dass er bald prallgefüllt mit Blut war und aufrecht stand. Er blieb regungslos liegen. Er hatte nur Augen für die zerklüftete Landschaft über ihm. Ein Anblick absoluter Hoffnungslosigkeit. Und doch so vertraut und trostspendend wie die Gegend, in der man als Kind so gerne gespielt hatte, in der man herumgetollt war und sich die ersten Schürfwunden zugezogen hatte, an die man sich ein Leben lang erinnern durfte.

An die Verletzungen und Demütigungen, die ihm hier in diesem Raum begegnet waren, würde er sich auch immer erinnern. Doch nun war diese Höhle seine Zuflucht, sein Zuhause.

Tränen traten ihm in die Augen, als sein Körper zu zucken begann, ausgelöst durch das wilde Treiben der Hand in seinem Schoß.

Wie war es nur so weit gekommen? Wie war er hier wieder gelandet? Fragen, die er sich nicht zum ersten Mal stellte. Auf die er aber keine Antwort wusste. Mittlerweile war es ihm egal, warum alles so war, wie es war. Es war ihm einerlei, wie der Beginn seiner Geschichte ausgesehen hatte. Wichtig war nur das Ende. Er wusste genau, wie es aussehen sollte: Alle würden tot sein.

Er würde ihnen das Leben nehmen, grausam und furchtbar, für alle Zeiten ein Mahnmal für die Nachwelt. Sie würden leiden, jeder einzelne. Er würde sie um Gnade winseln lassen. Gnade, die es nicht gab. Er würde ihnen Hoffnung machen, so wie sie falsche Hoffnung verkauft hatten. Und dann würde er diese Hoffnung in Flammen aufgehen lassen, die seine Opfer bei lebendigem Leibe fressen würden. Er würde sie schreien lassen. Sie quälen, bis sie ihn anflehten, es zu Ende zu bringen. Er würde ihren Wunsch erfüllen und ihnen den Tod schenken. Mit Wonne, mit Genugtuung. Aber auch mit Trauer im Herzen, die selbst ihr Ableben nicht ausmerzen konnte.

Nichts würde sich für ihn bessern. Auch nicht, wenn sie alle tot waren. Er machte sich nichts vor. Ihr Tod würde seinem Leben keine positive Wendung geben. Aber war das ein Grund, diese Schweine am Leben zu lassen?

Nein.

Der Kopf der Frau in seinem Schoß erhob sich. Er blickte in ihre liebenden Augen und streichelte das silbrig-graue Haupthaar. Die Frau senkte wieder den Kopf und fuhr fort mit dem, was sie begonnen hatte.

Er schloss die Augen.

Und genoss.

Teil Eins

„Nichtsdestotrotz habet Ihr starke Hände,ein Messer und eine Pistole, und es ist nichtschwer, ein Grab zu schaufeln.“

H.P.Lovecraft, Tales of the Cthulhu Mythos

1

Jan konnte den Blick nicht von der Frau nehmen, die ihm gegenüber am Tresen saß. Sie war bezaubernd.

Er suchte nach etwas in ihrem Gesicht, was er nicht schön fand. Ihre Augen waren zwar ein klein wenig zu groß, aber dafür umrahmt von umwerfend geschwungenen Wimpern. Ihre Nase war klein, ein Stupsnäschen, wie eine winzige Knolle. Die Grübchen rechts und links unbeschreiblich süß. Die Lippen ihres Mundes waren schön voll, geschwungen, aber zu blass, um sinnlich genannt werden zu können. Ihr rotes Haar trug sie offen. Es schwirrte wirr um ihren Kopf. Geschminkt war sie nicht, und wenn doch, dann so unauffällig, dass man es natürlich nennen durfte.

Er schätzte die Frau auf zwanzig. Sie war nicht groß, eher zierlich. Sie trug eine verblichene Jeans mit breitem Schlag, wie jene Hosen, die man mit Vorliebe in den späten 70ern getragen hatte, und einen ausgeleierten, viel zu großen Strickpullover, für den es in der Kneipe eigentlich viel zu warm war. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, den Ellbogen auf der Theke abgestützt und die Stirn in ihre Hand gelegt. Mit traurigem Blick starrte sie auf das kleine Schnapsglas, mit dem sie unablässig feuchte Kreise auf die Thekenoberfläche zeichnete. In ihrer Unterlippe funkelte links ein kleines Piercing. Dort wölbte sich die Lippe nach außen, das Piercing tanzte. Offenbar spielte ihre Zunge nervös mit dem Verschluss. Sie nahm das Gläschen und schluckte den Inhalt in einem Zug hinunter. Sie verzog das Gesicht und winkte dem Mann hinterm Tresen zu, er solle nachschenken.

In der Alten Mühle war nicht mehr viel los. Es war kurz nach 1 Uhr nachts, nur drei Tische waren besetzt. In Krefeld hörte das Nachtleben früh auf, zumindest an einem Mittwoch. Zwei Betrunkene versuchten sich an einem Spiel am Billardtisch. An der Theke hielt sich außer der jungen Frau nur noch ein dürrer, blasser Hänfling mühevoll aufrecht, der aussah, als wäre dies seit Wochen sein erster Ausflug weg von seinem Rechner. Er wartete auf sein Wechselgeld, grinste die Frau an, doch sie nahm keinerlei Notiz von dem Nerd.

Jan fragte sich, was mit ihr los war. Er konnte es nur schwer ertragen, traurige Frauenaugen zu sehen. Und da Maik Kaiser Jans Mitbewohner war, hatte er bereits eine Menge traurige Frauenaugen sehen müssen.

Jan schaute auf die Uhr seines Handys. 01:21 Uhr. Er seufzte. Wollte nach Hause, er gehörte ins Bett. Aber da Maik ihm noch nicht geschrieben hatte, dass die Luft rein war, musste er wohl noch eine Weile ausharren.

So konnte er die schöne Fremde an der Bar noch ein wenig länger betrachten und überlegen, was er tun sollte? Sie kippte gerade den nächsten Kurzen hinunter und winkte dem Barkeeper bereits nach einem Neuen.

Junge, Junge, dachte Jan. Die kann was vertragen.

Der betrunkene Nerd hatte sein Wechselgeld erhalten und schob umständlich sein Portemonnaie zurück in die Gesäßtasche. Er stolperte einen Schritt zur Seite, hauchte der Frau ein „schönen Abend noch“ zu, grinste dämlich und schwankte in Richtung Ausgang.

Sie sah dem Spargeltarzan mit Rundbrille hinterher und grunzte verächtlich. Sie sah nicht danach aus, als würde sie noch einen schönen Abend haben. Oder damit rechnen, dass ihr noch einer beschienen war.

Jan schluckte, als ihre Blicke sich plötzlich trafen. Für ihn bedeutete es Schwerstarbeit, nicht fortzuschauen. Sie hatte wunderschöne Augen, soweit er es aus der Entfernung beurteilen konnte. Sie glitzerten im Kneipenlicht. Wahrscheinlich hatte sie geweint, sodass ihre Augen noch feucht waren. Doch das allein war nicht der Grund, warum es in seinem Bauch zu brennen begann, als hätte sie sein Innerstes entzündet. Die Hilflosigkeit in ihren Augen traf ihn bis ins Mark. Er öffnete den Mund. Schluckte. Und dann senkte er den Blick. Er konnte sie nicht länger ansehen. Seltsam. Er konnte es sich nicht erklären. Aber diese Hilflosigkeit, die ihren Augen innewohnte, und sich ihm präsentierte, als trüge sie einen schwarzen, schweren Mantel, hielt er nicht aus.

Eine Weile später konnte er nicht anders und sah sie wieder an. Sie hatte sich einem neuen Schnaps zugewandt und stürzte ihn hinunter. Wenn die weiter so trinkt, dachte Jan, wird sie sich nicht mehr lange auf dem Hocker halten können. Dann musste er ihr zu Hilfe kommen. Er schmunzelte. Warum eigentlich nicht?

Jan leerte sein Bierglas und erhob sich. Den Bierdeckel, auf dem die Kellnerin seine Getränke notiert hatte, nahm er mit. Er stakste zur Theke. Sein Herz begann heftiger zu schlagen. Ruhig bleiben, sagte er sich. Du hast nichts zu verlieren.

Jan stellte sich an die Theke und winkte mit seinem Bierdeckel.

„Zahlen?“, fragte der Barkeeper.

„Ich hätt gern noch eins.“

Der stämmige Kerl, der gerade dabei war, Gläser zu spülen, nickte und schob sich hinter die Zapfanlage.

„Pils?“

Jan nickte. Er wandte sich der Unbekannten zu, schluckte, öffnete den Mund und … zögerte. Räusperte sich. „Und du? Was möchtest du?“

Das Mädchen blickte ihn an. Jan hatte jedoch nicht das Gefühl, dass sie ihn tatsächlich sah. Es war, als läge ein Schleier über ihrem Blick. Als hätte man diesen mit einem Ruck fortgezogen, musterte sie ihn kurz darauf und ein müdes Schmunzeln legte sich um ihre Mundwinkel. Sie hob das Schnapsglas zwischen zwei Fingern an und ließ es hin und her schwingen.

„Sicher?“, fragte Jan.

Die Fremde nickte und ließ schwer den Kopf hängen.

„Für sie bitte noch einen Kurzen, okay!?“, rief er dem Barkeeper zu.

„Wenn du meinst …“

Die Augen des Mädchens wanderten an ihm herab. Er konnte ihren Blick fast körperlich spüren. Ein Kribbeln wie von tausend Ameisen kitzelte seine Haut. Er kramte in seinem Kopf nach den passenden Worten. „Alles cool bei dir?“

„Seh ich so aus?“

Sie wandte den Kopf ab, sah auf die feuchte Thekenoberfläche. Jan hob die Hände. Der Barkeeper stellte ihm sein bestelltes Bier hin und der jungen Frau den Schnaps. Sie nahm das Gläschen zwischen zwei Finger und exte es. Allein vom Zusehen brannte es Jan im Hals. Er konnte Schnaps nicht ausstehen. „Liebeskummer?“

Die Frau knallte das Glas zurück auf den Tresen. „Warum bist du so wild auf eine Unterhaltung?“

„Ich frag mich nur, was mit dir los ist?“

„Lass mich einfach in Ruhe!“ Ihre Stimme zitterte. Sie schob sich vom Barhocker, schwankte. Jan war bereit, ihr beizuspringen, um sie notfalls zu stützen, doch sie hielt sich am Tresen fest und setzte sich einen Barhocker weiter rechts.

Jan öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Fremde kam ihm zuvor. „Was?“, polterte sie.

Jan zögerte. „Du …“

„Was?“

„… bist bezaubernd.“

Die Frau legte ihre Stirn in Falten und sah ihn entgeistert an. Wenig später brach sie in schallendes Gelächter aus, dass sogar der Barmann aufsah, vor Schreck ein Glas zwischen den Händen jonglierte und es beinahe fallenließ.

Langsam ebbte das Lachen ab, sie keuchte. Es war ein befreiendes, ein hilfreiches Lachen gewesen. Als die Fremde sich vollends beruhigt hatte, fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte anschließend den Kopf. Eine Locke fiel ihr ins Gesicht. Wie sie so mit großen Augen zu Jan herüberblickte, sah sie extrem aufregend aus. „Du bist echt ‘n Typ“, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln. Das erste richtige Lächeln.

„Ist das gut oder schlecht?“

„Keine Ahnung.“

„Na dann …“ Jan hob sein Bierglas. „Prost!“

„Sorry“, sagte die Frau und hob ihr Gläschen. „Nix mehr drin.“

„Und so wird’s auch bleiben, Kleine“, unterbrach sie der Barkeeper. „Von mir kriegste nix mehr.“

„Schenkst du mir einen ein?“, fragte Jan.

„Einen was?“, wollte der Barkeeper wissen.

„Na, so’n Schnaps.“

Der Mann zögerte einen Moment, verdrehte die Augen, schob Jan ein Schnapsglas hin und füllte es mit Korn.

„Danke“, sagte Jan und reichte es der fremden Frau weiter. Die sah ihn an, musste wieder lächeln und nahm den Drink entgegen. „Oh, ein richtiger Gentleman.“

Jan zuckte mit den Schultern und zwinkerte ihr zu.

„Sag mal, was bist du für’n Penner, ey!“, zischte der Mann hinterm Tresen. Er hatte das Abtrockentuch geschultert, das er nun mit Schwung herunterriss und kräftig auf die Theke klatschte.

Jans Grinsen verschwand, erschrocken blickte er dem Barkeeper ins Gesicht. „Weißte, was ich gar nicht leiden kann, Alter?“, sagte der. „Wenn man mich verarschen will!“

„Aber ich …“, begann Jan, doch der Typ unterbrach ihn sofort.

„Halt die Fresse! Ich will nix von dir hören! Und jetzt mach, dass du hier rauskommst.“

„Was?“

„Du hast schon gehört, Mann! Verpiss dich! Solche Gäste wie dich braucht kein Schwein!“

Jan starrte den Kerl hinterm Tresen mit offenem Mund an. Hilfesuchend schaute er zu dem Mädchen herüber. Aber die konnte auch nicht mehr tun, als mit den Schultern zu zucken. Jan wusste nicht, ob der Kerl es ernst meinte oder ob er ihn auf die Schippe nehmen wollte. Der Mann richtete sich zu seiner vollen Größe auf, stapfte um die Theke herum und kam auf Jan zu. Gleich knallt’s, dachte er, hopste unwillkürlich vom Stuhl und hielt die Hände vor sich – auch wenn das den Bullen sicher nicht aufhalten würde.

„Ich hab gesagt, du sollst dich verpissen!“ Der Mann fasste Jans rechtes Handgelenk, riss ihn am Arm, dass er einen Schritt vorwärts stolperte und fasste ihn hinten am Kragen. „Raus mit dir!“

„Hey, jetzt aber mal halblang!“, mischte sich die Fremde ein. „Meinste nich, dass du’n bisschen übertreibst, Dicker?“

Der Barmann blickte der Frau streng ins Gesicht. „Und du Schnapsdrossel kannst dich gleich mit auf den Weg machen!“

„Schnapsdrossel?“ Sie lachte amüsiert. „Wie süß!“

Während der Mann Jan immer noch am Kragen gepackt hielt, griff er mit der linken Hand nach der Frau und fasste sie am Oberarm.

Sie stöhnte. „Autsch!“

Der Kerl wirbelte sie herum und zog die beiden hinter sich her in Richtung Ausgang. Die Tür war nur angelehnt, mit einem ledernen Gurt um den Türgriff, dass sie nicht ins Schloss fallen konnte. Der Barmann trat im Gehen gegen die schwere Tür und schubste Jan ins Freie. Der stolperte vorwärts, sich aber aufrecht hielt. Als er sich rumdrehte, fiel das Mädchen schon auf ihn zu. Er bekam sie unter den Achseln zu fassen.

„Fuck!“, schrie sie.

„Was is?“

„Hab mir den Fuß umgeknickt!“ Sie drehte sich zu dem Barmann herum, der den Türrahmen ausfüllte und sich die Fäuste in die Hüfte stemmte. „Arschloch!“, brüllte sie.

„Hey, hey, hey!“, flüsterte Jan und legte ihr beschwichtigend einen Arm um die Schultern. „Godzilla ist gerade dabei sich zu beruhigen. Reg ihn nicht wieder auf, okay!?“

Der Barkeeper sah aus, als wollte er etwas sagen. Jan kam ihm zuvor. „Bevor du noch auf andere Scheißideen kommst …“ Er kramte in seiner Hosentasche und zerrte einen Geldschein hervor. Fuck!, dachte er. Fünfzig Euro! Jan schloss seufzend die Augen, nickte und warf dem Mann den Schein entgegen, der flatternd durch die Luft segelte. „Hier, Dicker!“

Ohne ein Wort wandte er sich ab.

Das war’s wohl mit dem lockeren Abend, dachte Jan. Er holte sein Handy aus der Tasche. 1.48 Uhr. Maik hatte sich noch immer nicht gemeldet. Vielleicht hatten er und seine Perle sich mächtig vergnügt und waren anschließend eingepennt? Was für’n Dreck …

„Der war echt sauer!?“ Die Fremde gluckste.

Jan nickte und grinste sie an. „Naja, wenigstens lachst du wieder.“

Ihr Blick verdüsterte sich schlagartig.

„Schade“, sagte Jan. „Mit einem Lächeln im Gesicht gefällst du mir besser.“

„Und du mir, wenn du die Klappe hältst.“

„Was ist denn? Ich will dir doch nichts Böses!“

„Weiß man’s. Ich kenn dich nicht.“

„Willst du mir nicht sagen, was los ist?“

„Ich erzähl doch nicht jedem dahergelaufenen Penner meine Probleme.“ Sie musterte ihn. „Gute Nacht!“ Sie wandte sich ab, schob ihre Hände in die Hosentaschen und schlenderte davon. Ihr Gang war unsicher, aber für die Menge an Kurzen gar nicht mal schlecht. Jan starrte auf ihren Po, blickte zum Himmel und schloss die Augen.

„Warte!“, rief er.

„Was?“ Sie blieb stehen, schien ihren Ohren nicht zu trauen.

Jan wusste, dass er aufdringlich war, aber er wollte … er konnte sie nicht einfach ziehen lassen. Wer wusste, ob er sie wiedersehen würde?

„Sorry, aber du schwankst und ich … ich bring dich nach Hause“, beharrte er.

Ihre Mundwinkel zuckten. Offenbar wusste sie nicht, ob sie empört oder amüsiert sein sollte. „Ich komm allein klar.“

„Ob du willst oder nicht … Ich geh mit dir. Und dann zieh ich Leine, okay.“

Das Mädchen öffnete den Mund, schloss ihn wieder. „Du bist verrückt“, sagte sie, schüttelte den Kopf und ging voraus.

*

Sie verließen die kleine Seitenstraße zur Hochstraße, in der sich das Number One befand, und gingen dem Südwall entgegen. Jan schlenderte hinter der Frau, die Hände in den Taschen vergraben, und starrte auf ihren Hintern. Herrlich wie ihr Po sich in der straff sitzenden Jeans bewegte.

Die Fremde ließ sich zurückfallen, lief plötzlich neben ihm. „Süß von dir“, sagte sie, den Blick geradeaus gerichtet. „Und wie ein Perverser siehst du nicht aus.“

Jan grinste.

Sie marschierten durch die Nacht und kamen ans Ende der Hochstraße. Es wehte ein kühles Lüftchen. Aus einer Dönerbude stolperte ein Typ auf den Gehsteig, strauchelte und ließ seinen Mitternachtssnack auf den Boden klatschen. „Alter“, johlte ein Zweiter, der an ihm vorbeihuschte. „Du bist echt ein Opfer.“

Jan und die Fremde sahen sich lächelnd an. Das Funkeln in ihren Augen ließ sein Herz vor Aufregung hüpfen. Sein Mund war trocken. Es war einer dieser Momente … wie im Film …

„Ich muss da lang“, sagte sie plötzlich und ging rechts den Südwall rauf.

Jan holte sie ein, als sie kurz darauf rechts in die Lindenstraße einbog.

„Wie heißt du eigentlich?“

Sie blieb stehen und beäugte ihn skeptisch. „Wieso willst du das wissen?“

„Weil …“ Er hob die Arme, zuckte mit den Schultern. „Weil es höflicher ist, als dich mit Chiqua anzureden.“

Ihre Augen weiteten sich, ihre Stirn legte sich in Falten. Dabei senkte sie das Kinn leicht auf ihre Brust. „Chiqua … Dein Ernst?“

Jan nickte.

Sie grinste breit. Um ihre Augen entstanden winzige Fältchen. Er lächelte zurück. „Oder stehst du drauf, wenn man dich so nennt?“ Er fuchtelte mit den Armen vor seinem Körper herum, wie bei einer albernen Gangsta-Rapper-Parodie. „Ey, Chiqua, wo wohnste eigentlich? Wäre nett, wenn du mir das verrätst, damit ich weiß, wie lang ich hier noch durch die Gegend eiern muss.“

„Niemand zwingt dich!“

Jans Grinsen gefror zu Eis. Das Mädchen setzte sich wieder in

Bewegung und ging an ihm vorbei.

„Hey!“ Jan rief ihr hinterher. „Das sollte ein Witz sein!“

Er trabte hinter ihr her, holte sie nach wenigen Metern wieder ein und fasste sie am Ellbogen. „Weißt du nicht, was ein Witz ist?“

Sie funkelte ihn an. Für einen kurzen Moment dachte er, sie würde ihm ihre Fingernägel über die Wangen ziehen, sodass blutige Striemen zurückblieben. Irgendwo hupte ein Auto, jaulte eine Katze.

„Nenn mich Becca.“

„Und wie ist dein richtiger Name?“

„Alle nennen mich Becca.“

„Wer ist alle?“

Ihre Augen verengten sich und ihre Brauen schoben sich über ihrer Nase zusammen. „Was bist du? Ein gottverdammter Bulle?“ Er antwortete nicht, sie seufzte. „Rebecca.“

„Hm?“

„Eigentlich Clara Rebecca. “

„Clara …? “

„Clara mit C.“

„Oh … klar …“

„Kein Spruch, okay!?“

„Hey… Clara Rebecca ist doch …“

Ich warne dich, sagte ihr Blick.

„… ist doch wirklich ein schöner Name.“

„Und wie heißt du?“

„Heinz.“ Der Versuch, ernst zu bleiben, scheiterte. Fast zeitgleich mussten sie amüsiert grunzen.

„Fick dich!“ Sie wandte sich um, zögerte.

„Hey, soll es das etwa schon gewesen sein? Das traurige Ende der heißen Liebesgeschichte von Heinz und Clara?“

„Rebecca!“, beharrte sie. Aber länger konnte auch Becca nicht mehr an sich halten und musste lachen. Ein ähnlich befreiendes Lachen wie vorhin in der Kneipe. Er hatte es wieder geschafft.

„Wie heißt du wirklich?“, fragte sie.

„Jan. Jan Holtmann.“

„Und was machst du so, Jan Holtmann?“

Er grinste. „Ich studiere.“

„Was?“

„Kulturpädagogik an der Hochschule Niederrhein.“

„In Krefeld?“

„Mönchengladbach.“

„Aber du wohnst hier, oder?“

Jan nickte.

„Warum studierst du dann in Mönchengladbach?“

Jan zuckte grinsend mit den Schultern und zwinkerte ihr zu. „Da siehst du mal, was ich für ein cleveres Kerlchen bin.“

Becca legte ihm die Hände auf die Brust und ihre Lippen näherten sich seinem Gesicht. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen. Das wird sie nicht tun …, dachte Jan und zitterte innerlich. Die Luft zwischen ihnen war elektrisch aufgeladen. Seine Lippen kitzelten, als striche jemand mit einer sanften Feder über die raue Haut. Im selben Moment trafen ihre Lippen die seinen.

*

Sie fand ihn süß, hatte sie gesagt. War es möglich, dass sie sich wiedersehen würden?

Sie liefen die Roßstraße hinauf, eine lange, schmale Einbahnstraße, in der die parkenden Autos Stoßstange an Stoßstange am Straßenrand standen. Und dann kam dieser Moment, wenn Stille immer stiller wird. Das Schweigen legte sich wie eine Decke über sie und über Beccas Gesicht zog ein Schatten. Der Glanz von vorhin, als er sie kurz vor ihrem Kuss zum Lachen gebracht hatte, war verschwunden.

„Alles okay?“

Sie schwieg.

„Was is?“

„Nichts.“

Sie blieb stehen, sah ihn an. Lächelte, wenngleich ihr Lächeln etwas schief hing und wenig Freude besaß. Sie spielte wieder mit dem Piercing-Verschluss. Der kleine Brilli in ihrer Unterlippe hüpfte hin und her. „Ich hab mich erinnert, warum ich überhaupt in die Kneipe gegangen bin. Du hast es mich einen Moment vergessen lassen …“

„Und das ist gut?“

„Vergessen ist gut … Leider geht das nicht auf Dauer.“

Jan drehte sich zu ihr herum, schaute auf sie herab. Sie reichte ihm bis zu den Schultern. Sie standen im Schatten einer erloschenen Straßenlaterne.

Sie öffnete den Mund, schluckte. Ihre Augen glitzerten. Er trat einen Schritt näher an sie heran, fasste sie bei den Schultern. Wer sie so stehen sah, mochte nicht glauben, dass sie sich vor nicht ganz einer Stunde kennengelernt hatten. „So schlimm?“

„Schlimmer.“ Sie fuhr sich mit dem Ärmel ihres Pullovers übers Gesicht, bevor auch nur eine Träne die Chance hatte, ihre Wange hinabzukullern. „Lass uns weiter gehen. Es ist nicht zu verhindern.“

„Zu verhindern? Was?“

„Nach Hause zu gehen.“

Ping!

Der Rufton einer eingegangenen Kurznachricht ließ ihn aufschrecken. Jan nahm sein Handy hervor und las die Nachricht auf dem Display. Sie war von Maik und ein riesiger Penis mit einem aufgemalten, lachenden Gesicht grinste ihn an. Maiks Profilbild. Daran gewöhnte Jan sich nie.

Die Luft ist rein. Kannst kommen, las er. Maik erklärte sein Schäferstündchen als beendet. Seine Frauen blieben niemals über Nacht.

„Warte!“ Jan spurtete Becca hinterher.

„Was?“

„Komm mit zu mir, okay?“ Jan konnte nicht glauben, die Frage wirklich gestellt zu haben. So viel hatte er doch nicht getrunken.

„Was willst du?“

„Du kannst bei mir pennen. Ich hau mich auf die Couch. Du willst doch nicht nach Hause, oder?“

Becca lächelte wieder dieses schiefe, wenig freudvolle Lächeln. In Jans Augen war es die Fortsetzung eines Anfangs.

„Du bist süß.“

„Sag ja.“

„Das ist lieb von dir, aber …“ Sie wandte den Kopf ab und ihr Blick verlor sich zwischen den Häusern der Roßstraße. „… meine Probleme wären morgen noch schlimmer als heute.“

Das sprach für einen gewalttätigen Typen, der zuhause auf sie wartete, meinte Jan und schluckte.

„Wie kann ich dir helfen?“

„Gar nicht.“ Sie strich ihm zärtlich über die Wange. Wie gern hätte er die Augen geschlossen. Ihre Hand war sanft und kühl. Eine wundervolle Berührung. „Geh nach Hause und vergiss mich.“

„Warum?“

Sie schwieg. Ihr Blick verriet Jan, dass sie mit sich rang, ihm alles zu sagen. Die ganze Wahrheit.

„Es wartet jemand auf dich. Stimmt’s?“, sagte Jan. Mit einem Mal schien es, als flösse ihre gesamte Anspannung aus ihrem Gesicht wie Wasser aus einem lecken Eimer. Bingo, dachte Jan. „Ich kann Karate.“ Jan hob die Arme zu einer albernen Bruce-Lee-Parodie.

Sie lächelte, aber es wirkte gezwungen.

Jan ließ die Arme sinken. „Also hab ich recht. Dein Freund …?“ „Ja … nein …“, fuhr sie ihm ins Wort. „Ach ich weiß nicht …“ „Schlägt er dich?“

„Er …“

Mit einem Mal war Jan ernst. Er fasste sie wieder bei den Schultern, legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Schlägt er dich?“

„Er … hat …“

„Dem zeig ich’s.“ Er ballte die Fäuste.

„Brauchst du nicht.“ Sie legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. „Er wird mir nichts mehr tun, Jan!“

„Wieso? Ist er abgehauen?“

„Nein, er ist noch da.“

„Aber dann verstehe ich nicht, warum …“

„Er ist tot.“

2

„Tu‘ was ich dir sage.“

Seine Stimme war nicht bedrohlich, eher weich und warm. Seine blauen Augen sahen sie an, wie ein Junge, dem es leid tat, dabei ertappt worden zu sein, wie er seine Finger nach dem Genuss verbotener Schokoladenriegel schamvoll abgelutscht hatte.

Sonja Krüger konnte nicht reagieren.

„Dreh dich um und knie dich hin!“ Die Worte drangen mit Nachdruck an ihr Ohr. Doch Sonja konnte sich nicht bewegen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Unterlippe zuckte.

„Bitte, tu es.“

„Ich kann nicht …“ Sie wimmerte, schämte sich für ihre Angst. Nie hätte die dienstjüngste Kommissarin des KK11 gedacht, dass sie so reagieren würde. Doch wer wusste schon, was mit einem passierte, wenn eine geladene Waffe auf einen gerichtet war.

Der ganz in schwarz gekleidete Mann machte einen Schritt auf sie zu. Lars Hendricks war sein Name. Sonja war sich sicher, dass er ein Mörder war.

Die Pistole hielt er in der rechten Hand. Seine Linke legte sich auf ihre Schulter und übte einen sanften Druck aus, der ihr half, sich herumzudrehen. Diese beiden tauben Klötze, zu denen ihre Beine geworden waren, ließen sich bewegen. Sie starrte auf die nasse, graue Wand mit dem bröselig abblätternden Putz, der wegen der aufsteigenden Feuchtigkeit so aussah, als hätte man die Wand mit Schaum besprüht.

Hier werde ich sterben, dachte sie. Mit einer Kugel im Kopf. In einem stickigen, verschimmelten Keller.

Ihr Kollege Heinz Marquardt lag an der Wand und rührte sich nicht. Hendricks hatte nur einen einzigen Schuss abgegeben. Der hatte ausgereicht, um Marquardt von den Füßen zu heben und gegen die Wand zu schleudern.

„Los, knie dich endlich hin!“, flüsterte Hendricks.

Ein Laut drang aus ihrer Kehle, unkontrolliert, verzweifelt. Sie hatte einen Kloß im Hals. Glaubte, nicht atmen zu können. Weinen zu müssen. Es kamen aber keine Tränen.

„Um ihn ist es nicht schade“, sagte Hendricks. „Marquardt war Abschaum. Ein korrupter Bulle. Er hat sich von Merker bezahlen lassen, wegzugucken, wenn er für Löfflers Nutten Koks besorgt hatte. Eines dieser armen Geschöpfe war meine Schwester gewesen. Mia. Sie war einundzwanzig Jahre alt. Fast noch ein Kind. Koks, um sie gefügig zu machen. Von Merker besorgt. Von Löffler zur Prostitution gezwungen. Von Marquardt gefickt. Dafür, dass er schwieg. Und zu Tode geprügelt, weil sie sich gewehrt hatte.“ Der Mann schniefte. Weinte er? „Deshalb mussten sie sterben. Alle drei … Aber du warst nicht mit eingeplant.“

Sonja schloss die Augen. Etwas klickte. Sie kannte das Geräusch aus unzähligen Filmen. Hendricks hatte den Hahn der Pistole gespannt. Gleich würde sich ihr Hirn auf dem Boden, ihren Kollegen und die Wand verteilen, während der Knall des Schusses in dem Kellergewölbe widerhallte. Was für ein Ende.

Sonja bebte am ganzen Leib. Die Mündung der Pistole berührte ihren Hinterkopf. Sie zuckte zusammen. Der Lauf war noch heiß und ihr brannte sich die kleine kreisrunde Öffnung der Mündung in die Kopfhaut. Sonja kniff die Augen zusammen. Tränen pressten sich daraus hervor. In dem Schwarz hinter ihren Lidern flammten bunte Blitze auf.

„Möchtest du noch etwas sagen?“

Sonjas Blase entleerte sich. Urin sog sich in den Stoff ihrer Hose und klebte ihr an den Oberschenkeln. Ihr Wimmern wurde lauter. Sie hatte so furchtbare Angst. Hinzu kam Scham. Ekel.

Halt!

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie geblinzelt. Ihr Umfeld blitzte auf. Marquardts Hand. Sie hatte gezuckt. Der Druck auf ihrem Hinterkopf ließ nach, die Hitze schwächte ab. Sonja vernahm ein Kratzen – eine Schuhsohle, die sich über den Betonboden schob. Hendricks. Er bewegte sich. Von ihr fort. Dann dasselbe Geräusch noch einmal. Sonja versuchte, sich zu konzentrieren, schloss erneut die Augen und legte all ihre Aufmerksamkeit auf ihr Gehör.

Da! Wieder ein vorsichtiger Schritt, rechts von ihr. Hendricks hatte sich von ihr abgewandt, schlich um sie herum, um freien Blick auf den wie leblos daliegenden Marquardt zu haben. Sonja bewegte ihren Kopf, kaum wahrnehmbar, aber ausreichend, um den Mann aus den Augenwinkeln sehen zu können. Sie sah seinen Arm, der die Waffe ausgestreckt hielt, dass der Ellbogen ganz durchgedrückt war. Die Muskeln des Mannes waren angespannt, die Pistole zitterte.

„Hey, Arschloch! Lebst du noch?“ Die Sanftheit von eben war aus seiner Stimme verschwunden. Marquardt reagierte nicht. „Zur Sicherheit werde ich dir noch eine Kugel verpassen. Was meinst du, Mädchen?“ Hendricks neigte sich in ihre Richtung, ohne dass er den Blick von Marquardt abwandte. „Schießen wir dem Pisser in den Kopf oder lieber in den Rücken?“

Sonja schwieg.

Ein Schuss explodierte. Der Knall dröhnte in Sonjas Ohren. Sie schrie. Genau wie Marquardt. Er fuhr in die Höhe, riss die Hände hoch. Panisch flirrte sein Blick umher, fand Hendricks. Der lachte humorlos.

„Nein“, flehte Marquardt. Sein weicher, für einen Polizisten viel zu üppiger Bauch wackelte über dem engen Gürtel. Tränen rannen ihm über die dicken, roten Wangen.

„Hör auf zu flennen, du jämmerliches …“

JETZT!

Sonja ließ sich zu Boden fallen und stieß sich dabei schmerzhaft die Schulter. Sie zog das Bein zur Brust. Hendricks reagierte, sah auf sie herab, blickte ihr in die Augen. In seinen flammte das Erkennen auf, einen Fehler gemacht zu haben. Als er die Pistole auf sie richtete, trat Sonja zu. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, rammte sie dem Mann ihren Fuß in die Kniekehle. Hendricks schrie auf. Er riss den Schussarm in die Höhe, sackte in den Knien ein, ging zu Boden. Hendricks war auf allen Vieren. Er schrie, die Zähne zusammengepresst. Sonja stemmte sich in die Höhe. Ihr Kreislauf versagte, schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. In ihren kalten Wangen kribbelte es.

Halt durch!, mahnte sie sich. Sie befand sich im Vorteil. Dennoch wusste sie nicht, wie sie den nutzen sollte.

Nicht denken! Tun!

Sonja holte aus und trat dem Mann mit voller Wucht in die Seite. Hendricks bäumte sich auf, ächzte. Doch er ging nicht zu Boden, hielt sich auf allen Vieren. Sonja wirbelte um die eigene Achse, nahm Schwung. Sie sprang hoch in die Luft, winkelte die Beine an. Sie schrie. Alle Wut, alle Angst entlud sich in diesem einen Schrei. Sonja sauste auf den am Boden knieenden Mann zu. Ihre spitzen Knie bohrten sich in seinen Rücken. Hendricks jaulte auf und brach unter ihr zusammen. Er schlug mit dem Gesicht auf den Beton des Kellerbodens. Es rumste. Sonja purzelte von Hendricks herunter, atmete schwer. Hendricks bewegte sich nicht mehr.

Sonja stützte sich auf die Ellbogen und stand auf.

„Verdammt, Krüger, nimm die scheiß Waffe!“ Marquardt rappelte sich hoch. Seine Schulter blutete. Sein Gesicht war eine rote, verheulte Maske. „Nimm die Waffe und bring den Scheißkerl um.“

Sonja versuchte, zu Atem zu kommen.

„Scheiße, er wollte uns töten. Bring ihn um!“

„Nein!“, schrie Sonja und blitzte den verletzten Kollegen an.

„Dann mach ich das eben!“ Marquardt zog seine Dienstpistole, legte auf Hendricks an. Sonja dachte nicht nach und sprang dem wütenden Kollegen in die Schusslinie. „Bist du bescheuert?“

Vielleicht war sie das.

„Aus dem Weg!“ Marquardt heulte, die Waffe zitterte in seiner Hand.

„Du hast schon genug angerichtet, Scheißkerl!“ Sonja brüllte dem Kollegen ins Gesicht. Speichel flog ihr aus dem Mund.

Marquart riss die Augen auf. Es war, als hätte sie ihn geohrfeigt. „Du?“, flüsterte Marquardt kraftlos und müde. „Du glaubst es auch …?“

Bevor Sonja darauf antworten konnte, hörte sie ein Scharren hinter ihr. Kleine Steinchen, die über den Asphaltboden schrubbten. Hendricks. Sie drehte sich herum. Niemand mehr da. Er war geflüchtet.

Scheiße.

„Das hast du ja wunderbar hingekriegt! Wir hatten ihn, Krüger. Und du lässt ihn einfach entkommen. Einen brutalen Mörder. Ich hoffe, du bist stolz auf dich.“

*

„Sonja …“

Sie schrak auf. Ihre Finger ballten sich zu Fäusten, die Fingernägel bohrten sich in die Handflächen. Ihr Blick irrte durchs Wohnzimmer, suchte denjenigen, der sie beim Namen genannt hatte. Was, wenn es Hendricks war? Dieses Mal würde sie nicht zögern. Sie würde …

Eine Gestalt erschien in ihrem Blickfeld. Sie stand aufrecht im Türrahmen, eine bedrohliche Silhouette. Auf ihren Wangen spürte sie die Spannung von getrockneten Tränen. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Pyjamas über die Augen, wollte Hendricks nicht heulend entgegentreten. Wollte nicht, dass er noch einmal ihre Schwäche sah.

„Was machst du hier?“, fragte Thomas.

Sonja atmete auf. Es war kein geisteskranker Mörder, der in ihr Haus eingedrungen war. Es war ihr Ehemann, der in der Tür stand und sie mit einem Blick ansah, den sie nicht deuten konnte.

„Ich …“

„Wieder ein Albtraum?“

„Ich konnte nicht schlafen.“ Sie schniefte.

„Genau wie Maya“, sagte er. „Hast du sie nicht gehört? Sie hat nach dir gerufen.“

„Oh Gott, nein, ich …“

„Sonja!“ Thomas’ Stimme klang ernst. „Ich möchte, dass du endlich diese Psychologin aufsuchst, die man dir vom Präsidium empfohlen hat. Eine Beurlaubung allein reicht nicht. Du musst mit irgendjemandem reden, der dir helfen kann, wieder zu dir zu finden. Ich kann es nicht …“

„Morgen hab ich einen Termin.“ Sie räusperte sich.

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe.

Sie klang geschwächt und das ärgerte sie. Aber gottverdammt! Wem wollte sie sich etwas vormachen? Sie war eine schwache Frau …

Thomas‘ Überraschung währte nicht lange. Er öffnete den Mund. Doch ohne ein Wort schlossen sich seine Lippen wieder und pressten sich aufeinander.

„Ich wollte es dir sagen …“ Sonja suchte nach einer Erklärung, doch bis eben gerade hatte sie nicht einmal darüber nachgedacht, Thomas über Termin bei Melina Seibold, der Polizeipsychologin, zu informieren. Der dritte, um genau zu sein. Vor etwa vier Wochen hatte Hendricks ihr die Pistole an den Kopf gehalten hatte und ihre Welt war zusammengebrochen.

„Dann wird es sicher ein aufregender Tag“, sagte er zögernd. Er versuchte sich an einem Lächeln. „Gute Nacht.“ Er verließ das Wohnzimmer.

Thomas wusste von nichts. Sie hatte sich nicht getraut, ihm zu erzählen, was im Keller der alten Werkstatt geschehen war. Die Kollegen hatten ihn lediglich informiert, dass seine Frau im Krankenhaus lag. Wegen eines misslungenen Einsatzes. Sie konnte ihm nicht sagen, was passiert war. Vielleicht weil sie ihn nicht belasten wollte oder weil sie – verdammt nochmal! – nicht darüber reden wollte.

3

„Tot?“ Er hatte es für einen Scherz gehalten. Jans Grinsen versteinerte. „Du willst mir ernsthaft sagen, dass dort oben … in deiner Wohnung … ein Toter liegt?“

Becca schloss sich seinem Lachen nicht an und wagte nicht, ihn anzusehen. Sie nickte aber auch nicht, war wie eingefroren.

„Hallo …?“ Jan winkte mit seiner Hand vor ihrem Gesicht.

„Echt jetzt?“

Becca erwachte aus ihrer Starre, nickte vorsichtig.

Jan raufte sich die Haare, sein Blick schwirrte umher. Das war ein Scherz! Irgendwo hier mussten Kameras versteckt sein, die ihn filmten. Um ihn dann als Prank-Opfer ins Internet zu setzen.

„Okay, mal langsam. In deiner Wohnung liegt dein toter Freund. Und was machst du? Gehst in eine Kneipe, kippst einen Korn nach dem anderen, reißt einen Typen auf und …“

„Jetzt mach mal halblang!“ Beccas Kopf fuhr in die Höhe. Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Ihre Augen funkelten ihn an. „Ich brauchte einen klaren Kopf. Außerdem hast du dich an mich rangemacht.“

Sie starrten einander an. Jan schluckte und kickte einen Stein zur Seite, der im Rinnstein verschwand. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, stemmte sie in die Hüften und baute sich vor ihr auf. „Und jetzt?“

Sie zuckte mit den Schultern. Die Härte war wieder aus ihrem Blick verschwunden. Nun sah sie aus wie ein kleines, ängstliches Mädchen.

Jan hatte das dringende Bedürfnis, sie zu umarmen. Also tat er es. Fast wie von selbst.

Sie presste sich an ihn, begann zu weinen, dass sein T-Shirt feucht wurde. Was sollte er tun? Er konnte sich ja jetzt schlecht von ihr verabschieden. Sich für den interessanten Abend bedanken und ihr noch ein schönes Leben wünschen.

Aber der Tote …? Scheiße!

Beccas Gesicht löste sich von seiner Brust. Sie schniefte und trocknete sich die Tränen mit dem Ärmel ihres Pullovers. Jan schossen so viele Fragen durch sein überfordertes Hirn, doch bevor er den Mund auch nur einen Millimeter öffnen konnte, kam ihm Becca zuvor. „Ich brauche dich! Du musst mir helfen?“

*

Du bist ein Idiot, dachte Jan, als er hinter Becca die Treppe zur Wohnung in der Roßstraße hinaufging. Wie konnte er nur so blöd sein und dieser Unbekannten in eine fremde Wohnung folgen? Er hatte nicht den Hauch einer Idee, was er für sie tun konnte. Außer die Polizei rufen …

„Wie ist er eigentlich gestorben?“

Becca schwieg, stoppte abrupt. Er erkannte an ihrem sich streckenden Rücken, dass sie tief einatmete. „Ein Unfall.“ Totenstille. Das Knarzen der Holzstufe, als Becca ihr Gewicht vom einen aufs andere Bein verlagerte, war das nächste Geräusch. „Was ist passiert, Becca?“

„Kann ich dir nicht sagen. Am besten … los, komm schon!“

Nun kam die Angst. Sie war ein winziger Dorn, der sich ihm wie der mit einem Widerhaken versehene Stachel einer Biene in den Nacken bohrte. Ein spitzer Stich, der sich langsam durch seine Nerven fraß.

Sollte er abhauen? Natürlich! Aber Jan blieb. Er war wie geschaffen dafür, immer die falschen Entscheidungen zu treffen. Becca öffnete die Tür zu ihrer Wohnung. Ihre Hand tastete an der Wand entlang. Es dauerte, bis sie den Lichtschalter fand. Nun mach schon, dachte Jan. Konnte es wirklich sein, dass er dort drinnen auf eine Leiche traf? Er wollte es nicht glauben. Aber warum zitterten seine Knie? Warum lief ihm kalter Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab? Becca stand im Türrahmen, sah ihn mit großen, fast flehentlichen Augen an. „Kommst du?“

„Du verarscht mich doch!“

Becca sah ihn mit ernsten Augen an. „Komm rein oder hau ab!“ Sie senkte den Blick. Mit schweren Schritten schlurfte sie in die Wohnung.

Jan schluckte. Verschwinde! dachte er. Die Kleine ist nicht normal. Aber sie gefiel ihm. Und wenn es eine Falle war? Vielleicht wartete tatsächlich jemand in den vier Wänden des fremden Mädchens. Jemand, der nicht tot war. Sondern jemand, der ihn überfallen wollte.

Quatsch, dachte er.

So kam er nicht weiter. Alles Spekulieren half nichts. Er musste es wagen, die Schwelle zu überschreiten. Selbst auf die Gefahr hin, in einem Albtraum zu landen.

Er hörte sie schluchzen.

Jan trat ein. Hielt sich rechts. Links befand sich ein an die Wand geschraubter Schuhschrank mit einem schmucken, weiß gerahmten Wandspiegel. Er sah den Flur entlang. Links gab es zwei Türen, am Ende eine weitere. Sie stand halb offen. Jan glaubte, den Teil einer Küchenzeile zu erkennen. Lag der Tote dort?

„Becca?“

Jan ballte die Fäuste, machte einen Schritt vorwärts. In seinen Eingeweiden startete eine Achterbahnfahrt. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Kalt und klebend. Er erreichte die erste Tür. Vorsichtig spähte er durch den Spalt. Das Schlafzimmer. Mit der Fußspitze stieß er die Tür auf. Becca konnte er nicht entdecken. Auch keinen Toten. Es sei denn, er lag hinter dem ungemachten Futonbett, das das Zimmer dominierte. Über dem Bett an der Wand hing ein grotesk farbiges Bild, das man wohl einen modernen Druck nannte. Dem gegenüber gab es einen hohen Wandschrank mit halbgeöffneten Türen, aus denen Hosenbeine, Blusenärmel und Röcke hervorschauten. Aber keine Leiche. Hinten rechts gab es eine weitere Tür. Er schätzte, dass sich dort ein Badezimmer anschloss.

Wieder das Schluchzen. Er zog die Tür wieder zu, machte einen Schritt über eine halbgeöffnete Sporttasche hinweg, die mitten im Flur lag. Die Fotos an der Wand beobachteten ihn, Männer und Frauen, lachend, in entspannten Situationen. Du bist ein Vollidiot, schienen sich die Abgebildeten über ihn lustig zu machen. Doch etwas irritierte ihn an den Bildern. Er konnte aber nicht sagen was.

Im Rahmen der nächsten Tür blieb er stehen. Das Wohnzimmer. Ihm gegenüber stand ein Sofa, das Rückenteil war ihm zugewandt. Es besaß eine L-Form. Die längere Seite stand an der linken Wand. Der Couch gegenüber, rechts in der Ecke, befand sich der Fernseher, ein kleiner Flatscreen, nicht wesentlich größer als ein Computerbildschirm. Auch über der Couch hing ein abstrakter Kunstdruck, der aussah wie ein wilder Strudel sich übergebender Farben. Er schüttelte den Kopf und suchte die Frau, die er heute Abend kennengelernt hatte.

„Becca?“

Ihr Kopf tauchte hinter der Couch auf. Sie kniete auf dem Boden. Weinte. Tränen rannen ihr über die Wangen, ließen ihre Schminke verlaufen, dass sie selbst wie eines ihrer seltsamen Kunstwerke aussah.

Jan öffnete den Mund. Er war so trocken, dass er sich rissig anfühlte. Langsam betrat er das Wohnzimmer und näherte sich Becca.

Und dann sah er ihn.

Erst einen Fuß, dann ein Bein. Eine Hand, einen Arm. Zu guter Letzt den Kopf eines Mannes, der – genau wie sie gesagt hatte – tot war.

Der Kopf des Toten lag zu ihren Knien auf dem Boden, den starren Blick zur Zimmerdecke gerichtet. Jan hatte noch nie eine Leiche gesehen, nicht einmal die seiner Eltern. Der Anblick des leblosen Mannes traf ihn wie ein Schlag. Als er vier Jahre alt war, verstarb seine Mam an Brustkrebs. Sein Paps hatte ihm die Leichenschau erspart. Als dieser vor einem halben Jahr das Zeitliche gesegnet hatte, konnte Jan es nicht über sich bringen, ihn noch einmal anzusehen. Er wollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er ihn liebte. Mit rundem, lachendem Gesicht, wohl genährt und gemütlich. Nicht vom Krebs zerfressen.

Jans Beine begannen zu zittern, Schweiß perlte seine Stirn hinunter. Er schwankte. Er hielt sich am Rückenteil der Couch fest. „Der … ist … tot …“

Becca schluchzte.

Dass sie die Wahrheit gesagt hatte, ließ seine Welt schwanken. Sachte, wie eine eingerostete Wippe, kippte sein Blickfeld zur Seite. Ein leichter Schwindel.

Becca holte ihn zurück. „Jan!?“

Jan hielt sich aufrecht, betrachtete das Gesicht des Toten. Er schätzte den Mann auf Mitte vierzig. Attraktiv, wie er fand. Mit leichten Falten. Der Schatten eines Dreitagebartes zeichnete seine Wangen, Kinn und Hals. Der Mann war sportlich, aber nicht muskelbepackt. Er trug Jeans, an den Knien verwaschen, am rechten ein Riss. Der schwarze Schaft eines Messers ragte ihm aus der Brust. Ein Kranz aus Blut, ähnlich einer grotesken Blüte rings um den Messergriff, zierte das T-Shirt.

Jan rieb sich mit den Händen durchs Gesicht, als könnte diese Geste ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen. „Wie … ich meine … wie …?“

Becca schwieg, sah ihn an, blickte aber durch ihn hindurch. Jans Nackenhaare stellten sich auf. Ein Gefühl überfiel ihn, als würde sich in diesem Moment jemand von hinten an ihn heranschleichen. Mit einem Messer. Er riss den Kopf herum. Niemand da.

„Ich … ich wollte … wollte das nicht …“ Quälend leise verließen die Worte Beccas Mund.

4

Sonja stand im Türrahmen zum Zimmer ihrer fünfjährigen Tochter Maya. Das Licht aus dem Flur warf ein helles Rechteck auf den Boden. Am Rand des Lichtscheins stand Mayas Bett. Sonja sah ihre kleine Tochter friedlich schlafen. Sonja lächelte. „Tut mir leid, dass ich dich nicht gehört hab“, flüsterte sie. Etwas geschah in ihrem Innern. Wie ein Zittern. Das Gefühl, weinen zu müssen. Alles zog sich in ihr zusammen.

Sonja verstand sich als gute Mutter und liebte Maya über alles. Dass sie aber ihre weinende Tochter nicht gehört hatte, setzte ihr zu. Vor vier Wochen wäre ihr das nie im Leben passiert. Es war, als hätte dieser Mörder alle Gefühle für die Menschen, die ihr Nahestanden, ausgebrannt. Seit vier Wochen war sie zuhause, hatte sich gehen lassen, tat nur das nötigste für sich. Sie putze sich morgens die Zähne, wusch sich, doch meist krabbelte sie anschließend wieder zurück ins Bett. Und dann begann vor ihren Augen der Film ihres Untergangs und der beißende Geruch ihres eigenen Urins, wie damals im Keller, stieg ihr in die Nase. Zu ihrer Panik, gesellte sich Scham und Ekel. Aus der Ferne hatte sie die Sirenen der Kollegen, die langsam näherkamen, um ihr zu helfen, gehört. Sonja schniefte. Marquardt lag ihr gegenüber. Sein dicker Bauch drohte beim Einatmen sein Hemd zu sprengen. Von seiner rechten Schulter bis hinunter auf die Brust hatte es sich rot verfärbt. Blut. Seine linke Hand hielt seinen rechten Arm umfasst. Marquardts Gesicht war vor Schmerzen verzerrt.

Sonja schloss die Augen, ertrug seinen Anblick nicht.

„Na …?“ Marquardt ächzte. „Ich hoffe, du bist stolz auf dich.“ Es folgte ein schmerzhaftes Stöhnen. „Der ist weg. Und tötet weiter.“ Die Sirenen näherten sich. „Hast du sie gerufen?“

Sonja hörte ein schabendes Geräusch, Marquardt veränderte seine Sitzposition. „Vorausschauend. Ich frag mich nur warum?“

In Sonjas Kopf herrschte Leere. Sie sah ihren schwitzenden, blutenden Kollegen an. Seine Augenlider flattern. Er atmete einmal heftig ein, dass sie für einen kurzen Moment dachte, das war’s. Dann hustete Marquardt, verzog sein Gesicht. Er versuchte, ruhig zu atmen. Über ihnen hörten sie Autos bremsen, die Martinshörner erstarben.

„Bereust du es?“ Marquardt beugte sich vor. „Dass der Kerl mich nicht erschossen hat?“

„Hallo?“ Lautes Rufen der Kollegen. Eine männliche Stimme erteilte Anweisungen. Fußgetrappel.

„Du glaubst ihm! Richtig? Du glaubst ihm, dass ich …“

Sonja wandte den Blick ab. Es war als wöge ihr Kopf mehrere Kilo. Er sackte einfach zur Seite. Sie starrte auf einen roten Punkt auf dem Boden. Ein Fleck. Blut. Dann ein Quietschen und Scharren. Schritte.

„Sicher!“, hörte sie eine männliche Stimme. „Gott, wir brauchen einen Krankenwagen. Schnell!“ Alle weiteren Anweisungen des Mannes, der den Keller betreten hatten, vermischten sich zu einem Vokalbrei, der ihren Kopf ausfüllte. Und dann war alles dunkel.

Das nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie in einem Bett aufgewacht war. Ihre Lider ließen sich nicht richtig öffnen. Ihre Umgebung war nur ein milchiger Schattenriss. Dann wieder Ohnmacht.

Irgendwann saß Thomas neben ihr, als sie aus einem weiteren tiefen Schlaf erwachte. Er hielt ihre Hand, sah sie besorgt an. Sie konnte sich noch gut an sein Lächeln erinnern, als sie die Augen auftat. An die Tränen, die ihm über die Wangen liefen. Er beugte sich vor und küsste sie. „Wie geht es dir?“

„Weiß … nicht …“ Sie krächzte. Er streichelte ihre Stirn, wischte ein paar Haarsträhnen beiseite. „Wo bin ich?“

„Im Krankenhaus.“

„Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht. Du stehst unter Schock.“ Thomas schwieg, suchte nach den richtigen Worten. Ihr kamen die Tränen. Sie wandte den Blick ab und weinte. Sie wünschte, Thomas würde sie in den Arm nehmen. Doch er tat es nicht. Er saß da, starrte sie an, hielt ihre Hand. Fest umschlossen, dass ihre Finger schmerzten. Mit einem Mal wollte sie, dass er ging.

Fünf Tage war sie im Krankenhaus geblieben. Zur Beobachtung. Niemand konnte sagen, wie tief der Schock wirklich saß. Posttraumatische Belastungsstörung, nannte es einer der Ärzte. Wie ein Damoklesschwert schwebte dieser Begriff über ihrem Krankenbett. Tagsüber schlief sie viel. Nachts war sie meist wach. Dann kamen die Albträume. Oft fuhr sie schreiend in die Höhe, weil der Mann mit der Pistole abgedrückt hatte. Immer wenn die Kugel ihren Kopf durchschlagen sollte, wachte sie auf.

Einmal kam sogar ihr Chef zu Besuch. Kriminaldirektor Leon Gerberich, der Leiter der Direktion Kriminalität des Polizeipräsidiums Krefeld. Gerberich war ein großer, stattlicher Mann, stets adrett gekleidet in maßgeschneiderten Anzügen mit passender Weste. Er war ein Mann, der sehr auf sein Äußeres bedacht war. Sonja glaubte, dass er sich nicht nur die Augenbrauen rasierte, er zupfte sie sich. Außerdem zog er mit Kajal seine Wimpern nach. Es hieß, er wäre schwul. Was Sonja nichts ausmachte.

„Ich möchte Sie nicht stören“, sagte er, als er seinen Kopf hinter der Tür hervorschob, nachdem er geklopft hatte.

„Nein, kommen Sie herein.“

Gerberich betrat das Krankenzimmer und hielt ihr eine Schachtel Pralinen hin. Die kleinen Nougatmuscheln, die sie so gerne mit ihrer Oma verputzt hatte. Sonja freute sich über die Aufmerksamkeit.

„Ich hoffe, Sie mögen das.“

Gerberich nahm sich einen der beiden Stühle, die an einem kleinen Tisch an der Wand standen, schob ihn heran und setzte sich. Er schlug die Beine übereinander, legte seine Hände auf dem Knie ab. „Wie geht es Ihnen?“

„Gut.“, sagte sie. „In zwei bis drei Tagen darf ich raus.“

„Ruhen Sie sich aus!“ Es klang wie die Mahnung eines Vaters an seine Tochter.

„Was ist mit Hendricks?“

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein.“

„Ich muss ihn kriegen.“

Gerberich beugte sich vor. „Frau Krüger, Sie sind eine gute Polizistin. Aber Sie sind nicht die einzige gute Polizeibeamtin.“

„Was wissen wir über die verlassene Werkstatt? Vielleicht …“

„Frau Krüger, ich möchte, dass Sie uns erhalten bleiben. Ich schätze Sie sehr. Und weil ich das tue, möchte ich, dass Sie erst wiederkommen, wenn Sie richtig gesund sind.“ Gerberich griff in die Innentasche seines Jacketts und zauberte eine kleine weiße Karte hervor. „Hier, nehmen Sie!“

„Was ist das?“

„Die Visitenkarte unserer Polizeipsychologin, Melina Seibold.“ Sonja starrte die Karte an. „Gehen Sie zu ihr! Reden Sie mit ihr! Sie wird Ihnen helfen, ihr Trauma zu bearbeiten.“

Die Karte wirkte winzig. Statt etwas zu erwidern, nahm sie die Karte und klemmte sie zwischen die Seiten eines Buches.

Irgendwann war ihr das Buch und die Karte wieder in die Finger gekommen. Sie hatte versuchen wollen, etwas zu lesen. Um sich abzulenken. Die Karte war ihr in den Schoß gefallen. Ein Zeichen. Sie hatte die Polizeipsychologin angerufen. Ihre Stimme klang freundlich.

Sonja warf Maya einen leisen Kuss zu, wandte sich um und ging in den Flur. Leise schloss sie hinter sich die Tür. Alles wird gut, dachte sie zitternd.

Sonja hatte sich fest vorgenommen, ihrer Therapeutin gegenüber offener zu werden. Was ihr schwerfiel. Aber sie wollte heraus aus dem Loch, das ihr Leben war. Sie musste versuchen, dieser fremden Frau zu vertrauen. Vielleicht konnte sie ihr wirklich helfen. Sonja war nervös, wenn sie an den dritten Termin morgen dachte. Es war, als stünde ihr Herz in Flammen, während zeitgleich ein eiserner, festgezurrter Ring um ihre Brust geschlungen war.

5

„Er ist auf mich losgegangen. Ich … ich konnte in die Küche entkommen, hab mir ein Messer geschnappt. Er war außer sich, hat rumgeschrien. Ich hab mit dem Messer nach ihm geschlagen. Ich glaub, ich hab ihn am Oberarm verletzt.“ Jan konnte nichts erkennen. Becca kniete am Kopf des Toten, die Hände auf den Oberschenkeln. „Wir standen uns gegenüber, die Klinge war auf ihn gerichtet. Schlampe, sagte er. Dann fing er an zu lachen. Du dämliches Miststück bringst es eh nicht fertig. Ohne Vorwarnung sprang er auf mich zu. Riss mich mit sich. Wir stürzten über die Rückenlehne der Couch, schlugen auf dem Boden auf. Ich rappelte mich hoch. Er bewegte sich nicht mehr, röchelte. Das Messer steckte in seiner Brust. Aber es war nicht meine Schuld. Es war … Er war selbst schuld. Und jetzt bin ich eine Mörderin!“ Tränen brachen aus ihr heraus.

Jan wusste nicht, was er tun sollte. Seine Hände streichelten den rauen Stoff des Sofabezuges. Es half ihm, nicht den Verstand zu verlieren. „Du … musst zur Polizei gehen!“

Sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln. „Hast du mir nicht zugehört? Ich habe einen Menschen ermordet.“

„Es war Notwehr! Ein Unfall!“

„Es gibt keinen Zeugen.“

„Sie werden dir glauben!“

Becca funkelte ihn mit eisigem Blick an. Es lief ihm kalt den Rücken herunter. „Mir hat noch nie einer geglaubt. Sie werden mich verhaften. Ich will nicht ins Gefängnis!“

Jan wollte nicht mit ihr diskutieren. Er wollte nur noch hier raus. Nur wie? Becca würde sicher alles tun, um ihr Geheimnis zu bewahren. „Hör zu … Der Kerl … Wie heißt er überhaupt?“

„Stefan.“

„Und er ist … ich meine, er war dein Freund?“

Sie wich seinem Blick aus.

„Warum hat er dich angegriffen?“

Sie suchte nach den richtigen Worten. „Ich wollte ihn verlassen. Da ist er wütend geworden.“

„Warum wolltest du ihn verlassen?“

Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinunter. „Ich hatte ihm gesagt, dass ich von Sylvie wusste. Dass er sie gefickt hat. Ich hab ihn angeschrien. Verpiss dich, hab ich gesagt. Verpiss du dich, schrie er mich an. Dann hab ich meine Sachen gepackt. Und er ging auf mich los …“

Es gefiel Jan nicht, dass Becca seinem Blick nicht standhalten konnte. „Was hast du jetzt vor?“

Sie kniete sich auf das Sofa und lehnte sich gegen die Rückenlehne. Jan wollte zurückweichen. Tat es aber nicht. Becca sah mit großen Augen zu ihm auf. Tränen glitzerten darin. „Das wollte ich dich fragen.“

Der Kloß in Jans Hals ließ sich nicht herunterschlucken. „Ich … ich weiß nicht … Vorhin dachte ich noch, ich sollte dich überreden, zur Polizei zu gehen. Dann dachte ich daran, selbst zur Polizei zu gehen.“ Ein Schatten huschte über ihr Antlitz. „Und jetzt … jetzt weiß ich es nicht mehr. Ich hab sowas noch nie erlebt … ich …“

„Ich hab auch noch nie einen Menschen getötet.“

„Das hoffe ich.“ Er gluckste. Becca lächelte ebenfalls. War das respektlos? Vielleicht. Aber es half, die Situation erträglicher zu machen.

Sie legte ihre Hand auf seine. Er erstarrte, zog aber die Hand nicht weg. „Hilfst du mir?“

Jan konnte nicht antworten. Der Kloß in seinem Hals schien sich in seiner Speiseröhre verkeilt zu haben.

Becca kam noch näher. „Ich brauche deine Hilfe!“

Er schmeckte ihren warmen Atem. Ihre Nasenspitzen berührten sich. Jan spürte ein Kribbeln auf seinen Lippen. Sanft. Zitternd atmete er ein und aus. Suchend tasteten sich ihre Lippen an den seinen entlang. Dann spürte er ihre Zunge. Sie schob sich in seinen Mund. Er stöhnte.

„Hilf mir, ihn wegzuschaffen.“

*

Jan stand über der Leiche gebeugt und überlegte, wie er es