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Die Wirtschaftskrise hat Spanien fest im Griff, und die deutsche Kanzlerin ist aufgrund ihrer rigiden Sparpolitik nicht gerade beliebt. Doch als ein fast bankrotter Damenfriseur von den Plänen eines Terroranschlags während ihres Besuchs in Barcelona erfährt, muss er in einem Wettlauf gegen die Zeit eingreifen. Seine Schwester, die Ex-Prostituierte Cándida, soll ihm dabei helfen und als perfekt frisierte Kopie von Doña Angela am Flughafen mit der echten Kanzlerin vertauscht werden. – Mendoza, ein Meister des komischen Genres, hat sich in seinem neuen Roman selbst übertroffen: eine geniale Satire über die Auswirkungen der Schuldenkrise und ein rasant erzählter Kriminalroman, in dem Not viel mehr als nur erfinderisch macht.
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Seitenzahl: 333
N & K
Nagel & Kimche E-Book
Eduardo Mendoza
DER FRISEUR UNDDIE KANZLERIN
Roman
Aus dem Spanischenvon Peter Schwaar
Nagel & Kimche
Titel der Originalausgabe: El enredo de la bolsa y la vida
© 2012 Eduardo Mendoza
Barcelona, Editorial Seix Barral
© 2013 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
ISBN 978-3-312-00588-8
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Stephanie Hirt
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INHALT
1 Ein Star tritt auf
2 Was Romulus der Schöne erzählte
3 Der Brief
4 Die Wache
5 Der geheimnisvolle Besitzer eines Peugeot 206
6 Wo sich der Kosmos dreht
7 Der meistgesuchte Mann
8 Abenteuer am Meer
9 Die Geschichte der Lavinia Torrada
10 Ein Vorschlag und eine Debatte
11 Mord
12 Vorbereitungen
13 Abenteuer in der Luft
14 Der Plan scheitert
15 Die Wege treffen sich
16 Überraschung
17 Es bleibt alles beim Alten
Es klingelte. Ich machte auf. Hätte ich es doch nie getan. Vor der Tür fuchtelte ein Postbeamter wild blickend und verwegen gestikulierend, beides in langen Jahren eisernen Drills durch unmenschliche Unteroffiziere erworben, mit einem an meinen Namen und meine Adresse gerichteten Einschreibebrief. Bevor ich den Umschlag entgegennahm, mich auswies und die erforderliche Unterschrift leistete, versuchte ich mit dem Hinweis zu kneifen, hier wohne niemand dieses Namens, und hätte jemand dieses Namens hier gewohnt, so wäre er jetzt tot, und überhaupt, der Verstorbene sei vorige Woche in Urlaub gefahren. Es half alles nichts.
Also unterschrieb ich, trollte sich der Briefträger, öffnete sich der Umschlag (mit meiner Hilfe) und verblüffte es mich, darin eine Glanzpapierkarte zu finden, mit der mich Seine Magnifizenz, der Rektor der Universität Barcelona, zur Investitur von Dr. Sugrañes zum Doktor honoris causa einlud, einem auf den 4. Februar des laufenden Jahres in der Aula dieser altehrwürdigen Lehranstalt anberaumten Akt. Unter dem gedruckten Text erläuterte ein handschriftlicher Zusatz, die Einladung werde mir auf ausdrücklichen Wunsch des zu Ehrenden zugestellt.
Dass sich Dr. Sugrañes trotz der seit unserer letzten Begegnung verstrichenen Zeit an mich erinnerte, war doppelt verdienstvoll. Zunächst, weil sich in seinem Gedächtnis gelegentlich altersbedingte Lücken, ja Abgründe auftaten. Und zweitens, weil er sich nicht nur an mich erinnerte, sondern es voller Zuneigung tat. Ehrlich gesagt konnten wenige Menschen ein getreueres Zeugnis seines ausgedehnten Berufslebens ablegen als ich, denn – falls sich der Schilderung dieser Abenteuer ein Leser anschließt, der mein Vorleben nicht kennt – in der Vergangenheit war ich ungerechtfertigterweise, was jetzt nichts zur Sache tut, in einer Strafanstalt für geistesgestörte Gesetzesbrecher eingesperrt, und diese Anstalt wurde auf Lebenszeit und mit unzimperlichen Methoden von Dr. Sugrañes geleitet, weshalb es zwischen ihm und mir, kaum erstaunlich, zu geringfügigen Missverständnissen, leichten Meinungsverschiedenheiten und einigen physischen Aggressionen kam, bei denen ich fast immer den Kürzeren zog, obwohl ich ihm einmal die Brille zerbrach, ein andermal die Hose zerriss und ein drittes Mal zwei Zähne ausschlug.
Am wahrscheinlichsten jedoch war, sagte ich mir, nachdem ich die Einladung wieder und wieder gelesen hatte, dass Dr. Sugrañes seine Laufbahn beschließen wollte, ohne demjenigen zu grollen, mit dem er so lange Zeit zusammengelebt und dem er so viel berufliches, emotionales, ja physisches Bemühen hatte angedeihen lassen. Also nahm ich in meiner Antwort die Einladung dankend an. Und da die Veranstaltung eine feierliche und der Ort gewissermaßen sagenhaft war, lieh ich mir einen grauen Flanellanzug aus, der mehr oder weniger meine Größe hatte, und vervollständigte ihn mit einer karminroten Krawatte und einer aufplatzbereiten Nelke im Revers. Mit dieser Aufmachung glaubte ich den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben – Pustekuchen. Kaum gelangte ich zum angegebenen Zeitpunkt unter Vorweisung der Einladung vor den Eingang des edlen Kolosseums, schieden mich einige Saaldiener von den übrigen Teilnehmern, führten mich in ein elendes Kabäuschen und befahlen mir im Kasernenhofton, mich auszuziehen. Als ich nur noch die Socken am Leibe trug, steckten sie mich in einen grünen Nylon-Krankenhauskittel, vorn geschlossen und hinten mit einigen Bändern zusammengehalten, so dass die Gesäßbacken mit allem Drumherum zu sehen waren. In dieser Aufmachung geleiteten sie mich mehr gewaltsam als gutwillig in einen großen, dicht besetzten Prachtsaal und hießen mich ein Podium erklettern, neben dem in Toga und Barett Dr. Sugrañes referierte. Mein Auftritt löste erwartungsvolles Schweigen aus, das der Vortragende brach, um mich als einen der schwierigsten Fälle eines ganz der Wissenschaft gewidmeten Lebens zu präsentieren. Einen Zeigestock auf mich richtend, beschrieb er meine Ätiologie mit einer Fülle an Verfälschungen. Wiederholt versuchte ich mich gegen seine Anschuldigungen zu wehren, aber vergebens: Sowie ich den Mund öffnete, übertönte das Gelächter des Publikums meine Stimme und damit meine stichhaltigen Argumente. Dem Geehrten jedoch wurde respektvoll gelauscht; die Fleißigsten machten sich Notizen. Glücklicherweise endete der Vortrag bald. Nachdem er einige für mich schmachvolle, die Anwesenden aber ergötzende Episoden erzählt hatte, verfolgte mich Dr. Sugrañes zur Krönung seiner Darlegungen mit einem Klistier durch die ganze Aula.
Am Ende dieses stark beklatschten Teils des akademischen Akts wurde der frischgebackene Doktor honoris causa von anmutigen Masteranwärterinnen mit Rosenblättern beworfen und ich ins Kabäuschen zu meinen Kleidern zurückgeführt. Zu meiner größten Überraschung traf ich hier auf einen ehemaligen Sanatoriumskollegen, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, dessen Bild ich aber unauslöschlich in mir trug: Romulus der Schöne.
Als ich in die oben erwähnte medizinische Strafanstalt eingeliefert wurde, befand sich Romulus der Schöne schon etwas über ein halbes Jahr dort und hatte bereits den Respekt der anderen Internierten gewonnen und sich die Feindschaft von Dr. Sugrañes eingehandelt. Ich handelte mir bald letztere ein und gewann niemals erstere. Romulus war jung und hatte sehr gefällige Züge – er sah dem damals auf dem Gipfel seiner Kunst und Schönheit stehenden Tony Curtis außerordentlich ähnlich. Tony Curtis zu gleichen kann positiv oder negativ sein, je nachdem. In einer Irrenanstalt indessen ist es nicht von Belang, doch Romulus hatte nicht nur ein hübsches Gesicht und eine athletische Konstitution, sondern auch ein elegantes Auftreten, ein sanftes Benehmen, er war intelligent und äußerst diskret. Von seinem Vorleben wusste niemand etwas, aber die Gerüchte schrieben ihm unglaubliche Missetaten zu. Anfänglich mied er meine Gesellschaft, und ich suchte nicht die seine. Eines Nachmittags versuchte Luis Mariano Moreno Barracuda, ein Ganove aus dem Saal B, der sich als der Zorro, Tschu En-lai und die Espasa-Enzyklopädie ausgab, ohne dass diese Zuschreibungen oder gar ihre Häufung irgendwie gerechtfertigt gewesen wären, mir mein Vesperbrot zu stibitzen. Wir beschimpften uns, und wegen eines Kantens Brot verpasste mir der andere eine Tracht Prügel. Romulus der Schöne mischte sich ein, um Frieden zu stiften. Nach der Friedenstiftung hatte Luis Mariano Moreno Barracuda einen gebrochenen Arm, ein halbes Ohr weniger und Nasenbluten. Wir wurden beide in die Strafzelle gesteckt und Barracuda ins Krankenzimmer, das er in der Überzeugung verließ, außer den obengenannten auch Jessye Norman zu sein. Unterwegs zur Zelle flüsterte mir Romulus zu: Homo homini lupus. Ich dachte, er erteile mir die Absolution. So was kann in einem Irrenhaus schon mal vorkommen. Später erfuhr ich, dass er ein belesener Mann war. Das Eingeschlossensein und die damit verbundenen Kaltwassergüsse zeitigten eine nachhaltige Freundschaft zwischen uns. Trotz des Unterschieds in Charakter und Bildung verband uns der Umstand, dass wir uns beide aufgrund gerichtlicher Willkür hinter Schloss und Riegel befanden. Zu jener Zeit war Romulus mit einer Schönheit verheiratet, die ihn oft besuchte und ihm Lebensmittel, Zigaretten (früher wurde noch geraucht), Bücher und Zeitschriften mitbrachte. Essen und Zeitschriften teilte er mit mir im Wissen, dass er nicht mit einer Gegenleistung rechnen durfte – mich besuchte keiner. Als er einmal grundlos und aus purer Aversion eines Vergehens beschuldigt wurde, leistete ich Bürgschaft für sein gutes Benehmen. Das trug uns erneut die Strafzelle ein. Die Übereiltheit, mit der man uns aus dem Sanatorium entließ, und das geringe Interesse aller, den Aufenthalt daselbst zu verlängern, verwehrten uns ein Abschiednehmen, wie es unter Kameraden geboten gewesen wäre. Als wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, waren wir in Unterhosen. Jetzt, viele Jahre später, trafen wir uns wieder, und ich war immer noch in Unterhosen. Er dagegen trug einen gutgeschnittenen Anzug aus blauem Tuch, eine gestreifte Krawatte, einen waldgrünen Lodenmantel und blankgewienerte Mokassins. Auch sein gefälliges Aussehen hatte er nicht eingebüßt, ja, er glich immer noch Tony Curtis, doch genau wie diesem merkte man auch ihm die Anstrengung an, so zu bleiben, wie er war.
Wir verschmolzen in herzlicher Umarmung, und dabei glitt sein Toupet zu Boden. Nach diesem peinlichen Augenblick und der Mitteilung, er sei als Ersatzmann zur Investiturzeremonie geladen worden, erkundigte er sich nach meinem Ergehen, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hätten. Bevor ich antwortete, fragte ich rein höflichkeitshalber nach seinem Ergehen. Da ich mittlerweile fertig angezogen war, seufzte er und sagte:
«Ach, mein Freund, meine Geschichte lässt sich nicht in einigen Minuten zusammenfassen. Aber wenn du Zeit, Lust oder die Güte hast, sie dir anzuhören, und dich von mir zu einem Imbiss einladen lässt, werde ich sie dir ausführlich erzählen.»
Erfreut willigte ich in den Vorschlag ein, denn nichts bereitete mir eine größere Freude, als unsere alte Freundschaft wiederaufzunehmen. Unbemerkt verließen wir das gelehrte Haus und gingen in eine nahe Speisewirtschaft. Romulus bestellte eine Portion Sardellen, für sich ein Glas Weißwein und für mich eine Pepsi. Es rührte mich, dass er sich noch an mein Lieblingsgetränk erinnerte. Nachdem wir bedient worden waren, setzte er zur Schilderung des letzten Teils seiner bewegten Biographie an.
Die Schließung der Anstalt hatte Romulus den Schönen in eine so missliche Lage versetzt wie die anderen Insassen auch, eingeschlossen den Protokollanten dieser ursprünglich mündlichen Erzählung. Dank seinen Geistesgaben, dem Zufall und der Fürsorge anderer fand er trotz seiner Vorstrafen bald eine nicht nur ehrliche, sondern auch ehrenwerte Arbeit als Pförtner eines herrschaftlichen Hauses im nicht weniger herrschaftlichen Bonanova-Viertel. Dort veredelte der tägliche Umgang mit wohlerzogenen Menschen seine Manieren; gelegentliche Geschenke besserten seinen Hausrat auf. Nach drei Jahren wurde er von der Eigentümergemeinschaft entlassen, da man die Ausgaben reduzieren wollte. Mittellos und ohne die Möglichkeit, zu welchen zu kommen, jedoch nicht entmutigt, beschloss er, einen Bankkredit zu beantragen, um damit ein Geschäft aufzuziehen. Ein schöner Anzug und ein gutes Benehmen öffnen die wichtigen Türen, heißt es – sogleich wurde er herzlich von Dr. Villegas empfangen, dem Leiter der von ihm ausgewählten Bankfiliale. Bei den in der Pförtnerloge geleisteten Diensten hatte er die Unterschriften der Magnaten in seinem Haus kennengelernt. Er legte Bürgschaften mit den gefälschten Unterschriften der reichsten von ihnen vor und suchte um einen Kredit nach, dessen Ausarbeitung mehrmaliges Erscheinen in der Filiale erforderte. Als er ihm schließlich gewährt wurde, kannte Romulus der Schöne die Raumaufteilung und das Wesen und Verhalten des Personals bis ins kleinste Detail. Mit dem Kredit besorgte er sich zwei Pistolen, zwei riesige Aktentaschen und zwei Sturmhauben. Er kaufte alles doppelt, da er für seine Operation einen Gehilfen benötigte. Bei der Wahl beging er einen Fehler.
Der Erwählte hieß oder nannte sich Johnny Pox, stammte aus dem Ausland, war neu in der Stadt und unbescholten, ernsthaft, methodisch und guter Dinge. Er machte Bodybuilding, trank und rauchte nicht und konsumierte keine Drogen. Widerspruchslos stimmte er dem Vorschlag, dem vorgesehenen Ablauf und dem ihm bei der Verteilung der Beute zufallenden Anteil zu. Am Vorabend entwendeten sie ein 125er-Motorrad und parkten es vor dem Eingang der Bankfiliale, um nach getanem Überfall damit das Weite zu suchen. Romulus der Schöne hatte keinen Führerschein, schon gar nicht für Zweiräder, aber sein Komplize war ein versierter Motorradfahrer.
An diesem Punkt der Erzählung unterbrach ich ihn, um meiner Verwunderung Ausdruck zu geben: Es wollte mir selbst angesichts so widriger Umstände nicht in den Kopf, dass sich Romulus zu einer Missetat dieses Kalibers verstiegen hatte.
«Pah», sagte er, «heutzutage ist Bankraub ein Kinderspiel.» Und amüsiert über meine erstaunt-hingerissene Miene, fügte er hinzu: «In der modernen Welt ist klingende Münze eine Reliquie. Sämtliche Transaktionen, ob gewichtig oder unbedeutend, werden mit der Kreditkarte oder online getätigt. Natürlich mit Ausnahme schwarzer Operationen, aber die laufen nicht über die Bank oder zumindest nicht über die Stadtteilfilialen. Jedenfalls haben die Banken in ihren Geldschränken nur eine geringe Menge in bar, und folglich lohnt sich Bankraub nicht mehr. Diebe nehmen lieber Juwelierläden oder Privatwohnungen aus. Die Banken wiederum haben in ihrer Wachsamkeit nachgelassen – es zahlt sich für sie nicht mehr aus, bewaffnete Wachleute einzustellen. Der Geldschrank steht immer offen, und der Alarm ist ausgeschaltet. Die Videokameras sind zur Decke gerichtet und die Angestellten davon überzeugt, dass sie im Zuge des Personalabbaus von einem Tag auf den anderen auf der Straße stehen können, und so kommt es ihnen gar nicht erst in den Sinn, ihr Leben zu riskieren, indem sie Widerstand leisten.»
Wieder unterbrach ich ihn und fragte, welchen Sinn es denn habe, für eine so magere Beute eine Bank auszurauben.
«Alles ist relativ», meinte er. «An einem guten Tag kann man mit wenig Anstrengung und ohne jedes Risiko gut und gern zweitausend Euro rausholen. Mit zwei Überfällen pro Monat kommt man gradeso durch.»
Alles war so verlaufen, wie Romulus der Schöne es geplant hatte, doch im letzten Augenblick scheiterte der Überfall an etwas Unvorhergesehenem, ebenso Nichtigem wie Alltäglichem: am Faktor Mensch.
Das Gesicht in den Sturmmasken verborgen, das Motorrad vor der Bankfiliale in Stellung, in der einen Hand eine Plastiktüte, in der anderen die Pistole – so betraten Romulus der Schöne und Johnny Pox das Lokal, als gerade kein Kunde darin war. Wortlos füllten die Angestellten die Tüten mit Scheinen und Münzen, während der Filialleiter (Señor Villegas) seine Untergebenen zur Kooperation anhielt, um ein Blutbad zu verhindern. In weniger als einer Minute war der Überfall vollzogen. Beim Hinausgehen blieb Johnny Pox vor der Auslage eines sechsteiligen Porzellanservices stehen und fragte, ob sie das nicht auch mitnehmen sollten.
«Nein», sagte Romulus, «der Plan sieht vor, dass wir uns unverzüglich aus dem Staub machen.»
«Aber, Menschenskind, hast du gesehen, was für ein Geschirr, Romulus? Göttlich, göttlich!»
«Das ist nicht der Moment, sich zu outen, Johnny.»
Hier mischte sich Señor Villegas ein und erklärte, das Geschirr sei ein Geschenk für die, die eine Sechs-Monate-Einlage von über zweitausend Euro leisteten.
«Ach», seufzte Johnny, «und woher soll ich so viel Geld nehmen?»
«Wenn Sie mir den Vorschlag gestatten, Señor Pox», sagte Señor Villegas, «so können Sie es aus der Plastiktüte nehmen. Und denken Sie daran, dass Sie das Geld mitsamt dem Zins in sechs Monaten wieder abheben können. Das einzige Problem besteht darin, dass das Geschäft einiger Formalitäten bedarf. Hier arbeiten wir nicht einfach drauflos. Hier pflegen wir einen persönlichen Umgang mit den Kunden. Fragen Sie nur Don Romulus, dem wir kürzlich ein Darlehen gewährt haben, oder fragen Sie die Leute, die sich in diesem Moment vor dem Eingang drängen, um dem Überfall beizuwohnen.»
Eine Stunde später standen Romulus der Schöne und Johnny Pox vor dem Richter. Johnny wurde wegen Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Bande verurteilt, doch weil er nichts Böses getan hatte, wurden ihm mildernde Umstände zugebilligt, und er stand gleich wieder auf der Straße. Romulus wurde zu einer Haftstrafe von zwanzig Jahren verknurrt. Angesichts dessen, dass er schon vorher in einer Irrenanstalt eingesessen hatte, verfügte das Gericht seine Einweisung in eine Institution gleicher Natur. Da diese Institutionen der Sozialversicherung angehörten, wartete er nun schon mehrere Monate auf einen freien Platz.
«Die können jeden Moment anrufen», sagte er abschließend, «und das geht mir, ehrlich gesagt, sehr gegen den Strich. Ich bin an die Freiheit gewöhnt, du verstehst schon. Wenn ich bloß ein bisschen Geld hätte, würde ich irgendwohin verduften. Aber ich bin vollkommen blank.» Er seufzte, schwieg einen Augenblick und sagte dann in verändertem Ton: «Nun, ich will dich nicht mit meinem Kummer belasten. Erzähl von dir. Wie geht’s dir denn so?»
«Sehr gut», antwortete ich.
Die Wirklichkeit sah freilich ganz anders aus, aber die Geschichte meines armen Freundes hatte mich traurig gestimmt, und ich mochte seinen Kummer nicht noch vergrößern mit der Schilderung meiner eigenen Nöte. Nach einigen abenteuerlichen Gehversuchen, die ich seinerzeit schriftlich festgehalten habe, führte ich seit ein paar Jahren einen Damensalon, den in letzter Zeit mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit nur ein Caixa-Angestellter aufsuchte, um die Rückstände bei der Abzahlung meiner Kredite einzufordern. Die Krise hatte in der tüchtigen sozialen Schicht gewütet, auf die mein Geschäft ausgerichtet war, nämlich die der armen Teufel, und zum Gipfel allen Unglücks gaben die wenigen Frauen, die noch nicht kahl waren und über Geld verfügten, dieses in einem vor kurzem gegenüber dem Salon eröffneten chinesischen Warenhaus aus, wo Glasperlen, Trödel und anderer Firlefanz zu Schleuderpreisen verkauft wurden. Da dieses Warenhaus überdies der beste Kunde der Caixa war, hatte es keinen Sinn, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben, um Aufschub bei der Abzahlung von Krediten zu erbitten, die es mir nur mit Mühe und Not erlaubten, den Laden offenzuhalten und alle Jubeljahre etwas zu essen.
«Ja», sagte Romulus, «man braucht dich bloß anzuschauen.»
Danach widmete er seine ganze Aufmerksamkeit den Sardellen, als wäre mit dieser Bemerkung die Aufarbeitung unserer beider Leben abgeschlossen, so dass wir ein neues Thema anschneiden konnten. Doch ich kannte ihn genau und war überzeugt, dass er bloß Zeit gewinnen wollte, um zur Sache zu kommen. Tatsächlich beendete er nach einer Weile sein schmatzendes Schlingen, trank den Wein aus, wischte sich mit der Serviette Lippen und Finger ab, schaute mich aus halbgeschlossenen Augen an und sagte:
«Was ich dir vorhin erzählt habe, das mit dem Überfall und so, das ist allgemein bekannt, Zeitung und Fernsehen haben darüber berichtet. Aber was ich dir jetzt sagen werde, muss unter uns bleiben. Ich habe volles Vertrauen in deine Diskretion.»
«Ich würde sie lieber gar nicht erst anwenden müssen, Romulus, erzähl mir keine Geheimnisse.»
«Na, komm schon, um unserer Freundschaft willen», fiel er mir ins Wort. «Mit irgendjemandem muss ich über diese Dinge reden, und ich weiß, dass ich mit dir genauso rechnen kann wie früher. Also pass auf. Vorhin habe ich gesagt, dass ich nicht ins Gefängnis will. In meinem Alter würde ich das nicht überstehen. Also habe ich beschlossen zu fliehen. Brasilien scheint mir ein guter Ort zu sein: angenehmes Klima, Weiber und Fußball. Aber ohne Geld kann ich nicht abhauen. Darum habe ich dich gefragt … Nein, nein, keine Bange, ich werde dich nicht anpumpen. Ich ahne schon, wie deine finanzielle Lage aussieht. In Wirklichkeit …»
Er senkte die Stimme, beugte sich vor, bedeutete mir mit einem Handzeichen, es ihm gleichzutun, und als unsere Köpfe über dem leeren Teller zusammensteckten, fuhr er flüsternd fort:
«Ich habe einen Coup geplant. Etwas Sensationelles. Ohne Risiko, ohne großen Aufwand, ohne unangenehme Zufälle. Alles ist vorbereitet. Nur die Mannschaft fehlt mir noch. Wie sieht’s aus?»
«Du machst mir einen Vorschlag?»
«Natürlich», rief er frohgemut.
«Du irrst dich in der Person, Romulus. Zu so etwas tauge ich nicht. Ich bin bloß ein Damenfriseur, dazu noch ohne Kundschaft.»
«Na komm, wen willst du denn hinters Licht führen? Haben wir uns etwa eben erst kennengelernt? Du bist der gewiefteste Dieb in dieser Wahnsinnsstadt. Du warst schon immer ein Meister: verschwiegen, penetrant, tödlich. In der Anstalt hat man dich ‹das giftige Fürzchen› genannt, hast du das vergessen?»
Die Erwähnung dieses ehrenvollen Spitznamens erfüllte mich einen Augenblick mit nostalgischem Stolz. Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, Schmeicheleien mehr zu fürchten als Drohungen, so dass ich in die Gegenwart zurückkehrte und sagte:
«Danke, Romulus, aber ich lehne die Einladung immer noch ab. Sei mir nicht böse. Natürlich habe ich nichts von dem gehört, was du mir gesagt hast. Wir haben nicht einmal hier Tapas gegessen und etwas getrunken. Das nur, falls ich gefragt werde. Bei mir werde ich immer voller Zuneigung an diese Begegnung denken. Ich wünsche dir das Allerbeste.»
Wir nahmen meinen Bauern- und seinen Lodenmantel vom Garderobenständer, und er griff sich noch den Schal eines vertrauensseligen Gastes. Es war stockdunkle Nacht geworden, und ein kalter Wind pfiff, als wir uns auf der Straße umarmten und jeder seines Weges ging.
Nach dieser Begegnung war ich verwirrt und voller Sorge. Ich fragte mich, ob ich mich nicht bestimmter hätte verhalten sollen, sei es mit dem Versuch, Romulus von einem Projekt abzubringen, das ich mir undurchführbar und höchst riskant ausmalte, sei es, indem ich ihm in seiner misslichen Lage meine Hilfe anbot. Aber was konnte ich schon tun? In meinen jungen Jahren war ich, wie erwähnt, ein gesichtsloser Übeltäter gewesen: ungeschickt, ängstlich und phantasielos. Mit der Zeit kam zu diesen Gaben noch die Niederträchtigkeit, als Polizeispitzel Schlimmeres verhindern zu wollen, doch es war verlorene Liebesmüh. Romulus der Schöne war das genaue Gegenteil: talentiert, ehrgeizig, beherzt und voller Berufsstolz. Er beschränkte sich nicht wie so viele andere darauf, von einem großen künftigen Coup nur zu träumen, sondern plante ihn bis in die kleinsten Einzelheiten und führte ihn dann aus, ohne sich von der Gefahr oder den Mühen abschrecken zu lassen. Ob es ihm schließlich gelang oder nicht, ist ein anderes Kapitel.
Einmal, vor vielen Jahren in der Besserungsanstalt, erzählte er mir, wie er versucht hatte, sein sogenanntes capolavoro zu schaffen, und es auch beinahe zustande gebracht hätte. Zwar war er kein Fußballfan wie ich, doch er wusste haargenau, welche Emotionen dieser Sport auslöst, und so kam er auf die Idee, die Barça-Stammformation zu entführen und von jedem Klubmitglied ein Lösegeld von zehn Peseten zu fordern, womit er über eine Million verdienen würde, ohne dadurch jemanden in den Bankrott zu treiben. Der Plan sah vor, auf einer ihrer Reisen das Flugzeug der Spieler und ihrer Betreuer in seine Gewalt zu bekommen. Da er nicht nur über Phantasie, sondern auch ein beträchtliches handwerkliches Geschick verfügte, entwarf und baute er aus Holz, Plastik und Metall einen Spielzeugmüllwagen, den man auseinandernehmen und zu einem 67er Smith-&-Wesson-Revolver, Kaliber 38, umbauen konnte, zwar ebenfalls ein Spielzeug, aber höchst effizient. Als das Artefakt nach monatelanger Arbeit fertig war, brachte er das Datum in Erfahrung, an dem die Fußballmannschaft reisen musste, kaufte ein Ticket für denselben Flug und ging mit der Lastwagen-Pistole an Bord, ohne Verdacht zu erwecken. Nach dem Start und nachdem der Flugkapitän das Anschnallzeichen ausgeschaltet hatte, klappte er den Klapptisch herunter und begann den Lastwagen umzubauen. Der Flug war unruhig, und die Nervosität besorgte den Rest: Als der Sinkflug zum Flughafen Santander begann, wo Barça gegen die lokale Mannschaft (Racing) anzutreten hatte, lagen viele Teile des Lastwagens noch verstreut auf dem Klapptisch, und einige kullerten zwischen den Schuhen der Passagiere umher. Die Stewardess beschwor ihn, den Tisch hochzuklappen und seine Rückenlehne senkrecht zu stellen, und Romulus blieb kaum noch Zeit, die restlichen Teilchen einzusammeln und einzustecken.
Von diesem Misserfolg ließ er sich nicht entmutigen: In den Stunden zwischen der Ankunft und der Rückreise der Spieler setzte er sich auf eine öffentliche Bank gegenüber dem El-Sardinero-Stadion und übte sich in der Zusammensetzung der Waffe, bis er alle Handgriffe perfekt beherrschte. Er hatte Glück und bekam einen Platz in der Maschine, in der die Mannschaft nach dem Spiel zurückflog. Es war schon dunkle Nacht und das Licht in der Kabine nicht sehr hell, und wie schon bei der Anreise wurde das Flugzeug von Böen geschüttelt. Trotzdem gelang es ihm, den Lastwagen rechtzeitig zu zerlegen und zum Revolver umzubauen. Allerdings war bei dem Gerüttel keine Präzisionsarbeit möglich – der Pistolenlauf schaute nach oben, der Abzug fehlte, und das Ganze sah eher nach Gießkanne als nach sonst etwas aus, doch in den Händen eines entschlossenen Mannes konnte die gewünschte Wirkung nicht ausbleiben. Romulus zauderte nicht: Er zog ein Tuch aus der Tasche, öffnete den Sicherheitsgurt und stand auf. Da er vergessen hatte, den Tisch hochzuklappen, erhielt er einen kräftigen Schlag in den Magen. Gekrümmt, mit der einen Hand das Taschentuch über den unteren Teil des Gesichts, mit der anderen den Revolver haltend, schritt er entschlossen durch den Gang und rief:
«Aus dem Weg! Aus dem Weg! Keine Bewegung, und es wird Ihnen nichts geschehen!»
Die Passagiere duckten sich mit Schreckensgesten und -schreien in ihren Sitzen und bedeckten das Gesicht mit den Händen oder der Bordzeitschrift Ronda Iberia. Im Nu stand er vor dem Cockpit, riss die Tür auf, drang mit Gebrüll ein und schloss die Tür wieder hinter sich. Da merkte er, dass er in seiner Hast die falsche Richtung eingeschlagen hatte und in die Hecktoilette eingedrungen war. Über den Lautsprecher gab der Pilot die Anweisungen für die Landung auf dem Flughafen El Prat durch. Wütend und mit zitternden Händen zerlegte er die Pistole wieder, versteckte einmal mehr die Teilchen in den Hosentaschen und verließ sein Gefängnis. Im Gang stieß er auf keinen Geringeren als Andoni Zubizarreta, der ihn im Namen der ganzen Mannschaft fragte, ob es ihm wieder besser gehe. Er nickte, bedankte sich, entschuldigte sich bei Passagieren und Stewardessen mit dem Hinweis, er sei bei den Turbulenzen plötzlich unpässlich geworden, und beschloss, die Ausführung seines Plans auf später zu verschieben. Weitere Unannehmlichkeiten, etwa verhaftet, wegen eines früheren Vergehens verurteilt und ins Sanatorium gesteckt zu werden, zwangen ihn, das Vorhaben auf unbestimmte Zeit zu vertagen, doch seine Entschlossenheit schwand ebenso wenig wie seine Überzeugung, dass, wären da nicht ein oder zwei mit der Erfahrung leicht zu korrigierende geringfügige Details gewesen, die Entführung ein voller Erfolg gewesen wäre, der ihm Reichtum und Ruhm verschafft hätte. Bis er wieder in Freiheit war, hatten sich die Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen sehr verschärft, und Barça reiste unter anderen Bedingungen. Von diesem epischen Projekt blieben nur die Frustration seines Schöpfers und die Bewunderung derer, die wie ich die Schilderung aus seinem Munde hörten.
Wieder zu Hause, hatte ich bereits beschlossen, dass meine Haltung gegenüber Romulus’ Vorschlag die richtige war. Ehrlich gesagt war ich in all den Jahren, die vergangen waren, seit mich meine Fehltritte ins Sanatorium geführt hatten, nie mehr auf die Idee gekommen, eine Straftat zu begehen. Ich war nicht nur rehabilitiert und hatte der Gesellschaft meine Schuld zurückgezahlt, sondern durfte mich rühmen, ein vorbildlicher Bürger zu sein. Für nichts auf der Welt hätte ich meine Freiheit oder gar meine Haut aufs Spiel gesetzt. Für nichts auf der Welt außer für Romulus den Schönen.
Barcelonas Klima, konstant, mild, feucht und durchsetzt mit Salzpartikeln, genießt bei Viren und Bakterien zu Recht einen guten Ruf. Wir übrigen Lebewesen ertragen es nach Kräften, aber alle sind sich darin einig, dass vom ungesunden Kreislauf der Jahreszeiten der Sommer bei weitem die schändlichste und erbarmungsloseste ist. Und jener Sommer war ganz besonders schlimm. Wer es geschafft hatte, die Schuhe vom Asphalt zu lösen, suchte andernorts Zuflucht, und mochten sich auch im Zentrum oder in weiteren malerischen Zonen ein paar zerlumpte, ausgedörrte Touristen tummeln, so machte doch auf dem vom Vandalismus misshandelten städtischen Mobiliar des Viertels, wo ich wohne und arbeite, keiner sein Wabbelgesäß breit. Woraus sich schließen lässt, dass mein Geschäft immer schlechter lief. Vergeblich stellte ich mich mit meinem falschesten Lächeln in die Tür und jonglierte mit dem berufsspezifischen Instrumentarium; umsonst verkündete ich auf auffälligen Schildern Rabatte und Sonderangebote, Geschenke und Verlosungen. Monoton zogen sich die Stunden und Tage dahin, und im Salon erschien nur ab und zu der Caixa-Angestellte, um unter Beschimpfungen und Drohungen Zahlungen einzufordern. Daher murmelte ich, als ein Schlurfen meine bleierne Schläfrigkeit störte und sich im Eingang eine Gestalt abzeichnete, an diesem glutheißen Mittag bloß:
«Sagen Sie dem Chef, dass ich am Montag ganz bestimmt vorbeikomme und zahle.»
Solche Versprechungen überzeugen zwar nie, zeitigen aber normalerweise eine aufschiebende Wirkung. Nur einmal zog ein streberischer Praktikant eine Spraydose und besprühte die Fassade mit den Worten Säumiges Schwein. Doch diesmal trat die Gestalt ein und spähte ins Halbdunkel.
«Sind Sie da?», fragte eine Mädchenstimme.
«Ja, was darf’s denn sein?»
Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte meine Umrisse in der Ecke, wo ich mich auf der Suche nach ein wenig nicht vorhandener Kühlung ausgestreckt hatte.
«Das sage ich Ihnen, wenn Sie mir etwas Aufmerksamkeit schenken. Ich werde Ihnen nicht viel Zeit stehlen. Und wenn ein Kunde kommt, warte ich so lange wie nötig.» Sie machte eine Pause und fügte dann, als bemerkte sie meine Zweifel, hinzu: «Romulus der Schöne schickt mich.»
In ihrem Ton lag ein Anflug von Bescheidenheit und Angst, was meine Benommenheit verscheuchte. Ich stand auf, ging in die Toilette, spritzte mir Wasser ins Gesicht und beobachtete sie ausgiebig im Spiegel, während ich mir mit einem Kamm durch die Haare fuhr. Sie konnte nicht älter als dreizehn sein und war weder sehr groß noch überaus dünn. Sie hatte zwar keine regelmäßigen Züge, aber ein sympathisches Gesicht mit nahe beisammenliegenden Augen, die gleichsam zum Schielen neigten. Ihre Zähne, größer als der Mund, zwangen sie zu einem Dauerlächeln, aber in diesem Moment spiegelte ihr Blick Unsicherheit und Verwirrung. Sie trug ein sehr schlichtes Sommerkleid, vermutlich aus einem chinesischen Warenhaus.
«Was ist denn mit Romulus dem Schönen?», fragte ich.
«Ich weiß es nicht», antwortete sie, «aber ich befürchte das Schlimmste. Darum bin ich Sie holen gekommen. Sie sind sein Freund. Und er hat Sie sehr geschätzt. Er hat mir viele Male von den Zeiten erzählt, wo Sie zusammengewohnt haben. Immer hat er Ihre Vorzüge gelobt, Ihren Geist gepriesen und Ihren Mut gerühmt. Als kleines Mädchen bin ich oft mit Romulus’ Schilderungen eingeschlafen, wenn er voller Begeisterung die faszinierenden Geschichten erzählt hat, in denen Sie die Hauptrolle gespielt haben und an die er sich bis in alle Einzelheiten erinnert hat. So habe ich Sie kennengelernt, ohne Sie je gesehen zu haben, und in meiner Phantasie habe ich Sie mir wie Batman oder den Unglaublichen Hulk vorgestellt. Ich erinnere mich lebhaft an einige außerordentliche Fälle wie den der verhexten Krypta oder das Olivenlabyrinth. Und ich war ganz mitgenommen, als ich hörte, wie Sie den Mord im Zentralkomitee gelöst haben.»
«Ja, da habe ich mich glänzend geschlagen. Du sagst, Romulus hat dir vor dem Einschlafen Geschichten erzählt?»
«Ja. Er war wie ein Vater für mich. Den eigenen habe ich nie kennengelernt, wissen Sie.»
«Nun mal der Reihe nach. Wer bist du?»
«Stimmt, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Das ist die Nervosität. Ich suche Sie seit Tagen. Es war nicht so einfach, Sie zu finden. Ich wusste ja nicht einmal, dass Sie in einem Damensalon arbeiten. Gehört er Ihnen?»
«Ich habe einen Partner. Er glänzt durch Abwesenheit. Wie heißt du?»
«Alle nennen mich Quesito.»
«Das ist ja lächerlich. Wie ist dein richtiger Name?»
«Marigladys.»
«Na ja, Quesito ist vielleicht doch nicht so schlecht. Weiter.»
Dreizehn Jahre zuvor hatte Quesitos Mutter, wie mir das Mädchen erzählte, eine Liebelei mit einem verantwortungslosen Typen gehabt, der spurlos verschwand, nachdem er sie mit Quesito geschwängert hatte. Da sie keine Familie und keine Rücklagen und kaum eine Ausbildung oder besondere Fähigkeiten hatte, überlebten die beiden mit dem kümmerlichen Ertrag der Gelegenheitsarbeiten von Quesitos Mutter. Bei ihrem letzten Job – als Angestellte bei einer Firma für Gebäudereinigung – hatte sie Romulus den Schönen kennenlernen dürfen, damals Pförtner des Hauses, dessen Reinigung Quesitos Mutter oblag. Trotz des Standesunterschieds zwischen einem uniformierten Pförtner und einer einfachen Reinemachefrau entstand zwischen den beiden eine schöne Kameradschaft. Romulus war mit einer blendend aussehenden Frau verheiratet, die jedoch seine Sehnsüchte nicht zu befriedigen vermochte. Sie wiederum, Quesitos Mutter, berichtete ihm von ihren materiellen Schwierigkeiten, und Romulus der Schöne, gerührt und solidarisch, unterstützte sie im Rahmen seiner Möglichkeiten, sei es beim Metallpolieren, beim Auswechseln geschmolzener Glühbirnen, beim Verfrachten des Mülls in die vorgesehenen Container und anderen mit der Würde eines Pförtners zu vereinbarenden Arbeiten, sei es mit gelegentlichen Barzuwendungen. Seine einzige Entschädigung für all das war die Befriedigung, Gutes getan und einer alleinerziehenden Mutter in Nöten unter die Arme gegriffen zu haben. Da er damals aufgrund seiner Position und seines Einkommens ein Auto hatte, brachte er Quesitos Mutter an manchen Abenden nach Hause, nicht ohne vorher die Kleine am Eingang ihrer Schule abzuholen. So entstand zwischen Quesito und Romulus eine zärtliche Zuneigung, die bis in die Gegenwart andauerte. Als er arbeitslos wurde, besuchte er Mutter und Tochter weiterhin und nahm trotz seiner schwierigen materiellen Lage nie die Hilfe an, die ihm Quesitos Mutter immer wieder anbot. Ganz im Gegenteil, stets brachte er bei seinen Besuchen kleine, feine Geschenke mit, Frauenzeitschriften, Näschereien, Obst und Nippes, zweifellos aus irgendeinem halbseidenen chinesischen Warenhaus.
Am Ende dieser Erzählung waren Quesitos Augen feucht, und ich kämpfte vergeblich gegen die Benommenheit an.
«Aber all das hat sich unerwartet und ganz plötzlich geändert», sagte ich, um das Gespräch wieder auf seine Ursprünge zurückzuführen.
Die paar Tränen in Quesitos Augen wurden zu heftigem Schluchzen. Ich wartete eine Weile, reichte ihr dann einige Blatt Toilettenpapier zum Schnäuzen und hielt sie an fortzufahren, indem ich mit geheucheltem Desinteresse fragte:
«Was ist denn mit Romulus dem Schönen?»
«Ich weiß es nicht», antwortete sie, «aber ich befürchte das Schlimmste. Vor einigen Tagen habe ich im Briefkasten einen an mich adressierten Brief von ihm gefunden. Zuerst dachte ich, er schickt mir etwas: ein Foto, einen Zeitungsausschnitt, vielleicht Eintrittskarten für ein Musical. Nie zuvor hatte er sich mit mir auf diese altmodische Art in Verbindung gesetzt. Aber als ich den Umschlag aufmachte …» Sie nestelte in einem umgehängten Täschchen, zog ein Kuvert hervor und zeigte es mir. «Da, lesen Sie selbst.»
Im Umschlag steckte ein zusammengefaltetes Blatt. Ich entfaltete es: Es war einseitig mit unregelmäßigen Zeilen und zittriger Hand beschrieben. Ich holte meine Brille, setzte sie auf und las:
Quesito,
das ist ganz sicher die letzte Nachricht, die Du von mir bekommst, das heißt, eigenhändig geschrieben, denn höchstwahrscheinlich wird mein Name demnächst in den Massenmedien verunglimpft. Achte nicht darauf und am wenigsten auf das, was im Fernsehen gesagt wird. Du weißt ja, wie gern sie kritisieren und piesacken, besonders wenn jemand direkt vor ihnen steht, manchmal niederträchtig und rücksichtslos. Ich weiß auch nicht, wie sie das aushalten, aber man hat mir gesagt, in diesen Programmen findet viel Theater statt und die Teilnehmer werden bezahlt fürs Abkanzeln und Abgekanzeltwerden. Das Einzige, worum ich Dich bitte, ist, dass Du immer mit so viel Zuneigung an mich denkst, wie Du sie mir jetzt schenkst. Auch ich liebe Dich, als wärst Du meine eigene Tochter. Aber leide nicht meinetwegen. Ich habe nie vor Dir geheimgehalten, dass ich eine wilde Vergangenheit habe. Ich dachte, das liege hinter mir, aber über kurz oder lang präsentiert einem die Vergangenheit die Rechnung. Und dasselbe kann man von den Sportübertragungen sagen, voller Geschrei, Beleidigungen und Ungezogenheiten – und was für eine Sprache, meine Güte! Mit jeder Minute spüre ich, wie die Gefahr naht, bei jedem Geräusch, das ich höre, stockt mir das Herz. Hoffentlich habe ich noch Zeit, diesen Brief zu beenden und in den Briefkasten zu werfen. Wenn Du ihn bekommst, zeige ihn Deiner Mutter nicht. Auf Wiedersehen, Quesito. Du weißt nicht, wer Franco war, bei ihm gab es weder Freiheiten noch soziale Gerechtigkeit, aber wenigstens konnte man mit Freude fernsehen. Es liebt Dich
Romulus der Schöne
Aufmerksam las ich den Brief noch einmal, dann faltete ich ihn zusammen, steckte ihn wieder in den Umschlag und gab ihn Quesito zurück.
«Das gibt einem tatsächlich zu denken», musste ich zugeben. «Wann hast du den Brief denn bekommen?»
«Am Montag.»
«Und wann hast du Romulus zum letzten Mal gesehen?»
«Vor zwei Wochen.»
«Als du ihn das letzte Mal gesehen hast, hat er da irgendetwas Ungewöhnliches, Bemerkenswertes oder Aufschlussreiches gesagt oder getan? Hat er einen besorgten, nervösen oder ungeduldigen Eindruck gemacht?»
«Nichs von alledem. Natürlich bin ich in dieser schwierigen Phase der Präadoleszenz ausschließlich mit mir selbst beschäftigt.»
«Wer hat den Brief sonst noch gelesen?»
«Abgesehen von Ihnen und mir niemand. Romulus hat mich ausdrücklich gebeten, ihn meiner Mutter nicht zu zeigen, und das habe ich auch nicht getan. Soll ich ihn ihr zeigen? Ich mag nicht, wenn es zwischen ihr und mir Geheimnisse gibt. Wir verstehen uns sehr gut.»
«Nein, im Moment ist es besser, das Geheimnis zu bewahren. Jetzt werde ich dich etwas Indiskretes fragen. Du musst mir ehrlich antworten. Welcher Art war die Beziehung zwischen deiner Mutter und Romulus dem Schönen?»
«Was hat das mit dem Brief zu tun?» Sie errötete und kräuselte Lippen und Stirn zugleich.
«Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wir dürfen diesen Aspekt nicht außer Acht lassen. Was zwischen den beiden gewesen sein mag, geht mich nichts an, aber wenn ich dir helfen soll, muss ich alles nur Denkbare über die Umstände wissen. Und die Frage ist nicht nebensächlich: Romulus ist ein sehr attraktiver Mann, und deine Mutter ist ein Flittchen, sonst gäbe es dich nicht.»
«Das ist vor vielen Jahren passiert», antwortete sie standhaft. «Jetzt ist meine Mutter schon sehr alt. Nicht so alt wie Sie, aber alt genug, um sich besonnen zu verhalten. Nein, meine Mutter und Romulus waren nur gute Freunde. Wenn da etwas mehr gewesen wäre, wäre es mir nicht entgangen. So naiv bin ich nicht. Romulus kam dann und wann zu uns, immer gegen Abend, aber er ist nie sehr lange geblieben. Schon vor dem Essen ging er wieder, da er immer noch mit seiner Frau zusammenwohnte.»
«Und weiß die um die Freundschaft ihres Mannes mit euch?»
Sie zuckte die Achseln. Dieses Detail war ihr nie wichtig gewesen, und sie langeweilte sich bei der Befragung. Sie schaute auf die Armbanduhr.
«Ich muss gehen. Sie werden Romulus finden, nicht wahr? Sie dürfen ihn nicht sich selbst überlassen, Sie beide sind Freunde.»
Ich dachte schnell nach und traf eine Entscheidung.
«Früher», antwortete ich. «Jetzt nicht mehr. Zudem habe ich meine eigenen Probleme und will keine Scherereien. Und du solltest es genauso halten. Ich werde dir einen Rat geben, Quesito. Zwar steht mir das nicht zu, und wir haben uns eben erst kennengelernt, aber du hast keinen Vater, und jemand muss dir diesen Rat geben. Lerne, sei fleißig und gehorsam, bring dich nicht in Schwierigkeiten, geh zur Universität, sieh zu, dass du gute Noten bekommst, und kümmere dich nicht um die anderen. Und schon gar nicht um die Erwachsenen. Deine Mutter schrubbt Fußböden wegen einer Anwandlung von Geilheit, Romulus der Schöne ist ein Verbrecher, und mich braucht man nur anzuschauen. Nimm uns als Beispiele für das, was man nicht tun soll. Und wenn wir böse enden, geht dich das nichts an. Wir haben es selber so gewollt, verstanden? Und was den Brief betrifft, so bring ihn zur Polizei. Sie werden dir zwar keine Aufmerksamkeit schenken, aber wenn später etwas passiert, hast du wenigstens deine Pflicht getan. Und wenn du mir jetzt nichts mehr zu sagen hast, geh ich essen.»
Sie schaute mich unverwandt an, und einen Augenblick dachte ich, sie fange sogleich an zu weinen, aber im letzten Moment beherrschte sie sich und ging zur Tür. Dort drehte sie sich um.
«Wenn ich Romulus von Ihnen sprechen hörte, dachte ich, Sie wären altruistischer», murmelte sie.
«Man wird müde.»
Sie ging hinaus. Nach einige Sekunden kam sie wieder herein.
«Ist hier in der Gegend irgendwas offen?», fragte sie. «Ich sterbe vor Hunger und möchte mir ein Magnum kaufen.»
«Rechter Hand gibt’s ein Lokal. Aber du solltest etwas Gesünderes und Nahrhafteres essen.»
«Das sagt meine Mutter auch. Romulus dagegen hat meinen Launen immer nachgegeben. Hören Sie, falls Sie es sich anders überlegen, gebe ich Ihnen meine Handynummer. Oder geben Sie mir Ihre, und ich rufe Sie an.»
«Tut mir leid, ich benutze immer noch die Telefonzellen.»
Sie ließ sich nicht entmutigen und zog einen Kugelschreiber und ein Notizbuch aus der Tasche, riss eine Seite heraus, schrieb eine Nummer darauf, legte den Zettel auf die Konsole und verließ den Salon, ohne sich zu verabschieden oder zurückzuschauen.